2008 bis 2014
Ruhebuch
1) bis 1907)
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Band 1
1) bis 365)
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1)
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Quietist bin ich im wörtlichsten Sinn, also Ruhesuchender oder sogar Ruhesüchtiger.
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Auf diesem Weg stellen sich Fragen, existentielle wie "Bringt der Tod wirklich die ewige Ruhe?" und alltägliche wie "Gibt es wirksamen Schutz gegen nachbarlichen Lärm?".
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Ich versuche, Antworten darauf zu finden – oder auch nur, mir die Unruhe von der Seele zu schreiben.
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2)
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Was ist der Ruhe am abträglichsten? Ich glaube, eine philosophische Grundeinstellung, die das Leben als einmalige Frist begreift.
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Genau dieses eindringliche Bild jedoch vermitteln als populärste weltanschauliche Gegenspieler sowohl die christliche Religion als auch der naturwissenschaftliche Materialismus. Entsprechend aktionistisch ist deren beider Anhängerschaft.
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Seelenruhe kann aber erst dann einkehren, wenn kein ominöses Außerhalb des Lebens mehr drohend oder lockend vor der Tür steht. Wenn als unbegrenzt angenommen wird, was wir als einziges kennen: lebendige Gegenwart bzw. Bewusstsein.
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3)
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Dass ich das Leben für einen immerwährenden Kreislauf ohne Alternativen wie Jenseits bzw. Nichtsein halte, entspringt nicht etwa einer lebensbejahenden Wunschvorstellung oder dem Nichtwahrhabenwollen meines endgültigen Todes.
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Ganz im Gegenteil bin ich zutiefst lebensverneinend eingestellt und würde mich wahrscheinlich sogleich umbringen, gelangte ich zu der Überzeugung, auf diese Weise meine endgültige Bewusstlosigkeit herbeizwingen zu können.
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Im Geiste von Shakespeare's Hamlet und Büchners Danton gesprochen: das Nichtsein wäre dem Sein in jedem Fall vorzuziehen. Aber ersteres ist wohl nur die leidfreie Jenseitsillusion einer Erlösungsreligion namens Materialismus.
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4)
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Nahtoderfahrungen haben mir auf eindrucksvollste Weise den Unterschied zwischen Ohnmacht und Bewusstlosigkeit gezeigt – zwei Begriffe, die der Realismus umstandslos gleichsetzt.
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Tiefste Ohnmacht bei höchstem Bewusstsein habe ich erfahren. Seitdem halte ich das Nichts im Tod für einen Wunschtraum, in den sich die Realisten hineingesteigert haben – als Ersatz für das noch unglaubwürdigere christliche Paradies.
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Wenn mir Gliedmaßen vom Rumpf abgetrennt würden, litte ich zunehmend. Wenn mir hingegen der Kopf abgetrennt würde, sollte damit plötzlich alles Leid endgültig vorüber sein? Das erscheint mir im Nachhinein doch recht weit hergeholt.
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5)
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Wer nicht mehr an das leidlose Nichtsein im Sinne endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod glaubt, muss sich mit weniger absoluten Formen der Ruhe zufriedengeben.
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Zentral ist mir da das Ritual. Vom Geist gesetzte und diszipliniert eingehaltene Gewohnheiten entspannen den Körper und nehmen der Seele die Angst.
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Körper plus Seele gleichen einem Hund, den Herrchen Geist nicht loswerden kann und der artgerecht zu halten ist, damit er nicht noch mehr Schwierigkeiten macht.
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6)
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Leute sind laut. Zwecklos, ihnen das Leisesein nahebringen zu wollen. "Seid doch bitte leiser!" zu ihnen sagen, das ist wie zu Großgewachsenen "Seid doch bitte kleiner!" sagen.
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Apropos groß: Große reden lauter, und Kleine bemühen sich, lauter zu reden, um neben den Großen nicht unterzugehen.
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Sogar telefonieren tun die Leute, als ob sie einem weiter weg Stehenden etwas zurufen müssten. Dabei haben sie das Ohr des anderen doch quasi direkt vor ihrem Mund.
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7)
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Man – und frau erst recht – hat im Ausnahmezustand der Fußball-WM 2006 die neue deutsche Lautstärke entdeckt und sie mit in den Alltag hinübergenommen.
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Befreiend, nach Jahrzehnten verschämten Ruhehaltens endlich wieder die "eigene" Fahne schwenken und johlen zu können, wie die Nachbarländer auch?
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Mag sein. Aber ach so vieles, was tief in uns drinsteckt, sollten wir besser dort belassen – auch und gerade wider die Mehrheit.
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8)
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Kinofilme und Fernsehserien zeigen sie uns in einem fort: lakonische Frauen mit sexuellem Heißhunger, redefreudige Männer mit sozialem Feingefühl.
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Um das Interesse der Zuschauer wachzuhalten, werden die realistischen Geschlechterrollen einfach vertauscht. Sie spielt seinen Part, er ihren – das ist das ganze Geheimnis.
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Wer dahintergestiegen ist, dessen Unruhe, realiter immer an die falschen Partner zu geraten, legt sich schnell und nachhaltig. Die in den Filmen sind falsch.
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9)
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Als Kind war ich leider Christ. Die Schöpfung, das Jüngste Gericht, Himmel und Hölle waren selbstverständlicher Teil meiner Lebenswirklichkeit. Vor allem von der Höllendrohung habe ich mich nie mehr erholt. Die Hölle macht ihre Gläubigen schon auf Erden zu seelischen Krüppeln.
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In der Schule traten an die Stelle der biblischen Geschichten dann naturwissenschaftliche Modelle, welche mir heute als erkenntnistheoretische Behauptungen zwar ebenfalls mehr als zweifelhaft erscheinen, aber damals geradezu erlösend wirkten. Gemessen an der christlichen Lehre ein wahrer Segen.
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Doch schon für sich und als ethisch begründete Weltanschauung genommen ist das Christentum skandalös. Ein herrischer Gott schafft mit voller Absicht das leidlose Nichts ab, für seine leidvolle Welt – und schickt schließlich alle ins ewige Feuer, die ihn dafür nicht lieben! Wer das begreift und glaubt, dem bleibt nur der Wahnsinn.
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10)
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Materialisten glauben oft auf eine nicht anders als religiös zu nennende Weise. Sind sich völlig sicher, es gäbe eine seitens der Naturwissenschaft in der Hauptsache verstandene Entwicklung vom physikalischen Urknall über die biologische Evolution bis hin zur geistigen Kultur.
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Und das, obwohl die theoretischen Erklärungen der ausschlaggebenden Übergänge zwischen Nichts, Materie, Leben und Bewusstsein weiterhin fehlen bzw. genauso willkürlich bis mysteriös anmuten wie die ansonsten doch so entrüstet abgelehnten religiösen Bilder – von experimentellen Nachweisen ganz zu schweigen.
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Ich meine, Materialisten haben meist eine eher emotionale Entscheidung getroffen zwischen Tradition und Moderne, welche ewiges Leben unter Gott bzw. endliches Leben ohne Gott versprechen. Auch ich ziehe letzeres vor, glaube aber nicht daran. Nichtsein mit einer hässlichen, aber winzigen Unterbrechung namens Leben – das klingt zu schön, um wahr zu sein.
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11)
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Kritische Distanz wahre ich sowohl gegenüber der christlichen Tradition als auch gegenüber der realistischen Moderne. Überzeugen mich evt. deren kleine Geschwister, die esoterische Mystik bzw. die subjektivistische Postmoderne?
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Nein. Denn auch diese beiden geben sich betont lebensfroh. Obwohl sie sich in vielerlei Hinsicht auf die Lebensverneiner Buddha bzw. Schopenhauer berufen, halten sie es, wenn es ans Eingemachte geht, dann doch mit den Lebensbejahern Jesus bzw. Nietzsche.
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Für mich die wahrhaftigste Lebensphilosophie: Ablehnung des Lebens bei gleichzeitiger Annahme seiner Alternativlosigkeit. Nur das ist Pessimismus und Skepsis in letzter Konsequenz – was auch immer sich heutzutage sonst noch diese Namen gibt.
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Das Leben als Kontinuum ohne Anfang und Ende anzusehen fällt nicht zuletzt deshalb schwer, weil sowohl das Christentum als auch der Realismus so machtvoll verkünden, was mit dem Tod angeblich bevorsteht.
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Wir sind gewöhnt, an ein Jenseits oder an ein Nichtsein im Tod zu glauben, weil uns das permanent vorgebetet wird. Tatsächlich aber gibt es über unsere individuelle wie kollektive fernere Vergangenheit und Zukunft keinerlei verlässliche Information.
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Wer aus einem Fenster blickt, denkt sich den gerade sichtbaren Ausschnitt der Welt nach allen Seiten hin ähnlich fortgesetzt. Paranoid, um die Ecke gänzlich Anderes oder absolutes Nichts zu vermuten. Genau das aber ist es, was in Bezug auf ihr Leben die allermeisten tun.
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Quietist sein, damit meine ich: ein Ruhiger unter Ruhigen sein wollen oder alleine in Ruhe sein wollen. Wenn es um mich herum ruhig wird, dann werde ich auch ruhig. Dann sind die ruhige Umgebung und ich eins.
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Ruhe scheint den meisten Menschen aber nicht geheuer – oder nur ein Hintergrund, vor dem man sich umso wirkungsvoller produzieren kann. So wie eine weiße Wand Schmierereien anzieht, so ist die Stille ein Magnet für Lärm.
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Ruhe geben können bzw. sich Ruhe nehmen können – darauf kommt es dem Quietisten an. Der Aktionist aber ist entweder ein Lauter unter Lauten oder er macht alleine Krach. Wenn er ja einmal Ruhe gibt, dann hat sein Umfeld allen Grund zur Sorge.
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Den Ruhesucher sehe ich als Gegenfigur zum Glückssucher.
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Aber ist Ruhe nicht nur eine spezielle Art von Glück? Nein. Den Gegensatz, auf welchen ich hinauswill, zeigt folgender Lackmustest: Die Vorstellung des Nichts als endgültige Abwesenheit von Freud und Leid ist dem Ruhesucher höchst angenehm, dem Glückssucher höchst unangenehm.
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Tatsächlich haben die Glückssucher die Ruhe auf dem Gewissen – sofern sie eines haben. Denn die aktive Glückssuche schlägt immer höhere Wellen, mit schmalen Gipfeln des Vorteils und breiten Tälern des Nachteils. Die Ruhesuche will das Gegenteil, ist gegen den Glücksaktionismus aber so gut wie machtlos.
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Wenn ich nicht mehr an ein Nichtsein oder etwas anderes jenseits des Lebens glauben kann – bin ich dann schon ein Anhänger der Wiedergeburtslehre?
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Im konkreten Sinn eher nein – wenn mit Wiedergeburtslehre ein spezielles Schema gemeint ist, nach dem man in einer Hierarchie von Lebewesen durch Seelenwanderung auf- oder absteigt.
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Im abstrakten Sinn eher ja – wenn mit Wiedergeburtslehre gemeint ist, dass das Leben im allgemeinen, also wie wir es alle kennen, ein geschlossener Kreislauf ist, aus dem es kein Entrinnen gibt.
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Das Nichts, nach meiner Ansicht niemals gewesener und niemals erreichbarer quietistischer Idealzustand, ist im Christentum der von Gott ein für allemal abgeschaffte Urzustand.
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Die beiden christlichen Endzustände Himmel und Hölle sind davon so weit wie nur irgend möglich entfernt. Stehen sie vielleicht symbolisch für den christlichen Horror vor dem Nichts?
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Die Welt läuft eher vor dem Nichts davon als darauf zu, ich muss es leider zugeben. Aber den Rest der Ewigkeit in einem der beiden Nichts-fernsten Extremzustände absitzen? Das erscheint mir dann doch wieder arg weltfremd.
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In unserer Gesellschaft gibt es wenige, die ihren nur allzu berechtigten Hass auf das Leben offen aussprechen. Aber es gibt viele, die ihn mit aller Kraft unterdrücken und schon ganz krank davon sind.
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In unserer Gesellschaft gilt es als moralische Verpflichtung, für sein Leben dankbar zu sein. Obwohl es gerade moralische Überlegungen sind, welche den Lebensbejaher zur Lebensverneinung bringen.
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In unserer Gesellschaft begehen viele Realisten Selbstmord und viele Religiöse suchen den Tod in einer sich aufopfernden Lebensweise. Vielleicht würde es jedoch fürs Erste schon genügen, dem Lebenshass verbalen Ausdruck zu geben.
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Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? Ich meine, wir sind primär eine aktive Gesellschaft von Machern und tendieren zur Antwort Henne.
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Zu den hilflosen Opfern suchen wir stets die verantwortlichen Täter oder eine höhere Gewalt. Aber was, wenn das Leid zuerst da war, und jegliche Tat nur verzweifelte Reaktion ist?
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Ich sehe alle Lebewesen als Opfer. Mag sein, dass viele irgendwann absichtlich zu Tätern werden. Aber doch nur in unschuldiger Wut auf ein grausames Leben, das war und ist und sein wird, ohne Grund und ohne Ziel.
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Schopenhauers Pessimismus hat sich bewahrheitet: Nietzsche war der schlimmste philosophische Nachfolger, der sich denken lässt.
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Sein heroischer Optimismus steht auf den Fahnen des neuen Jahrtausends, Lebensfülle vom höchsten Glück bis zum tiefsten Unglück ist angesagt – alles, nur keine Ruhe.
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Als Quietist mit möglichst bescheidenen Höhen und Tiefen meine ich aber weiterhin: die besten Momente im meinem bisherigen Leben waren die in Vollnarkose.
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Wenn Bewusstlosigkeit das quietistische Ideal ist, warum dann nicht einfach Suizidversuche oder zumindest Drogen en masse?
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Nach meiner Erfahrung ist jegliches Sichverschließen vor der Wahrnehmung der Wirklichkeit nur ein zu horrenden Zinsen aufgenommener Kredit.
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Auf Dauer gibt es keine Alternative zum bewussten Leben. Je realitätsferner der Rausch, desto realitätsnäher der Kater.
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21)
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Die moderne Skeptikerbewegung weiß um die prinzipielle Unwissenheit bzw. Unbeweisbarkeit hinsichtlich der wesentlichen philosophischen Problemstellungen. Dennoch setzt sie in allen Fragen des Lebens voll auf die Naturwissenschaft, welche sie im Kern für nüchtern und objektiv hält.
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Auf den Tod bezogen sagen die Skeptics: Wir wissen nicht, ob danach noch etwas kommt oder nicht – und ihr wisst es auch nicht! Stimmt. Aber die Menschen machen sich nun einmal Vorstellungen von dem, worüber sie nichts wissen können. Auch die Skeptiker.
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Es gilt als skeptisch, zu glauben, mit dem Tod sei alles aus. Dabei lehnt sich der Materialismus mit seinen Modellen des Bewusstseins wirklich sehr weit aus seinem Fenster. Und es ist übel, wenn die Naturwissenschaft mit solchen Behauptungen auf eher fachfremdem Gebiet Anhänger wirbt.
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Wir sind eine positivistische Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes: negativer als null kann es in unserer Vorstellung kaum werden.
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Wer an ein Paradies im Tod glaubt, ist Optimist; wer an das Nichts im Tod glaubt, ist angeblich schon Pessimist. An eine Hölle im Tod glaubt keiner – zumindest nicht für sich selbst.
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Ich glaube an die ähnliche Fortsetzung des Lebens im Tod. Und halte alle bis auf meinesgleichen (und die Höllengläubigen) für Optimisten.
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Wer sagt, dass es ihm im Himmel nicht gefallen würde bzw. in der Hölle gefallen würde, hat wohl nicht verstanden, dass diese religiösen Begriffe eben dadurch definiert sind, dass es im Himmel jedem und in der Hölle keinem gefällt.
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Die beiden gemeinhin als areligiös angesehenen Todesvorstellungen, das Nichts und das Ungewisse, sind aber tatsächlich für den Optimisten abstoßend bzw. anziehend, für den Pessimisten dagegen anziehend bzw. abstoßend.
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Noch komplizierter ist es mit meinem Modell der ähnlichen Fortsetzung des Lebens im Tod – für mich als Pessimisten ist es traurig und beruhigend zugleich. Könnte ich stattdessen an das Nichts im Tod glauben, wäre ich heute froh und morgen tot – und übermorgen?
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24)
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Sollte es nicht möglich sein, das Leben zu genießen? Erst recht, wenn es nicht als endich, sondern als ewig anzunehmen ist?
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An der Oberfläche vielleicht: indem man laut wird, sich in den Vorteil setzt, Macht ausübt. Aber wer in die Tiefe geht, kann nur traurig werden und bleiben.
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Ruhig bleiben heißt auf Macht verzichten. In der Ruhe liegt nicht etwa die Kraft, ebensowenig wie der Klügere nachgibt. Aber der ruhige Mensch ist ethisch der bessere.
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Der Hund, das Kind, der clevere Erwachsene in uns ist gerne laut. Stellt sich am liebsten dorthin, wo seine Stimme mächtig widerhallt, und bellt los. Wer nicht genug Stimme hat, geht in den Baumarkt und kauft sich Werkzeug zum Krachmachen.
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Wir sind eine pluralistisch-tolerante Gesellschaft – die Ruhigen dürfen ruhig sein und die Lauten dürfen laut sein. Ich liege und denke, mein Nachbar steht und hämmert – jedem das Seine, oder?
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Diese Asymmetrie zwischen laut und leise ist unheilbar. Die Welt ist schlecht. Das einzige Zugeständnis der Lauten an diese traurige Tatsache ist selbstironisches Lachen. Wenn das die Leisen nicht versöhnt, haben die eben keinen Humor, ja ja.
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Die moderne Psychotherapie geht zurück auf Freud, Freud auf Nietzsche.
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Wer das Leben ablehnt, ist für die Psychotherapeuten krank, depressiv.
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Ich meine, wer das Leben ablehnt, hat etwas verstanden, was die anderen nicht verstehen – oder nicht wahrhaben wollen.
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Die moderne Skepsis baut auf Physik.
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Wer kein materialistisches Weltbild hat, ist für die Skeptics ein Crank, ein Spinner.
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Ich meine, wer die materialistischen Modelle des Bewusstseins anzweifelt, hat etwas verstanden, was die anderen nicht verstehen – oder nicht wahrhaben wollen.
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Lebensverneinung treibt religiöse Menschen in den Wahnsinn und ins Martyrium.
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Lebensverneinung treibt realistische Menschen in den Suizid und in den Amok.
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Lebensverneinung ist am ungefährlichsten, wenn man nicht mehr an die Veränderung im Tod glaubt.
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Die Leute sagen, das Leben sei ein Kampf – Fressen und Gefressenwerden. Und dann lachen sie. Warum nur?
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Freude am Kämpfen finde ich verwerflich, Freude am Siegen verwerflicher, Schadenfreude gegenüber dem Besiegten am verwerflichsten. Sogar der Galgenhumor des Verlierers ist noch Huldigung des Prinzips: Überheblichkeit gegen sich selbst, Abspaltung eines Sieger-Ichs.
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Ein echter Kampf sollte nur stattfinden, wenn er wirklich unvermeidbar ist. Sieger wie Verlierer sollten den andern und sich selbst würdigen, indem sie dabei ernst bleiben.
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Während ich einerseits den echten Kampf und seine beschönigten Formen wie den Wettbewerb ablehne, bin ich andererseits einverstanden damit, die Kampflust des Tieres bzw. des Barbaren in uns auf virtueller Ebene abzufeiern.
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Schon Aristoteles aus dem antiken Athen beschreibt die kathartische Wirkung der im Theatron aufgeführten Tragödien, das Miterleben der Spielhandlung bzw. die Identifikation mit ihren Figuren als Möglichkeit der ungefährlichen Ableitung seelischer Affekte.
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Wer mediale Gewaltdarstellung und Computerspiele zu den Hauptverantwortlichen u.a. für jugendlichen Amoklauf erklärt, sollte einmal darüber nachdenken, wozu allein das moderne Versprechen endgültiger Leidfreiheit im Tod langfristig noch führen könnte.
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Der heute zunehmende Materialismus ist keine gute Philosophie für Menschen, deren Leben verglichen mit dem leidlosen Nichts schlecht abschneidet. Und diese Bilanz dürfte weltweit die traurige Regel sein. Was sollte leidende Materialisten von Mord, Euthanasie und Suizid abhalten, privat oder auch in großem Stil?
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Im antiken Griechenland glaubten die Menschen an eine Verschlechterung ihrer Situation im Tod. Der Hades war eine dunkle und freudlose Stätte, die fast keinem Toten erspart blieb. Denn um von den Göttern ins Elysion vorgelassen zu werden, musste man schon eine im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte Persönlichkeit sein.
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Die Philosophen der Antike steuerten dem allgemeinen Todespessimismus mit optimistischeren Modellen entgegen. Vielleicht wäre es heute ja an der Zeit, dass die Philosophen den allgemein sehr hohen Erlösungserwartungen an den Tod mit pessimistischeren Modellen begegnen.
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Philosophischer Gleichmut gegenüber dem Tod heißt, ihn weder zu ersehnen noch zu fürchten. Im alltäglichen Leben lässt sich das vielleicht am einfachsten verwirklichen, indem man weder von einer Verbesserung noch von einer Verschlechterung der eigenen Situation im Tod ausgeht.
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Was aber, wenn ein Mensch durch Alter oder Krankheit Höllenqualen leidet? Darf er nicht einmal vom Tod Linderung erhoffen? Muss er sich selbst ihn noch als dauerndes Dahinsiechen, als ewige Fäulnis vorstellen? Soll es somit auch keinen Freitod und keine Sterbehilfe geben?
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Ich meine schon, dass der Tod aktiv gewählt werden darf. Aber die momentane Lebenssituation sollte dann eben nicht gegen ein Paradies, das Nichts oder eine erneuernde Wiedergeburt abgewogen werden, sondern gegen das allgemeine, das durchschnittliche Los aller Lebewesen. Welches zweifellos ein schlechtes ist.
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Wenn im Tod weder die Bestrafung für ein schlechtes Leben droht, noch die Belohnung für ein gutes Leben lockt, dann steht es einem eher frei, das Gute zu tun bzw. das Schlechte zu lassen. Das Gute um seiner selbst willen ist eh das einzig wirklich Gute.
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Das Gewissen als Sammelbüchse für Plus- und Minuspunkte, gewogen an den Pforten zum Jenseits bzw. zum nächsten Leben, um ein Urteil über Beförderung oder Degradierung zu erhalten – dieses Bild kann nur einer Krämerseele Ansporn sein, deren Vorteilsstreben ihre gute Absicht Lügen straft.
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Ich stelle mir einfach ein ewig währendes Leben vor, in dem ich jeden Tag die Wahl habe, mit schlechtem Gewissen meinen Vorteil zu suchen oder mit gutem Gewissen darauf zu verzichten. Ein vorteilhaftes Leben mit gutem Gewissen ist in unserer schlechten Welt wohl nur wenigen Begabten möglich.
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"Wir wissen eh nicht, was ein Anderer fühlt – Mensch, Tier, Pflanze oder Ding!", sagt der Ausbeuter und macht sich alles untertan. Noch nicht abgestumpftes Mitgefühl jedoch hat eine große Reichweite: selbst Steine können herzerweichend knirschen.
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"Opfer wollten Opfer sein, sonst wären sie Täter geworden!", so ein weiteres Argument des Aktionisten. Aber meist konnten Opfer keine Täter werden. Und wenn doch: vielleicht wollten sie ja, wie ich, weder Täter noch Opfer sein.
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In unserer schlechten Welt ist das Glück nur die schmale Pyramidenspitze, getragen von der breiten Basis aus Leid. Aktivität macht diese Pyramide in alle Richtungen größer. Ruhe geben ist die bessere Wahl.
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Die materialistische Weltanschauung, so argwöhne ich, ist motiviert durch den Neid der am Leben Leidenden auf die vermutete Bewusstlosigkeit der Dinge.
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Und die vermutete Bewusstlosigkeit wiederum ist motiviert durch den Wunsch, die Dinge ohne schlechtes Gewissen benutzen bzw. beschädigen zu können.
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Der Materialismus bemüht sich, die Anschauung der Welt von allen Gefühlen zu befreien. Mit vorfreudigem Blick auf die von ihm verheißene endgültige Gefühllosigkeit im Tod.
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Totenstille ist leider sehr selten. Und sogar für Ruheliebhaber zu still. In einem schalltoten Raum, dessen Wände jeden Laut schlucken, kommt unwillkürlich Beklommenheit auf – das Tier in uns kriegt Angst. Während sich der Geist an der Stille erfreut, wird der Körper unruhig.
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Praktikable Ruhe ist nicht völlige Stille, sondern gleichmäßiges Geräusch ohne störende Schwankungen bzw. Informationen. Etwa das Rauschen fließenden Wassers oder strömenden Regens. Es lullt ein und kann leisere Störschalle völlig verdecken.
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In akustisch aufdringlicher Umgebung stecke ich mir Stöpsel in die Ohren und beschalle mich zudem mit weißem Rauschen. Beim Zugfahren verwende ich inzwischen sogar Im-Ohr-Kopfhörer mit Gehörschutzkapseln darüber. So hasse ich meine lauten Mitreisenden weniger.
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Ruhesuche – ist nicht bereits der Begriff ein Widerspruch in sich? Schon, aber durch bloße Passivität stellt sich keine Gemütsruhe ein. Gar nichts tun hieße, alles einstecken zu müssen, was auf einen hereinprasselt. Das wäre schnell so anstrengend, dass der Passive nicht mehr an sich halten könnte, ausfällig würde. Amokläufer haben zu viel erduldet.
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Besser als Aushalten ist Davonlaufen. Die Flucht halte ich ungeachtet ihres schlechten Rufs für das quietistische Mittel der Wahl. Ein wacher Geist sucht kontinuierlich nach den wenigen Nischen, wo die Gesellschaft das Individuum noch in Ruhe lässt. Wohl dem, der sein Heil im Rückzug findet, bevor er sich verteidigen oder gar angreifen muss.
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Die sogenannte Befriedung ist nämlich selbst ein kriegerischer Akt. Wer der Unruhe um der Ruhe willen gewaltsam begegnet, stellt sich mit den Aufrührern auf eine Stufe. Wer sich nicht wehrt, lebt doch nicht verkehrt – wenn er die Zurückgezogenheit dem Kampf mit einer Urgewalt vorzieht, gegen die sich aus prinzipiellen Gründen nichts ausrichten lässt.
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Ruhe nimmt anderen nichts weg. Eigenes Glück ohne Unglück anderer dagegen ist fast unmöglich. Das himmlische Vergnügen einer Bergtour beispielsweise richtet unter derben Schuhsohlen eine Hölle aus halb zertretenen Kleintieren an. Und für die "verdiente" Stärkung der hungrigen Wanderer erleidet das Schlachtvieh lebenslange Folter.
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Was wir beschönigend Arbeit, gar Wertschöpfung nennen, ist meist nur gewaltsame Umverteilung – Vorteil für uns, Nachteil für andere. Die Summe ist nicht positiv oder null, sondern negativ: Nutznießer freuen sich weniger als Ausgenutzte leiden. Die Bürger der westlichen Welt stehen unbequem auf dem Gipfel eines Berges aus Menschen ärmerer Länder.
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Denker sind harmloser als Macher. Mit einem guten Buch reglos auf dem Bett zu liegen erscheint mir moralisch korrekter. Und nach einem guten Gespräch sind gar alle Beteiligten reicher als zuvor. Je mehr dagegen der Aktionist physisch in Bewegung setzt, desto mehr bezweifle ich sein vorgebliches moralisches Verdienst.
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Denker suchen die Ruhe im Alleinsein, Macher die Action in Gesellschaft. Woran liegt das?
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"Ihr seid doch nicht alleine hier!" sagt man mit vorwurfsvollem Unterton zu Kindern, die es allzu bunt treiben. Sie merken nicht, dass sie sich rücksichtslos gegen andere verhalten, oder finden gerade das aufregend, weil es sie ihnen scheinbar näher bringt.
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Macher sind wie diese Kinder, wie Gott bei der Schöpfung: kämpfen trotzig gegen ihre innere Einsamkeit, hobeln hektisch drauflos, blind für die fallenden Späne. Denker dagegen sind selbst in ruhiger Abgeschiedenheit noch verbundener mit der Welt als ihnen lieb sein kann, weil sie deren Leid begreifen und permanent mitfühlen.
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Ich fühle mich nicht als Geschöpf, weder Gottes noch meiner Eltern noch meiner selbst. Sonst müsste ich ihnen böse sein, mich geschaffen zu haben.
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Ich bin schon, solange ich denken kann. Mein Körper will dieses Leben, mein Geist nicht. Ich halte zu meinem Geist, dem Unterlegenen von beiden.
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Wer nicht mehr leben will, kann versuchen, sich zu erschlagen. Das Wort Selbstmord trifft es: freiwillig geht kein Körper. Und wenn er geht, was kommt dann?
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41)
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Ich glaube, dass es nach dem Tod im Wesentlichen so weitergeht wie zuvor bzw. dass es leider nur das Leben gibt.
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Ich will aber das absolute Nichts im Tod, denn es wäre Gleichheit pur. Niemand hat jemals mehr oder weniger verdient als Nichtsein.
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Ich weiß aber, dass mein Schicksal im Tod ein völlig ungewisses ist. Was fälschlicherweise nahelegt, der Tod müsse das ganz Andere sein.
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(Ich kann aber nicht ganz umhin zu fürchten bzw. zu hoffen, dass im Tod eine Verschlimmerung bzw. Verbesserung eintritt.)
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Wissen im Grunde nicht alle, dass sie am Leben vornehmlich leiden und dass der Tod ein ungewisses Schicksal bedeutet?
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Die Lebensfrohen verdrängen es mit aller Macht, übertönen es mit geschäftiger Unruhe und lautem Humor. Vielen mag es sogar gelingen, sich selbst zu täuschen.
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So weit, so klar – fraglich noch, warum manche es diesen mit Gewalt Glücklichen nicht nachtun wollen, selbst wenn sie es könnten. Was ist besser: tief traurig oder oberflächlich fröhlich?
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Die Wut aufs leidvolle Leben demoliert zuerst Spielzeug und Schulklos, zerstört zuletzt Wolkenkratzer und Nationen – aber in formelhaften offiziellen Verlautbarungen bleiben die Motive stets rätselhaft, die Friedlicheren voll Abscheu und Unverständnis.
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Wir wurden erzogen, vom Schönen wortreich zu künden und vom Hässlichen betroffen zu schweigen. Je kultivierter der Mensch, desto betonierter sein auswendiges Grinsen und sein inwendiges Grimmen. Optimismus lügt sich die Welt systematisch schön.
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Ich warte auf den ersten Medienbericht, der Mitgefühl und Verständnis für ein Attentat auf das Leben gesteht. In kleinen Häppchen runtergeschlucktes Lebensleid kommt in großen Schwällen wieder hoch – diese Wahrheit zugeben zu können wäre ein Anfang.
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Die Anzahl der unangenehmen Erfahrungen dürfte in fast jedem Leben die der angenehmen weit übersteigen.
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Pessimisten unterscheiden sich von Optimisten nur durch ihre Bereitschaft zur unverblümten Schlussfolgerung: Die Welt ist schlecht.
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Zeitgenössischer Optimismus versucht, das zu verhindern, indem er Verallgemeinerungen allgemein tabuisiert. Die Welt bleibt schlecht.
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Vernünftige Menschen, die ihr Leben lieben, seinem Ende traurig aber gefasst entgegensehen und nicht an ein Leben nach dem Tod glauben – sie machen mich bisweilen unsicher, ob ich mich für klüger halten darf als sie.
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Aufgeklärte Menschen ohne Traumata und Nahtoderfahrungen nehmen quasi automatisch diese "gesunde" Entwicklung. Aber ist das generelle Leiden am Leben und der Zweifel an seinem Ende deshalb als "kranker" Sonderfall abzutun?
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Jene Minderheit der Gesunden, vielleicht sogar Glücklichen, kann meine negative Gesamtbewertung des Lebens nicht verhindern. Dem unbestechlichen Geist genügt eigentlich schon ein einziges Unrecht, um das Nichtsein dem Sein vorzuziehen.
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Gerechtigkeit wäre immer noch schlechter als Nichts. Das Leid würde nur gleichmäßig verteilt oder mit Freude aufgewogen. Streben nach Gerechtigkeit akzeptiert Herrschaft, solange die Bilanzen stimmen.
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Wer sich durch Freude mit dem Leid versöhnen lässt, ist käuflich. Wie überhaupt die Versprechungen von Gott und der Welt für Krämerseelen gemacht sind, die sich ihre Nachteile lieber durch Vorteile vergelten lassen als sich beidem zu verweigern.
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Ewiges Hin und Her ist den Händlern dieser Welt ein Selbstzweck. Ohne Stolz schaukelt es sich leichter auf den Wellen des mächtigen Schicksals, heulend hinab und jauchzend wieder hinauf. Weniger wäre mehr, Nichts wäre am meisten.
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Gegen das Christentum wird typischerweise mit dem Atheismus argumentiert – der aber gar nicht den direkten Gegenpol bildet, sondern eher abseits davon steht.
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Warum nicht einen Gegengott an die Wand malen, der Skrupellosigkeit belohnt und Gutmütigkeit bestraft? Ließen sich Welt und Mensch nicht viel besser als Machwerk bzw. Ebenbild dieses bösen Gottes erklären?
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Dass Gott mächtig und gut sei, passt ebensowenig zusammen wie dass der Mensch mächtig und gut sei. Wo der Mensch am meisten Macht ausübt, richtet er am meisten Unheil an. Am besten ist der Mensch, wo er sich im Machtverzicht übt.
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Quietismus bedeutet mir die Einsicht, dass ich ein angenehmes Leben nicht verlangen kann, nicht erbitten soll, aber auch nicht verdienen muss – nicht einmal geschenkt bekommen will.
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Mein intuitiv gefühltes aber leider nicht einklagbares Recht ist es, kein unangenehmes Leben ertragen zu müssen.
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Es besteht für mich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Positiven und der Negation des Negativen: mein Quietismus verzichtet auf alle Freiheit, besteht aber auf jeder Unabhängigkeit.
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Wer ist religiös? Ich meine, religiös ist, wer bewusstes Vertrauen in eine bestimmte Weltanschauung setzt und in existentiellen Nöten seelischen Trost daraus zu schöpfen vermag.
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Religiös somit auch, wer nach Art der Realisten dem Tod die endgültige Erlösung von allem Leid zutraut. Vielleicht ist es sogar der Inbegriff von Religion, die letzte Rettung im Tod zu platzieren.
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Meine vergleichsweise fragile und traurige Religion besteht darin, das Leben für einen ewigen Kreislauf ohne Ausweg zu halten. Wer gut hinsieht, ahnt das Schlimmste also schon.
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(Ohne Religion ist für mich nur, wer entweder nicht darüber nachdenkt, worauf er grundsätzlich vertraut, oder in ständiger Furcht lebt, gleich in den Abgrund der Hölle zu fallen.)
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Gläubige sind verwundbarer als "Ungläubige". Stellen Behauptungen auf, die Widerspruch, wenn nicht Hohn herausfordern. Realisten wirken überlegen mit ihrem Unglauben bezüglich eines Lebens nach dem Tod – positiv gewendet aber klingt ihr Glaube an eine von uns unabhängige Außenwelt, von der unsere Innenwelt abhängen soll, eher mysteriös.
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Ich formuliere auch lieber negativ: Ich glaube nicht an das Ende des Leidens im Tod. Mit der positiven Behauptung eines ewigen Lebenskreislaufs lehne ich mich nach meinem Gefühl schon viel zu weit aus dem Fenster. Außerdem fragt dann jeder gleich, wie das gehen solle: Wiedergeburt? Falls ja: als was? usw.
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Gewagte Antwort: Unser inneres Lebensgefühl aus Leid und Angst mit dem Puderzucker von Freude und Neugier darüber ist universal. Wie sich das Leben körperlich manifestiert, ist vergleichsweise egal. Wer vor allem wissen will, welche äußeren Formen es noch annehmen wird, flüchtet sich ins unwichtige Spezielle, statt sich dem wichtigen Allgemeinen zuzuwenden.
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Traditionell gelten die Materialisten mit ihrer Vorstellung vom endlichen Leben als "ungläubig", die Spiritualisten mit ihrer vom unendlichen Leben als "gläubig".
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Aber jemand wie ich, der das Leben hasst, findet die Zukunftsaussichten des Materialismus wesentlich tröstlicher als die des Spiritualismus.
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Ich habe durch Nahtoderfahrungen meinen Glauben an das Ende verloren und werde als gläubig belächelt, wenn ich davon erzähle – doppelte Strafe.
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Viele Menschen wollen ein ewiges Leben und glauben auch an ein ewiges Leben.
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Viele Menschen wollen ein ewiges Leben, glauben aber nicht an ein ewiges Leben.
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Viele Menschen wollen kein ewiges Leben und glauben auch nicht an ein ewiges Leben.
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(Wenige Menschen wollen kein ewiges Leben, glauben aber an ein ewiges Leben.)
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Ende des letzten Jahrhunderts halfen wir sanften Softie-Männer freiwillig zu den Frauen – für eine weiblichere Welt.
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Anfang dieses Jahrhunderts dienen wir den Macho-Frauen unfreiwillig als Punching-Ball – für eine männlichere Welt.
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Die Revolution frisst ihre Kinder.
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Lebenskünstler. Auf einem Grashalm kauend den Blick übers unberührte Land schweifen lassen, ruhig und bedürfnislos. Ein intellektuelles Schwätzchen, ein vegetarisches Mahl – wem nimmt einfacher und reiner Lebensgenuss denn bitteschön etwas weg?
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Solche Gedanken kommen der Upper Middle Class in den Ferien, sind die Früchte einer berufsmäßigen Ausbeutung der Erde, eines funktionierenden HighTech-Gesundheitssystems und einer kraftstoffaufwendigen Reise raus in die Natur.
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Selbst wenn das Simple Life dem Einzelnen in Ausnahmen ethisch korrekt gelingen mag – die sture Masse ist mit Riesenschritten unterwegs zum immer höheren Verbrauch. Frieden bleibt Kurzurlaub vom Krieg.
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Neugeborene sind am ehrlichsten, schreien ihr Lebensleid stundenlang aus sich heraus. Die Umstehenden reagieren mit festgeschraubtem Lächeln. Taub für den Weltschmerz in seiner ursprünglichsten Form, unterstellen sie stets nur Hunger und Müdigkeit.
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Heranwachsende, die weiterhin keine gute Miene zum bösen Spiel machen, "wissen eben nicht, was sie wollen". Zu wissen, was sie nicht wollen – leiden nämlich – nützt ihnen nichts. Zuckerbrot und Peitsche forcieren frohe Momente, die fotografiert und in Alben geklebt unsere glückliche Kindheit beweisen.
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Große, die ihr Leben immer noch als Zumutung statt als Geschenk empfinden, schimpft man undankbar, verhöhnt sie als Jammerlappen und Weicheier. Wer gar nicht mitlügen will oder kann, gilt als krank, muss zum Psychiater. Wenn auch die Drogen nicht mehr helfen, bleibt nur noch Isolation und Selbstmord.
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Die wichtigsten Fragen des Lebens sind entweder out oder waren nie in. Wann ist der Tod dem Leben vorzuziehen? Sollte man Kinder in diese Welt setzen? Handytarife und Beautytipps stoßen auf ungleich mehr Interesse.
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Neben dem Leichtsinn gibt es hierfür aber auch einen verzeihlicheren Grund: Antwortversuche auf so existentielle Fragen haben in ihrer mangelhaften Begründbarkeit etwas Empörendes, können nur willkürliche Meinungen sein.
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Ich meine trotzdem. Der Tod ist dem Leben vorzuziehen, wenn man beginnt, alles Leben um sich herum zu beneiden. Und Kinder sollte nur in die Welt setzen, wer das Leben aus guten Gründen lieben und diese auch weitergeben kann.
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Wer Ruhe will, entwächst damit nicht nur seiner Kindheit, sondern auch den meisten Erwachsenen. Diese kommen dem Quietisten vor wie lärmende Gören, die endlich rund um die Uhr aufbleiben dürfen.
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Optimisten meinen oft, man solle sich den kindlichen Ungestüm erhalten, aber das Klagen übers Leben verkneifen. So hat auch mein ungefilterter Pessimismus für andere etwas ärgerlich Unreifes.
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Quietisten zwingen den anderen ihre Art aber nicht auf. Laute tun genau dies, vor denen gibt es kein Entkommen. Wir Leisen dagegen stören nicht, und auch dunkle Homepages braucht keiner zu lesen, der das nicht möchte.
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Das Leben ist nicht gewollt, sondern gemusst. Zumindest vom Geist, mit dem ich mich mehr identifiziere als mit dem Körper. Das Gerede von der geistigen Liebe zum Leben ist aus der Not geborene Pseudotugend.
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Unser drängendes Dasein als Tiere lässt uns kaum eine Wahl. Dem Geist bleibt nur ausnahmsweise der ethisch motivierte Verzicht auf das Ergreifen eines Vorteils, der anderen zum Nachteil gereicht hätte.
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Wir können unser Lebensschiff auf den Wellen des Schicksals ein klein wenig zwischen unethischer Lebensfülle oder ethischer Lebensleere hin- und hersteuern, das ist schon alles. Erstere ist Freiheit, letztere Unabhängigkeit.
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Ganz in seinem Element sein – kann das jeder?
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Ich glaube nicht.
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Begabte Künstler sind die seltene Ausnahme.
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Ruhige Zurückhaltung ist am Aussterben.
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Softies können spätestens bei den eigenen Kindern Freude und Stolz nicht verhehlen, wenn diese mit lautem Durchsetzungsvermögen der Grausamkeit anderer Kinder weniger ausgeliefert sind als jene es selber waren.
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Sanftmut können sich nur noch die leisten, denen man deutlich ansieht, dass sie auch anders können.
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Laut oder leise, optimistisch oder pessimistisch – eher Veranlagung als Wahlmöglichkeit.
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Persönlich aussagekräftiger fast, was davon man sich zu sein wünscht.
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Ich bin leise und pessimistisch – und will es sein, weil die Leisen und die Pessimisten rechthaben.
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Grob unterscheide ich drei Gruppen der Weltbevölkerung, die an Himmel und Hölle, an das Nichtsein und an die Wiedergeburt im Tod glauben.
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Die dritte ist die kleinste und beträgt sich am anständigsten – weshalb sie realiter ausgerottet wird. Siehe China vs. Tibet.
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Wer im Tod eine echte Alternative zum Leben sieht, geht mit dem Leben schändlich um. So einfach wie wahr.
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Das wichtigste Heilmittel des Arztes ist seine Autorität, und auch damit kommt er gegen die meisten Krankheiten nicht an.
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Aber für sich selbst schöpfen Ärzte Kraft daraus, ihre Patienten anzuleiten. Kaum jemand hat soviel Gewalt über ansonsten mündige Erwachsene.
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In der Psychotherapie lenkt keine Technologie von diesem Machtprinzip ab. Heilung heißt unabhängig werden vom Coach. Aber wie süchtig sind diese Herren nach Herrschaft?
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Den Lautsprecher sehe bzw. höre ich als Quietist mit sehr gemischten Gefühlen.
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Sicher haben die technischen Kommunikationsmedien viel zu unserer geistigen Kultur beigetragen. Aber dem Hitler im Großen wie auch dem Musiker im Kleinen gab und gibt der Lautsprecher definitiv zu viel Macht.
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Der beste Lautsprecher ist noch der geschlossene Kopfhörer, weil er andere nicht stört.
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Akustische Macht ist viel zu groß: eine Quelle erzeugt Schwingungen, die sich in – zumindest für den Quietisten – allzu schwach gedämpften Wellen ausbreiten, und die jeder Empfänger im weiten Umkreis wohl oder übel mitmachen muss.
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So sind und bleiben wir mit unseren Nachbarn über die dem Auge nichtige Luft nahezu untrennbar verbunden. Gegen jemanden, der dieses Medium in bester Absicht oder unbekümmert oder böswillig anregt, ist fast kein Kraut gewachsen.
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Oh könnte man doch die Ohren ausrichten und verschließen wie die Augen! Spätestens über unser Gehör sind wir der Umwelt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gehorsam kommt von Hören. Und wer nicht hören will, muss fühlen.
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Die Aufklärung favorisiert schon mit ihrem Namen die visuelle Welt. Das Optische ist viel freiwilliger als das Akustische, das Licht drängt sich viel weniger auf als der Schall.
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Ein gesunder Blick ist gerichtet wie ein Pfeil, kann anschauen, was er will, und absehen, wovon er will. Und Bände sprechen – wer schielt, bekommt seinen Silberblick als kommunikative Behinderung zu spüren.
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Blindheit soll ja weniger behindern als Taubheit, wegen der sozialen Funktion auditiver Kommunikation. Dennoch, müsste ich wählen, sollte mir Hören und nicht Sehen vergehen.
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Der Wunsch nach dem Nichtsein gilt in unserer realistischen Gesellschaft automatisch als krankhaft, wird mit Depression und Suizidalität gleichgesetzt.
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Der als höchst sinnvoll aber unerfüllbar erachtete Wunsch nach dem Nichtsein – für diesen Seelenzustand muss man Begriffe und Vertreter schon mit der Lupe suchen.
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Seine Namenlosigkeit ist mit das Schlimmste an solchem Anderssein. Erst wer ein gängiges Wort vorzuweisen hat für das, was mit ihm los ist, kann aufatmen.
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"Wie geht es dir?". Mir geht es schlecht.
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Aber mir geht es besser als den allermeisten.
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Am besten wäre, niemandem ginge es wie auch immer.
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"Du kannst es schaffen, wenn du nur willst!" – so muten uns Optimisten Unmögliches zu. Bürden Verantwortung auf, unter der wir umsonst leiden. Sprechen alle der Unterlassung oder des Ungenügens schuldig, wo fast alle nur Zuschauer oder Verschlimmerer sein können.
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Wir verstehen die Welt so gut wie gar nicht. Können wir uns etwa aussuchen, wozu wir fähig sind, wen wir lieben, was wir hassen? Nein. Das Allermeiste geschieht einfach mit uns, ob wir wollen oder nicht. Ist ein zufälliger Erfolg die tausend Fehlschläge wert?
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Der Optimist meint, wir vergäben uns ja nichts, indem wir freudig, wenn auch am Ende vergeblich, an unsere Kompetenz glaubten; wir könnten auch überoptimistisch nur gewinnen. Falsch. Wer einlenkt, wo er nichts ausrichten kann, schadet sich und anderen weniger.
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Gleichstellung kann – wenn überhaupt – nur Realität werden, indem wir Wert darauf legen. Unser Instinkt ist nämlich Hierarchist, sieht entweder zum anderen auf oder auf ihn herab.
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Schon bei der ersten Begegnung zweier Menschen entscheidet er im Sekundenbruchteil, wer führt. Freiwilligen Verzicht auf die dominante Rolle wertet er als devot.
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Das Motto der vom Kopf zum Bauch hinabgewanderten Frauenbewegung: "Bis jetzt lag ich unten, ab jetzt lieg ich oben!". Auf Augenhöhe würden sich die meisten langweilen.
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"Wie geht es dir?". Mir geht es schlecht.
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Aber ich würde mit keinem tauschen wollen.
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Denn ich glaube nicht, dass es den anderen wirklich gut geht, obwohl bzw. gerade weil sie es ständig beteuern.
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Die Tiere im Zoo sind den Kindern genauso ausgeliefert wie die Kinder ihren Eltern. Deshalb ist der Zoobesuch am Wochenende bei Familien so beliebt.
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Welche Freude, diese Tiere zu streicheln, zu füttern, herumzukommandieren! Ohne die selber unfreiwillig erduldete Herrschaft derart nach unten weitergeben zu können, ginge die Kinderseele wohl ein.
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Ist ein Gott glaubwürdig, der sich einen Zoo anschaffen wollte, ohne selbst aus einem Zoo zu stammen? Von Ewigkeit zu Ewigkeit scheint leider plausibler als jeglicher Anfang und jegliches Ende.
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"Kinder wollen ihre Grenzen erfahren!" – neokonservative Pädagogik setzt der Gängelung unserer Kleinsten ihre zynische Krone auf.
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Und der Panther im Käfig läuft verzweifelt bis apathisch am Gitter entlang, weil er sich ohne Gitter langweilen würde, hm?
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Freiheit ist per definitionem grenzenlos. Im Käfig gibt es keine Freiheit. Echte Freiheit endet nicht, wo des anderen Freiheit beginnt – entweder unfrei oder frei auf Kosten des anderen.
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Zur Freiheit ermutigte Kinder werden glückliche Despoten, für ihren Gehorsam geschätzte Kinder werden unglückliche Duckmäuser oder Rebellen – und unwillkommene Kinder werden suizidal oder laufen Amok.
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Was also? Dionysisch, christlich oder modern? Alle drei Wege machen mir ein ungutes Gefühl.
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Doch ich fürchte, gar keine Kinder sind auch kein Ausweg. Es gibt keinen.
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Schüler lernen Integralrechnen, das gehört zur Allgemeinbildung. Doch nur ein winziger Prozentsatz von ihnen wird je ein wirkliches Problem haben, das nur mithilfe der Integralrechnung zu lösen ist.
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Nicht einmal die Mathelehrer selber stehen gelegentlich vor Problemen, wo sie dieses Werkzeug gebrauchen könnten. Und schließlich finden gar die Mathematiker aus der reinen Theorie heraus neue mathematische Methoden.
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So sehr ich Geistesmensch bin: da gehört der Unterricht vom Kopf auf die Füße gestellt. Erst wer den Integralen im Zuge sinnvoller Projektarbeit begegnet, wird ihre Berechnung als befriedigend und nicht als quälend empfinden.
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Lifelong Learning ist zynischer Unsinn, jedenfalls in beruflicher Hinsicht.
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Sinnvollerweise gibt es Lehrjahre, Meisterjahre und den Lebensabend.
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Lifelong Learning nimmt uns die beiden letzteren und verkauft das auch noch als coolen Lifestyle.
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Wem geht es gut? Dem, der lieber ist als nicht ist.
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Materialismus als Weltreligion kann erst funktionieren, wenn es den allermeisten gut geht.
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Wir stammen schon deshalb aus Zeiten mit einem bedrohlicheren Jenseits, weil der Materialismus mit seinem leidlosen Nichtsein im Tod uns alle in den Selbstmord getrieben hätte.
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Wem geht es subjektiv gut? Dem, der lieber ist als nicht ist.
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Wem geht es objektiv gut? Dem, dessen Lebensschicksal unterdurchschnittlich unangenehm ist.
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Letzteres schafft immerhin die Hälfte. Ersteres schafft fast keiner, der schon bzw. noch bei Verstand ist.
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Grinsen heißt, sich im Vorteil zu wähnen. In Interviews grinst, wer auf seine Vorteilnahme angesprochen wird, wo sie nicht zu ahnden ist. Ertappter Schlingel – zwei lustige Wörter, oder?
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Bedenkenlose suchen Vorteile und freuen sich über alle, derer sie nur habhaft werden können. Lachen ist das Zeichen bedenkenlosen Siegens, ist immer Überheblichkeit.
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Lachen ist Lachen über jemanden – und sei es die eigene Person bzw. ein davon abgespaltenes Verlierer-Ich. Beim Lachen mit jemandem ist der verlierende Dritte nie weit. Der gute Mensch könnte gar nicht mehr lachen.
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Die Spaßgeneration trainiert das Johlen, die Klatschgeräusche ihrer High Fives signalisieren chronifizierten Triumph.
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Dale Carnegie sagt: Wer lange genug so tut, als sei er glücklich, wird es tatsächlich. Wenn das stimmt, sind wir auf dem besten Weg.
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Wahrscheinlicher jedoch, dass die Glücklichtuer ihren aufgestauten Frust schließlich an denen auslassen, die nicht mittun.
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Hält sich der Quietist für etwas Besseres?
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Ich denke, überheblich ist der Aktionist. Die von seinem Tun Betroffenen müssen reagieren: Mitmachen oder Protestieren oder Weglaufen oder Aushalten.
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Wer auf Aktionismus verzichtet, ist für mein Empfinden der bessere Mensch – keiner, der sich über andere erhebt, sondern einer, der eben das nicht will.
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Gut, dass es beides gibt – Ruhige und Laute?
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Für die Lauten ja, für die Ruhigen nein.
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Jedem das Seine – aber laut kann eben nicht bei sich bleiben.
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Die Sprachfindung eines Volkes erspürt feinste Unterschiede, heißt es. Doch sie zeigt auch gröbste Undifferenziertheit, etwa wenn in der besprochenen Welt nicht sein kann, was nicht sein darf.
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"Gut", ein sehr häufiges Adjektiv, bezeichnet sowohl ethischen Anspruch als auch pragmatischen Vorteil. Obwohl sich beides in aller Regel ausschließt. Wie Leisesein (gut1) und Lautsein (gut2).
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Soll die dreiste Gleichsetzung suggerieren, ein guter Mensch zu sein mache zum Gewinner? Dieser Wink mit dem Zaunpfahl ist vielleicht gut gemeint, aber so lügt uns die eigene Sprache mitten ins Gesicht.
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Ruhestörung – ein Kavaliersdelikt. Wer achtet schon auf Mittags-, Nacht- und Feiertagsruhe. Zimmerlautstärke wahren? Die Forderung mutet spießig an, wenn nicht faschistoid. Let's get loud! Je fetter der Sound, desto größer der Spaß. Wozu haben wir Freizeit, wenn nicht zum Gasgeben, Heimwerken, Partymachen etc.?
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Fernsehidole – allesamt von der lauten Truppe, ob Fiction oder Reality. Ihren dröhnenden Auftritt umrahmt jedoch eine seltsam realitätsferne Stille, dank Studiodisziplin und Richtmikrofon. Dieser lautlose Hintergrund bzw. die dort verbleibenden Statisten aber sind nur den allerwenigsten Vorbild.
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Lärmschutzverordnungen – zahnlose Papiertiger. Schallquellen so aufzudrehen, dass sie stören, ist leicht; dB(A)-Richtwerte zu verfehlen ist schwer. Strengere Messgrößen und Grenzwerte Fehlanzeige. Sonst dürften z.B. keine Flugzeuge mehr über unsere Dächer fliegen – und unsere Helden müssen doch ihre Flieger kriegen...
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Lärm wird gern als unvermeidliches Abfallprodukt notwendiger Maßnahmen gerechtfertigt. Der Lebensraum des Aktionisten ist aber prinzipiell "under construction".
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Da liegt der Verdacht nahe, dass die meisten Arbeiten umgekehrt nur Vorwand für lautes Auftreten sind. Wie viel Befriedigung ließe lautloses Werkzeug den Fleißigen noch übrig?
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Selbstgemachter Lärm ist gesund. Lauter als die anderen zu sein verlängert das Leben. Dem rüstigen Neunziger sieht man sogar seinen unverhohlenen Kommandoton nach.
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Wäre ich gerne nicht? Ja. Wäre ich gerne jemand anders? Nein. Warum wäre ich nicht gerne jemand, der gerne ist?
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Weil ich Nichtseinwollen für intelligent und ethisch richtig halte. Selbst wenn es keinen verstandenen Weg zum Nichtsein gibt.
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Wer gerne ist, dem unterstelle ich Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder Schadenfreude gegenüber seinen Opfern.
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Nichtseinwollen heißt, weder Täter noch Opfer sein zu wollen, weder Freude noch Trauer empfinden zu wollen.
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Wer das Nichtsein "positivistisch" als absoluten Nullpunkt i.S.v. unterste Grenze ansetzt, dem entgeht diese Symmetrie.
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Wer Opfer zu sein immer noch besser findet als nicht zu sein, ist stärker als ich bzw. hat noch nicht wirklich gelitten.
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Wählen heißt noch nicht, einen positiven Willen zu haben. Wer das kleinere Übel wählt, weil es nur Übel gibt, stimmt diesem Übel deshalb noch lange nicht zu.
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Es ist zynisch, einem Opfer, das sich nicht wehrt, Einverständnis zu unterstellen. Und wenn es sich dann wehrt, zu sagen, zum Streiten gehörten immer zwei.
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Selbst den Nichtseinwollenden unterstellen die Lebensbejaher noch den Willen zum Nichts. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
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Das Nichtsein liegt genau mittig zwischen höchstem Himmel und tiefster Hölle – und damit für die allermeisten Lebewesen unerreichbar hoch.
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Nur eine kleine Spitze der Lebenspyramide reicht in den oberen Halbraum dieses Koordinatensystems, nur für diese ist das Sein dem Nichts vorzuziehen.
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Und wo ist ein völlig unbekanntes Schicksal zu positionieren? Als Pessimist meine ich: unterhalb des Lebens. Sonst wäre ich vielleicht schon tot.
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Wie gut könnte der Mensch aus freien Stücken werden? Auf welche Vorteile könnte er verzichten? Und auf welche müsste er darüber hinaus noch verzichten, damit es auf der Welt einigermaßen gerecht zuginge?
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Der Vergleich unseres westlichen Lebensstandards mit dem weltweiten Durchschnitt zeigt: es bedürfte schier weltmeisterlicher Askese, nicht zu nehmen, was uns nicht zusteht.
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Gegen diese traurige Wahrheit hilft nur fröhliche Ignoranz. Zu bewundern bei den Reichen, z.B. auf Charity-Veranstaltungen im Fernsehn: Publicity plus gutes Gewissen für wenige Promille ihrer astronomischen Gehälter.
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Warum nicht rigoros trennen zwischen einer rücksichtslosen virtuellen und einer rücksichtsvollen realen Welt? Sollte doch pädagogisch einfach zu vermitteln sein.
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Warum Regeln auch dort, wo niemand Schaden nehmen kann? Gespielte bzw. computeranimierte Darstellung jedweder verbotenen Handlung sollte legal sein.
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Im Als-Ob-Modus nach Belieben auf- und wieder abgeregt, könnte sich der Mensch realiter umso gesitteter verhalten. Anstatt ernsthaft entrüstet auf exzessives Spiel zu zeigen und realen Frevel mit Humor zu verharmlosen.
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Ich wollte nicht mit jemandem tauschen, der sich besser fühlt als ich, weil mir Wahrheit wichtiger ist als Glück.
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Ich fühle mich zwar schlecht, aber ich halte dieses Gefühl für wahrhaftig. Andere sehen nicht in den Spiegel, um naiv und fröhlich bleiben zu können.
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Mir graust es davor, dass Menschen glücklich sind, weil sie die Wahrheit über ihr Leben als Monster nicht wahrhaben wollen.
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Mitleid ist out.
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Sowohl den extremen Subjektivisten als auch den extremen Objektivisten können die Gefühle der anderen gestohlen bleiben. Denn für erstere gibt es nur die eigenen Gefühle, für letztere gibt es gar keine.
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Als gemäßigter Subjektivist ist für mich zwar nur das Empfundene wirklich, jedoch eben auch das der anderen. Traurig, aber wahr: bekennendes Mitleid desavouiert der Zeitgeist, indem er ihm Überheblichkeit nachsagt.
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Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind. Und geben damit den schwarzen Peter eines unlösbaren Lebensdilemmas an sie weiter.
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Denn einerseits werden die Kinder dazu erzogen, ehrlich zu sein. Andererseits aber werden sie ausgeschimpft, wenn sie andauernd maulen.
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Wie also auf das hassenswerte Leben reagieren? Eine richtige Reaktion gibt es nicht. Und auch Erwachsenwerden hilft da eher wenig.
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Was wird mit mir im Tod? Ich weiß es nicht. Trotzdem finde ich es immer wieder verwunderlich, wie wenig über diese Frage nachgedacht wird. Ich selbst habe viel darüber nachgedacht und wage es, hier meine momentanen Top Five zu präsentieren:
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Am wahrscheinlichsten kommt mir vor, dass sich im Tod nichts Wesentliches ändert: im Grunde bleibt Leben also immer Leben, egal wo oder als wer bzw. was. An zweiter Stelle steht das ganz Andere, ein mit dem bisherigen Dasein völlig unvergleichlicher Zustand. Drittens dann das Nichtsein.
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Platz vier und fünf erscheinen mir dagegen bereits ziemlich konstruiert. Da wäre viertens die Hölle als dem Leben vergleichbarer, aber als maximal leidvoll empfundener Zustand. Und fünftens der Himmel als maximal freudvoller Zustand. Verrückt? Mag sein, aber wenigstens mal konkret.
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Mit Volldampf zur ewigen Ruhe – was riskiert der Selbstmörder?
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Da wäre zuerst einmal, dass es realiter misslingt. Ist nicht leicht, sich umzubringen: der Körper will leben und kämpft bis zum letzten Atemzug.
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Im Tod selbst könnte dann nach meiner Hitliste 1) wieder nur das Leben stehen, 2) ein ganz anderer, äußerst gewöhnungsbedürftiger Zustand eintreten, 3) das Dasein enden oder 4) Hölle und 5) Himmel warten. Bis auf 3) und 5) traurige Aussichten. Selbstmord wäre demnach eher etwas für wagemutige Optimisten.
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Hirnphysiologen haben die alte philosophische Debatte über freien Willen und Schuldfähigkeit wieder auf die gesellschaftliche Tagesordnung gehoben. Gut so. Aber sind die Argumente der Wissenschaft glaubwürdig? Bestätigt sie nicht nur fortwährend ihre eigenen deterministischen Voraussetzungen?
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Hirnphysiologen mit ihren Hirnaktivitätsbildern kommen mir vor, als versuchten sie herauszufinden, was ein hochkomplexer Computer tut, indem sie an verschiedenen Stellen seine Betriebstemperatur messen. Sind sie seinem Wesen damit wirklich näher als jemand, der ihn "nur" anwendet? Ich bezweifle es.
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Sollte das juristische Dilemma nicht pluralistisch angegangen werden? Könnte man es nicht dem Delinquenten überlassen, ob er unter Annahme eines freien Willens für sein Verbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder unter Annahme eines Hirndefekts als medizinischer Patient angesehen wird?
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"Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!" – die Regel scheint mir mit Bedacht negativ formuliert. "Hilf, und dir wird geholfen!" – unruhigem Moralismus ist Zurückhaltung nicht genug, er kehrt die Gebote eifrig ins Positive.
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Und so drängen die Aktionisten ihren Nächsten ungefragt auf, was sie selber schätzen. Angefangen bei der Zeugung des Lebens über sonstige "Geschenke" bis hin zu all den Bemerkungen, die gutmeinende Plauderer gerne von anderen über sich selber hören würden.
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Anschließend ärgern sich die Freigiebigen, dass ihnen ihr Tun zu wenig vergolten wird, sehnen sich nach jenseitigem Lohn – und die freigiebig Bedachten ärgern sich über ihr Leben, ihre übrigen Geschenke und all die fehlgegangenen Kommentare.
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99)
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Besser als nichts – das muss man erst mal schaffen.
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Götter, Evolution, Urknall etc. liegen mit ihren Produkten zumeist weit darunter.
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Von uns Menschen gar nicht zu reden.
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100)
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Christen und Realisten teilen sich den Spruch: "Ich habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben."
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Ohne falsche Sicherheiten müsste es aber erst mal heißen: "Ich fürchte mich vor dem Sterben und habe Angst vor dem Tod."
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Nach dieser Selbsterkenntnis hilft gegen bekanntes Leiden die richtige Medizin, gegen unbekanntes Leiden die richtige Religion – jeweils ein wenig.
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101)
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Ruheräume und Ruhezeiten – wer auf das Einhalten solcher gesundheitsnotwendigen Vorkehrungen besteht, befindet sich in einer ungesunden Defensivposition. Denn der Ruhe Einklagende gilt als intolerant und landet in unserer postmodernen Gesellschaft auf der falschen Seite.
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Waren es damals während der kirchlichen Herrschaft Ruhestörer bzw. Unruhestifter, welche in Ungnade fielen ohne die in heiligen Räumen und zu heiligen Zeiten gebotene Zurückhaltung, so sind es heute umgekehrt Ruhebewahrer, welche mit ihren Forderungen Zorn und Spott ernten.
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Wohl dem, der in einer pluralistischen Bildungslandschaft auf der lauten Seite steht. Multikulti bedeutet, dass entspannte Ethnologen sich Urgefühle herbeitrommeln, während nebenan Mathematiker Spannungskopfschmerzen bekommen beim Versuch, trotzdem weiterzudenken.
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102)
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Mit dem Lärmen erst dann aufzuhören oder nur zu pausieren, wenn sich die Leute darüber beschweren – das ist wie seine Rechnungen erst zu bezahlen, wenn die Mahnungen kommen.
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Wer sich so an seine Pflichten erinnern lässt, verletzt erst mal Grenzen zu seinem Vorteil. Wenn er nicht sogar damit durchkommt, weil die anderen ihre Grenzen nicht verteidigen.
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Bedauern und Entschuldigungen spart sich der Ermahnte auch gerne. "No regrets, they don't work!" singt er frohgemut und lebt um vieles leichter als die, denen er auf die Zehen tritt.
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103)
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In seiner kindlichen Betriebsamkeit hält der Mensch erst inne, wenn er von der oberflächlichen Frage "Wie?" zur tiefen Frage "Warum?" gelangt.
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Die erwachsene Ruhe beängstigt ihn jedoch gemeinhin so sehr, dass er vom ominösen Know-why schnell wieder zum üblichen Know-how zurückkehrt.
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Wer aber die zögerliche Besonnenheit des "Warum?" schätzen lernt, dem werden die anderen mit ihrem vorwärtspreschenden "Wie?" zur alltäglichen Hölle.
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104)
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Lautstärke ist Macht, Stille ist Ohnmacht.
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In den Medien tobt der "loudness war": bei gegebener objektiver Signalamplitude will jede Tondarbietung ihre Konkurrenz durch größere subjektiv empfundene Lautheit in den Schatten stellen. Die technischen Mittel reichen von billigster Übersteuerung bis zum aufwändigsten "loudness maximizing".
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Am lautesten ist die Werbung. Und nicht wer schweigt, stimmt zu, sondern wer kauft.
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105)
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Seit Jahrzehnten bahnt sich mühsam die akustische Erkenntnis ihren Weg, dass insbesondere Altersschwerhörige beim Fernsehen etc. aufgedrehte Höhen und weggedrehte Bässe brauchen. Das hilft auch den geplagten Nachbarn, weil es die Bässe sind, die durch Wände gehen.
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Bässe verdecken Höhen mit zunehmender Gesamtlautstärke immer mehr. Im basslastigen Fernsehton – so weit aufgedreht, dass auch seine leiseren Zeitabschnitte die Hörschwelle des geschädigten Gehörs übersteigen – sind die v.a. für mühelose Sprachverständlichkeit wichtigen Höhen maskiert.
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Aber vielleicht hindert auch der Wille zur Macht diesen Groschen Einsicht am Fallen. Lieber mit unverständlichem warmem Gewummer in die kalte Welt hinaustönen als sich mit brillantem Kopfhörerklang abschotten von einer Gesellschaft, welche die Alten eh schon ausschließt, wo sie kann.
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106)
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Ein Partner, kein Partner, viele Partner – welche Lebensform ist die ruhigste?
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Die Mönche auf Ruhesuche verpartnern sich mit einem inneren höheren Wesen.
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Ich schau mir Liebesfilme an, um mich seelisch aufzuwärmen und mir gleichzeitig in Erinnerung zu rufen, dass die entflammte Liebe nichts für Ruhesuchende ist.
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107)
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Den flüchtigen Momenten der Liebenden, in denen beide das Gleiche wollen, stehen zähe Ewigkeiten gegenüber, in denen sie Verschiedenes wollen.
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Theoretisch besteht die Kunst der Liebe darin, dass nicht der eine seinen Willen auf Kosten des anderen durchsetzt. Wer kennt ein Paar, dem das gelingt?
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Praktisch besteht die Kunst der Liebe darin, dass der eine seinen Willen dem des anderen unterordnet. Täter finden ihre Opfer ja auch bei der Partnerwahl.
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108)
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"Komm, du willst es doch auch!" – mit solcherlei ironischen Sprüchen unterstellen glückliche Täter ihren Opfern, dass diese ihr Glück eben im devoten Part finden. Wären sie sonst nicht auch dominant?
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Ernster Hintergrund dabei ist, dass das Unglück der Knechte das Glück der Herren oft trübt. Aber Glück im Unglück finden nur echte Masochisten, die noch seltener sein dürften als echte Nymphomaninnen.
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Wer weder Opfer auf dem Gewissen noch Herren auf dem Buckel haben will, dem bleibt kaum anderes übrig, als alleine zurechtzukommen. Um dann festzustellen, dass er selber auch wieder aus vielen besteht.
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Unfassbar: Lärmende Menschen möchten wennschon dann freundlich darauf hingewiesen werden, dass sie andere stören. Möchten nett darum gebeten werden, leiser zu sein.
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Dass sie selber den ersten feindlichen Schritt tun mit ihrem Krach, machen sie sich nur ungern bewusst. Sie wollen ja keinem etwas Böses – dazu müssten sie einen erst mal bemerken.
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Laute möchten es immer wieder von Neuem für unwahrscheinlich halten, dass ihr Radau jemanden stört. Und nur ausnahmsweise kurz Ruhe geben, wenn sich jemand beklagt.
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110)
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Von denen, die das Leben aus ganzem Herzen lieben, machen sich nur die wenigsten bewusst, dass es ebenso selbstverständlich auch Menschen gibt, die das Leben aus tiefster Seele hassen.
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Von denen, die in Liebe zum Leben dieses mit Nachwuchs fördern, machen sich nur die wenigsten bewusst, dass es bloß folgerichtig ist, wenn andere in ihrem Hass töten, um dem Leben zu schaden.
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Von denen, die das Leben hassen, zu verlangen, nicht zu töten, ist nicht mehr oder weniger parteiergreifend als von denen, die das Leben lieben, zu verlangen, sich nicht zu vermehren, oder?
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Lebensverneinung: vielleicht das größte gesellschaftliche Tabu.
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Eltern, welche die Existenz ihre Kinder bereuen – um ihrer selbst oder ihrer Kinder willen; und Kinder, welche ihre eigene Existenz bereuen – um ihrer selbst oder ihrer Eltern willen: davon lassen sogar die tabulosesten Talkshows ihre Finger.
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Warum nicht einen ersten Schritt machen und zugeben, dass es so sein kann? Zulassen und Ansprechen wäre besser als Verbieten und Totschweigen.
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112)
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Lebensverneinung: vielleicht das größte philosophische Problem.
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Die Christen verbieten sie, obwohl laut Bibel selbst Gott seine Schöpfung bereut hat. Die Realisten praktizieren sie, indem Leben definitorisch auf Materie reduziert wird.
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Die simple Einsicht, dass wir nichts anderes kennen können als das Leben, macht sowohl den Zorn auf vermeintliche Schöpfer als auch die Sehnsucht nach vermeintlicher Vernichtung hinfällig.
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No means no! Doch wie gut muss man reden können, damit ein Nein als Nein zählt?
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Wer das Leben sichtlich die meiste Zeit ablehnt – Säuglinge, Kleinkinder, Bettelarme, Melancholiker, Demente etc. – wird zu den Unmündigen gezählt oder wegen Befangenheit von der Lebensbeurteilung ausgeschlossen.
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Erst eine Gesellschaft, die Traurigkeit, Depression, Lebensverneinung etc. gesellschaftsfähig macht, darf sich aufgeschlossen nennen. Aber weder das Christentum noch der Materialismus sind dazu reif genug.
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114)
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Was spricht gegen die Ruhe? Nicht viel, meine ich – dennoch will ich hier konsequenterweise auch mögliche Kritik am eigenen Quietismus thematisieren.
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Bedenken hinsichtlich meiner Überzeugungen bekomme ich beispielsweise, wenn es um das sogenannte südländische Temperament geht. Inwieweit darf lebhafteren Kulturen Ruhe verordnet werden?
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Jugendliche schalten gerne augenzwinkernd um auf deutschtürkischen Akzent und aggressive Lautstärke. Als Integrationsmaßnahme finde ich das gut. Und hoffe doch, dass diese Sitte nicht länger als nötig währt bzw. sich nicht als Lizenz zum Schreien etabliert.
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Die Brights, moderne Skeptiker, erachten es für schwach, an ein ewiges Leben zu glauben. Unausgesprochen bewerten sie damit das Leben positiv, als dem Nichtsein – ihrem Jenseits – vorzuziehendes.
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Aber das Leben der meisten Menschen ist schlechter als nichts. Andere Religionen als der Naturalismus lassen sie ihr leidvolles Leben bestehen, anstatt sie zur Flucht in den Tod zu verführen.
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Ihnen wiederum kämen die Brights lebensfern vor, welche sich ein paar Jahrzehnte lang mit Arbeit oder Luxus betäuben und dann alles hinter sich zu haben glauben – wenn sie die Brights bemerken würden.
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Unsere Politik beschwört die moderne "Wissensgesellschaft". Die Zukunft rohstoffarmer Industrieländer könne nach dem "Outsourcen" aller mechanischen Arbeit in Billiglohnländer nurmehr in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit liegen.
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Unser Zeitgeist hingegen ist mit der Zeit des Geistes längst fertig. Die führende Wissenschaft höchstselbst stärkt den Instinkt gegen die Ratio. Wir sind wieder Tiere im Darwin'schen Wettbewerb, intellektuelle Betulichkeit bremst da nur.
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Entweder oder. Geistige Arbeit braucht ruhige Konzentration. Konsequente Politik dürfte es demnach nicht zulassen, dass an "Bildungsstandorten" der hektische Radau neuer Neandertaler zum herrschenden Lifestyle avanciert.
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Wir müssen leben.
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Dagegen hilft weder, dass die Christen meinen, wir dürfen leben, noch dass die Realisten meinen, wir dürfen sterben.
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Es ist wie wenn einem der Arm wehtut. Weder hilft es zu beschließen, das gut zu finden, noch ihn zu amputieren.
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Pessimismus bedeutet nicht, dass das Leben nichtig sei oder schlimm enden müsse. Pessimismus bedeutet, an keinerlei dauerhafte Erlösung vom prekären Leben zu glauben.
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Es würde für ihn nur eine Wohltat sein, zum absoluten Nichts zu gelangen; aber der Tod eröffne leider keine Aussicht darauf – so Schopenhauer auf dem Sterbebett. Lebensphilosophie im wahrsten Wortsinn: Leben ohne Alternative!
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Scheinbar ist diese schlimmste Vorstellung für viele Leute allzu schlimm, so dass sie den Pessimismus und seinen bekanntesten Vertreter da ums Verrecken missverstehen müssen.
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Nietzsche gab dem Pessimisten Schopenhauer als heroischer Optimist kräftig Kontra. Aber zuerst einmal hat der Lebensphilosoph den Lebensphilosophen verstanden.
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Sein Bild von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen bringt die Problematik auf den Punkt: wie lautet dein Urteil über das Leben, wenn es zu diesem keine Alternative gibt?
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Dass Nietzsche Ja sagt, lässt mich ratlos – mit Schopenhauer sage ich Nein. Aber die zentrale Frage erkannt zu haben erscheint mir fast noch wichtiger als die Antwort darauf.
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120)
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Mitgefühl verhindert Objektivität. Wer versteht besser, der Mitfühlende oder der Forscher?
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Ein Naturwissenschaftler denkt lieber nicht darüber nach, wie sich "seine" Fledermaus fühlt, während er im Labor ihren Ortungssinn untersucht.
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Nicht unwahrscheinlich, dass am besten versteht, wer andere in Ruhe lassen kann.
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Essenmüssen – allein dieser Umstand scheint mir ein hinreichender Grund zu sein, das Leben im Ganzen abzulehnen.
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"Ich mag Hühnchen" – schon die Zweideutigkeit dieses Satzes zeigt das unlösbare Dilemma eines Daseins zwischen Liebe und Mord.
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Die zwei Seelen in einer Brust wissen kaum voneinander. Wer sie durch Nachdenken kurzschließt, ist zum Glück nicht mehr dumm genug.
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122)
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In einer industrialisierten Gesellschaft zu leben heißt, sich an der riesig angelegten, gnadenlos verschwenderischen Ausbeutung schwächeren Lebens zu beteiligen.
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Als Öko in Deutschland zu residieren ist wie nonstop im Flugzeug reisend noch speziellen Wert auf Recyclingbecher zu legen – ein Tropfen auf den heißen Stein.
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Die Technik erlaubt es, während das Kind für sein Gewissen dem verletzten Tier eigenhändig hilft, für seine Bequemlichkeit zahllose andere automatisch zu töten.
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Ein Christ, der wirklich glaubt, was die Bibel über das Jenseits verkündet, wäre ja wahnsinnig, sein Seelenheil nur im mindesten zu gefährden. Müsste sein Leben kompromisslos in tiefster Demut vor Gott verbringen, um nicht ewige Höllenqualen zu riskieren.
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Ein Realist, der wirklich glaubt, was die Naturwissenschaft über das Ende allen Leidens im Tod sagt, wäre ja wahnsinnig, sich sehenden Auges Alter und Krankheit auszuliefern, anstatt seinem Leben eines schönen Tages ein selbstbestimmtes Ende zu setzen.
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Christentum hin, Realismus her – die Menschen leben fast alle so als gäbe es eh immer nur das Leben. Jenseits bzw. Nichtsein im Tod bleiben theoretische Konzepte ohne große Bedeutung, für die Lebenspraxis ergeben sich daraus keine echten Konsequenzen.
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Eile genießt hohes Ansehen in der Leistungsgesellschaft, obwohl bzw. gerade wenn uns scheinbar keine Not dazu antreibt. Ist Eile dann nicht eigentlich Zeichen des Mangels wohlüberlegter Zeiteinteilung?
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Aber vielleicht steckt noch mehr dahinter. Der Hektiker bleibt an der Oberfläche des Lebens; der Aktionist hat keine Zeit, darüber zu sinnieren, was seine Welt im Innersten zusammenhält.
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Vielleicht ahnt der westliche Mensch, dass seine Lebensphilosophie und erst recht seine Todesphilosophie einer kontemplativen Überprüfung nicht standhielte. Und so läuft er dem Nachdenken davon.
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Der Spirituelle bzw. Sceptic ist gereifter Nachfahre des Christen bzw. Realisten. Hat es aufgegeben, dogmatisch auf spezifischen Lehren zu beharren, die weder bewiesen noch widerlegt werden können.
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Doch obwohl man sich nun einig geworden ist, im Wesentlichen nichts Genaues zu wissen, geht der Spirituelle in aller Regel von einem Jenseits und der Sceptic in aller Regel vom Ende im Tod aus.
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Entgegen Religion und Naturalismus meine ich: Occam's Rasiermesser schneidet sowohl das Jenseits als auch das Nichtsein im Tod weg – die eleganteste Theorie reduziert sich auf das Sein, wie wir es kennen.
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Warum geht die herrschende Wissenschaft davon aus, dass Leben eine Form von Materie sei – und nicht Materie eine Form von Leben? Weil Materie von Grund auf berechenbar ist. Oder zumindest zu Zeiten von Galilei und Newton von Grund auf berechenbar schien. Herrscher lieben Berechenbarkeit.
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Naheliegender wäre es für uns Lebende jedoch, Materie als relativ stilles Leben anzusehen. Womit ein weiteres mögliches Motiv für den Materialismus erkennbar wird: die Attraktion des in sich Ruhenden, des im Gegensatz zu uns nicht zur andauernden Bewegung Getriebenen.
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Trotzdem scheint mir der Materialismus arg ums Eck gedacht: wir nehmen eine von uns absolut verschiedene tote Materie an, um uns daraus wiederum das Leben auf komplexeste Weise zusammengesetzt zu denken. Zwei gewagte Schritte, die sich wegkürzten, annehmend: alles ist Leben.
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Ein Monismus ist der Materialismus nur insoweit, als er etwa den Dualismus von Leib und Seele ablehnt bzw. die Eigenständigkeit letzterer bestreitet.
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Ein Dualist ist der Materialist gemeinhin jedoch in Bezug auf Sein und Nichtsein. Auch für ihn gibt es Diesseits und Jenseits, sein Jenseits ist eben das Nichts.
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Ein Seinsmonist aber, welcher im Gegensatz zum Materialisten wirklich nicht an ein Jenseits glaubt, wird von diesem für religiös gehalten – verkehrte Welt.
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Wie es wohl kommt, dass Christentum und Realismus behaupten, im Tod erwarte uns gänzlich anderes? Woher wissen die das?
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Meine Nahtoderfahrungen sagen, dass dem nicht so ist. Wie das Sprichwort: Überall der gleiche Käse, nur in einer anderen Schachtel.
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C&R wollen die Menschen unter Druck halten, indem sie das Leben als letzte Gelegenheit anpreisen. Schlussverkaufsstimmung.
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Realismus und Christentum sind – zusammen mit aktualisierten Versionen à la Naturalismus und Spiritualität – die beiden stärksten volksphilosophischen Antagonisten. Die Verfechter des endlichen Diesseits und des ewigen Jenseits liefern sich öffentlich wie privat unzählige Rededuelle. Wo des Pudels Kern noch Thema ist, da bekommt man den Eindruck, dass diese beiden Kandidaten die allgemeingültige Wahrheit unter sich ausmachen.
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Noch bemerkenswerter sind meines Erachtens die Allianzen, welche Realismus und Christentum eingehen. Welche sich jedoch nicht auf dem gemeinsamen Glauben an eine Veränderung im Tod gründen – denn diese erscheint den meisten Menschen außer mir selbstverständlich. Vielmehr wirkt hier wohl die Anziehung der Gegensätze. So kommt es beispielsweise eher häufig als selten vor, dass in der Ehe ein Partner Realist und der andere Christ ist.
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Am erstaunlichsten aber ist mir die durchaus übliche Synthese von Christentum und Realismus in ein und demselben Kopf. Viele Menschen sind theoretisch Christen und praktisch Realisten. Viele haben ein doppeltes Todesmodell – doppelt hält besser. Christliche Himmelsgewissheit mit dem leidlosen Nichts der Realisten in Reserve – oder realistisches Gefasstsein aufs Ende mit dem Christenparadies als ebenso unwahrscheinlichem wie schönem Joker im Hinterkopf.
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Zum einhelligen Missfallen von Christen und Realisten leben wir immer unseren gewohnten Trott. Klein-Klein von Tag zu Tag, anstatt endlich wesentlich zu werden.
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Gerade so, als würden wir ewig weiterleben – und müssten es dabei schon zufrieden sein, wenn uns allfällige Veränderungen eher später als früher erreichen.
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Könnte doch sein, wir sind so, weil eine tiefe Gewissheit in uns sagt, dass wir wirklich ewig leben und dass uns Veränderungen zumeist eher schaden als nutzen.
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Subjektivistisches Nichts: meditatives Bewusstsein, leer von allen Gedanken und Gefühlen. Objektivistisches Nichts: materialistisches Jenseits der Noch-nicht- bzw. Nicht-mehr-Lebendigen.
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Vorgestelltes Nichts: Nullmarke, an der das Leben gemessen werden kann, ohne dass es dazu eines der obigen Nichtse wirklich geben muss. Wer es ersehnt, der hasst sein Leben; wer es fürchtet, der liebt sein Leben.
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Mein persönliches Paradox: a) Ich hasse mein Leben. b) Viele lieben ihr Leben. c) Ich möchte mit keinem, der sein Leben liebt, tauschen. (Kann es sein, dass die, welche ihr Leben lieben, andere Maßstäbe anlegen?)
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132)
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Die Geisteswissenschaften zeigen den Schülern in epischer Breite, wie der Mensch leidet.
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Die Naturwissenschaften zeigen den Schülern in analytischer Tiefe, wie vergänglich alles ist.
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Die amoklaufenden Schüler sind einfach nur die Ersten, welche eins und eins zusammenzählen.
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Wenn das Leben schön ist und wir Leben zeugen bzw. empfangen können – wäre es dann nicht egoistisch, niemandem unser Leben weiterzugeben? Auch wenn die ins Leben Geholten nicht dankbar sind für ihr Geschenk?
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Wenn das Leben hässlich ist und wir Leben beenden können – wäre es dann nicht egoistisch, niemanden in unseren Tod mitzunehmen? Auch wenn die ums Leben Gebrachten nicht dankbar sind für ihre Erlösung?
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Wo ein Christentum das Leben per se heiligsprechen kann, da kann auch ein Materialismus den Tod in den Mittelpunkt stellen – doch während das Christentum seine größten Zeiten schon hinter sich hat, hat sie der Materialismus noch vor sich.
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134)
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Das Gefährliche am Christentum ist die Realität, welche Gott, Himmel, Hölle etc. dort zugesprochen wird.
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Das Gefährliche am Materialismus ist die Realität, welche der Beendigung des Lebens, dem Nichtsein etc. dort zugesprochen wird.
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Die idealisierten Begriffe sind theoretische Denknotwendigkeiten – aber wehe, wenn wir den Himmel oder das Nichts für praktische Möglichkeiten halten, die uns zu Gebote stehen.
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135)
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Der Tag hat Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Das Jahr hat Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und so hat das Leben Jugend, Reife, Alter und Tod.
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Falls auch das Leben zyklisch verläuft, ist weder ein besonders früher noch ein besonders später Tod erstrebenswert. So wenig wie ein besonders kurzer oder langer Abend.
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Ich nehme mir vor, den Morgen und den Mittag auszunutzen, jedoch am Abend und in der Nacht auszuruhen. Für den einzelnen Tag wie für das ganze Leben.
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"Schlafen kannst du, wenn du tot bist!" – einer dieser leistungsfrommen Sprüche, mit denen Aktionisten die Ruhe auf ewig vertagen wollen.
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Darauf verlasse ich mich lieber nicht. Wenn ich einmal krank oder schließlich alt bin, will ich mich vom Tagwerk des Lebens erholen.
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Aktionisten, stellt euch vor: wir sterben und stehen vor eurem Gott, der schreit: "Los geht's!" – wärt ihr dann nicht gerne ausgeruht?
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Das Unangenehmste am Leben ist nicht, dass wir alle miteinander in der Scheiße sitzen.
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Das Unangenehmste am Leben ist, wenn jeder versucht, ihre beste Stelle zu ergattern.
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Das Zweitunangenehmste am Leben ist, wenn jeder versucht, sie mit Humor zu nehmen.
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138)
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Die Ruhephasen des Lebens verlangen den Mut, sich auf seine Träume einzulassen.
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Tagträume, Nachtträume, Todträume – nach meiner Erfahrung zunehmend beängstigend.
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Aktionismus ist Weglaufen vor den Träumen, bis man möglichst bewusstlos zusammenbricht.
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139)
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Die Regelmäßigkeit unseres Tagesablaufs versuchen wir deshalb einhalten, weil morgen auch wieder ein Tag ist, und so fort.
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Was sollte uns heute sonst daran hindern, diese Regelmäßigkeit aus spontaner Lust oder vielmehr Unlust aufzugeben?
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Ebenso wirft eher mittendrin alles hin, wer glaubt, ein einziges endliches Leben zwischen ewigem Nichts zu leben – oder schuftet, bis er tot umfällt.
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140)
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Vertikale Gemeinschaft kennt keine Brüder und Schwestern im Sinne einer angestrebten Gleichwertigkeit – auch der Pfarrer, welcher seine Gemeinde so anredet, steht herrschend über ihr und dienend unter Gott.
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Schon die Natur kennt keine gleichgestellten Geschwister. Eine Rangordnung gibt es immer, sie ist durch Alter, Stärke, Klugheit gegeben bzw. ständig neu auszufechten – ein echtes Nebeneinander ist wider die Natur.
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Horizontale Gemeinschaft bzw. Umgang auf Augenhöhe Suchende bleiben da bestenfalls allein. Eher noch wird ihnen der Verzicht auf herrisches Gebaren mit Unterdrückung vergolten – wer aufhört zu kämpfen, liegt unten.
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141)
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Eine Gesellschaft, die ihre Kinder in dem festen Glauben erzieht, das Leben sei endlich bzw. Tote erführen kein Leid mehr, wird ihren Bürgern nach dem Suizid konsequenterweise auch die einverständliche Tötung gesetzlich erlauben.
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Denn das von ihr propagierte, dem Einzelnen ungefragt aufgezwungene Leben muss von diesem doch zumindest möglichst schmerzlos und sicher wieder beendet werden dürfen, indem er hierfür professionelle Hilfe in Anspruch nimmt.
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Es ist allenfalls das Nichtwissen um unser Schicksal im Tod, welches die Gesellschaft legitimiert, Lebensmüde und Todesengel zu trennen. Als Leidender oder für einen Leidenden das Nichts zu wollen – was sollte daran falsch sein?
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142)
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Wer sein Leben ablehnt – wäre der besser tot?
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Nur wenn der Tod etwas für ihn verändert, und zwar zum Besseren.
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Aber wer sein Leben für alternativlos hält, muss damit zurechtkommen lernen.
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143)
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Mehr noch als Engagement zeugt es von Kultur, andere in Ruhe lassen zu können.
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Menschen ohne Halt in sich selbst kennen nur Liebe oder Hass, keine Distanz.
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Das Christentum kennt nur Himmel oder Hölle – es ist für alle, ob sie wollen oder nicht.
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144)
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Männliche Chauvinisten sind meist stur solche geblieben.
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Weibliche Chauvinisten sind meist zornig solche geworden.
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Eigentlich ist letzteres noch schlimmer als ersteres.
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145)
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Ein Leidender, der sein Leid nicht gegen das Nichtsein tauschen würde, leidet nicht wirklich.
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Faulkner sagt: "Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz."
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007-Gegner Sanchez klingt da überzeugender: "Wenn der Häcksler deine Knie erreicht, dann küsst du mir den Arsch, damit ich dich töte."
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146)
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"Lieber will der Mensch noch das Nichts wollen, als nicht wollen", sagt Nietzsche. "Wer das Nichts will, will die Macht", sagt Pasolini.
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Das Nichts ist der unbestechlichste Wunsch bzw. wäre das allermindeste Recht des Leidenden, entgegne ich verärgert.
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Aber vielleicht habe ich nur noch nicht genug gelitten, um mich auf die Seite der zynischen Quälgeister zu schlagen.
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147)
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Wenn der Tod das sichere Nichtsein im Sinne von ewigem traumlosem Schlaf, von endgültiger totaler Bewusstlosigkeit wäre, hätte ihn dann nicht jeder sofort verdient? Die im Nachteil – sie wären endlich erlöst. Die im Vorteil – sie wären endlich gestoppt.
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Selbst das halbe Nichts, ab jetzt für alle Zukunft, wäre nur zu wünschen. Es würde zwar das Vergangene ungesühnt lassen, aber wenigstens müsste dieses ungerechte Leben nicht mehr fortdauern.
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Nicht einmal ein ideal gerechtes Leben verdiente die Schonung vor diesem Nichts. Denn warum sollten wir uns überhaupt Leid gegen Freude einhandeln müssen oder wollen? Eine Krämerseele, welche weiterhin auf gerechtem Lohn für ihre Arbeit, dem Genuss des Guten für das Erdulden des Schlechten, diesem ewig sinnlosen Hin und Her bestünde – wenn es stattdessen gleich ein für allemal ein Ende haben könnte mit allem.
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(Wir sollten das Nichts dort platzieren, wo es hingehört: an höchster Stelle. Als unsere unerfüllbarste Sehnsucht und allerreinste Erfindung, zu der es keinen praktischen Weg zu erhoffen gibt. Auch nicht den Tod.)
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148)
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Das Christentum verlangt das Gute jetzt sofort – wer sich damit Zeit lässt, könnte sterben, bevor er sich für das Paradies qualifiziert hat.
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Der Materialismus verlangt das Gute gar nicht – die Zeit reicht ja höchstens, um etwas Spaß zu haben, bevor man ins Gras beißt.
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Wer sein Leben als ewig ansieht, hat Zeit für das Gute, für den Spaß und für die Ruhe – es braucht alles drei, um auf Dauer zurechtzukommen.
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149)
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Aus der Welt draußen holt der Tod die von uns Geliebten und die von uns Gehassten.
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So ist er wohl in den Ruf gekommen, auch das Beste bzw. Schlechteste unserer selbst zu rauben bzw. zu entsorgen.
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Aber vielleicht bleibt von innen ja immer alles beim Alten. Lässt sich vom Tod der anderen auf unseren eigenen schließen?
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150)
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Sein und Nichts – wer glaubt, sein Sein sei endlich, glaubt der damit nicht automatisch, dass ansonsten ewiges Nichts bzw. Nichtsein sei?
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So betrachtet sind Materialisten nicht nur Dualisten bezüglich Sein und Nichtsein, sondern geben dem Nichts sogar den Vorrang, da es der ewige Teil ist.
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Materialismus – was für eine Religion! Ewig nichts, dann ein kurzes Aufflackern der Welt, dann wieder ewig nichts. So lässt sich sicher vieles aushalten im Leben.
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151)
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Wer das Leben ablehnt und dabei "zufällig" Materialist ist – was bleibt dem aufs Ganze gesehen nicht alles erspart!
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Vor ihm die Sintflut, nach ihm die Sintflut – die paar Jahrzehnte dazwischen gehen angesichts der Ewigkeit doch gegen Null.
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Und solange er sich von eigener Hand umbringen kann, steht ihm die Null nach Belieben noch früher zur Verfügung. Fast paradiesisch.
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152)
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Lässt sich eine materialistische Auffassung von Leben und Tod mit der Idee des Ewigen verbinden?
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Atome finden zu einem Menschen zusammen und driften wieder auseinander – wobei sich sein ewiges Bewusstsein quasi formiert und wieder deformiert.
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Wie sich Bewusstsein vor und nach der materiellen Ballung wohl anfühlt? Ob es schlimme Gründe hat, dass ich Bewusstsein vor seiner jetzigen Form nicht erinnere? Sollte ich Angst vor meinem ewigen Zerfließen haben?
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153)
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Der leidende Monotheist freut sich aufs Paradies, und der leidende Materialist tröstet sich damit, dass alles in absehbarer Zeit sein Ende findet.
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Ist es ein Wunder, wenn jugendlicher Ungestüm diesen anheimelnd leuchtenden Notausgang schon mal reichlich früh aufstößt?
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Wie groß muß der Leidensdruck sein, damit der Notausgang zum Hauptausgang wird? Kann Sterben ganz groß in Mode kommen?
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154)
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"Du hast nur ein Leben – und es ist kurz!" – verwunderlich, wie sehr der Mensch zu begrenzten Annahmen neigt.
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Die Erde war auch mal Ein und Alles, mit ein paar Laternen am Himmel – und wie sehr hat sich unsere Sicht da verändert!
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Könnten wir es verkraften, wenn sich unsere subjektiven Seinshorizonte so schlagartig erweiterten wie die objektiven?
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155)
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Falls es den Tod in Sinne von Nichtsein nicht gibt, dann sollten wir ihn erfinden.
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Was könnte lohnenderes Ziel sein für Wissenschaft und Technik als endgültige Erlösung?
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Stufe 1: Theoretisch nachweisen, dass es das Nichtsein geben kann. Stufe 2: Das Nichts praktisch herstellen, mit Garantie auf Lebenszeit.
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156)
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Die Entwicklung des Freitods steckt leider noch in den Kinderschuhen.
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Erbärmlich, wie der Einzelne mit primitiven Mitteln auf sein verdammtes Leben eindreschen muss.
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HighTech-Tod, mit wissenschaftlich-technischer Absicherung der Leidfreiheit.
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157)
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Am besten von allen Menschen haben es die bejahenden Idealisten: das Leben sei schön und unendlich. Dahinter kommen die bejahenden Realisten: das Leben sei schön aber endlich.
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Auch die verneinenden Realisten haben nicht das schlechteste Los gezogen: das Leben sei unschön aber endlich. Echte Pessimisten jedoch sind die verneinenden Idealisten à la Schopenhauer: das Leben sei unschön und unendlich.
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Die einzige pessimistische Steigerung, die mir noch einfällt, ist die Hölle – das schlimmstdenkbare Dasein. Schopenhauer meint, das hätten wir bereits. Ich denke: schlimmer geht immer.
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158)
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Schlimmer geht immer?
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Vielleicht hat Schopenhauer recht mit seinem Pessimismus: das Leben ist schlimm wie immer. Wer meint, es werde schlimmer, ist noch nicht beim Sein angelangt.
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Und bei Nietzsches Ewiger Wiederkehr des Gleichen wäre somit diese ereignishaft klingende Wiederkehr auch noch wegzulassen: das Leben ist einfach nur Ewig Gleich.
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159)
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Differenzieren heißt, vom sinnvollen Ganzen zum sinnlosen Einzelnen vorzudringen.
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Wer ein Bild oder einen Klang genauer analysiert, erhält Pixel bzw. Samples, die beziehungslos nebeneinander zu stehen scheinen, für sich nichts mehr über ein Ganzes aussagen.
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Dennoch bleibe ich selber lieber beziehungslos und sinnfrei, als Mittel eines höheren Zwecks zu werden – Sinnangebote und Erfolge unserer Geschichte halten eben auch keiner genaueren Analyse stand.
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160)
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Wer Tiere, Pflanzen und sogar Dinge als kommunikativ weiter von uns entfernte Lebensformen begreift, der lässt sie eher in Ruhe oder geht wennschon dann sorgsam mit ihnen um.
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Wer auf Tiere, Pflanzen und erst recht Dinge mit zunehmender Sorglosigkeit einwirkt, u.a. weil es gesetzlich erlaubt ist, dem unterstelle ich materialistisch bedingte Grausamkeit.
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Wer Tiere, Pflanzen und sogar Dinge als beseelt begreift, ist antiquierter Animist? Schon wieder Materialismus plus x. Umgekehrt: Gegenständlichkeit ist nur mögliche Eigenschaft allgegenwärtigen Lebens.
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161)
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Ein unabhängig von mir existierendes Gegenüber – mit dieser Annahme beginnt alle Grausamkeit.
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Altruismus klingt moralischer als Egoismus – aber Ausbeutung kann sich für mich nur lohnen in der Annahme, dass es anderes gibt als mich.
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Solipsismus klingt unmoralischer als Pluralismus – aber erst die nüchterne Annahme des All-Ein-Seins macht mich achtsam.
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162)
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Vitalismus ist vom Begriff her die Lehre, welche allem das Leben zugrundelegt.
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Doch auch der ließ sich in den Dualismus drängen, unterschied Anorganisches von Organischem – und gab sich mit der Laborsynthese von Harnstoff besiegt.
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Ich halte die Annahme von Nicht-Lebendigem für eine Lizenz zur leichtsinnigen Ausbeutung. Aber die Bezeichnung Vitalist wurde mir von Halbherzigen verbraucht.
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163)
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Nihilismus als naheliegender Begriff für das Streben nach dem Ideal des Nichts ist leider passé – dafür hat v.a. der Nichts-Hasser Nietzsche gründlich gesorgt.
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Heute kann keiner mehr diesen Begriff verwenden, ohne in mehreren Nebensätzen zu erklären, welche von seinen z.T. gegenteiligen Bedeutungen er nun damit meint.
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Ich bin moralistischer und idealistischer Nihilist à la Schopenhauer: Nichts wäre am besten, ist aber unmöglich. Mit Verneinung aller Werte oder Zerstörungswut hat das nichts zu tun, im Gegenteil.
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164)
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Kein Anfang, kein Ende. Bewusst wird uns immer nur das Gefühl kurz nach dem Aufwachen oder kurz vor dem Einschlafen – die exakten Zeitpunkte sind reine Illusion.
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Vielleicht wird unser Wachbewusstsein auch kurz vor dem Tod bis kurz nach der Geburt von Bewusstlosigkeit oder Träumen eines großen Schlafs abgelöst.
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Der Selbstmörder könnte gegen die Wand des Lebens rennen, so oft er wollte – kurz vor dem Knall verlöre er das Bewusstsein, kurz danach wäre er wieder zurück im Leben, mit einem Brummschädel.
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165)
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Who wants to live forever? Weder der Fliegende Holländer noch der Highlander.
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Leben macht lebensmüde.
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Wie lange, wie tief muss der große Schlaf wohl sein, wie viel muss er uns vergessen machen, damit wir nicht schon als Lebensmüde daraus erwachen?
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166)
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Letzter Wille par excellence: endlich mit dem Wollen aufhören können.
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Aber das kann niemand, solange er seinen Schmerz aushalten muss.
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Das Wollen Leidender ist Müssen – aber wer kann das schon zugeben.
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167)
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Gottes Zoo und Darwins Dschungel – unser Kulturkreis scheint damit einverstanden, sich demütig in ersterem und herrisch in letzterem zu bewähren.
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Wer jedoch weder devot noch dominant sein will, braucht eine dritte Weltanschauung, welche solch negative Haltung gewährt oder anstrebt.
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Hätte ich da nicht Schopenhauers Philosophie bzw. die östliche Religion für mich entdeckt, wäre ich wahrscheinlich schon wahnsinnig oder tot.
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168)
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Verallgemeinerung – richtig verwendet ist meiner Ansicht nach nichts dagegen zu sagen. Klischees – schon mal mehr als gar keine Orientierung! Schubladendenken – aber klar denke ich kategorial, wie denn sonst?
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Es gibt immer Mehrheiten und Minderheiten – erstere müssen begreifen, dass die anderen zu berücksichtigen sind, letztere müssen begreifen, dass sie nun mal die Ausnahme von der Regel sind.
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Individualistische Übertreibungen wie "Jeder ist anders!" etc., welche eine Gleichverteilung aller möglichen Fälle nahelegen, sind falsch und werden uns nicht helfen – wir sind im allgemeinen gleich und im besonderen anders.
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169)
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Wer partout nicht als Ausnahme von der Regel gelten will, diskriminiert Ausnahme-Sein damit erst recht.
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"Anders ist normal!" – wie traurig, sich mit einer Lebenslüge an den schnöden Mainstream kuscheln zu wollen.
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Aber vielleicht ist es normal, dass für den Kampf um Integration eben dieser Hauptpreis winkt: endlich Spießer.
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170)
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"Pessimismus – ein Stadium der Reife". So einfach, so wahr: wer sich diese Welt genauer anschaut, muss einfach traurig darüber werden.
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Aber nein, angeblich leiden wir nur zunehmend unter depressiven Verstimmungen, einer ominösen Hirnstoffwechselstörung.
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Dabei ist es genau umgekehrt: wer das Stadium der Traurigkeit nicht erreicht, musste oder wollte in seiner Entwicklung stagnieren.
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171)
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Schopenhauer fasste die altehrwürdige Philosophie treffend zusammen: das Leben wäre besser nicht.
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Nietzsche riss daraufhin diese Philosophie samt sokratischen Wurzeln heraus und setzte einen dionysischen Jugendkult.
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Statt Ruhe und Weisheit erstrebt man nun Party und Spaß – Denken ergab, dass man besser mit Denken aufhört. Na toll.
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172)
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Zuerst einmal wissen wir immer noch so gut wie gar nichts. Nach wie vor tappt die Menschheit hinsichtlich ihrer wesentlichen Fragen im Dunkeln.
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Als nächstes schließen wir von unserem Sein auf alles andere. Wir können immer nur das Maß unseres Lebens anlegen, dieses nicht hintergehen.
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Schließlich hat das vergleichsweise fernliegende Weltmodell der toten Materie dann am meisten "gebracht". Wahrscheinlich auch am meisten Unheil.
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173)
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Falls das Bottom-Up-Modell der Weltentstehung zutrifft und komplexe Strukturen haben sich aus einfachen entwickelt – wie stabil ist dann die "oberste" Schicht des menschlichen Miteinander?
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Dürfen wir davon ausgehen, dass ethische Verhaltensmuster in uns fest verdrahtet sind wie primitive Reflexe? Ihre Gesetzmäßigkeiten nur von Psychopathen überwunden werden können?
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Evolutionär versteht sich der Mensch als Tier, wenn nicht gar als pervertiertes Tier. Was könnte noch alles Schlimmes aus uns werden, wenn der Gangster-Zeitgeist uns trainiert?
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174)
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Ruhe, Gelassenheit, Abgeklärtheit – diese gilt es persönlich wie gesellschaftlich anzustreben und langsam aber sicher zu erreichen.
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Das Christentum schießt übers Ziel hinaus, indem es den wünschenswerten Lebenszustand ins Jenseits verlegt.
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Der Naturalismus hingegen greift zu kurz, seine Verklärung jugendlicher Tatkraft schickt uns unweigerlich auf den absteigenden Ast.
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175)
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Monotheismus, Christentum, Anthropozentrismus, ...
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Materialismus, Realismus, Naturalismus, ...
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Östliche Philosophie, Schopenhauerianismus, Bewusstseinsmonismus, ...
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176)
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Die Christen leben in einem Zustand der Verheißung, des Noch-Nicht.
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Die Materialisten leben in einem Zustand der Galgenfrist, des Gerade-Noch.
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Zur Ruhe kommt erst, wer genau jetzt so lebt, als lebte er für immer.
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177)
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Reif ist, wer vom Leben weder schlagartige Veränderungen erhofft noch befürchtet.
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Noch reifer, wer entsprechendes dann auch vom Tod annimmt.
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Christentum und Realismus aber lassen einen da im Alarmismus verharren.
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178)
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Das Bewusstsein als unhintergehbaren Urgrund des Lebens zu verstehen heißt für mich nicht, dass dieses Leben deshalb selbst gewollt oder sogar selbst erschaffen sei.
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Wer am liebsten nicht wäre, dem ist sein Bewusstsein, sein Körper und die ganze Welt drum herum aufgezwungen, dem ist alles Zwang, schlimmstenfalls für immer.
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Die Deterministen aber halten das Leben i.a. für endlich, nur Indeterministen reden vom ewigen Leben – scheint mir, als hätten beide ihre Lieblingsversion frei gewählt.
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179)
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Wer das Leben als zyklisch begreift, legt Wert auf einen guten Rhythmus.
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Zu wenig Arbeit heißt, den Abend und die Nacht unruhig zu verbringen.
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Zu viel Arbeit heißt, für den geruhsamen Abend schon zu müde zu sein.
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180)
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Leben ist Leiden, die Welt ist schlecht – jedoch nicht die schlechteste aller möglichen Welten. Ich bin wohl bloß "Malist" statt Pessimist.
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Aus der Balance ist das Leben damit nur, solange ich nach Art der Mathematiker einen neutralen Bezugswert ins Zentrum rücke.
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Wenn ich aber das Leben als Mitte annehme, liegt darüber eben das Nichts und der Himmel, darunter das Ungewisse und die Hölle.
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181)
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Skeptiker nennt sich gerne, wer die ewige Fortdauer des Lebens bezweifelt. Aber ist es nicht skeptischer, das Leben in praxi für alternativlos zu halten?
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Nichtsein und Paradies als bessere Alternativen bzw. Ungewisses und Hölle als schlechtere Alternativen bleiben damit reine Theorie – ausgedacht, frei erfunden.
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Lebensmonismus als tatsächlich erreichbares Stadium ruhiger Reife, anstatt eingespannt zwischen Verlockung und Horror des ganz Anderen.
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182)
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Zyklische Modelle unendlichen Lebens tendieren zur Paradoxie, ja. Aber auch das Leben als linear und endlich aufzufassen zeitigt manch widersinnige Stimmung.
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So gibt es das Leben an sich liebende Menschen, die dennoch überwiegend traurig sind, weil ihnen der Skandal des nahenden Todes unweigerlich bewusst bleibt.
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Entsprechend gibt es auch das Leben an sich hassende Menschen, die dennoch überwiegend heiter sind, weil ihnen die sichere Erlösung beliebig kurz bevorsteht.
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183)
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Der optimistische Christ freut sich auf den Himmel, der pessimistische Christ fürchtet sich vor der Hölle.
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Der moderne Mensch steht optimistisch oder pessimistisch vor dem Nichts oder vor dem Unbekannten.
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Ich blicke pessimistisch auf ein endloses Leben, andere blicken optimistisch darauf.
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184)
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Ich bin – leider.
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Und schlimmer: ich glaube, dass ich bleibe.
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Andere glauben an Sein und Nichtsein, an Werden und Vergehen. Mir bleibt nur noch das Sein.
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185)
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Unnötig laut ist distanzlos.
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Hören ist schon fast Fühlen.
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Das Trommelfell ist auch eine Pelle, auf die einem gerückt werden kann.
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186)
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Denken ist nicht nur Mittel zur Tat.
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Denken ist mir Alternative, und zwar i.a. die bessere Alternative zur Tat.
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Erst denken, dann besser nicht tun.
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187)
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Das Yin&Yang-Zeichen trifft es: in allem steckt zumindest ein wenig von seinem Gegenteil.
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Eindeutiger Definition zum Trotz haftet dem Himmel ein Verdacht von Langeweile an, der Hölle von Sensation.
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Das Nichts erlöst und bedroht, das Ungewisse macht Angst und Neugier.
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188)
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Kann man unglücklich sein, ohne dass es einem selber noch bewusst wird?
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Ich denke schon – jedenfalls wollte ich nie mit jemandem tauschen, der sich für glücklich hält. Vogel Strauß bleibt Vogel Strauß, auch mit dem Kopf im Sand.
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Vielleicht ist sich zu belügen sogar Bedingung einer "gesunden" Entwicklung (psychologische Reife: Abschottung von primärprozesshaften Inhalten).
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189)
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Drei Denkweisen, die vom westlichen Weltbild wegführen, sind mir zum Bestehen meines Lebens wohl hilfreicher als Therapien, wie sie unsere Gesellschaft anbietet, es hätten sein können:
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a) Abstrahieren auf das Leben als Allgemeinstes, b) zyklisches Bild dieses Lebens, und c) entsprechende Annahme von Altbekanntem bzw. nur unwesentlichen Veränderungen auch im Tod.
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Darüber zu sprechen ist m.E. wichtig, weil westliches Glücksstreben solche zu Pessimismus und Passivismus führenden Ideen systematisch unterdrückt oder esoterisch rosa färbt.
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190)
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Softie bin ich, lehne das Machtprinzip des Lebens ab. Laut und herrisch auftretende Menschen, soweit sie es m.E. schon besser wissen könnten, erregen mein Missfallen.
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War ich damit zu Hippiezeiten noch fortschrittlich, setze ich mich heute dem Verdacht aus, gegen die sich mit aller Macht befreienden Frauen, Schwulen, Einwanderer u.a. zu sein.
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Tut mir Leid, aber wenn Diskriminierte sich nun ihrerseits größtmöglich aufspielen, dann haben sie eben zu den Unsympathen gewechselt – meinerseits ist da noch alles beim Alten.
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191)
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Forever young – anscheinend wünschen sich viele Menschen endloses Werden, andauernde Entwicklung.
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Auf meiner Hitliste steht nach dem Nichtsein das Vergehen – wobei ich beides für illusorisch halte – dann das Sein und zuletzt das Werden.
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Will man nicht eigentlich nur etwas werden, um es dann zu sein? Ich fürchte, Lifelong Learning etc. wird uns von Arbeitgebern schöngeredet.
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192)
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Erwachsen ist man, wenn Wachstum keine große Rolle mehr spielt.
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Wer jung bleiben und ständig expandieren will, beraubt sich seiner Reife.
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Stillstand ist Rückschritt – sagen nur Leute, die nicht ankommen können.
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193)
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Jugendwahn – fatal nicht nur für das Alter, sondern auch für die Jugend.
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Erwachsene, die lieber wieder jung wären, sind denkbar schlechte Vorbilder.
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Unreife Unsicherheit ist besser zu ertragen mit reifer Sicherheit vor Augen.
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194)
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Drei große Lebensabschnitte: Ausbildung, Arbeit, Ruhestand. Und ein zeitloser vierter: Tod.
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Nach einem Drittel Leben sollte die Jugend vorbei sein, nach zwei Dritteln die Arbeit.
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Im Alter zur Ruhe kommen, schließlich bereit sein für den Tod. Das wär's doch.
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195)
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Die Metaebene fliehen oder sich dorthin flüchten – zwei Einseitigkeiten, erstere häufig, letztere selten.
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Einerseits immer mittendrin im Leben, ohne sich je zu besinnen, ohne je auszuscheren, um es von außen zu betrachten.
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Andererseits das Leben durch dessen Anschauung ersetzen, vor lauter Philosophieren aufhören, praktische Erfahrungen zu machen.
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196)
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Nach dem Tod sieht sich der Christ als dasselbe Lebewesen in einer anderen Welt, der Buddhist dagegen als anderes Lebewesen in derselben Welt.
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Blieben noch die beiden Kombinationen als derselbe in derselben Welt bzw. als anderer in einer anderen Welt.
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Müsste ich wählen, nähme ich wieder mich und wieder diese Welt. Müsste ich raten, tippte ich wieder auf mich und wieder auf diese Welt. Leider.
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197)
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Gibt es eine fundamentalere geistige Erschütterung als die, seine Religion zu wechseln?
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Eigentlich nur, seine Religion zu verlieren. Wobei Materialismus m.E. auch eine Religion ist, vielleicht sogar die tröstlichste.
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Was heißt dann ohne Religion sein? Den Tod als großen Unbekannten zu sehen? Oder sich des ewigen Höllenfeuers gewiss zu sein?
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198)
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Ohne Religion sein, das heißt wohl, ein Bild von Leben und Tod zu haben, das nichts tröstliches an sich hat.
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Wobei es vielleicht hauptsächlich zum Trost geschieht, wenn wir uns abstrakte Gedanken darüber machen.
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Dennoch können wir das Ganze nicht einfach sehen, wie wir es sehen möchten. Viele hätten lieber einen (anderen) Glauben.
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199)
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Lebten die Menschen früher hauptsächlich in Vorfreude aufs Paradies und die Jugend in Vorfreude aufs Erwachsensein?
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Heute jedenfalls ist es das Jugendlichsein, welches am allermeisten zählt und ums Verrecken aufrechterhalten wird.
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Und die Jugend feiert frenetisch, um ihr Entsetzen darüber zu kaschieren, dass diese prekäre Lebensphase die schönste sein soll.
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200)
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Klagen über das Leben im allgemeinen hört man selten, nicht weil es da nichts zu klagen gäbe, sondern weil es als schlechter Stil gilt.
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Ich beklage mich vergleichsweise häufig über das Leben, schon allein deshalb, weil ich diese Gefühle nicht in mir anstauen möchte.
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Mehr noch möchte ich nicht lügen müssen. Die Lebenslüge des bis zur Fratze verzerrten Keep Smiling gilt jedoch seltsamerweise als guter Stil.
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201)
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Das Kruzifix – was bedeutet es? Jesus, Sohn des allmächtigen Gottes, starb für unsere Sünden am Kreuz? Das versteht doch kein Mensch.
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Ich sehe da einfach den leidenden Menschen. Mir sagt es ganz direkt: sei eingedenk des Leides, auch wenn alle lächeln und so tun als wäre nichts.
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Mir kommt es manchmal vor, als wolle christliche Theologie diese Wahrheit fliehen, mit aller Macht ersetzen durch unverständliche Komplikation.
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202)
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Ist Selbstmord mutig oder feige? Ist Siechtum Mut zum Leben oder Feigheit vor dem Tod? Wann Leben festhalten, loslassen, beenden?
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Da es keine allgemeingültigen Antworten auf diese Fragen gibt, sollte die Entscheidung beim Einzelnen selber liegen.
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Der Allgemeinheit bleibt die Pflicht, ihm bei der Durchsetzung seines Willens zu sekundieren. Auch mit Technik für ein sanftes Sterben.
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203)
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Reife, Traurigkeit und Lebensverneinung – scheinbar werden diese Begriffe nach und nach abgeschafft bzw. ausgetauscht gegen Krankheitsbezeichnungen.
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Dann ist man entweder jugendlich, fröhlich und lebensbejahend – oder eben befindlichkeitsgestört, krank und damit behandlungsbedürftig.
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Depressive Verstimmung irgendwann behandlungspflichtig, gar strafbar? Könnte vielen so passen, "alte Jammerlappen" medizinisch, gar juristisch zu kurieren.
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204)
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Wie es den männlichen und den weiblichen Charaktertyp gibt, so gibt es auch den fröhlichen und den traurigen.
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"Depressive Verstimmung" besteht m.E. zumeist darin, dass der traurige Typ seine Traurigkeit nicht zulassen möchte.
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Sanftmütige Mädchen wollen kerlig werden, Melancholiker fröhlich – dabei gibt es gute, nein bessere Gründe, weiblich bzw. traurig zu bleiben.
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205)
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Don't shit where you eat – dieses Motto erklärt auch das menschliche Lärmverhalten recht gut.
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Da wird ein Kreis ums traute Heim gezogen, wo gefälligst Ruhe zu herrschen hat – und außerhalb dann die Sau rausgelassen.
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Im Trend liegt z.B. der Zweitwohnsitz für den Heimwerker, wo er nur zum anonymen Radaumachen hinfährt.
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206)
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Die eigene Religion ist das, woran man sich geistig-seelisch festhalten kann.
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Wer keine hat, ist zu abhängig von den Urteilen anderer.
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Wer sie nicht ständig prüft und nachbessert, fällt ins Bodenlose, wenn er plötzlich erkennen muss, dass seine Religion doch nicht seine eigene ist.
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207)
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Selber glaube ich zwar nicht, dass Selbstmord eine Lage verbessert – Leben ist nicht dauerhaft totzukriegen, fürchte ich.
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Aber ich komme nicht umhin, es zu bewundern, wenn jemand sich umzubringen versucht oder sich tatsächlich umbringt.
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Es stimmt traurig, ja, besonders bei jemandem, den ich mag. Trotzdem mein erster Gedanke: Respekt für dieses Statement.
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208)
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Ist die Welt doch gerecht?
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Haben böser Täter und gutes Opfer den Vor- und Nachteil je zur Hälfte?
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Nein, dazu ist dem Täter sein Bösesein nicht Makel, dem Opfer sein Gutsein nicht Trost genug.
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209)
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Psychotherapie ist in aller Regel Umschulung vom Opfer zum Täter.
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Sie redet den Opfern ihre Unschuld aus, mobilisiert ihre Wut.
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Den Begriff "Kämpfen" besetzt sie positiv, zieht neue Rekruten für den Lebenskrieg.
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210)
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"Das Sein", modernerweise als illegale Substantivierung eines Hilfsverbs desavouiert, leistet für mich die Synthese von "Ich bin" und "Es ist".
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Oder vielmehr erspart es mir gleich von vorneherein die analytische Teilung in Subjekt und Objekt, in erste und dritte Person.
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Warum um den Primat von Subjekt bzw. Objekt streiten? Wer es tut, wünscht sich dabei wohl Ewigkeit bzw. Endlichkeit des Lebens.
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211)
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Wer sich einmal angewöhnt hat, vom Sein als Grund auszugehen, der wundert sich, wie es üblich sein kann, ein Nichtsein darunter zu denken.
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Bei gründlicher Überlegung leuchtet es unumkehrbar ein, dass Nichtsein ein Konstrukt unseres Seins ist, und nicht umgekehrt.
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Sowohl für das Christentum mit seiner Creatio ex nihilo als auch für den Materialismus mit seinem Urknall liegt das Nichts dem Sein zugrunde – meine Religion hingegen erträumt sich das Nichts als unendlich hohes Ziel.
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212)
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Warum bemühen sich Christen und Materialisten, unser Sein als besonderen Fall im allgemeinen Nichts hinzustellen?
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Ich denke, beide Glaubensrichtungen betreiben so die Verherrlichung des Lebens, das siegen soll über sein gedachtes Gegenteil.
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Tatsächlich verhält es sich aber umgekehrt: das Sein ist allgemein, und das besondere Nichts soll Herrschaft schlussendlich aufheben.
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213)
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Macht über andere zu wollen, oder aber nicht zu wollen, dass einer Macht über andere hat – das unterscheidet für mich böse und gut.
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Für den guten Menschen ist das Nichtsein einem Himmel mit einer Hölle darunter vorzuziehen.
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Sich in den Himmel mit der Hölle darunter zu wünschen ist ein schlechter Wunsch. Denn besser wäre Nichts für Alle(s).
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214)
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Wenn auch nur ein einziges Lebewesen in der Hölle schmoren muss – wäre es dann nicht gerecht, wenn alle anderen dies auch müssten?
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Wenn es die Alternative des Nichtlebens gäbe, hätten die niemals auf die Welt gekommenen dann nicht einen unbilligen Vorteil gegenüber den Leidenden?
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Die Kunst des Lebens scheint mir darin zu bestehen, denen da oben ihre Freude und denen da unten ihr Leid gönnen zu können. Wie ekelhaft.
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215)
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Als Naturalisten sehen wir sogar uns selber nur noch von außen, zoomen dabei so nahe wie möglich ran oder so weit wie möglich weg. Betrachten unsere Misere nurmehr per Mikroskopie oder Demoskopie und murmeln abwesend: "Hochinteressant!".
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Die Vorgänge des Mikrokosmos erscheinen so flüchtig, die des Makrokosmos so behäbig, beide so leidlos neutral. Auf dieser weiten, nach unten und oben offenen Skala schrumpft das Ich zu einer eng begrenzten Ausnahme, über die sich endlich hinwegsehen lässt.
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Nachts zeigen sie im Fernsehen unseren Planeten vom Weltraum aus, unterlegt mit elektronischen Sphärenklängen. Soll sagen: im Zeitalter der Naturwissenschaft brauchst du keine Angst mehr zu haben, die Erlösung im Nichts des Alls ist gewiss.
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216)
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Materialismus als Volksreligion verführt mit seinem Versprechen der einfachen Herstellbarkeit leidlosen Nichtseins immer mehr Menschen zum Selbstmord.
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Endgültige Schmerzfreiheit durch simples Unterbinden der Blutzirkulation? Lebenserhaltung lohnt sich dann nur noch für die Gewissenlosen an der Spitze der Nahrungskette.
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Mit dem Nichts als Ziel bin ich ja mehr als einverstanden, der materialistische Weg dorthin – körperliche Selbstzerstörung – erscheint mir jedoch mehr als suspekt.
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217)
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Ob ich mein Leben denn so scheiße finde?
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DAS Leben finde ich so scheiße!
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Und somit auch deines.
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218)
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Freier Wille?
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Im Kleinen ja: dies hier ist meine Wortwahl.
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Im Großen nein: es ist nicht mein freier Wille, überhaupt zu existieren.
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219)
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Der waschechte Christ muss nach Kräften ein gutes Leben im Sinne der Bibel führen, und Selbstmord ist ihm streng verboten, wenn er nicht auf ewig in der Hölle brennen will.
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Der Materialist hingegen darf nach eigenem Gutdünken leben, und als tröstliche Alternative zum unwegsam gewordenen Leben bietet sich ihm das endgültige Nichts im Suizid.
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Als Bewusstseinsmonist kann ich zwar leben wie ich es gut finde, die Flucht ins Nichts jedoch bleibt mir verwehrt. Also habe ich es leichter als der Christ und schwerer als der Materialist.
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220)
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Das Leben wäre längst noch nicht gerechtfertigt, wenn das Gute bei weitem überwöge.
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Geht ein KZ in Ordnung, nur weil gegenüber drei Vergnügungsparks sind?
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Solange es irgendein Leid gibt, wäre alles besser nicht.
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221)
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Das Leben ist per se eine einzige moralisch empörende Misere.
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Weder die materialistischen Hedonisten noch die religiösen Fanatiker wollen das einsehen.
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Für erstere ist ihr Leben und damit das Leben schön, für letztere sind erstere an der Misere schuld.
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222)
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Vorwärtsstrebende Menschen gelten als mutig und achtbar. Wer es lieber ruhig angehen lässt, steht schnell als vermeintlicher Drückeberger im Abseits.
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Dabei verdrängen erstere vieles, indem sie so forsch ans Werk gehen. Handelnd fällt es gemeinhin leichter als denkend, Probleme nur oberflächlich wahrzunehmen.
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Vielleicht führe unser aller Boot besser, wenn wir mehr darauf achtgäben, dass es nicht leckschlägt, anstatt nur den Motor immer weiter aufzudrehen.
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223)
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Ein konsequenter Pessimist nimmt sich höchstens im Affekt das Leben, also solange ihn sein Leid am ruhigen Nachdenken hindert.
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Denn der Suizident ist zwar mit gutem Grund pessimistisch gegenüber dem Leben, aber grundlos optimistisch gegenüber dem Tod.
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Kluger Pessimismus wertet den Tod als Übel, jedoch nicht zu großes. Motiviert so zum Überleben, ohne zu viel Angst vor dem Tod zu machen.
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224)
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Morgen, Mittag, Abend und Nacht – so betrachtet ist die Nacht Teil des Tages.
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Jugend, Reife, Alter und Tod – so betrachtet ist der Tod Teil des Lebens.
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Nacht bzw. Tod Gegenteil des Tages bzw. Lebens? Erfindungen aus Müdigkeit.
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225)
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Der Suizident erhofft sich vom Tod die Erlösung aus seiner misslichen Lebenslage. Sein Drang zum Suizid resultiert aus Misstrauen gegenüber dem Leben und Vertrauen gegenüber dem Tod.
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Suizidalität wird in der Regel bekämpft durch ein optimistischeres Bild vom Leben, welches in einer unheilbar schlechten Welt aber nur um den Preis von Verdrängung und Ignoranz zu haben ist.
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Konsequent wäre ein pessimistischeres Bild vom Tod. Wie glaubwürdig sind die Versicherungen von Religion, Wissenschaft und gesundem Menschenverstand, das Leiden habe im Tod ein Ende?
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226)
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Der Begriff Suizid ist neutral, aber ein sperriges Fremdwort. Der deutsche Begriff Selbsttötung klingt umständlich und hat sich nie richtig etabliert.
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Der Begriff Selbstmord hat den Nachteil, dass er moralisch wertet – aber den Vorteil, dass er zur Geltung bringt, wie sehr sich der Körper seiner Tötung widersetzt.
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Der Begriff Freitod spricht das Motiv der Tat an, aber idealisierend bis heroisierend. In Ermangelung des einen optimalen Begriffes verwende ich sie alle synonym.
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227)
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Der berühmteste Monolog des berühmtesten Dramas des berühmtesten Schriftstellers stellt bereits für sich alleine, ohne Bezug auf seinen Kontext, die glasklare Frage:
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Wenn wir uns sicher sein könnten, dass der Tod ein ewiger traumloser Schlaf sei, wer würde noch die Mühen des Lebens auf sich nehmen, statt sich durch Suizid davon zu erlösen?
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Die rhetorische Frage in Aussageform gewendet lautet: Wir leben deshalb weiter, weil wir nicht wissen, was uns im Tod erwartet. Nur wer schneller handelt als er denkt, bringt sich um.
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228)
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In unserer christlich-abendländischen Tradition – bis vor kurzem auch per Staatsgesetz – war es verboten, sich umzubringen. Die Kirche wusste genau, welche Strafe auf gelungenen Selbstmord steht: ewiges Höllenfeuer.
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Shakespeare's Hamlet ist da schon einen Schritt weiter: er meint, dass er nicht weiß, was im Tod auf ihn wartet. Übernimmt also nicht blind das Pseudowissen seiner Religion, sondern macht sich seine eigenen Gedanken.
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Heute aber sind wir bei einem neuen Pseudowissen gelandet: der Tod könne aus naturwissenschaftlichen Gründen nur endgültige Bewusstlosigkeit bedeuten. In jeder misslichen Lage eine Einladung zum Freitod.
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229)
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Die heute gültige Wahrheit lautet: alles ist endlich, stammt aus dem Nichts und geht zurück ins Nichts. Dazwischen liegt der Übergang vom Nichts zur Materie, von der Materie zum Leben, vom Leben zum Bewusstsein und zurück.
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Keiner dieser Übergänge ist theoretisch zu erklären oder praktisch im Labor nachzuvollziehen. Vergleichsweise winzige Erfolge wie die Synthese von Harnsäure oder die Erforschung der DNA müssen als Beweise reichen.
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Trotzdem hängen die meisten diesem Dualismus von Sein und Nichtsein an. Warum? Weil es keine überzeugenderen Alternativen gibt und das Nichts eine zumindest unbewusst unwiderstehliche Versuchung ist für den leidenden Menschen.
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230)
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Ein Gegenstück zum Glauben an die Naturwissenschaft als gültige Wahrheit und deren Realität des Nichtseins im Tod bildet die pessimistisch-idealistische Nichts-Religion. Sie stellt das Nichts als reine Idee auf die höchste Stufe.
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Das Sein wird hier als unhintergehbare Grundtatsache gewertet, das Nichts bzw. Nichtsein als unsere beste Erfindung innerhalb dieses Seins, welche zur Orientierung des Denkens und evt. Hoffens gut und wichtig ist.
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Das Nichts wäre mehr als gerecht. Die im Nachteil wären erlöst, die im Vorteil gestoppt. Das ewige Hin und Her des Lebens mit seinem Leid für viele und seiner Freude für wenige würde endlich verlöschen – optimal.
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231)
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Ist es sinnvoll, sich mit einem unbegründeten Glauben an das reale Nichts in den Suizid zu flüchten? Oder andauernd vom idealen Nichts zu träumen, ohne eine Chance, dieses je zu erreichen?
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Eine praktikable Lebenseinstellung ist m.E. der Lebensmonismus, welcher das Leben als ewigen Kreislauf von Jugend, Reife, Alter und Tod betrachtet, aus dem es keinen Ausweg gibt.
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Ohne Furcht vor einem Jenseits, aber auch ohne Hoffnung auf ein Jenseits, spielt sich so ein Lebensrhythmus ein, in dem sich leben und sterben lässt. Ohne die unerträgliche Nichtssehnsucht.
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232)
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Optimal wäre, wenn alle sein und dabei glücklich sein könnten, also im Paradies.
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Wenn es im Sein jedoch Gewinner und Verlierer geben muss, dann wäre sein Gegenteil, das Nichts, optimal.
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Wenn aber auch das Nichts nicht sein kann, dann ist das Optimale nicht nur schlechter als gut, sondern auch schlechter als nichts.
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233)
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Bosheit definiert sich für mich dadurch, dass jemand mit dem Leben im Ganzen einverstanden ist, solange er auf der Gewinnerseite steht.
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Prinzip der Lebensbejaher ist es doch, sich so lange und skrupellos Vorteile zu verschaffen, bis sich das Leben für sie lohnt.
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Das Gute und das Schlechte zusammen als Lebensfülle lieben lernen? Selbst wer von beidem gleich viel hat, ist den meisten gegenüber grob im Vorteil.
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234)
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Mit Pessimismus meine ich in Bezug auf das Leben die Einstellung, dass dieses im allgemeinen schlechter sei als nichts und auch schlechter bleibe als nichts.
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In Bezug auf den Tod meine ich damit eine Einstellung, die sich nach der Aussicht auf ein Paradies auch die Aussicht auf ein Nichtsein abgewöhnt hat.
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Erst wer an keinen Himmel und an kein Nichts mehr glaubt, ist wirklich "realistisch" bzw. "skeptisch". Leider sind diese Begriffe von den Gläubigen des Nichts besetzt.
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235)
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Mit zunehmendem Alter bzw. zunehmender Krankheit nähert sich der Suizid einem dem Sterben Nachhelfen an.
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Sich jung und gesund sein Leben zu nehmen ist etwas anderes als alt und krank seinem Siechtum ein Ende zu setzen.
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Vielleicht unterscheiden zwischen vorzeitigem und rechtzeitigem Suizid? Wobei dann der vorzeitige wahrscheinlich zu oft unterstellt wird.
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236)
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Suizidalität besteht auch darin, dass der Suizident sein ungeliebtes Leben für eine gute Sache opfern will, weil er es anders nicht beenden zu dürfen meint.
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Dies ist häufig bei religiös gebundenen Menschen der Fall, aber auch jegliche andere Verpflichtung gegenüber Leben und Lebenden führt zu solch indirekter Methodik.
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Wenn alle Versuche, das eigene Leben zu schädigen, um dadurch dem Tod näherzukommen, zum Suizid zählen, ist dieser fürwahr ein riesiges Phänomen.
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237)
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Ist es zu weit hergeholt, dem Materialismus eine suizidale Motivation zu unterstellen?
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Er behauptet nicht weniger als dass alles nur eine unwahrscheinliche Ausnahme im Nichts sei.
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Könnte nicht der Wunsch statt die Beobachtung Vater solch einer Weltanschauung sein?
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238)
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Seltsam: der Religion unterstellt man immer schwärmerisches Wunschdenken, dem Realismus hingegen nüchterne Wahrheitsliebe.
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Lieber auf ewig einem Gott ausgeliefert, der Hölle und KZs erschuf, oder endgültig zu bewusstlosem Staub zerfallen?
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Epikur klingt so tröstlich, wenn er sagt, dass einen Materialisten der Tod nichts anginge – wieso rangiert das bis heute unter "ungläubig"?
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239)
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Get rich or die tryin' – dieses Motto des Gangsta-Rap trifft genau den Zusammenhang zwischen Materialismus i.S.v. Streben nach materiellem Wohlstand und Materialismus i.S.v. Glaube an das Nichts im Tod.
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Denn wenn der Tod tatsächlich die endgültige Bewusstlosigkeit bedeutete, wäre er einem Leben in Armut und Elend sicherlich vorzuziehen. Und gesellschaftlicher Aufstieg damit jedes Risiko wert.
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Wird bald die Mehrheit nach diesem Motto leben? Oder sitze ich hier nur einer Provokation der Jugendkultur auf, wie etwa vor 50 Jahren der Rock 'n' Roll für die Älteren den Weltuntergang einläutete?
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240)
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War einst Nichts? Wird einst wieder Nichts sein? Der Materialismus beantwortet beide Fragen mit Ja und liegt damit noch ein Ja vor dem Christentum.
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Im Materialismus ist der Lebensmüde sicher eingehüllt ins leidlose Nichts. Ewig war kein Leid, nun tut es kurz weh, und wieder wird ewig kein Leid sein. Angenehm.
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Ein paar wenige haben ihren Spaß, viele leiden beträchtlich – aber im Wesentlichen sind sie alle des Nichts. Was wird, wenn diese Religion rundum ankommt?
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241)
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Je ein realistisches und ein idealistisches Bild vom Leben bzw. vom Tod haben – gegeben und gesucht, wie bei einer Matheaufgabe.
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Realistischerweise gegeben ist dann für mich das Leben als Jammertal bzw. der Tod als unbekanntes Schicksal.
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Idealistischerweise gesucht ist dann für mich das ethische Optimum im Leben bzw. die absolut leidfreie Ewigkeit im Tod.
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242)
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Wiedergeburt in ein selber ausgesuchtes Leben für Fortgeschrittene – vielleicht der beste Kompromiss zwischen realistischer und idealistischer Todesvorstellung.
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Ewiges Leid ohne Ausweg – zu pessimistisch, um es aushalten zu können; sofortige und endgültige Leidfreiheit – zu optimistisch, um es abwarten zu können.
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Wenn bis heute angeblich alle Philosophie auf Platon fußt, wieso ist dann sein Jenseitsmodell dermaßen in der Versenkung verschwunden?
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243)
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Unsere monotheistischen Religionen sind Religionen des Wettbewerbs, wo es endgültige Sieger im Himmel und endgültige Verlierer in der Hölle gibt.
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Wer derartige religiöse Moral predigt, scheint sich nicht bewusst zu machen, wie unmoralisch wiederum das Konzept solcher Gewinnerreligionen ist.
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Wem der Himmel nicht mehr genug Anreiz bietet, falls es keine Hölle darunter gibt, der glaubt wohl an einen Himmel für Sadisten. Zu Gott würde er passen.
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244)
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Das Leid muss aufhören.
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Aber ohne Leid kein Glück!
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Dann eben auch das Glück.
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245)
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Selbst gewollt sei das Leid der Menschen, so sagt mancher Philosoph.
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Wenn damit gemeint ist, dass es sehend gewählt wird, halte ich das für zynisch.
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Vorstellbar ist mir aber, dass unwissend ein nur vermeintlich besseres Lebenslos angestrebt wird; etwa wenn Lieschen Müller davon träumt, Paris Hilton zu sein.
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246)
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Wer Gerechtigkeit fordert, hat das Leid schon akzeptiert.
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Ist bereits käuflich, lässt Leid durch Freude aufwiegen.
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Alles Glück der Welt rechtfertigt nicht eine Kinderträne!
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247)
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Heidegger wird auch der Todesphilosoph genannt, obwohl er den Tod gar nicht in Frage gestellt hat – bei ihm ist Tod gleich Nichtsein.
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Es ist schwer, überhaupt einen namhaften zeitgenössischen Philosophen zu finden, der über den Tod neue Vermutungen anstellt.
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Ist die Philosophie damit noch voraussetzungslos? Oder denkt sie nur noch auf dem festen Grund des Naturalismus?
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248)
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Die Dunkelziffer der Unglücklichen schätze ich noch viel höher ein als die aller anderen gesellschaftlich tabuisierten Gruppen.
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Man will es ja noch nicht einmal vor sich selber zugeben, dass die Welt einem aus guten Gründen missfällt. Dann noch lieber seelisch krank.
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Sich einzugestehen, das Leben an sich zu hassen, hieße in der Spaßgesellschaft, auf ganzer Linie versagt zu haben.
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249)
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Nur wer eben noch krank war, weiß die Gesundheit wieder richtig zu schätzen. Weil es ihm krank eben noch schlechter ging als gesund.
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Vielleicht weiß das Leben erst wieder richtig zu schätzen, wer gerade eben tot war. Weil man tot eben noch ohnmächtiger ist als lebendig.
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Ich weiß, wie andere Nahtoderfahrene oft vom Leben und vom Tod schwärmen. Können sie nicht zugeben, wie sehr der Tod verängstigt?
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250)
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Ein Nahtoderlebnis ist wie ein Traum, der so intensiv ist, dass er hyperreal i.S.v. irreal real wirkt.
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Der Müde ist froh, wenn er schlafengehen kann; aber nach einem befremdlichen Traum ist er doch froh, wieder wach zu sein.
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Der Tod als großer Schlaf: seine Ruhe lockt, aber seiner Hyperrealität fühlt man sich noch ausgelieferter als der Realität des Lebens.
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251)
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Die Alten predigen den Jungen mit vorwurfsvollem Unterton, wie gut diese es heutzutage doch hätten.
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Aber müsste das den Jungen so nachdrücklich gesagt werden, wenn es wahr wäre?
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Dass es ihnen schlechter gehen könnte, heißt noch nicht, dass es ihnen gut geht. Gut wäre besser als Nichts.
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252)
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Wie es mir geht? Meist wäre ich lieber nicht. Und die Gelegenheit endgültigen Nichtseins würde ich sogar jederzeit ergreifen. Also geht es mir schlecht. Oder sollte ich mich mit den anderen Lebenden vergleichen? Weiß nicht, wie es denen wirklich geht.
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Aber die Wie-geht-es-dir?-Frage ist ja so existentiell nicht gemeint. Erkundigt sich bloß freundlich nach meiner aktuellen biorhythmischen Tendenz. Doch auch dahingehend geht es mir meistens gleich – wie immer halt.
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Allzu aktuell aufgefasst wiederum wüsste ich die Antwort, dass mich jene Frage augenblicklich in Verlegenheit bringt. Muss dann entweder schauspielern oder Unpassendes kundtun. Insofern ist die Frage für mich ein Test: lieber lügen oder sich zum Affen machen?
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253)
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Im Monotheismus manifestiert sich Sadismus/Masochismus, im Materialismus Todessehnsucht. Also östliche Weisheit?
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Neo-Buddhist Schopenhauer hatte diesen Weg schon bereitet, da hat Neo-Christ Nietzsche alle wieder zurückgepfiffen.
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Es gibt halt immer einen Prince und einen Michael Jackson – einen, der zum Standard taugen würde, und einen, der es wird.
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254)
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Es ist nunmal jedes Individuum verschieden, und gegen alle ist Toleranz zu üben, solange diese auch selber Toleranz üben?
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Solche Argumentation hilft denen, die sich Vorteile herausnehmen, z.B. den Lauten. Warum sollten die sich an den Leisen stören?
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Wie es dem Zeitgeist in der "rechten" Halbzeit nur immer gelingt, den Verlierern die Parolen der Sieger beizubringen – "Respect!".
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255)
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So geworfen wir sind, so wichtig ist unser Entwurf.
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Erwachsen ist, wer ein selbstgewähltes Ziel ausgemacht hat.
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Streben ist sinnvoll, wenn auch keine Erlösung.
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256)
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Mensch ist gleich Tier plus Technik?
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Ausschlaggebender noch als die Technik scheint mir die Theorie zu sein.
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Was könnte, was sollte? An diesen Fragen erweist sich denkerische Unabhängigkeit.
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257)
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Ich hasse das Leben – aber was wird aus meinem subjektiven Ich, wenn ich tot bin? Weiß ich nicht. Religion, Naturwissenschaft und gesunder Menschenverstand versuchen, Antworten zu geben – vorab zu verifizieren ist jedoch keine davon.
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Während die Religion mir als potentiellem Selbstmörder noch schlimmeres oder gar ewiges Leid androht, ist die materialistische Bewusstlosigkeit und bisweilen auch das agnostische Ungewisse im Freitod eine starke Versuchung für mich.
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Soweit ich wählen kann, mache ich mir ein zyklisches Bild vom Leben, glaube an stete Wiederkehr von Jugend, Reife, Alter und Tod. Solch selbstbezügliche Philosophie lässt mich dem großen Schlaf und seinen Träumen ruhiger entgegensehen.
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258)
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"Herr, nimm mich zu dir!" oder "Beam me up, Scotty!" – die Sehnsucht nach dem nicht mehr Daseinmüssen war, ist und bleibt so tief empfunden wie sonst kaum etwas.
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Wenn die heutige materialistische Naturwissenschaft als Naturalismus zur maßgeblichen Religion wird, braucht es zur Erlösung mit den Worten Hamlet's "eine Nadel bloß".
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Ohne die Möglichkeit einer jenseitigen Hölle oder einer diesseitigen schlechteren Wiederkunft wird unser eigenes momentanes Leben zum hassenswerten Worst Case.
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259)
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Am Anfang waren vielleicht das Nichts und die Ungewissheit – zumindest was die ersten Vorstellungen vom Tod betrifft. Sie sind und bleiben wohl die naheliegendsten.
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Glaube bzw. Religion ist dann etwas Gemachtes. Bilder vom Tod, mit denen wir besser leben können als mit der Vorstellung, dass im Tod alles aus oder alles anders sei.
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Aber können wir glauben, was wir wollen? Sicher nicht. Stetes Nachdenken jedoch kann plausible Modelle vom Tod konstruieren, die glaubwürdig sind und das Leben lebenswerter machen.
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260)
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Suizid im Affekt oder Suizid mit Kalkül – beiden liegt m.E. die aktive Überlegung zugrunde, im Tod sei alles aus, zumindest alles anders.
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Oder hat unser individueller Egoismus Grenzen, die der Art zugutekommen – richtet sich die höchste Wut schließlich gegen den Einzelnen selbst?
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Wie dem auch sei: Selbstmord braucht viel Energie. Ist man nicht eigentlich erst dann wirklich lebensmüde, wenn man von alleine stirbt?
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261)
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Keine Religion haben, das heißt bezogen auf den Tod, ohne die Konstruktion tröstlicher Vorstellungen davon auszukommen.
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Eine gute Religion hat, wer mit ihr den Tod gelassener oder gar freudiger erwartet, als er es ohne sie getan hätte.
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Eine schlechte Religion hat, wer mit ihr dem Tod panisch entgegenstarrt oder begeistert auf ihn zustürmt.
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262)
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Als Quietist mag ich die Sonne. Freue mich, wenn ich sie sehe und fühle.
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Geräuschlos statt laut, ruhig statt hektisch, hell statt dunkel, warm statt kalt, rund statt eckig – gute Eigenschaften, oder?
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Sicher zeigt sie sich vielen auch von ihrer schlechten Seite, aber ich hatte da bisher Glück.
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263)
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Materialismus heute modelliert das Leben als selbstbezüglichen objektiven Prozess, als zufällig entstandenen Regelkreis.
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Bewusstsein entsteht dann wiederum aus so einer Rückkopplung, nämlich von Wahrnehmung auf das Wahrnehmende selbst.
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Vielleicht beginnt drittens das spirituelle Selbstsein mit der Annahme, das eigene Leben sei ein ewiger Kreislauf. Wer es endlich denkt, ist noch bei zweitens.
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264)
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Amokläufe provozieren von offizieller Seite seltsam stereotype Reaktionen fassungsloser Verständnislosigkeit. Schlecht geschauspielert, meine ich.
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Wer verstanden hat, was Materialismus bedeutet, dem leuchtet das Konsequente solcher "finalen" Aktionen gegen das scheiß Leben als solches unmittelbar ein.
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Wer aber seine Augen so fest geschlossen hält, dass er das Leben nur für schön und bewahrenswert halten kann, sollte kein öffentliches Amt bekleiden.
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265)
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Vom materialistischen Standpunkt aus betrachtet ist ein Leben allzu schnell nichts mehr wert, d.h. schlechter als das Nichts im Tod.
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Liebeskummer, Krankheit, Bankrott – wäre es da nicht oft besser, endgültig nicht mehr da zu sein, als solches durchleiden zu müssen?
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Wer sein Leben statt mit dem Nichtsein mit dem Leben anderer anderswo vergleicht, muss bzw. kann es eher wertschätzen.
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266)
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Die Welt ist schlecht und wäre besser nicht.
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Aber Nichts ist vielleicht unmöglich, und jeglicher Versuch der "Vernichtung" vermehrt das Leiden noch.
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Da hilft nur Nachdenken – wie das Nichts sicher erlangt werden kann einerseits, und wie das Sein trotzdem auszuhalten ist andererseits.
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267)
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Das naheliegendste Todesmodell? Erstens alles Mögliche, also das Unbekannte einschließlich des Bekannten (echter Skeptizismus), zweitens das Nichts bzw. Nichtsein i.S.v. endgültiger Bewusstlosigkeit (Materialismus).
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Das wünschenswerteste Todesmodell? Erstens die Allversöhnung ohne Vater, also allen und allem geht es nur gut (Christentum minus Hierarchie), zweitens das Nichts bzw. Nichtsein (Materialismus).
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Das Todesmodell, mit dem ich am ruhigsten leben kann? Erstens der ewige Lebenskreislauf mit stetig wachsender Lebenskunst (etwa Platon), zweitens die Ewige Wiederkehr des Gleichen (etwa Nietzsche).
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268)
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Falls ich von jemand anderem erschaffen wurde, soll der mich gefälligst auch wieder abschaffen! Oder doch nicht?
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Dieser Schöpfer wäre ja alles andere als vertrauenswürdig. Also sich doch lieber selbst abzuschaffen trachten?
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Typisch aktionistischer Zeitgeist: vom Gegenteil der Autopoiese i.S.v. Selbstabschaffung hab ich noch nie was gehört.
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269)
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Früher hat Pädagogik die lauten Kinder bestraft, heute therapiert sie die stillen.
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Was sie alle bräuchten, wären leise Vorbilder – aber wer könnte es in unserer lauten Gesellschaft soweit bringen?
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Amoklaufende Schüler reagieren. Treten mit einem ohrenbetäubenden Knall ab, statt als Mucksmäuschen in die Klapse zu gehen.
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270)
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Die Lauteren, Emotionaleren, Lustigeren setzen sich durch. Empiristische Forschung der Biologie, Psychologie und Soziologie gilt den Medien als Quelle purer Weisheit und liefert fleißig Modelle von Individuum und Gesellschaft, die das auch noch rechtfertigen und fördern. Und bestätigt dabei doch nur ihre eigene Prämisse: Die Welt ist ein Dschungel.
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Wo sogar den Lauten zu offensichtlich wird, wie die Leisen zu Opfern gestempelt und gequält werden, hilft ihnen augenzwinkernde Ironie und schadenfroher Humor über die eigene Peinlichkeit hinweg. Im Fernsehen hat sich eine gigantische Spaßindustrie etabliert, die nachdenkliche Skrupel ab- und triumphales Gebrüll antrainiert.
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Die Stilleren, Vernünftigeren, Ernsteren bleiben auf der Strecke. Ihre Einwände gelten als antiquiert, intolerant, humorlos, passiv-aggressiv. Haben eben die falsche Mentalität für eine Welt, in der sich schon die 13-jährigen Mädchen im Internet als stolze Kriegerinnen präsentieren. Sollen unter dominanten Verhaltenstherapeuten lernen, sich zu behaupten.
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271)
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Das Schönste an den herkömmlichen Musikinstrumenten ist vielleicht, dass sie Ruhe geben, solange keiner an ihnen tätig wird.
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So wünschte man sich doch auch das Leben: dass seine Musik nur für den erklänge, der sich freiwillig darum bemühte.
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Aber es ist, als hätte uns ein sadistischer Gott an seine Orgel gekettet, die umso lauter und dissonanter ertönt, je weniger wir auf ihr spielen mögen.
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272)
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Die höhnischen Harten desavouieren das Leid gerne als Selbstmitleid, das Mitleid als Überheblichkeit.
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Militanten Optimisten geht es darum, jegliches "Gejammer" und jegliche Sympathie dafür abzuschaffen.
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Immer aggressiver und unempfindlicher werden, bis alles Leid unterdrückt ist? Wird nicht funktionieren.
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273)
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Wenn ich im Tod die Wahl bekäme zwischen Sein und Nichtsein, würde ich sicherlich ohne Zögern das Nichtsein wählen.
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Viel schwieriger wäre die Entscheidung zwischen einer Fortstetzung des Seins mit und ohne Erinnerung an alles bisherige.
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Vielleicht besteht mein Leid auch darin, nicht loslassen zu wollen, um ein anderer sein zu können. Wäre doch Verrat an mir selbst.
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274)
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Wegwerfmentalität zeugt vom Vertrauen darauf, dass es einen Raum jenseits des eigenen gibt, in den hinein jeglicher Abfall sauber und endgültig zu entsorgen ist.
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Materialisten glauben an solch einen perfekten Müllschlucker, der alles vernichtet, was sie nicht mehr gebrauchen können, am Lebensende dann auch sie selbst.
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Vielleicht ist der Anfang allen Übels so ein Jenseitsglaube. Erst wer kein Anderswo bzw. Nichts für seine Debris mehr hat, lernt mit statt über den Dingen zu leben.
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275)
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Wann ist ein Tod vorzeitig?
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Wenn es noch zu lernen, zu arbeiten oder auszuspannen gegolten hätte.
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Wer Jugend, Reife und Alter gehabt hat, kann dann wohl auch in den Tod gehen.
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276)
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Ist bigotte Spießbürgerlichkeit wieder o.k., sobald auch das schwule Quotenpaar seine Doppelhaushälfte kriegt?
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Ist intellektueller Nationalismus wieder o.k., wenn ihn Immigranten aufleben lassen, deren Bücher vormals gebrannt hätten?
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So traurig, wenn ehemalige Opfer ihre Chance auf Einfluss ergreifen, indem sie Amnestie gewähren gegen Mitgliedschaft.
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277)
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Das Sein ist nicht zu bezweifeln, das Nichts aber wohl.
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Der Zweifel an der Möglichkeit des eigenen Nichtseins ist heutzutage nicht verbreitet genug.
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Die Christen behaupten, keiner könne sich ins Nichts verabsentieren; die Materialisten behaupten, jeder müsse das. Beide sollten diese ebenso sturen wie willkürlichen Festlegungen unterlassen.
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278)
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Moderne Skepsis bringt der alten Unsicherheit materialistische Untertöne bei, tauscht unwissende Trostlosigkeit unter der Hand gegen eine fast religös zu nennende Tröstlichkeit.
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"Der Tod ist nicht erfahrbar!" – das klingt erst mal nach empiristischer Abstinenz vom unwissenschaftlichen Fragen, verspricht dabei aber auch irgendwie die Leidlosigkeit im Tod.
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Ausgerechnet der Positivismus redet gerne kritisch-negativ, sagt, was etwas nicht sei. Etwa aus (mir nur allzu verständlicher) Sehnsucht, irgendwann gar alles ausgeschlossen zu haben?
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279)
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Himmel und Hölle, Nichts und Ganz Anderes – alles Jenseitsmodelle, die Unruhe stiften, wo sie nicht als unsere eigenen Konstrukte, sondern als offenbarte, erwiesene usw. Wahrheiten gelten.
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Theoretisch weiß ich nicht, was mich morgen wie auch im Tod erwartet – und praktisch gehe ich davon aus, dass es morgen wie auch im Tod so ähnlich weitergeht, wie ich es schon kenne.
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Es wundert mich, dass dieses Thema weder akademisch noch alltäglich eine nennenswerte Rolle spielt. Basieren Gesellschaften auf der Unantastbarkeit ihrer Todesvorstellungen?
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280)
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Das Grundgesetz mag die Würde des Einzelnen noch so sehr betonen, das Strafgesetz favorisiert seit jeher die Gruppe.
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Wer Zeugen für "seine Wahrheit" beibringt, der gewinnt. Und Lügen von Angehörigen dürfen sogar legal gedeckt werden.
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Vor Gericht entscheidet im wahrsten Sinne des Wortes die Mehrheit, die Wahrheit geht mit dem Einzelnen unter.
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281)
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Nietzsche und Freud lassen grüßen: Psychotherapie redet dem Patienten ein, sein negatives Bild vom Leben sei krankhaft und Selbstverwirklichung führe zu Lebensbejahung und Daseinsfreude.
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Nach dem Rückfall in die Rolle des Zöglings folgt also die noch lächerlichere Phase, wo der Indoktrinierte sich weisungsgemäß vom Leben zu holen versucht, was sein Anstand ihm bislang verwehrte.
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Schnell sind die alten Gerüste der Pflicht aufgegeben und die neuen Gerüste der Lust zusammengebrochen. Und wohin bitteschön ist die post-postmoderne Gesellschaft dann unterwegs?
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282)
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Die Fraunatur setzt sich durch – im Anschluss an Rationales wie z.B. die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter propagiert der Postfeminismus das "Bad Girl": eine Frau, die ihre unterdrückten Emotionen rauslässt.
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Drama-Queens erfüllen öffentlichen Raum mit ihrem Gekreische, enthemmte Chauvinistinnen bekunden zotig ihre Lust auf viel jüngere Männer – die Neue Frau räumt lästige kulturelle Konventionen aus dem Weg.
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Die Mannnatur bleibt noch aus gutem Grund gesellschaftlich tabuisiert. Aber lange wird es nicht mehr dauern, bis die Herren ihrerseits wiederentdecken, was sie von Natur aus am dringendsten wollen. Das wird schlimm!
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283)
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Ich wollte, diese Welt wäre so, dass ich sie gutfinden könnte.
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Keineswegs jedoch wollte ich, ich wäre so, dass ich diese Welt gutfinden könnte.
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Denn diese Welt gutfinden zu können ist schlecht, dessen bin ich mir sicher.
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284)
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Suizidenten halten sich oft für nicht gut genug. Tun ihrer Meinung nach der Welt einen Gefallen damit, dass sie sich entsorgen.
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Ironischerweise sind jedoch gerade sie eher zu gut für diese Welt, beurteilen die Welt zu positiv und sich selbst zu negativ.
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Nicht dass es leichter wäre, zu gut für diese Welt zu sein – aber die eigene depressive Stimmung als gutes Zeichen zu werten schützt vor Suizidalität.
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285)
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Tue Gutes, dann geht es dir gut – so in etwa die falschen Versprechungen der traditionellen Religionen.
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Praktisch bleiben aber erst mal nur zwei Möglichkeiten: im freudigen Vorteil oder im leidigen Nachteil sein.
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Erst in zweiter Linie ist Leid als Notwendigkeit der Güte zu interpretieren, vielleicht sogar zu wollen.
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286)
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In einer Gesellschaft, die das Individuum lehrt, die Gesellschaft sei das Wichtigste, kann es für den Einzelnen sehr lange dauern, bis er überhaupt merkt, dass er Individuum ist bzw. sein könnte.
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Das gilt aber auch für eine Gesellschaft, die Individualität zum gesellschaftlichen bzw. kommerziellen Imperativ macht. In Massen individuelle Lifestyle-Accessoires shoppen – kann es das schon sein?
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Nein, die Initiation der Individualität ist und bleibt ausgiebiges Alleinsein. Nur so findet sich das Eigene – oder zumindest die mangelnde Eignung bei demjenigen, der einfach nicht alleinsein kann oder will.
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287)
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Je eigener ein Mensch, desto mehr Kraft kostet es ihn, in menschlicher Gesellschaft zu verweilen.
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So ziehen sich die einen in die Einsamkeit zurück, um Energie zu tanken, die anderen gehen unter Leute.
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Wer aber damit kokettiert, er bräuchte hin und wieder eine Stunde für sich, gehört definiv zu letzteren.
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288)
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Ohne Religion aufzuwachsen mag ja durchaus möglich bis üblich sein.
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Nichts glauben positiviert sich jedoch oft unversehens zum Nichtsvertrauen.
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Wer erst einmal seinen Tod bedenkt, gerät schnell an eine Religion.
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289)
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Emissionshandel bringt den Quietisten auf Ideen: Krach sollte kosten – und je vermeidbarer der Lärm, desto teurer sollte er seinen Verursacher kommen.
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Stattdessen machen es die Baumärkte für immer mehr Heimwerker immer billiger, lautstarke Renovierung zum dauerhaften Selbstzweck zu erheben.
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Ruhestörer sind sich ihrer Rolle meist nicht einmal bewusst und begreifen wohl erst, wenn es ihnen deutlich spürbar an den Geldbeutel geht.
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290)
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Zuerst denkt man naiverweise nur innerhalb des Lebens, bedenkt noch kein Vorher/Nachher bzw. Außerhalb.
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Dann denkt man sich Rahmen um das Leben, die anders sind als das Leben – und dazu gehört auch das Nichts.
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Schließlich kann zum Lebensmonismus zurückkehren, wer sich als Lebensrahmen wiederum das Leben denkt.
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291)
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Philosophieren ist etwas für Leute, die in ihrem Denken bzw. ihrem Sein neu ansetzen wollen – oder nein: müssen.
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So optimistisch die Vorsilbe "Phil-" erst mal daherkommt, philosophische Charaktere wirken eher von Leid motiviert.
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Wer unbewusst einen guten Start hatte, denkt kaum nach – der unbewusste Fehlstart nötigt zum bewussten Neustart.
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292)
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Der Vergleich mit dem Nichts ist meine absolute Richtschnur – besser als Nichts ist gut, schlechter als Nichts ist schlecht.
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Der Vergleich des Lebens mit dem Nichts entscheidet für mich jedoch nicht die Frage, ob der sofortige Tod dem Weiterleben vorzuziehen sei.
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Lebensqualität bemisst sich für mich am Vergleich mit dem Leben der anderen. Ich finde mein Leben zwar schlecht, aber besser als das der meisten anderen.
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293)
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Friedhöfe sind leider keine Fried-Höfe.
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Statt mit ihren Toten zu schweigen, schwatzen die Lebenden dort miteinander.
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Statt still der Toten zu gedenken und sich selbst dabei zu besinnen, bestellen sie mit Getöse ihre auf den Gräbern angelegten Kleingärten.
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294)
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Das private Glück jeden Tag beim Schopf packen; oder enttäuscht vom Leben darauf vertrauen, dass der Tod alles Leid beendet – diese Philosophien sind mir zu oberflächlich.
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Die kurze Zeit bis zum Tod als letzte Gelegenheit begreifen, durch Tun oder Unterlassen des Guten das eigene Seelenheil auf ewig zu retten oder zu verspielen – das ist mir zu drastisch.
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Der Lebensmonismus, welcher das Leben für alternativlos hält, gibt unbegrenzt Zeit für die Suche nach dem seelischen Gleichgewicht. So ist er weder amoralisch noch moralinsauer.
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295)
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Ist Philosophie noch Philosophie, wenn sie unfreiwillig stattfindet?
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Ich philosophiere zwanghaft, seit mich religiöse Drohungen dazu nötigten.
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Aber vielleicht war Philosophie schon immer nur Gegengift – und wer seine religiöse Vergiftung überstanden hat, braucht auch keine Philosophie mehr.
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296)
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Über ein Außerhalb des Lebens können wir nichts wissen.
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Problematisch, denn das Unbekannte verängstigt bzw. verlockt.
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Um der Ruhe willen ist anzunehmen, dass es kein Außerhalb gibt.
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297)
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Todesdogmen wie Himmel und Hölle der Christen oder das Nichts der Materialisten verängstigen bzw. verlocken. Das ist unnötig, denn tatsächlich können wir über ein Außerhalb des Lebens nichts wissen.
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Doch mit dem Unbekannten kommen wir vom Regen in die Traufe, weil das Unbekannte auch wieder verängstigt bzw. verlockt.
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Um der Ruhe willen bleibt uns nur die Annahme, dass es kein Außerhalb des Lebens gibt.
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298)
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Wenn es Gott gibt, ist er entweder böse gegen uns oder ohnmächtig gegen unser Leid – soweit die Gotteskritik der Theodizee.
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Die dritte Möglichkeit des unbeirrbar Gläubigen liegt im Vertrauen darauf, dass jedes Leid einem höheren Zweck dient, der sich lohnt.
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Solcher Glaube klebt ein Preisschild auf die Würde des Menschen. Der Gläubige ist käuflich, im jetzigen Leiden denkt er ans spätere Kassieren.
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299)
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Entweder es gibt Gott und ewigen Lohn für die Gläubigen bzw. ewige Strafe für die Ungläubigen, oder es gibt ihn nicht und das Leben endet für alle mit dem Tod; also kann der Gläubige gar nicht verlieren – sagt die Pascalsche Wette.
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Ihre Widerlegungen sind entweder so kompliziert, dass ich sie nicht verstehe, oder sie versteifen sich in vorausgesetztem Atheismus darauf, dass der Gläubige sehr wohl verliert, weil er sich das Sündigen im irdisch Endlichen verkneift.
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Ich meine, die Wette hinkt, wegen der Asymmetrie ihrer beiden Fälle, wo Gott entweder Gutes belohnt und Böses bestraft, oder nicht existiert. Symmetrisch wäre ein Fall 2, wo Gott Gutes bestraft und Böses belohnt. Und damit stünde es wieder patt.
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300)
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Der Verlockung des Todes im Suizid erliegen, der Angst vor dem Tod in den Wahnsinn entfliehen – beides alltägliche Schicksale, einzeln wie kollektiv.
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Die Bildungsgesellschaft vermittelt das Rüstzeug zur Lösung komplexester theoretischer und praktischer Aufgaben – und lässt das Grundlegendste weg.
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Mit dem Schulunterricht in monotheistischer Religion und Naturwissenschaft wird Todessehnsucht und Todesangst gleichermaßen geschürt – beruhigende Todesmodelle findet man selber oder gar nicht.
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301)
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Verantwortung heute, für sich selbst und andere, resultiert daraus, dass morgen wieder ein Tag ist.
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Verantwortung für das Leben bleibt auf der Strecke, wenn immer mehr es für endlich und einmalig halten.
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Vielleicht ist Wiedergeburtsglaube ja das ethische Minimalprogramm – und Materialismus ist zu wenig.
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302)
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Nichts Schlimmes machen ist sicherer als etwas Gutes probieren. Oft sogar schwerer, weil der Mensch Aktivist ist.
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Wo gehobelt wird, da fallen meist so viele Späne, dass man es besser von vornherein gelassen hätte.
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Mag sein, dass Unterlassen von Schädlichem etwas Halbes ist – aber mehr verlange ich nicht von mir.
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303)
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Christen rächen sich nicht selber an ihren Peinigern, sondern trösten sich damit, dass Gott sie rächen wird, indem er diese nach dem Tod auf ewig in der Hölle schmoren lässt.
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Einerseits verwundert es mich, wie man so rachsüchtig werden kann, jemandem ewiges Leid zu wünschen. Vielleicht hat mir noch niemand so richtig wehgetan?
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Andererseits gibt es Christen, welche die Hölle für weniger schlimm halten als das Nichts, weil man dort immerhin noch existiere. Vielleicht hat denen noch niemand so richtig wehgetan?
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304)
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Vielleicht hat sich der Allmächtige von allen Rollen im Universum genau die ausgesucht, welche ich auch am liebsten hätte: er ist nicht.
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Und die anderen müssen sein statt nichtsein, und zwar jeder anders, so dass insgesamt Alles ist, mit Gott zusammen eben Alles und Nichts.
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Ob wir Seienden durchwechseln oder dieselben bleiben? 'Jeder muss mal jeder sein' wäre gerecht, bequemerweise bliebe ich lieber ich.
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305)
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Lebensverneiner könnten auf die Idee kommen, dass Lebensbejahern der Tod deshalb oktroyiert werden dürfe, weil jenen von diesen ja auch das Leben oktroyiert wurde.
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Ein Unterschied besteht aber darin, dass mit dem Kind nunmal nicht vor seiner Zeugung bzw. Empfängnis besprochen werden kann, ob es gerne auf die Welt kommen möchte.
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Blieben evt. die zu töten, welche nicht (mehr) sagen können, ob sie Leben oder Tod vorziehen. Gilt den Todesengel widerwillig anstöhnen als Nein zum Tod? Dann schreien aber auch alle Neugeborenen dieser Welt Nein zum Leben.
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306)
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Mütter können angeblich unterscheiden, ob ihr Säugling "nur so" schreit oder ob ihm "wirklich" etwas fehlt.
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Unglaublich, welche Verrenkungen die Lebensbejaher vollführen, um am Lebensleid vorbeizusehen.
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Übrigens reagieren diese Mütter sauer, wenn Männer sagen, sie wüssten, ob eine Frau "wirklich" neinsagt.
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307)
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Alle Menschen werden mit einer verneinenden Haltung gegenüber Leben, Welt und Mensch geboren, welche ihnen die Gesellschaft dann systematisch austreibt, indem sie jene bestraft und die bejahende belohnt.
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Wer sich seine negative Haltung nicht abgewöhnen lässt, gilt als retardiert, leidet angeblich an einer Entwicklungsstörung, welche erzieherisch, therapeutisch, ärztlich, juristisch etc. kuriert werden soll.
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Wer auch diese Maßnahmen übersteht, ohne einzuknicken, verfasst z.B. sonderliche Blogs über die Schlechtigkeit der Welt. Worin evt. andere Bestätigung finden, anstatt auch noch in die Heuchelei einzustimmen.
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308)
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Bosheit kommt nicht nur von Habgier oder Neid. Auch Psychopathie und Sadismus sind vielleicht seltener als vermutet.
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Bosheit schöpft ihre Energie nämlich oft aus der Wut darüber, dass alle Welt beharrlich so tut, als sei das Leben ach so schön.
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Bosheit schlägt dann ohne bestimmtes Ziel auf das Leben als solches ein, um es zu zwingen, sein Leid endlich zu offenbaren.
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309)
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Aufgeklärte Zeitgenossen schütteln verständnislos den Kopf über hochstudierte islamistische Selbstmordattentäter.
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Wie könnten gebildete Menschen nur Leben vernichten für ein Jenseits, das so offenkundig der blühenden Phantasie entspringt?
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Aber vom Nichts im Tod zu "wissen" ist kaum klüger. Solange unsere Akademia selber dogmatisch ist, sind auch diplomierte Paradies-Bomber kein Wunder.
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310)
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Das Leben ist ein schlechtes Schicksal, der Tod ein ungewisses. Mir nur allzu klar.
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Aber außer Shakespeare's Hamlet findet sich kaum einer, der das so sieht und so sagt.
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Schon Lebensverneiner sind selten, und die glauben dann fest an das Nichts im Tod.
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311)
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Die Gesellschaft erblüht, weil sie Gemeinschaften u.a. das Recht einräumt, kommunikativen Krach zu machen. Den ruhigen Einzelnen zermürbt diese Dauerbeschallung.
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Sollte er daraufhin gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen und alleine genauso reden, singen, grölen und kreischen wie die anderen miteinander, wird er für verrückt erklärt.
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Steter Tropfen höhlt den Stein: über Jahre reicht schon die bloße Akustik der Familien hin, um Ledige erst in die Defensive und schließlich zur Kapitulation zu drängen.
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312)
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Der geruhsame Lebensabend knüpft sich für viele an die Bedingung des zuvor befriedigend vollendeten Lebenswerks.
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Also hören die einen nie auf zu arbeiten, und andere bringen sich um, sobald abzusehen ist, dass sie nichts fertigbringen.
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Aber reicht es nicht schon, Gutes angestrebt bzw. Schlechtes unterlassen zu haben? Die Welt lässt eh nur das wenigste gelingen.
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313)
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Das Leid muss aufhören! Vielleicht die einzige Aussage, welche ich ohne Wenn und Aber unterschreiben kann.
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Wie die meisten Menschen ziehe ich ja oft die goldene Mitte den klaren Entscheidungen fürs Eine oder Andere vor.
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Aber Himmel oder Nichts würde ich sofort und immer nehmen, da gibt es kein Vertun. Das Leid muss aufhören!
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314)
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Wie konnte der Monolog "Sein oder Nichtsein" aus Shakespeare's Hamlet zum berühmtesten der Theatergeschichte werden?
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Das Leben ist hässlich, der Tod unbekanntes Terrain – so seine Grundaussage. Das Leben ist schön, der Tod Erlösung – so dagegen die Volksreligion.
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Ich meine, dass letztere lügt. Die traurige Wahrheit aber muss sich verkleidet auf die Theaterbühne stellen, um gehört zu werden.
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315)
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Wer sich ohne oder trotz Ruhe immer müder fühlt, beginnt irgendwann den Tod herbeizusehnen.
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Ist diese Reaktion angeboren? Oder nur erworben über die gesellschaftlich vermittelte Assoziation von Schlaf und Tod?
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Vielleicht konnte man einst ungehinderter passiv werden. Heute muss mit Aktivierung von außen rechnen, wer sich gehen lässt.
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316)
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Wer ein Leben besser als Nichts hat und ein gutes Gewissen noch dazu, der lässt es sich zu gut gehen.
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Wer ein Leben schlechter als Nichts hat und ein schlechtes Gewissen noch dazu, der lässt es sich zu schlecht gehen.
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Weder im Vorteil mit schlechtem Gewissen noch im Nachteil mit gutem Gewissen – das wäre Balance.
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317)
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Die Einsicht beneidet die Einfalt, und umgekehrt. Was ist denn wirklich besser – mit oder ohne Bedenken zu leben?
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In Shakespeare's Monolog "Sein oder Nichtsein" wird am Schluss eher fürs Verwerfen der Bedenken plädiert.
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Ich selber finde es schlecht, die Bedenken dem forschen Handeln zu opfern. Das Risiko ist schlicht zu groß.
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318)
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Das Sein monistisch als Grund seiner selbst aufzufassen und somit eine seltsame Schleife zu bauen ist nicht mehr oder weniger imaginär, metaphysisch, paradox usw. als ihm dualistisch das Nichts gegenüberzustellen.
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Die Endlichkeit steht im Ruf der Wissenschaftlichkeit, Skepsis, Nüchternheit – die Ewigkeit aber sei religiös, konstruiert, schwärmerisch. Gibt es dafür haltbare Argumente?
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Ich glaube nicht. In einer "positivistischen" Gesellschaft, die nur zwischen dem sturen Lebenswillen und dem drohenden Nichts hin- und herdenken kann, gilt letzteres eben als realitätsnah – zu Unrecht.
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319)
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Gerecht am Glauben an ein endliches bzw. einmaliges Leben ist es, dass die Lebensbejaher sich ihres Lebens freuen können, aber traurig ihres Todes gedenken müssen, während die Lebensverneiner umgekehrt im sicher bevorstehenden Tod einen starken Trost für ihr miserables Leben haben.
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Ungerecht am Glauben an ein ewiges bzw. vielmaliges Leben erscheint es dagegen, dass die Lebensbejaher sich nur noch am Leben erfreuen dürfen und die Lebensverneiner nur noch traurig darüber sein müssen – falls mit dem Leben auch Lebensbejahung und Lebensverneinung ewig sein können.
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Vielleicht kennt der Buddhismus deshalb kein beständiges Ich bzw. keine unsterbliche Seele – damit selbst noch Lebensbejahung und Lebensverneinung sich mit der Zeit abwechseln mögen. Das Christentum hingegen ist da eher ein Glaube für Begünstigte, die ihre Geschenke auf ewig behalten wollen.
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320)
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Pessimismus ist "Jammern auf hohem Niveau", damit haben die Optimisten nicht einmal so unrecht.
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Aber ich als Pessimist sehe das im Gegensatz zu den Optimisten positiv: das Leben zu beklagen ist authentisch.
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Ehrlich Erwachsenwerden heißt für mich, meinem Leid in immer ruhigerer Weise Ausdruck zu verleihen.
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321)
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Wenn man sich diese Welt so ansieht, was ist dann wohl wahrscheinlicher: dass ihr möglicher Schöpfer die Sanftmütigen oder die Kriegerischen liebt?
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Selbst der christlich Erzogene muss sich irgendwann fragen, ob seine Religion nicht als hinterlistige Antwort der Schwachen auf die Starken entstand.
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Wem die Sanftmut lieber ist, der kann sich damit aber immer noch gegen den kriegstreibenden Gott stellen – müsste dem eigentlich sogar gefallen!
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322)
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Damit das Über-Ich überhaupt eine Chance gegen das Es bekommt, braucht es etwas Ruhe bzw. Bedenkzeit.
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Wer einen Menschen zu schneller Reaktion zwingt, fordert damit sein Es heraus, nicht sein Über-Ich.
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Wenn Spaßmacher moralisch "entlarven" wollen, indem sie ihre Opfer überrumpeln, betrügen sie damit selber.
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323)
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Leben muss aus Totem geschaffen bzw. geworden sein – solche Logik steckt hinter Christentum wie Materialismus.
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Aber vielleicht ist Leben ja schon immer, und zwar genau das: ganz von selber.
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Nichtsdestotrotz sollte es besser vergehen bzw. abgeschafft werden, anstatt ewig weiter wehzutun.
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324)
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Entweder das Unbekannte im Tod aushalten – oder diesem möglichst glaubwürdige Hypothesen entgegensetzen.
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Die dritte Möglichkeit eines Wissens um Sein oder Nichtsein im Tod gibt es halt nicht – ob zum Glück oder Unglück.
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So ist man also entweder echt skeptisch oder religiös – und zu letzterem zählt auch die materialistische "moderne Skepsis".
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325)
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Nicht nur Himmel und Hölle, sondern auch Nichts, Ganz Anderes und Ewig Gleiches sind zweischneidige Jenseitsmodelle.
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Das Nichts erlösend wie verhindernd, das Ganz Andere aufregend wie einschüchternd, das Ewig Gleiche anheimelnd wie nervtötend.
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Trotzdem erscheint mir das Ewig Gleiche insgesamt noch am wenigsten verstörend – um der Ruhe willen mein religiöser Favorit.
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326)
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Zwischen Schopenhauer und Nietzsche liegt für mich ein philosophiehistorischer Übergang vom Generalismus zum Spezialismus.
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Pessimist und Optimist könnten sich evt. darauf einigen, dass Leben und Welt im allgemeinen miserabel und im besonderen schön sind.
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Bleibt weiterhin die Frage, ob denn nun das Generelle oder das Spezielle den Ausschlag gibt. Ich meine weiterhin: ersteres.
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327)
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Zugunsten der Lebenden gehe ich davon aus, dass das Leid grundsätzlich zuerst da ist und das Böse immer nur aus dem Leid folgt.
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Das Leid der Welt zugunsten eines guten Gottes uns freiwillig bösen Sündern in die Schuhe zu schieben halte ich für fromme Selbstquälerei.
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Schon Gott hat sich vor der Schöpfung mies gefühlt und kann – von uns vors Jüngste Gericht gestellt – mildernde Umstände geltend machen.
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328)
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Die Christen wünschen sich Gott als höchsten Verantwortlichen, dem die Bösen schließlich selber zum Opfer fallen.
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Ich wünsche mir ein noch höheres Nichts, dem schließlich alles einschließlich dieser Gott zum Opfer fällt.
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Aber wenn wir Pech haben, stürzt alles immer wieder ins Chaos und schließlich kriegt keiner, was er will.
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329)
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Bejahende Individualisten und bejahende Kollektivisten kämpfen miteinander auf der Bühne des Lebens.
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"Das Leben lohnt nur als Egoist!" gegen "Hilf und dir wird geholfen!" – eine gigantische Inszenierung.
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Verlieren tun dabei nämlich nur die Verneinenden – ob sie nun am individuellen oder kollektiven Leid verzweifeln.
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330)
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Wer wie ich sagt, er bezweifle, dass im Tod das Nichts auf uns wartet, steht sofort im Verdacht zu glauben, an den gängigen religiösen Jenseitsvorstellungen sei doch etwas dran.
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Ich glaube aber nicht, die plastischen Jenseitsgemälde religiöser Spinner treffen zu – viel eher glaube ich, die Todesvorstellung des modernen Menschen ist ebenfalls falsch.
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Wir kriegen bereits als Kinder beigebracht, "konstruktiv" zu sein – und wer etwas zweifelnd ablehnt, dem wird unterstellt, dass er die übliche Alternative dazu glaubend annimmt.
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331)
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Lebenbejaher sind einverstanden damit, für ihre Lust eigenes Leid in Kauf zu nehmen – diese Bestechlichkeit ist mir als Lebensverneiner zwar ein Dorn im Auge, aber ihre Sache.
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Lebensbejaher billigen es jedoch überdies, dass dem Leben der einen in Freude das Leben der anderen im Leid gegenübersteht – und dazu jazusagen ist grundböse.
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Wer die Wahl hätte zwischen Himmel und Hölle einerseits oder dem Nichts andererseits – und nähme erstere, müsste schon ein Psychopath von göttlichen Ausmaßen sein.
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332)
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Wenn das Leben tatsächlich für uns alle aus dem Nichts käme und ins Nichts ginge, so wäre es doch einfach eine große Party, auf der sich die einen wohlfühlen und die anderen eben nicht.
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Man stelle sich nun einen Lebensgenießer vor, der von einem am Leben Leidenden verlangt, für ihn weiterhin auf dieser Party zu verweilen anstatt heimzugehen – wie vermessen!
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Genau das aber tun Realisten, die bitter beklagen, dass ein Angehöriger oder Freund ihnen seinen Selbstmord antun konnte. Kaum zu glauben, aber unter Hinterbliebenen die Regel.
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333)
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Wer das Nichts im Tod als unumstößliche Tatsache predigt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Lebenshasser sich und anderen so einen Tod schenken.
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Wer sein Leben liebt, schenkt gerne auch anderen das Leben – wieso sollte nicht gleichermaßen, wer sein Leben hasst, sich und andere daraus erlösen?
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So krampfhaft die Gesellschaft solches in die kranke Ecke schiebt, so folgerichtig ist diese Motivation für einen, der die Scheuklappen abgelegt hat.
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334)
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Der Untergang als aktive Möglichkeit des Menschen bleibt ein Tabu – allgemein herrscht die Ansicht, das Ende der Menschheit drohe von selbst und es gelte vereint dagegen anzukämpfen.
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Aber jedes Tabu wird gefunden und gebrochen von einer stereotyp rebellierenden Jugend. Alles, was nicht offen diskutiert, sondern fundamental verschwiegen wird, fällt dergestalt auf uns zurück.
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Hassworte gegen die Menschheit im Chatroom und Hasstaten gegen die Menschheit im Schulraum trachten diese Marktlücke zu füllen. Es wäre besser, Fachleute kümmerten sich darum.
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335)
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Wenn das Leben individuell wie kollektiv endlich ist, also nur eine Pause zwischen Nichts und Nichts, dann ist es Geschmackssache, diese Pause möglichst lange, mittel oder kurz halten zu wollen.
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Wenn das Leben vorher und nachher nicht vermisst werden kann, ist der Wunsch einer individuellen wie kollektiven Abkürzung zum Tod mindestens ebenso legitim wie der Wunsch nach Verlängerung.
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Wer das Leben als unendlich annimmt, braucht sich nicht mehr nach Abkürzungen und Verlängerungen zu verzehren. Und das wäre dann genau die ruhige Stimmung, welche unserer Zeit fehlt.
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336)
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Weltschmerz gilt als abgeschafft. Probleme sind heutzutage partikular – wer am Leben schlechthin zu leiden meint, ist krank.
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Psychologen tippen auf innerfamiliäre Fehlentwicklungen, Mediziner auf eine Dysbalance von Hirnbotenstoffen.
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Und bessere gesetzliche Kontrollen von Computerspielen und Sportwaffen erledigen den Rest. Die neue Welt ist schön, basta.
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337)
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Doppelt hält besser – das gilt besonders für die "Fundamente" des Glaubens.
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Mein Kulturkreis hofft auf ein paradiesisches Jenseits, abgesichert durch das bewusstlose Nichts darunter, welches aber schon als areligiös gilt.
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Ich glaube an die Alternativlosigkeit des Lebens als ewiger Kreislauf, freischwebend über dem verglichen zum Nichts viel areligiöseren Absolut Unbekannten.
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338)
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Was ist der Unterschied zwischen der Vorstellung des Todes als das Ganz Andere und als das Absolut Unbekannte?
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Letzteres enthält zusätzlich zu ersterem auch noch die Möglichkeit der Wiederkehr des Gleichen bzw. Ähnlichen. Also alles.
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Wer sich in der sicheren Erwartung einer Veränderung umbringt, könnte mit der Wiederkehr des Gleichen enttäuscht werden.
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339)
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Mit Himmel und Hölle stimuliert das Christentum in krassester Weise Sehnsucht nach bzw. Angst vor dem Tod.
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Die christlichen Bilder vom Jenseits sind keinesfalls kindgerecht und haben unsägliches Leid angerichtet.
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Als philosophische Kategorien jedoch sind das maximal vorstellbare Angenehme bzw. Unangenehme im Tod nicht abzulehnen.
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340)
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Nichts ist unmöglich – auch das Nichts nicht. Alles ist möglich im Tod, nichts kann ausgeschlossen werden – so definiere ich echte Skepsis.
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Von allen vorstellbaren Möglichkeiten wähle ich als meinen Glauben diejenige aus, welche gleichermaßen plausibel und beruhigend auf mich wirkt.
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Das Leben als ewiger Zyklus ist ebenso naheliegend wie entspannend. Naheliegenderes ist mir zu aufregend, Beruhigenderes zu unplausibel.
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341)
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Lebensmonismus i.S.v. Alternativlosigkeit bewussten Daseins hat viele Varianten: Wiederkehr des Ewig Gleichen, zufällige Wiedergeburt als eines von allen Lebewesen, ewiges Wachstum, ewige Verwesung usf.
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Ich denke, am selbstähnlichsten lässt sich Leben fortgesetzt denken in zyklischer Bewegung: der nächste Tag, das nächste Jahr, das nächste Leben gleichen dem Vorgänger in vielem, aber nicht in allem.
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In einer Hinsicht ist das nächste Mal fortgeschritten, in anderer Hinsicht zurückgefallen – aber mehr als es fortschreitet oder zurückfällt, dreht sich doch alles in vielfachst überlagerten Kreisen.
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342)
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Das Nichts im Tod erst einmal anzuzweifeln begonnen, erscheint bald wieder schier alles möglich.
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Und von allem, zuerst einmal hauptsächlich assoziiert mit allem Neuen, kehrt man skeptisch zurück zum Alten.
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Wer blind voraussagen soll, wie es weitergeht, liegt am besten mit: genauso. Die Natur macht eher keine Sprünge.
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343)
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Wer sich im Leben nicht behauptet, kommt in Therapie.
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In der Therapie behaupten sich dann die Therapeuten.
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Für den Patienten ist das Leben schlechter als nichts.
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344)
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Zwar denke ich nicht, dass die Lebensbejaher den Glauben an das Nichts des Todes verbreiten, damit sich die Lebensverneiner umbringen.
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Aber es fehlt an Bewusstmachung, wozu dieses Bild vom Tod, welches den Lebensbejaher ja abschreckt, den Lebensverneiner verlockt.
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Dass das Todesnichts nur ein Glaube ist, würde sich viel schneller herumsprechen, wenn er auch für Lebenbejaher lebensgefährlich wäre.
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345)
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Schuld an Suizidalität und Suizid von Jugendlichen wie Erwachsenen sind offiziell psychische Störungen und das psychosoziale Umfeld.
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An die Verlockung durch erzieherisch bzw. medial vermittelte Jenseitsmodelle wie Paradies, Nichts oder Ganz Anderes denkt dabei kaum jemand.
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Es grenzt ans Kriminelle, den Tod zum erforschten Terrain zu erklären. Jede unangezweifelte Vorstellung vom Tod verleitet Menschen zum Suizid.
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346)
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Suizidprävention funktioniert auf zweierlei Weise: Verbesserung der Lebensqualität oder Entzauberung der Todesvorstellung.
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Es wird jedoch realistischerweise nicht gelingen, die Lebensqualität der meisten am Leben leidenden über das leidlose Nichts zu erheben.
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Der Realismus legt nahe, dass ein Leben schlechter als Nichts nicht lebenswert sei. Dieses "Wissen" führt unzählige direkt in den Tod.
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347)
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Lebensverneinung muss per se noch keine allzu großen psychischen Probleme machen.
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Erst wer sich dafür selber hasst, gerät in einen krankmachenden Teufelskreis.
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Gerade als Lebensverneiner gilt es, sich selber nicht mit den Augen der Gesellschaft anzusehen.
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348)
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Warum nicht gleich ins Paradies? Warum dieses grausame Vorspiel? Das hab ich mich als kindlicher Christ gefragt.
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Warum nicht gleich ins Nichts? Warum dieses sinnlose Vorspiel? Das hab ich mich als jugendlicher Realist gefragt.
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Es ist, wie es ist. Und wahrscheinlich bleibt es auch so, verdammt. Das denke ich mir als erwachsener Lebensmonist.
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349)
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Ohne Verantwortung gegenüber einer Zukunft unbegrenzter Dauer rafft halt jeder in seiner vermeintlich endlichen Lebensspanne an sich, was er nur kann.
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Das ungedeckte Versprechen des Realismus, dass im Tod das leidlose Nichts auf uns alle wartet, macht noch aus dem letzten Feigling einen Gangster.
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Die Rollen sind klar verteilt: Religiöses gilt als Einbildung, Realistisches als Wirklichkeit. Bis sich auch das Nichts als Illusion entpuppt, ist alles ausgeplündert.
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350)
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Lebensverneinender Lebensmonist bin ich. Bereite ich mir so meine eigene Hölle?
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Mag sein, aber diese Philosophie scheint mir nach gründlicher Überlegung die ehrlichste.
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Dann lieber unehrlich? Nein, die Unehrlichen bedauere ich sogar von meiner Hölle aus.
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351)
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Als lebensverneinender Lebensmonist treffe ich fast nur auf lebensbejahende Sein-Nichts-Dualisten.
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Wenn denen ihre individuelle Lebensbejahung wegbricht, dann wollen sie ihr Nichts, durch Suizid.
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Sollte das mal kollektiv passieren, kriegen evt. auch die den Tod verordnet, die nicht ans Nichts glauben.
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352)
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Vom Weltschmerz zum Ichschmerz: statt "There's something wrong with this world" heißt es heute "There's something wrong with me – chemically".
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Über die Welt zu räsonieren war der idealistische Weg, die eigene Hirnchemie mithilfe von Drogen bzw. Medikamenten zu tunen ist der realistische.
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Mag ja sein, dass letzterer mehr Wirkung zeigt. Falls aber nunmal die Welt verkorkst ist und nicht ich, wäre es doch falsch, mich ihr anzupassen.
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353)
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"Das Leben ist kurz und ungerecht, haha... ich liebe das Leben... ich gewinne gerne..." – heutige Sympathieträger können nicht nur so reden, sie müssen sogar.
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Das Geheimnis eines erfolgreichen, glücklichen Lebens scheint darin zu liegen, nicht die mindeste Sensibilität dafür zu besitzen, wie böse diese Lebenseinstellung ist.
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Die Philosophie des Lebensbejahers: lieber Himmel und Hölle als Nichts – Hauptsache, dass ich selber dabei auf der Himmelsseite bin. Zutiefst verworfen.
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354)
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Ein Recht auf Würde, das hat der Mensch, daran zweifle ich nicht.
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Ein Recht auf die Verfolgung seines Glücks hat er m.E. dagegen mitnichten.
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Amerika denkt gar nicht daran, das Konkurrenzprinzip zu hinterfragen.
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(Ausnahmen bestätigen die Regel: I'm a loser baby so why don't you kill me.)
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355)
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Statt vergeblich einem Himmels- oder Nichtsideal nachzujagen, bietet es sich an, die Hölle mit dem Himmel zu nehmen und so auf eine neue Weise "intensiv" zu leben.
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Fragt sich, wie weit der eingefleischte Konsumist "seine Komfortzone verlassen" und in die Hölle vordringen kann. Geht es denn, aktiv leben zu wollen, was von den meisten ohnmächtig gelebt werden muss?
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Scheint bislang, als wären die neuen Höllentrips eher teuer und TÜV-geprüft. Die neue Intensität erweist sich nur als weiterer Versuch, dem Pseudoparadies die Langeweile auszutreiben.
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356)
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Inzwischen greifen die Leute mit derselben Selbstverständlichkeit zum Bohrhammer wie zum Staubtuch. Anscheinend mit keinen oder sogar genüsslichen Gedanken an die Belästigung der anderen.
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Bauliche Fortentwicklung des Heims ist zur Alltags- und durchaus auch Feiertagstätigkeit geworden, die Vorwand sein dürfte für eine höchst fragwürdige Selbstverwirklichung als infernalisch lauter (Bau-)Herr.
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Was kommt als nächstes? E-Gitarren mit Riesenverstärkern, die sich praktisch von selbst spielen? Eine Chance hat alles, was wenig Können mit viel Dürfen verbindet.
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357)
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Wäre es wirklich zu viel verlangt, stark lärmende Heimarbeiten – ob nun selber oder von Firmen ausgeführt, ob von Eigentümern oder von Mietern – auf eine maximale Anzahl von Tagen im Jahr pro Heim zu begrenzen und sie voranmeldungspflichtig zu machen bzw. auf einem Zeitplan anzukündigen?
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Der freie Heimwerker, welcher so regelmäßig zum Hammer greift wie andere zur Tasse Kaffee, schimpft hier vielleicht gleich über Blockwartmentalität. Er wie fast alle anderen spürt überhaupt nicht mehr, was für ein Terror es ist, fast jederzeit ohne Vorwarnung und für unbekannte Dauer von Lärm heimgesucht werden zu können.
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Und man bedenke nur, wie angenehm es wäre, auf solch einem Stundenplan auch Ruhe reservieren zu können – für den Besuch der Großmutter, das Auskurieren der Erkältung, das Schreiben der Abschlussarbeit. Erst bei solch unrealistischen Gedanken wird richtig klar, wer in unserer Welt Regie führt – der Krach oder die Stille.
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358)
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Monotheistische Religionen sind zwar dem Klischee nach die Hüter der tiefen Ewigkeit in einer modernen Zeit der oberflächlichen Endlichkeit, tatsächlich aber haben erstere die letztere direkt auf den Weg gebracht.
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Gott sagt nicht etwa: Geh es ruhig an, morgen ist wieder ein Tag – er sagt: heute könnte der letzte Tag vor der Ewigkeit sein, also spute dich! So war diese Ewigkeit immer primär ein Instrument der Ausbeutung.
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Die Ewigkeit, mit der man sich aus Tradition und Moderne emanzipieren kann, ist diejenige, welche dem Einzelnen alle Zeit der Welt gibt. Ihm keine endgültigen Zeitgrenzen mehr setzt, die Sehnsucht oder Furcht bereiten.
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359)
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Depressive Stimmung will uns auf die Dunkelheit und Endlosigkeit des Lebens hinweisen.
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Aktionisten kontern mit der Planung strahlender Erlebnisse und dem Herbeizwingen des Todes.
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Pessimisten nehmen das Leben als dunkel und endlos hin bzw. erdulden es eben als solches.
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360)
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Unabhängig von dem, was physikalische Kosmologen sagen, dünkt uns der Weltraum eher dunkel als hell, eher endlos als endlich.
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Und so ist es auch mit dem Leben. Wer das strikt ignoriert bzw. sich aufs Helle und Endliche versteift, den mahnt die Depressivität.
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Wer sich aber dreinfindet, dass die Welt dunkel und endlos ist, den belohnt auch bisweilen ein Anflug von Abenteuerlust.
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361)
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Seit Bestehen des Privatfernsehens grölt sich dort die neue Härte in zahllosen hämischen Unterhaltungsshows einen ab über die alte Betulichkeit: "Da machst du mich jetzt aber ein Stück weit betroffen, Heinz-Dieter!"
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Was gerne verdrängt wird: diese psychologisch-soziologische Feinfühligkeit war dezidierte Gegenbewegung zur allerschwersten seelischen Rohheit des zweiten Weltkriegs, deren unfassbares Ausmaß alle traumatisiert hatte.
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Jetzt ist für die Jugend also "Weichei" ebenso fraglos ein Schimpfwort wie "Hardliner" ein Kompliment – respect, eh. Wer verstehen will, wes Geistes Kind wir sind, der sehe sich gut an, wer uns das Lachen lehren darf.
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362)
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Kommt nach den Realisten noch wer? Könnte bzw. wie könnte sich unser zeitgeistiges Selbstverständnis in Zukunft weiterentwickeln?
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Man stelle sich vor, dass Wissenschaft bzw. Technologie ihre gesellschaftlich sinnstiftende Bedeutung wieder verliert. Was wäre dann?
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Vielleicht Individuen, die das Wesentliche ihres Lebens darin sehen, sich eigene (statt neue) Gedanken zu machen. Das wär doch mal was.
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363)
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Es ist verboten, andere körperlich anzugehen. Sie seelisch anzugehen ist erlaubt.
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Kulturell ist somit den Männern ihre Waffe genommen worden, die der Frauen bleibt legitim.
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Männer können die Kämpfe mit Frauen nur aushalten oder fliehen – seelisch Paroli bieten: chancenlos.
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364)
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Theoretisch betont die Theologie gerne die göttliche Schöpfung des freien menschlichen Willens, die Wissenschaftstheorie die wissenschaftliche Abstinenz gegenüber philosophischen und religiösen Fragen.
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Praktisch besteht der gesellschaftliche Haupterfolg des Christentums aber gerade in der moralischen Beschränkung des menschlichen Willens, der der Wissenschaft in der faktischen Abschaffung von Gott bzw. Hölle.
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Wenn man jetzt noch bedenkt, dass es eigentlich die Klöster waren, welche die Wissenschaft hervorgebracht haben, dann ist die Menschheitsgeschichte vielleicht eine einzige Flucht vor den Ideen Gott bzw. Hölle.
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365)
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Im Vergleich zum Nichts steht das Leben zu allermeist arg schlecht da.
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Der Naturalismus erhebt das Nichts zu einer realistischen Lebensalternative.
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Wie Positives noch schätzen, wo dieses Negative alles in den Schatten stellt?
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Band 2
366) bis 730)
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366)
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Wer wirklich im Nichts i.S.v. völlig bewusstlos wäre, der könnte davon nichts wissen. So existiert das Nichts also nur im Sein, als eine Erwartung, die Sehnsucht oder Angst macht.
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Obwohl die absolute Bewusstlosigkeit eine Vorstellung ist, die großes Verlangen in mir weckt, bin ich froh, dem Glauben an ihre Realisierbarkeit entkommen zu sein.
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Mir scheint, dass ich mein Leben erst im richtigen Maß vor mir habe, seit ich es mit anderem Leben vergleiche statt mit dem Nichts. Nichtsglaube macht alles kaputt.
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367)
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Depressivität ist das Gefühl, das Leben sei dunkel und endlos.
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Wir fliehen davor in die Genusssucht und in den Suizid.
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Das Gefühl jedoch ist authentisch, seine Botschaft plausibel.
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368)
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Es ist ein Unterschied, die Botschaft von der Dunkelheit und Endlosigkeit des Lebens wahrhaben zu können bzw. gutheißen zu wollen.
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Dem Pessimisten wird oft unterstellt, seine Diagnose des Schlechten sei für dieses Zustimmung, wenn nicht gar Voraussetzung.
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Als Pessimist finde ich es umgekehrt unglaublich unreif und stur, dass für den Optimisten einfach nicht sein kann, was nicht sein darf.
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369)
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Nietzsches Ja zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen ist noch kein Ja zum Leben überhaupt, sondern nur ein Ja zum eigenen momentanen Schicksal.
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Erst wer einverstanden wäre mit einer unendlichen Folge zufälliger Wiedergeburten als je irgendein Lebewesen, der sagte wirklich Ja zum Leben.
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Dürfte aber ein weiter Weg sein bis zu dem Gleichmut, auch als das arme Ungeziefer leben zu wollen, für welches man eben noch Gift auslegte.
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370)
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Für den richtigen Handwerker ist nie Ruhezeit. Stets ist etwas in die Mangel zu nehmen, carpe 24/7!
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Nachts und feiertags bleiben wegen der spießigen Hausordnung nur kurze Attacken oder leisere Arbeiten.
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Leiser heißt: ohne Hammer und Schlagbohrer. Sozusagen der bedächtigere Teil des Nichtdenkens.
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371)
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Was denkt sich eigentlich einer mit Alarmanlage im Auto, die bei jeder Erschütterung loshupt?
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Dass Anwohner und Passanten bis zum Ernstfall stillhalten und dann seinen Besitz verteidigen?
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Eher noch würde ich den Dieben helfen, das Auto wegzuschaffen, damit es woanders weiterlärmt.
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372)
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Ich habe aufgehört, laute Menschen darauf anzusprechen, dass sie die Ruhe stören. Ich schimpfe bloß noch über sie.
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Denn nach meiner Erfahrung gibt es nur zwei Möglichkeiten: sie bedauern ihre Lautstärke oder eben nicht.
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Aber selbst wenn sie ihre Lautstärke bedauern, ändert sich mitnichten etwas daran. Denn sie ist nicht ihr Schade, im Gegenteil.
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373)
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Nichtswunsch und Nichtsglaube sind für mich zwei streng zu unterscheidende persönliche Eigenschaften.
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Der Wunsch nach dem idealen Nichts ist meine wichtigste Orientierung, der Glaube an das reale Nichts hingegen brächte mich zum Suizid.
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Die meisten haben noch keinen Nichtswunsch, aber noch einen Nichtsglauben. Ich meine da weiter zu sein.
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374)
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Passiv-aggressiv ist immer noch besser als aktiv-aggressiv.
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Meine Sympathie gehört den sauer gestimmten Opfern, einschließlich meiner selbst – mag der Zeitgeist das noch so sehr verachten.
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Therapeutisch gesehen wirkt es vielleicht, die Opfer zu Tätern zu machen. Aber diese schöne neue Welt ist nicht meine.
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375)
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Die Fröhlichen und die Traurigen unterscheiden sich nur dadurch, dass erstere keinen Weitblick haben bzw. haben wollen.
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Dadurch sind die Fröhlichen aber weniger in der Lage, sich gegen nahendes Unglück schon von weitem abzusichern.
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So halten sich die Traurigen länger und können bei jedem Fröhlichen, den ein Unglück ereilt, denken: Wusst ich's doch.
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376)
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Zum Glücklichsein reicht es für den, der nur eine Stunde weit denkt, sich für mehr als eine Stunde gegen Unglück gefeit zu fühlen.
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Dem Unglücklichen, der immer weiter und weiter denkt, kann alle Gesundheit und aller Wohlstand nicht hinreichen.
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Aber letzterer ist doch sicher der Klügere. Sollte man für das Glück wirklich die Weitsicht und den Verstand sausen lassen?
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377)
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Akademische Philosophie hilft bei der Lebensführung etwa so viel wie die Grundlagen der Nachrichtentechnik bei der Radioreparatur.
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Ein konkretes Problem von vornherein so grundsätzlich wie möglich anzugehen, bringt den Bildungsbeflissenen selten einer Lösung näher.
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Gut möglich, dass die Lebenspraxis bis zur Philosophie gelangt und die Radiobastelei bis zur Nachrichtentechnik. Aber umgekehrt eher nicht.
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378)
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Die einen ringen aus bitterer Notwendigkeit um eine Philosophie, in der sie einigermaßen leben können, die anderen philosophieren stets von ihrer nie wirklich bezweifelten Grundüberzeugung aus.
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Mein Christentum hätte mich auf Dauer um den Verstand gebracht, mein Materialismus hätte mich in den Suizid getrieben. Lebensmonist zu werden war mir konkrete Rettung vor Irrsinn und frühem Tod.
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Die üblichen Philosophen aber bleiben ihr Leben lang Christ oder Materialist, betrachten die unüblicheren Denklandschaften sozusagen nur von ihrem klimatisierten Reisebus aus durch getönte Scheiben.
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379)
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Ewiges Diesseits – so würde ich nennen, woran ich glaube, wenn ich es partout positiver fassen müsste als ich wollte. Lieber sage ich es negativ: Aus dem Leben, wie wir es kennen, gibt es kein dauerhaftes Entkommen.
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Beim Tod tippe ich auf einen vorübergehenden Schlaf mit als zeitlos empfundenen Träumen, welche lebensmüde Religionsstifter mit Nahtoderfahrung gerne zum Eingang des ewigen Jenseits hochstilisieren.
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Das ewige Diesseits stimmt mich traurig, ist mir aber geistig gangbarer als das irre machende endliche Diesseits vor dem ewigen Jenseits bzw. das suizidal machende endliche Diesseits vor dem jenseitigen Nichts.
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380)
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Unsere eigentliche Geschichte ist die des Geistes: Am Anfang ist das Denken.
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Und eigentlich interessiert, wohin es mit dem Geist bzw. dem Denken denn nun geht.
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Wer die Weltgeschichte lieber materiell definiert, flieht zu Nebensächlichkeiten.
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381)
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Was im Tod aus uns Menschen wird, ist ein Thema, das gesellschaftlich nach stereotyper Indoktrination der Kinder mit religiösen "Erklärungen" oder auch von vornherein unter der Bewusstseinsschwelle dahindümpelt.
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Unhaltbar wird diese Situation spätestens dann, wenn Ethikkommissionen offiziell über Abtreibung, Patientenverfügung, Sterbehilfe etc. befinden, ohne ihre Annahmen darüber offenzulegen, was im Tod eigentlich geschieht.
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Denn davon, was uns im Tod erwartet, hängt es ab, ob bzw. wann es besser ist zu leben oder zu sterben. Wer über Leben und Tod richtet, muss also mindestens dazusagen, auf welcher Todesvorstellung seine Entscheidung gründet.
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382)
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Kann es sein, dass sich die gewissenlose Jagd nach dem eigenen Vorteil doppelt lohnt, weil diese Jäger, wenn sie schließlich selbst in den Nachteil gesetzt werden, ja auch noch verständnisvoll denken können: an der Stelle des Gegners würde ich ebenso handeln?
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Die zahllosen Piraten, Mafiosi, Gangster etc. aus den Spielfilmen, die erst selber grausam morden und dann in Würde und ohne Groll auf ihre Mörder sterben – sind sie das heimliche Vorbild des heutigen Menschen, der begriffen hat, dass es sich nur als Böser gut leben lässt?
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Wäre die angesagte Religion dann also: Jeder sei ein stolzer Räuber, nehme ohne Skrupel von den Schwächeren, werde dabei möglichst stark – und wende sich am Ende als Verlierer auch noch ohne Reue von sich selber ab, stets mit den Gewinnern sympathisierend? Wie reichselig.
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383)
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Alle Gläubigen, die ich kenne, sympathisieren auch mit den höheren Sphären, an die sie glauben. Und allen Skeptikern i.S.v. Materialisten, die ich kenne, ist die Erwägung von deren Existenz auffallend unsympathisch.
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Da liegt der Schluss nahe, dass die Leute ihren Glauben bzw. Unglauben einfach aus Sympathie für das jeweilige weltanschauliche System wählen. Reden tun sie aber lieber über Beweise und Evidenz. Sehr verdächtig.
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Also ich wünschte ja, die "Ungläubigen" hätten recht. Das Leben wäre ein Unfall – ginge aber vorbei! Ich glaube jedoch nicht, dass das Leiden endet. Damit bin ich für die, denen Wünschen und Glauben eins sind, wohl ein Masochist.
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384)
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Böse höhere Mächte – ein seltenes Gesprächsthema. Entweder glauben die Menschen an überwiegend gute höhere Mächte oder an gar keine.
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Traut man sich vielleicht nicht, darüber zu reden? Ich fürchte, dass Glauben meist vom Wünschen kommt und über Unerwünschtes geschwiegen wird.
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Insofern bilden die doch immer als Antagonisten auftretenden Gläubigen und Ungläubigen eigentlich eine Allianz der Ignoranz gegen böse höhere Mächte.
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385)
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Dass man in der westlichen Kultur nur noch an das Gute oder an "gar nichts" glaubt, könnte daher rühren, dass den Kindern heute nur noch der Himmel oder das Nichts im Tod versprochen wird.
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Dass ich mich beiden Gruppierungen nicht zugehörig fühle, könnte daher rühren, dass ich meine Kindheit als gesellschaftlicher Ausnahmefall in steter Furcht vor der Hölle verbracht habe.
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Sind meine Überzeugungen damit weniger plausibel als die der Himmels- und Nichtsgläubigen? Nein, sie sind nur seltener. Und dass sie mich in die Defensive drängen, schärft mein Bewusstsein.
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386)
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Wer den Himmel mehr ersehnt als er die Hölle fürchtet, bleibt eher bei seinem christlichen Glauben. Wer dagegen die Hölle mehr fürchtet als er den Himmel ersehnt, fällt eher davon ab.
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Ist der materialistische "Unglaube" ursprünglich aus quälender Furcht vor der Hölle entstanden? Schon Epikur konzipierte seine Philosophie vom Nichts des Todes gegen den Hadeswahn.
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Die sogenannten Skeptiker unterstellen den Gläubigen Realitätsflucht. Inwieweit jene jedoch mit der Behauptung ihres Sein-Nichts-Dualismus vor der Höllenidee fliehen, hinterfragt keiner.
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387)
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Hölle gleich ewiges maximales Leid erwartet kaum mehr einer vom Tod.
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Und selbst an diese Erwartung kann sich mancher noch gewöhnen.
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Gibt es überhaupt eine Todesvorstellung, die Suizid verunmöglicht?
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388)
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Wer es für möglich hält, dass im Tod eine ewige Hölle auf ihn wartet – ist der nun gläubig oder ungläubig?
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Also ich meine, es handelt sich bei denen, die sicher sind, dass es für sie keine Hölle geben kann, um Gläubige.
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Insofern ist der Spruch, dass sich vor der Hölle nur fürchtet, wer daran glaubt, m.E. verdreht formuliert.
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389)
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Wie lange dauert es noch, bis aus all den Monotheisten Materialisten geworden sind?
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Ein Leben, mehrere Generationen, ganze Zeitalter? Wird der Tod dann zum Nichts?
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Oder symbolisiert eben doch die Hölle unser eigentliches, auf immer unentrinnbares Movens?
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390)
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Mal realistisch zu Ende gedacht: wie viele Leben sind denn wirklich lebenswert, nüchtern verglichen mit der Alternative Nichtsein?
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Ich denke, dass knallhart konsequenter Realismus eine enorme Suizidrate, ja evt. sogar kollektiven Suizid nach sich ziehen würde.
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Paradoxerweise müssen die Realisten immer schön idealistisch bleiben hinsichtlich der zukünftigen Möglichkeit eines schönen Lebens.
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391)
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Falls wir uns vom Tod die große bzw. größtmögliche Veränderung des eigenen Lebens erwarten, dann tun wir das realistischerweise deshalb, weil der Tod erfahrungsgemäß den Körper samt seiner Äußerungen des vor uns Gestorbenen zerstört.
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Aber ist es nicht trotzdem eher Glaubenssache, einen funktionstüchtigen Körper für die Bedingung des eigenen Bewusstseins zu halten? Ist nicht vielmehr das eigene Bewusstsein die grundlegendste und damit unhintergehbare Erfahrung?
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Den Körper als vergänglichen Grund des Selbst-Bewusstseins anzusehen, scheint mir eine im Zunehmen begriffene Erlösungsreligion, resultierend aus zunehmender Verschonung des zivilisierten Menschen vor körperlosen Erfahrungen.
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392)
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Gibt es den typischen Suizid? Und wenn ja: ist seine Motivation rational oder irrational?
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Individuelle Fallanalyse, unbewusste Verhaltenssteuerung und Hirnchemie hin oder her: Suizid begeht man, wenn die bis dato selber- und mitdenkend erzielte Vorstellung vom Tod viel verlockender geworden ist als die vom Weiterleben. Affekt ist höchstens der Auslöser, nicht die Ursache.
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Wer Philosophien in die Welt setzt, muss also gut über die möglicherweise damit ausgesprochenen Todesempfehlungen nachdenken.
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393)
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Gegen das Verzweifeln am Leben hilft es am besten, Ordnung ins eigene Denken und Reden zu bringen.
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Philosophie als Streben nach Verständnis und Einsicht scheint mir insofern die richtige Maßnahme gegen Suizidalität.
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Üblicher als solches Selbstvertrauen ist aber das alte Gottvertrauen oder das neue Therapeuten- bzw. Arztvertrauen.
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394)
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Religiöse Ausdrücke von philosophischem Pessimismus bzw. Optimismus sind etwa Herrgott bzw. lieber Gott.
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Ersterem dient man äußerlich und hasst ihn innerlich, letzterem dankt man äußerlich und liebt ihn innerlich.
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Mein Verhältnis zu Gott, Leben, Selbst ist immer vorwiegend ersteres gewesen. Falsch? Im Gegenteil: ehrlich.
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395)
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Als schadenfroh gilt es, über das Missgeschick anderer zu lachen; als humorvoll, über das eigene lachen zu können.
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Früher wurde ersteres getadelt und letzteres gelobt. In der heutigen Spaßära ist beides gleich recht, Hauptsache lustig.
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Als Pessimist meine ich: beides soll nur lauthals übertönen, dass Missgeschick eigentlich nicht komisch ist, nur traurig.
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396)
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Unverbesserlicher Optimismus, dass sich die Medien jeden neuen Tag wieder überrascht und empört geben über Skrupellosigkeit, Korruption, Doping etc. der vorher von ihnen in den Himmel gejubelten Vorbilder.
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Was ums Verrecken nicht zugegeben werden soll: zum gesellschaftlichen Vorbild aufzusteigen, ist ohne Skrupellosigkeit, Korruption, Doping etc. so gut wie unmöglich. Auch unter Begabten gewinnt der rücksichtslosere.
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Aber nein, diese meine Behauptung stellt ja alle Erfolgreichen unter "Generalverdacht" – ein böses Wort. Dennoch dürfte es m.E. kaum je fehlgehen, von Karriere auf Kaltschnäuzigkeit zu schließen.
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397)
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Ganz oben ist es eiskalt.
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Götter sind ultraharte Typen.
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Besser selber keiner sein wollen.
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398)
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Auf den Sozialdarwinismus im populär verstandenen Sinn, also dass sich im Dschungel des menschlichen Miteinander in aller Regel skrupelloses Herrschaftsstreben durchsetzt, reagiert die intellektuelle Welt m.E. zumeist genau falsch herum.
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Zuerst streiten die Gelehrten schlicht ab, dass Sozialdarwinismus zutreffend sei – gerne durch spezifischere Definitionen des Begriffs, die vom allgemeinen Problem wegführen – um dann beschönigte Formen davon zu definieren und gutzuheißen.
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Richtig herum ist es nach meinem Dafürhalten, sich zuerst einmal einzugestehen, dass unsere Realität in höchstem Maß sozialdarwinistisch funktioniert. Um dann Idealismus, ja Menschlichkeit als das zu definieren, was sich dieser Natur verweigert.
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399)
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Warum wirken die Intuitiven auf die Intellektuellen so unbekümmert, unbeschwert, beneidenswert?
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Weil den Intuitiven all die Zusammenhänge außerhalb ihres engsten persönlichen Kreises egal sein können.
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Aber weiteres Nachdenken bringt davon ab, lieber angenehm beschränkt als unangenehm bewusst sein zu wollen.
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400)
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Religion unterstellt allem einen Sinn. Entweder werde noch alles gut und alles Leid bis dahin diene diesem höheren Zweck – oder das bleibende Böse sei unsere eigene Schuld.
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Areligös ist, an solchem Sinn zu zweifeln. Alles bleibe schlecht und das ewige Leid habe keinen höheren Zweck – es sei denn, dass sich überhalb von uns jemand sadistisch daran weide.
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Realismus zweifelt zwar am höheren Sinn, glaubt aber fest an ein Ende jeden Leides. Mit letzterem gestaltet er seinen ausschlaggebenden Teil religiös – trotzdem gibt er sich areligiös.
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401)
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Warum ist das Einhalten von Ruhe an extra dafür reservierten Plätzen so wichtig?
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Weil nette Menschen ohne ihre Rückzugsräume nicht nett bleiben können.
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Ohne Orte der Stille wäre die Welt ein einziger Dschungel für aggressive Täter.
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402)
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Pädagogik, die Zurückhaltung in erster Linie als ungesundes Problem der Passiven begreift und diese zu ihrem Besten aus sich herauslocken will, ist grundverkehrt.
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Auch die stereotype Forderung nach freundlichem Entgegenkommen beider Seiten – dabei die Frage abtuend, wer den Streit begonnen hat – bevorzugt die Aggressiven.
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Wer sich erst ständig angreifen lassen muss und dann auch noch als einer der beiden Streithähne zurechtgewiesen wird, verzweifelt doch an seinem Verzicht auf Bosheit.
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403)
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Wenn der Erfolg i.S.v. gesellschaftlichem Durchsetzungsvermögen seinen Inhabern Recht gibt, dann ist dies ein Recht, welches in trauriger Regelmäßigkeit deren zuvor begangenes Unrecht belohnt.
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Denn Frechheit siegt durch die Bank – und das wird für die Opfer der Frechheit noch viel trauriger dadurch, dass die Frechen alle Lacher auf ihrer Seite haben und allerseits beneidet werden.
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Wer dies anklagt, dem entgegnet man schulterzuckend: Dann werd doch auch frech! Und das wäre dann das allertraurigste. Aber der Zeitgeist stimmt mit überwältigender Mehrheit dafür.
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404)
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Auf die Beschwerden der Schwächeren reagieren Ruhestörer amüsiert, machen sich über die Empörten lustig, provozieren sie weiter oder verscheuchen sie mit Beleidigungen oder gar Androhung von Gewalt.
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Auf Beschwerden der Stärkeren reagieren Ruhestörer beleidigt, verbitten sich Empörung, pochen mit abgewandtem Blick auf einen freundlichen Umgangston, nach Argumenten zu ihren Gunsten ringend.
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Wer ausgelassen lebt, will nichts einsehen, sondern immer nur Herr der Lage bleiben. Vergebens demnach die Erwartung, dass Empörung als gerechtfertigte Reaktion auf Rücksichtslosigkeit akzeptiert wird.
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405)
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Es ist bitter, von den Lauten mit arroganter Miene erklärt zu kriegen, dass es ja wohl mein Problem sei, wenn ich mich selber als Opfer ihres Lärms sehen möchte.
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Ob Nietzsche und die ihm nachfolgende Psychologie, Soziologie, Pädagogik etc. diesen Zeitgeist der Rücksichtslosen wirklich mit Bedacht so gestaltet haben?
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Ich fürchte eher, dass all die neuen Harten mit den strengen Stimmen sich nur großtuerisch durchschummeln und die wirklich großen Konsequenzen möglichst verdrängen.
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406)
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Jesus predigte das Tun nach eigenem Gutdünken anstatt das Unterlassen nach Gesetzen der Altvorderen.
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Luther ließ dann überhaupt Gnade und Vertrauen vor Recht ergehen und empfahl, wacker zu sündigen.
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Wenn schon christliche Ethik, dann besser die Zehn Gebote – noch Opfer- statt schon Täter-freundlich.
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407)
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Opfer der alten Schule denken: Ich will rücksichtsvoll sein. Schädige ich dennoch jemanden, ist er zu Recht empört. Ich entschuldige mich.
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Täter der neuen Schule denken: Ich tue erst mal was ich will. Wem das nicht passt, der soll mir freundlich Bescheid sagen. Aber bereuen werde ich nichts.
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Mir sind die Opfer sympathisch und die Täter unsympathisch – Opfer leben besser i.S.v. ethischer, Täter leben besser i.S.v. angenehmer.
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408)
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Monotheistische Kirchen behaupten, absolutes Recht zu vertreten.
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Postmoderne Relativisten stellen dessen Existenz in Abrede. Gut.
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Trotzdem meine ich, dass v.a. ertappte Täter gerne Recht als Willkür abtun.
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409)
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Verkappte Religion gibt noch mehr Sicherheit als offene Religion, weil ihre Anhänger nicht daran denken zu bezweifeln, was sich bereits Zweifel nennt.
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Wer heute ohne den Schatten eines Zweifels an das Nichts im Tod glaubt – und damit immerhin an endgültige Erlösung von allem Leid! – gilt als Ungläubiger.
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Könnte durchaus sein, der Realismus hält sich das Christentum weiterhin als Klischeereligion, um sich nicht selber als Religion bewusst werden zu müssen.
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410)
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Laute Zeiten sind geistlose Zeiten.
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Denn Nachdenken braucht Ruhe.
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Und geistige Entwicklung beruhigt.
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411)
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Am ehesten steckt Lärm weg, wer selber lärmt.
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Eher kann Lärm ab, wer mit den Händen arbeitet.
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Aber Kopfarbeit braucht einen ruhigen Hintergrund.
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412)
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Wer geistige Entwicklung will, muss Ruhe erhalten bzw. Ruhezonen schaffen.
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Wer ruhige Räume für die Lauten öffnet, schafft geistige Entwicklung ab.
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Toleranz gegen Lärm allerorten macht auf Dauer alle dumm.
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413)
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Auch die Lauten lieben ruhige Orte – um dort laut sein zu können, ohne mit anderen Lauten konkurrieren zu müssen.
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Am liebsten erobern sich die Krachmacher unbeaufsichtigte Ruhezonen, wo nur ihr Schall ertönt und möglichst weit trägt.
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Wer auf die Ruhe dort angewiesen ist, um zu arbeiten, zu schlafen etc., verbringt stattdessen viel Zeit mit sinnlosem Ärger.
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414)
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Schilder, die um Ruhe ersuchen, sind ziemlich selten – daran zeigt sich, wie wenig die Ruhe wichtig genommen wird.
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Bestimmte Orte zu finden z.B. scheint dagegen wichtig genug zu sein, um alles mit Wegweisern regelrecht vollzupflastern.
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Wer meint, dass Ruhe zu halten an Orten, wo gedacht, geschlafen usw. wird, sich von selbst verstehe, irrt leider.
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415)
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Die Sehnsucht nach meinem Nichtsein rührt nicht etwa daher, dass ich die Welt gut und mich selber schlecht fände.
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Nein, bei meinem Vergleich zwischen Ich und Welt schneidet eigentlich in aller Regel die Welt schlechter ab.
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Ich sehe nur nicht ein, ohne Welt bzw. mit dem miesen Job dazustehen, die schlechte Welt zu verbessern.
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Umbringen tut sich, wer sein Leid nicht mehr aushalten will oder kann.
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Weil er selbst bzw. die anderen es nicht lindern wollen oder können.
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Glaubte ich an die Bewusstlosigkeit im Tod, würde ich mich aus moralischen Gründen umbringen: ich will meinem Leid nicht fortwährend abhelfen, weil ich anderen dadurch fortwährend schaden muss – dann besser nur noch einmal, wenn auch in krasser Weise.
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417)
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Traurige, die ihre Traurigkeit nicht hinter einer Maske verbergen bzw. überspielen wollen, werden von der Gesellschaft zunehmend härter angegangen.
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Die Älteren sagen: Wenn du Trübsal bläst, mag dich keiner. Damit zu drohen ist hart genug – aber wer mich nicht mag, lässt mich i.a. wenigstens in Ruhe.
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Die Jüngeren sagen: Schultern hängen lassen signalisiert Opferhaltung. Damit zu drohen ist härter, denn Opfer werden ausgenutzt oder gar gequält.
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(Am traurigsten dabei ist, dass oft anklingt, die ablehnende oder gar aggressive Reaktion der anderen geschehe den Trauerklößen doch recht. Denn dass die Reaktionen so ausfallen, mag wahr sein – aber dass dies zu Recht geschieht, ist falsch.)
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418)
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Radikale mit einfacher Meinung aus eigener Erfahrung sind bessere Gesprächspartner als Gemäßigte, die ihre gehobene Meinung per Wochenzeitung abonniert haben.
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Die gelesenen und evt. sogar verstandenen Artikel können hochkomplex sein, ohne dass sich dabei einer aufgefordert fühlt, mit dem Selberdenken anzufangen.
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Sogar für akademische Karrieren ist normal, dass es den Veröffentlichungen an originellen Ideen fehlt – Cut&Paste steigert den Output und verschreckt keinen.
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419)
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Moralischer Pessimismus bedeutet für mich die Erkenntnis, dass Welt und Ich nicht zu retten i.S.v. zum Guten zu wenden sind. Diese Erkenntnis gilt es zu verinnerlichen, ohne dabei allen Anstand fahren zu lassen und zum amoralischen Optimismus zu konvertieren.
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Das Christentum konzentriert sein Gutsein auf den nächsten Menschen und macht sich zugleich alle Welt untertan – eine verheerende moralische Bilanz. Und der Materialismus hält Leben sowieso für einen sekundären Effekt und steht damit unter dem Motto: Nach uns die Sintflut.
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Ohne Hoffnung auf eine reale Erlösung, wie sie Christentum und Materialismus anbieten, bleibt nur der kargere Idealismus: das Gute bzw. das Nichts als unerreichbare Ziele, deren Kenntnis jedoch Orientierung und Trost geben. Wenn auch grundsätzlich zu wenig.
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420)
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"Lebensmüdigkeit ist eine Wohlstandskrankheit! Die Ärmeren kämpfen noch mit voller Kraft für ihr Leben!" – so in etwa lautet die abfällige Kritik an Pessimismus und Suizidalität in den hochkultivierten Ländern.
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Aber die Ärmeren kämpfen nicht für ihr Leben, sie kämpfen nur gegen ihr Leid. Und es ist zynisch, ihnen die unwillkürliche Verteidigung gegen grausame Qualen als Lebensbejahung auszulegen.
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Optimismus gründet immer in der Behauptung, dass alles eigentlich gewollt sei. Und höchster Zynismus ist es dann, das allerdringendste Müssen der am meisten Gepeinigten als größten Sieg des Willens zu feiern.
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421)
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Schopenhauer sagt, diese jammervolle Welt sei gewollt und damit metaphysisch gerechtfertigt. Aber der Schopenhauersche Wille ist ein blinder Drang, in späterer Begrifflichkeit ausgedrückt also das Unbewusste, das Es.
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Ist dieses Unzugängliche, Unkontrollierbare dann nicht gemusst statt gewollt? Wie kann unser blinder Lebenswille uns schuldig werden lassen? Gerechtfertigt wäre die Welt doch nur, wenn dieser Trieb abstellbar wäre.
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Ich weigere mich, Verantwortung bzw. Schuld für etwas auf mich zu nehmen, woran ich keine bewussten und kompetenten Veränderungen vornehmen kann. In die Schlacht mit den anderen Lebewesen bin ich geworfen.
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422)
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Zur Besinnung kommen – das kann für Aktivisten sehr gefährlich sein.
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Es ist der Sonntag, der unruhige Menschen depressiv werden lässt.
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Regelmäßige Muße ist besser als Suizid, wenn es dafür zu spät ist.
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423)
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Dem Rhythmus von Aktivität und Passivität unterliegen wir erst einmal alle.
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Aktivisten minimieren ihren passiven Teil und beschimpfen die anderen als faul.
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Aber die Ruhe holt die Aktivisten ein, im Extremfall mit einem Schlag.
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424)
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Christ bin ich keiner – aber wenn die Geschäfte sonntags auch noch geöffnet haben dürfen und die Kirchen zu Attraktionen für laute Touristen verkommen, heißt das auch für den Gottlosen, dass Zeiten und Räume der Ruhe verschwinden. Gesetzlicher Schutz?
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Spätestens hier rächt sich die Verknüpfung von Ruhe und Religion. Wer Reglements abschaffen will, unterstellt ihnen lächerliche Motive bzw. desavouiert sie als Teil eines obsoleten Systems. Ruhezeiten und Ruheräume als Gottesdienerei abzutun ist auch so ein Trick.
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Und der Trick funktioniert, weil sich die heutigen Actionjunkies wohl nicht mehr vorstellen können, dass Sonntage und Kirchen in erster Linie dazu da sein sollten, Zeit und Raum für Ruhe und Besinnung zu geben. Und religiöse Rituale dabei bestenfalls sekundieren sollten.
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425)
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Die Angst vor einer jenseitigen Hölle im Tod bzw. die Sehnsucht nach dem bewusstlosen Nichts im Tod haben in mir zeitlosen Bestand – sie sind m.E. angebrachte Gefühle des Lebens.
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Sofern damit aber Hörigkeit gegenüber Herrgott sprich Bibel bzw. Drang zum Suizid einhergeht, sind mir das nurmehr unangebrachte Überbleibsel aus christlicher und materialistischer Zeit.
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Philosophische Abstraktion hilft, richtige Theorie von ihrer falschen Praxis zu unterscheiden. Wie wohl die Gesellschaft in ihrer scheinbar unphilosophischen Zukunft mit solcher Problematik umgehen wird?
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426)
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Wenn Gott der Actus Purus ist, also sozusagen das reine Tun – ist dann der Teufel etwa das Nichtstun?
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Westliche Kultur steuert tatsächlich auf die pure Action zu – selbst Urlaub gerät da zur Extremsportart.
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Begann alles Böse, als der Urmensch von der nackten Notwehr zur Muße fand? Eher zur Gier, denke ich.
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427)
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Zwischen endgültigem Tod und ewigem Leben nach dem Tod steht das zyklische Modell des immer wiederkehrenden Lebens mit dem Tod als Nacht- bzw. Traumphase.
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Diese dritte Möglichkeit mag uns traditionsbedingt erst mal fremd anmuten – Nachdenken enthüllt jedoch die ersten beiden Möglichkeiten als seltsame Extreme.
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Obwohl auch der westliche Mensch in vielerlei Hinsicht bemüht ist, moderater zu werden – bezüglich seiner Vorstellungen vom Tod scheint er Extremist bleiben zu wollen.
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428)
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Die Harten haben sich in der Gemeinschaft schon immer durchgesetzt.
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Nur dass dies heute im Gegensatz zu früher eben gutgeheißen wird.
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Sicher wollen viele in genau so eine Welt keine Kinder mehr setzen.
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429)
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Schlaflosigkeit ist weit verbreitet, man spricht gar von Zivilisationskrankheit. Jene kann m.E. aber Sinn machen, sofern es in den wiederkehrenden Phasen nächtlichen Wachbewusstseins gelingt, das Tagwerk loszulassen und den Träumen nachzuspüren.
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Ihre Nachtruhe wünschen sich viele als durchgehend tiefen und traumlosen Schlaf. Doch es bringt durchaus auch Ruhe und zudem Selbsterkenntnis, immer wieder in die Traumwelt hinüber und wieder zurück zu gleiten. Eine noch seltsamere Welt!
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Vielleicht ist der Tod dann ja der nächstgrößere Schlaf mit den nächstgrößeren Träumen – zumindest für den, der sein altes Leben zeitig loslassen und in sie einzutauchen vermag. Wer dagegen bis zum Gehtnichtmehr am Werken bleibt, ruht ganz oder gar nicht...
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430)
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Schlaflosigkeit könnte u.a. auf der wenig bewussten Weigerung des modernen Realisten beruhen, sich auf seine irreale Traumwelt einzulassen.
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Wer seinen Träumen ausweicht, fördert damit den Ganz- oder Garnicht-Schlaf – bleibt so lange wach, bis er in tiefen, traumlosen Schlaf fällt bzw. wendet sein Denken schon im Aufwachen wieder dem Alltag zu.
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In meinem zyklischen Lebensmodell ist der Tod ein großer Schlaf – wenn es zutrifft, kann ich in meinen kleinen Traumwelten für die großen trainieren.
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431)
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Das Leben – nur ein Traum? Dieses Bild scheint mir lebenspessimistisch und todesoptimistisch gemeint. Für die Erwartung stehend, dass alles zunehmend mit rechten Dingen zugehe.
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Demnach sollen wir in Bälde erwachen aus der jetzigen in eine höhere Wirklichkeit, so wie wir bislang aus dem Schlaf mit seinen sub-realen Träumen in die alltägliche Realität zurückfinden.
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Steht jedoch sofort die Frage im Raum, warum diesen flüchtigen Albtraum Leben überhaupt weiter träumen – statt sich durch Selbstaufopferung bzw. Suizid erwecken.
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432)
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Meine Träume erscheinen mir eher sous-real denn surreal.
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Ihre Wirklichkeit ist mehr seelisch-dunkel als geistig-hell.
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Ebenso denke ich mir meinen Tod als tiefere statt höhere Wirklichkeit.
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433)
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Die großen Religionsstifter haben Ideale wie Liebe, Freiheit, Wahrheit, Nichts etc. – m.E. die größten Schätze der Menschheit – in pseudoreale Erzählungen verpackt, um sie dem Volk nahezubringen.
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Heute, wo immer weniger Menschen an das reale Eintreten der religiösen Heilsversprechen glauben können, schafft man mit den Religionen auch die Ideale ab und schüttet so das Kind mit dem Bade aus.
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"Keep it real!" sagt die Jugend heute – Religion, Ideologie, Ideale landen in einem Topf und werden komplett entsorgt. Aber Leben für die Realität kann nunmal nur den Reichsten und Ruchlosesten gefallen.
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434)
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Der Christengott meiner Jugend war streng. Ich jedenfalls war nicht würdig, von meinen Leiden erlöst zu werden sprich in den Himmel zu kommen, durfte nur so demütig wie möglich auf seine Gnade hoffen, um nicht hoffärtig zu sein.
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Da habe ich bei der realistischen Konkurrenz zu glauben begonnen. Lieber mein eigener Chef sein und ein sicheres Nichts im Tod erwarten, als Gefahr laufen, von einem Herrgott wegen Hochmuts in die Hölle geworfen zu werden.
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Inzwischen dürfen die Schafe aber stolzer sein. Wer heute in den kirchlichen Kindergarten geht, soll sich für würdig halten – es scheint, als stünde der Himmel sperrangelweit offen für alle, die noch bereit sind, sich Christen zu nennen.
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435)
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Pragmatiker sehen das Denken immer nur als Mittel zum Handeln. Je origineller ein Gedanke, desto spöttischer ihre postwendende Frage, wozu er denn bitteschön gut sein solle.
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Dass es überhaupt gut sein könnte, mehr zu denken als zu handeln, leuchtet Pragmatikern nicht ein. Obwohl Technik in Jahrzehnten zugrunde richtet, was sich in Jahrmillionen entwickelt hat.
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Wer gerade nachdenkt, macht schon mal gerade nichts kaputt. Eigentlich reicht allein dieses Argument schon aus, um sich mehr denkende und weniger handelnde Menschen zu wünschen.
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436)
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Realisten halten Nichtsein für real möglich.
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Nicht nur als relativ zum Sein definierte Alternative.
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Sondern als absoluten Grund an und für sich, mit dem Sein als nicht notwendigem Spezialfall.
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437)
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Den Mephisto aus Goethes Faust bemühen gerne Nihilisten als Leitfigur, die an reale Vernichtung glauben und Lust daran empfinden.
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Schopenhauers Nihilismus dagegen, wenn man es denn so nennen will, ist mitleidige Sehnsucht nach dem unerreichbaren Nichtsideal.
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Nietzsches Nihilismus lädt zu Missverständnissen geradezu ein – Nihilismus als unkommentiert verwendbarer Begriff ist damit vernichtet.
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438)
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Spielfilm-Komödien, in denen ein sympathischer Opfercharakter von seiner gutmeinenden Mitwelt aus weniger sympathischen Tätercharkteren zu Berufserfolg und Liebesglück genötigt wird, sind Legion.
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Aber läge das gute Ende nicht vielmehr darin, dass diese immerzu das Geldverdienen und die Paarbildung befördernden nassforschen Yuppies sich umgekehrt selbst zu Sympathieträgern bekehrten?
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Man stelle sich mal vor: am Schluss sind alle so grundanständige und bescheidene Alleinstehende geworden wie die Hauptfigur, ohne protzige Sportwagen oder sündhaft teuere Häuser, Büros, Ateliers.
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439)
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Pessimistisch Philosophieren ist wie einen guten Tanz zu einer ungeliebten Musik finden zu wollen.
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Die Optimisten, Fans der Lebensmusik, fühlen sich durch diese Herangehensweise zwar dupiert.
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Dennoch kommen auch Pessimisten auf Schritte, die sich auf der Tanzfläche ausbreiten wie ein Lauffeuer.
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440)
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Das Leben ist wie eine Musik, die man entweder hören will oder hören muss.
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Kann auch ihr unfreiwilliger Hörer die Lebensmusik lieben lernen?
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Evt. hilft Gewohnheit bzw. Analyse dabei, sie lieb zu gewinnen.
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(Aber aktiv welche machen ist nichts für Pessimisten, oder?)
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441)
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Wer akustische Signale des Lebens – Sprache, Musik, Geräusch – analog zu unserem Gehör in einfachere Schwingungen zerlegt, der gerät darüber schnell an eine zyklische Weltanschauung.
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Denn Prinzip des Lebens ist dort ganz offenbar die Wiederholung. Umgekehrt kein Wunder, wenn Philosophen wie Schopenhauer die Musik als den allerreinsten Ausdruck des Lebens empfinden.
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Mag sein, dass Religionen wie Monotheismus und auch Materialismus die Einmaligkeit einst als Antithese dazu aufstellten. Und die naheliegendere These wurde inzwischen vergessen.
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442)
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Das Nichts war denkerisch zuerst mal die besondere Antithese zum gewöhnlichen Sein.
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Das konnten die frohgemuten Seyn-Verehrer wohl nicht hinnehmen und drehten es um.
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Wer heute aufwächst, sieht das Sein von vornherein mitten im Nichts prangen.
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443)
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Moderne Skepsis bemüht gegen antiquierte Mystik oft Bilder vom ins geheime Dunkel zu bringenden Licht der Erkenntnis usw.
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Vielleicht ist es ja banalerweise die moderne Verfügbarkeit von Licht, welche das dunkle Denken immer mehr verdrängt.
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Wer sich bei Sonnenuntergang zur Ruhe begab und erst bei Sonnenaufgang wieder aktiv wurde, hatte einfach mehr Nachtgedanken.
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Philosophie verstehe ich u.a. als Interesse an Verallgemeinerungen.
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An Schlussfolgerungen, was Leben, Welt, Ich usw. denn im Grunde seien.
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Nichts gegen Individualität: v.a. eigene Vorstellungen vom Ganzen interessieren.
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445)
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Früher hatten die Leute mehr Nacht und mehr Tod.
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Moderne ist die Abschaffung von Nacht und Tod.
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Mit einer Medienecke für die Romantikrudimente.
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446)
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Ins Unbekannte des Todes hinein sich das Leben periodisch fortgesetzt denken – das ist meine vertrauensbildende Maßnahme.
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Im Rückblick immer noch unglaublich, dass ich den Tod zuerst lange als Hölle fürchten, dann lange als Nichts ersehnen musste.
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Einem Kind würde unheimlich, stellte man ihm den Tod gleich als großen Unbekannten vor. Aber als großen Schlaf wär anheimelnd genug.
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447)
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Um einem Kind zu erklären, was uns im Tod erwartet, würde ich die Analogie zum notwendigen Schlaf vor dem nächsten Tag wählen.
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Und was kommt morgen? Weiß man nie so genau, aber ungefähr schon. Wahrscheinlich so ähnlich wie heute. I.a. vertraut genug und neu genug.
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Dass dies genau genommen eine Vermutung über im Grunde Unbekanntes ist, würde ich erst ergänzen, wenn ich das Kind für reif genug hielte.
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448)
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Moralische Hemmung ist das Ende des persönlichen Erfolgs und der Anfang des humanen Miteinander. Aber wer will ein moralisch eingeschüchtertes Kind statt eines mit ungebrochenem Willen? Also gönnt man den Kleinen erst mal ihre Glückssträhne als putzige Terroristen des Alltags.
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Doch auch noch mit dreißig bleibt nette Zurückhaltung dem eigenen Fortkommen nur hinderlich. Bis die Karriere gesichert ist, muss schon noch der ein oder andere Kollege über die Klinge springen, der durch sein liebes Lächeln moralische Skrupel bzw. Zufriedenheit mit der Opferrolle signalisiert.
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Für den Glücklichen bricht die Zeit der Moral deshalb erst weit nach der Lebensmitte an. An der Spitze der Mafia mit Tränen in den Augen selber gestiftete Kinderheime einweihen – die Krönung eines schönen Lebens. Und ist nicht Gott höchstselbst der reumütige Sünder lieber als hundert Gerechte?
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449)
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Meine passive und damit wenig katholische bis antikatholische Moral: ob ein Mensch gut war, sei weniger daran zu messen, was er Gutes getan hat, als vielmehr daran, was er Schlimmes unterlassen hat.
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Je früher ein Mensch moralische Skrupel entwickelt, desto weniger Erfolg wird er haben. Wie sollte jemand, der schon im Sandkasten seine Förmchen an die Rabauken verlor, später mal ein Kinderheim stiften?
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Wer nicht zuerst einmal nimmt, kann später auch nicht geben. Sieht man sich die Menschheit richtig an, wie sie alles in Strömen ausplündert und dann tröpfchenweise Gutes tut, kann man nur das Heulen kriegen.
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450)
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Pessimismus ist auch die Feststellung, dass es keine goldene Mitte gibt.
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Lieb aber selbstbewusst, feinfühlig aber stark usw. – ist höchst unrealistisch.
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In der Mitte ist man weniger sowohl-als-auch, sondern vielmehr weder-noch.
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451)
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Ambivalente Gefühle gegenüber dem Tod sind wohl die Regel.
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Meine Gefühle gegenüber dem Tod schwanken zwischen dem allzu Verlockenden und dem allzu Verängstigenden des Großen Unbekannten und stabilisieren sich in ihrem Gegenteil: dem allzu Eintönigen des Ewig Gleichen.
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Sozusagen meine abstrahierte Version von Himmel und Hölle der Monotheisten bzw. dem All-Einen und dem Nichts der Mystiker.
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452)
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Persönlichkeitsstörung als Diagnose für sich anzunehmen ist wohl tatsächlich Zeichen einer Persönlichkeitsstörung.
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Aber all die hellen Charaktere akzeptieren einen dunklen eben nur, wenn er sich von ihnen als defizitär einstufen lässt.
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Besser als sich krank stempeln zu lassen ist es m.E., die eigene dunkle Weltsicht mit guten Argumenten zu vertreten.
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453)
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Depression und Suizid sind oft traurige Konsequenz daraus, die eigene dunkle Seele vor den anderen zu verbergen und so ganz alleine damit zu bleiben.
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Es ist schwer, andere dunkle Seelen zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen, weil die negativistische Weltanschauung als krank stigmatisiert ist.
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Solange die meisten Schwarzseher noch nicht einmal selber in einen Club eintreten wollten, der solche wie sie als Mitglieder aufnähme, sieht es düster für sie aus.
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454)
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Schwarz gilt bei uns als Farbe der Trauer wie auch als Farbe des Bösen.
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Kommt wohl nicht von ungefähr in einer Gesellschaft krampfhafter Optimisten.
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Umso schwerer für die Traurigen, selber zu erkennen, dass sie die Guten sind.
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455)
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Was wird wohl häufiger geheuchelt: Traurigkeit oder Frohsinn?
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Mag sein, dass manch traurige Miene Mitleid heischt oder Anteilnahme vortäuscht. Doch der schiere Alltag sind krampfhaft hochgezogene Mundwinkel.
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Umgekehrt müssen vorgeschobene Anlässe die offene Äußerung echten Lebensverdrusses legitimieren – so liegt das größte Verdienst von vielen Prominenten in ihren Skandalen oder gar in ihrer Beisetzung.
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456)
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Pessimistischerweise steht zu befürchten, dass es Nichtsein nicht gibt – wer oder was wollte ich also sein? Eine Frage, über die nachzudenken sich lohnen sollte, zwecks Selbstfindung bzw. Selbsterfindung.
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Angefangen von echten Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen aus meinem persönlichen Umfeld, über möglicherweise echte aus den Medien, bis hin zu Phantasiegestalten aller Art – wer oder was davon wollte ich gern sein?
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Am Ende solcher Überlegungen, die in der Suppe jeglicher Existenzform nur allzu schnell eklige Haare finden, bleibt mir streng genommen nichts übrig. So komme ich doch immer wieder darauf zurück: Nichtsein.
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457)
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Gottes Welt ist gut und am Bösen sind wir selber schuld – wer von frühester Kindheit an mit solch grässlich verpolten Lehren indoktriniert wird, leidet sein restliches Leben lang unter einer schmerzhaften Form von Wahnsinn. Üblich und deshalb unauffällig.
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Statt seinem Schicksal zürnen zu können, muss der Gläubige immerzu Angst haben, dass Gott ihm zürnt. Statt Erkenntnis zuzulassen, wie die Welt wirklich ist, verbiegt sich sein Denken solange in verwinkelte Formen, bis es auch ja nicht mehr gotteslästerlich ist.
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Am unglaublichsten ist jedoch, wie brillant die Rhetorik zu werden vermag, wo sie sich unablässig vor dem Höllenfeuer in Sicherheit zu bringen hat. Aber besser locker und unscharf richtig herum reden als gestreckt und akurrat falsch herum.
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458)
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Der Kunde ist König, aber halt leider ein dummer.
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Audiotechnik verkauft sich umso besser je dynamikärmer und basslastiger. Dabei bleibt Musikgenuss bzw. Sprachverständlichkeit auf der Strecke – was der Konsument vergeblich zu beheben versucht, indem er lauter aufdreht.
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Verzerrtes Gewummer, wohin man hört. Alles innerhalb der High-Fidelity-Norm.
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459)
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Der Kunde ist König – oder Untertan, je nachdem, wie er den Verkäufern, Obern etc. beim ersten Augenkontakt begegnet.
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Da diese den König bedienen müssen, behandeln sie zum Ausgleich eben den herablassend, welcher nicht als König auftritt.
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Kugel oder Kegel – ein Umgang auf Augenhöhe steht in den meisten Geschäften, Gaststätten etc. nicht zum Angebot.
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460)
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Nur drei Möglichkeiten, in dieser Welt glücklich zu werden: Naivität, Skrupellosigkeit oder Begabung.
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Begabung ist selten, also kann man i.a. davon ausgehen, dass Glückliche entweder unwissend oder ohne Mitgefühl sind.
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Die meisten Glücklichen halten sich jedoch für Lebenskünstler und geben ständig Empfehlungen, die nichts helfen.
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461)
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Idealismus wird von den heutigen – auch den philosophisch gebildeten – Realisten gerne in einem Atemzug mit Religion genannt und zur endgültigen Abschaffung empfohlen oder gar bekämpft.
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Als Idealist dagegen halte ich eher dogmatische Formen von Religion und Realismus für zwei Formen ein und desselben Irrglaubens: nämlich dass etwas Grundlegenderes als unser Denken feststünde.
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Realisten wie Religiöse haben das Denken noch nicht als die eigentliche Bühne des Seins erkannt – diesen subjektivistischen Groschen zum Fallen zu bringen bleibt weiterhin eine idealistische Aufgabe.
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462)
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Vom körperlich orientierten Menschen zum geistig orientierten, vom lauten und hektischen Menschen zum leisen und ruhigen – mir als Idealisten bleibt diese Richtung weiterhin klar. Retro-Style aber lenkt gegen und erklärt jenes Vorhaben für gescheitert. Ist das nicht arg überhastet? Historisch ist der Idealismus doch noch blutjung!
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Religion i.S.v. Kirche verordnete ihre hehren Lehren streng von oben – Idealismus ist besser eine freiwillige Bewegung von unten. Eigentlich will doch jeder Ordnung in seinen Kopf kriegen, alle wollen ihre Welt verstehen. Ist die bewusste Einstellung dieses Projekts nicht ein allzu gefährlicher Versuch, wieder zum Tier zu werden?
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Freier Bildungszugang für jedermann wäre nötig, um dem Ziel des Homo Cogitans näher zu kommen. Und zwar Bildung, die sich nicht elitär und verquast gibt, sondern offen und verlockend. Die den Wissbegierigen dort abholen will, wo er steht. Und jeder Verständnisschritt selber Belohnung genug ist, statt auf fernen Nutzen zu vertrösten.
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463)
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Hedonisten sehen nur Füchse, die an die fetten Trauben rankommen, und Füchse, denen sie zu hoch hängen.
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Aber es gibt auch Füchse, welche die Trauben zwar erreichen, aber hängen lassen, weil sie ihnen nicht zustehen.
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Früher wurde Bescheidenheit hoch geschätzt. Heutzutage wird sie gering geschätzt bzw. als Störung behandelt.
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464)
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Gesundheitliche Beschwerden bleiben bei ihrer medizinischen Untersuchung in der Regel ohne objektiven Befund.
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Wer das oft genug erlebt hat, begreift vielleicht irgendwann, dass Leben auch als offiziell Gesunder in erster Linie Leiden ist.
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Oder er wird in den Händen der Ärzte wirklich krank und hat den Lebensbejahern endlich ein gültiges Leiden vorzuweisen.
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465)
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Werdet wie die Kindlein – oder bleibt am besten gleich welche; in dieser Hinsicht scheinen christlich orientierte Tradition und spaßorientierte Postmoderne seltsam einig.
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Lärmende Ausgelassenheit verärgert mich umso mehr, je älter die Störenfriede sind, je reifer sie also eigentlich schon sein könnten.
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"Du warst früher auch mal lauter!" kommentieren Verwandte und Bekannte meinen Ruhefimmel. Gewiss war ich das – aber erstens: da war ich halt noch jung und dumm, und zweitens: so laut war ich nun auch wieder nicht.
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466)
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-ismus hat seine Selbstwidersprüchlichkeit oft von vornherein eingebaut. Skeptizismus muss sich selber bezweifeln, Pluralismus kann keinen -ismus neben sich tolerieren usw.
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Pessimismus hält die Welt für die schlechteste aller möglichen. Welche Erleichterung: da keine weitere Verschlechterung mehr droht, kann jegliche Bemühung aufgegeben werden.
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"Malismus" – i.S.v. immer schlimm aber schlimmer geht immer – vermeidet diese Paradoxie. Das Nichts bleibt vorzuziehen aber unerreichbar, Unachtsamkeit reißt einen noch tiefer rein.
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467)
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Der Fehler steckt in folgendem Dreieck: a) Ich halte mein Leben für schlechter als das Nichts. b) Die anderen halten ihr Leben für besser als das Nichts. c) Ich halte mein Leben für besser als das der anderen.
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Nach meiner Ansicht hinkt b): Das Leben der anderen ist auch schlechter als das Nichts, sie verdrängen diese Tatsache nur mit aller Macht. Weil es das Ende der Lebensfreude bedeutete, das zugeben zu müssen.
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Vielleicht ist es ja das Prinzip des normalen Lebens, dass nicht sein darf was nicht sein soll. Und wer die Wahl hat zwischen wahrer Traurigkeit und falscher Fröhlichkeit, üblicherweise letztere nimmt. Ich nicht => c).
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468)
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Himmel bzw. Eudaimonismus ist das Höchste. Ewiges Glück ist nicht langweilig, da Langeweile eine Form von Unglück ist.
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Ruhe bzw. Quietismus ist Zufriedenheit mit dem Zweitbesten. Ewige Ruhe ist nicht langweilig, da Langweile eine Form von Unruhe ist.
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Ich wünsche mir damit nur das, worauf ich ein Recht zu haben meine. Eigene Ruhe kann ich mir vorstellen, eigenes Glück nicht.
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469)
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Peinliches Schweigen kommt im Alltag der Kultivierten nur selten auf, dank Smalltalk.
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Warum nicht still den eigenen Gedanken nachhängen, bis es wirklich was zu sagen gibt?
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Zumal man bei jenem hohlen Gerede ja auch noch so tun muss, als wär alles prima und lustig.
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470)
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Der Teufel steckt im Detail? Postmoderner Partikularismus schafft das Generelle ab, zugunsten des Speziellen.
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Der Engel steckt im Detail! Genau deshalb will keiner mehr aufs Ganze blicken. Ist verpönt, weil es dem Pessimismus Recht gibt.
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Aber so schöne Lebensfeinheiten die Glücksritter auch bergen mögen: das Ganze ist bzw. bleibt das Wesentliche – im Argen liegend.
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471)
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Recht auf Lebensfreude – woher sollte ein solches kommen, solange diese Freude nur um den Preis der anderen Leid zu haben ist?
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Je tiefer die anderen Lebewesen in unserer Hierarchie stehen, desto rechtloser sind sie, desto bedenkenloser beuten wir sie aus.
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Notwehr dürfte die einzige Rechtfertigung sein, anderen Schaden zuzufügen. Und diese Not endet schon in der Ruhe, nicht erst im Glück.
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472)
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Gibt es ein Recht auf ruhiges Leben, solange das durchschnittliche Lebewesen viel mehr Leid als Freude erlebt?
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Müsste sich der berechtigte Lebensstandard des Einzelnen nicht aus dem mittleren Leidensstandard aller herleiten?
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Zum Glücksverzicht aus Solidarität erkläre ich mich noch bereit – zum Ruheverzicht aus Solidarität nicht mehr.
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473)
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Was ist zuerst? Sehendes Denken, blinder Wille, tote Materie?
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Das Eigenste und damit Erste ist mir das sehende Denken.
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Und dieses muss und soll, statt einfach nur zu wollen oder zu sein.
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474)
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Eingehen auf den Lebensmüden – das könnte auch bedeuten, mit ihm zusammen seine Gedankengebäude über die Schwierigkeit des Lebens weiterzubauen.
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Pathologisierung von Suizidalität tut genau das Gegenteil – sobald jemand wiederholt von der Schlechtigkeit der Welt redet, wird ihm dringend ein Gang zum Arzt empfohlen.
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Die Assoziation von depressiver Verstimmung (sic!) und Krankheit ist so in, die zugrunde liegende pessimistische Philosophie so out, dass viele daran eingehen.
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475)
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Christen, Kommunisten, Faschisten u.a. sind zwar out, haben aber Foren, wo sie ihre Ansichten austauschen und pflegen.
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Pessimisten sind per se keine Kämpfer, also betreiben sie keine Foren. Es ginge uns eh wie den Faschisten: viele Gegner brüllen die wenigen Gleichgesinnten nieder.
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Teile und herrsche, sagt sich da die Gesellschaft: Pessimisten lieber einzeln zum Arzt schicken als in Ruhe miteinander reden lassen.
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476)
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Suizidale werden Suizidenten, weil gegen ihr negatives Lebensbild ein weniger negatives, neutrales oder positives Todesbild steht.
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Suizidale werden Suizidenten, weil sie keine Bezugspersonen mit ebenfalls negativem Lebensbild haben bzw. finden können.
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Suizidale werden Suizidenten, weil sie es für inakzeptabel halten, ein negatives Lebensbild zu haben bzw. offen zu vertreten.
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477)
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Pessimismus ist andauernde Traurigkeit für Fortgeschrittene.
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Ihnen ist bewusst geworden, dass sie zu Recht andauernd traurig sind.
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Anfänger lassen sich noch einreden, dass sie falsch denken oder krank sind.
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478)
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Einig bin ich schon mal mit allen, die der Meinung sind, dass wir nicht wissen können, was im Tod auf uns zukommt.
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Einiger noch bin ich mit denen, die sich damit nicht zufriedengeben und philosophische Hypothesen aufstellen.
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Am einigsten bin ich mit jenen, die eine endlose zyklische Lebensstruktur annehmen, mit dem Tod als Lebensphase.
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479)
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Sonderlinge, die alleine in der Öffentlichkeit herumkrakeelen und damit alle und keinen meinen, treffen bei mir auf immer mehr Verständnis.
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Zwar äußere ich mich schriftlich und überlegt, dennoch vermute ich eine ähnliche Motivation: auf Dauer nicht schweigen können, wo alle plärren.
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Kinder lässt man heute laut sein, damit sie keine Opfer werden. Die Eltern, falls anwesend, schreien noch lauter. Wir übrigen müssen damit klarkommen.
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480)
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Leibniz' Optimismus der besten aller möglichen Welten und Schopenhauers Pessimismus der schlechtesten aller möglichen Welten erklären sich wohl am sinnvollsten als philosophische Idealisierungen bzw. begriffliche Radikalisierungen.
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Doch diese mit doppelten lateinischen Superlativen hervorstechenden Denkmodelle wurden einst – ihrer Zeit gemäß – als real präsentiert. Und bleiben gefährlich, sofern – wie zuvor Himmel und Hölle – von den Rezipienten als real genommen.
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Unter Pessimismus verstehe ich heute, dass die Welt im Grunde als schlecht zu bewerten sei, besser nicht existierte. Dass eine noch schlechtere unmöglich sei, gar nicht mehr existieren könnte, ist vergleichsweise absurd anmutende Spekulation.
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481)
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Pessimismus im extremen Sinne der Schopenhauerschen Behauptung, dass wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben, könnte aus der Notwendigkeit heraus erdacht sein, christlicher Höllendrohung zu begegnen. Denn wer bereits diesseits in der Hölle schmort, braucht eine jenseitige nicht mehr zu fürchten.
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Nihilismus in dem epikureischen Sinne, dass wir alle des Nichts seien – was uns aber nicht zu kümmern brauche, weil wir dann ja nicht mehr seien – war wohl auch schon im Wesentlichen die Reaktion auf Panik hinsichtlich eines noch schlechteren Daseins in der griechischen Unterwelt.
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Je mehr ich darüber sinniere, desto weniger allein fühle ich mich mit meiner Höllenangst. Vielleicht ist sie gar das Problem der Menschheit schlechthin.
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482)
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Himmel und Hölle meinen keine ewigen jenseitigen Orte, sondern zeitlose diesseitige Zustände – so entschärft moderne Religionslehre den Volksglauben. Darin steckt die philosophische These, dass es zumindest Momente im Leben gibt, die besser bzw. schlimmer nicht sein könnten.
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Erst mal nur als Ausnahme. Unser irdisches Leben könnte regelmäßig viel besser und auch viel schlechter sein, befindet sich normalerweise zwischen den Extremen. Optimismus und Pessimismus im strengsten Sinn bestreiten das – für sie ist das Leben stets am positiven bzw. negativen Anschlag.
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Ich glaube ersteres: das Leben könnte fast immer viel besser bzw. viel schlimmer sein. Und füge hinzu: den meisten, die es sich bewusst zu machen wagen, bleibt es dabei schlechter als Nichtsein. Himmel und Hölle sind außerordentliche Glücks- bzw. Leidenstaumel, in denen vergleichende Ratio aussetzt.
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483)
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Harte Bandagen, so früh wie möglich angelegt, bringen ihre Träger in den Himmel der Ruchlosen. Für die damit Niedergeboxten bleibt die Hölle.
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Nachdem der unfaire Kampf zwischen Kampflustigen und -unlustigen gelaufen ist, wählen die Verlierer allenfalls, ob sie den Siegern verzeihen oder nicht.
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Aber in der Hölle landen sie beidenfalls: weil sie den Angreifern verzeihend auch noch den letzten Sieg schenken oder weil sie an ihrem Groll verbittern.
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484)
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Christliches Verzeihen hat etwas Widersinniges: während der Gläubige vergeben soll, legt ihm sein Glaubenssystem zugleich die psychopathische Genugtuung nahe, dass Übeltäter auf ewig in der Hölle brennen werden.
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Noch seltsamer, wenn die Gläubigen angewiesen sind, den Himmel für alle zu erbitten. In diesem Fall wären sie besser als ihr Gott, der zumindest die Möglichkeit der Hölle eröffnet, selbst wenn sie dann doch leer bleiben sollte.
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Immerhin lässt der Begriff der Hölle aber etwas bedenken, was mit meinem zyklischem Lebensmodell vielleicht außer Acht gerät: dass es Entscheidungen gibt bzw. geben könnte, die unumkehrbar und auf ewig zu bereuen sind.
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485)
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Tadellose sind es, die sich unter der Fuchtel der Sünder allzu bald wünschen, dass deren Übeltaten niemals verziehen werden mögen.
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Frevelhafte sind es, die sich umgekehrt wünschen, dass immer wieder von Neuem mit weißer Weste begonnen werden könne.
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Mir sind die Tadellosen mit Zornesfalten auf der Stirn lieber als die Frevelhaften mit Lachfältchen – aber damit bin ich inzwischen allein.
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486)
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Die Mitte zwischen Generalamnestie per Allerlösung und ewiger Höllenstrafe ist doch ganz einfach: jeder büßt seine Übeltaten Auge um Auge, Zahn um Zahn.
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Ist es nicht verwunderlich, wie sich die christlichen Vorstellungen ausgleichender Gerechtigkeit vom Nächstliegenden zum Fernstliegenden fortentwickeln?
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Nach dem Nichts wäre das Gerechteste ein ewiges Leben zwischen Himmel und Hölle, in welchem sich jeder mit seinem Karma hinauf- und hinabarbeitet.
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487)
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Aufklärung i.S.v. zunehmender Einsicht der Menschheit ins Gute, Wahre und Schöne kann ich mir ansatzweise vorstellen.
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Religionen aber haben sich mit der Zeit eher verschlechtert. Meine Rangliste der großen drei: a) Hinduismus, b) Christentum, c) Islam.
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Zunehmende patriarchalische Strenge passt aber wiederum zur zunehmenden "Einsicht" in den menschlichen Machtwillen.
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488)
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Schlafende weckt man natürlich aus ihren Albträumen, Schmerzpatienten schickt man mit Halluzinogenen regelmäßig ins Traumland – solche Wechsel von Bewusstseinszuständen werden i.a. recht entschlusskräftig herbeigeführt.
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Besser wach als albträumend, besser halluzinierend als schmerzgeplagt – so selbstverständlich, dass kaum jemand darüber spricht. Wer seine Albträume träumen wollte, wer seine Schmerzen spüren wollte, der gälte als seltsam.
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Und wann ist es besser, lebendig bzw. tot zu sein? Vom Übergang zwischen diesen Bewusstseinszuständen lässt man hingegen die Finger. Mit ähnlicher Auswirkung: es findet keine Diskussion darüber statt, hier bleiben wir Anfänger.
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489)
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Christliche Ewigkeitsgestaltung mal pragmatisch nachvollzogen: Die lieben Schafe im irdischen Nachteil sind so lieb nun auch wieder nicht, um sich vom Jenseits nur einen gerechten Ausgleich zu erhoffen – dort soll sie vielmehr ein bleibender Vorteil gegenüber den bösen Wölfen belohnen.
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Und die bösen Wölfe im irdischen Vorteil ließen sich ihrerseits wohl kaum abschrecken, wenn unter dem Schlussstrich eh für jedes Tier dieselbe Summe von Freud und Leid stünde – denn es bliebe damit einfach Geschmackssache, ob man zuerst die Rolle des Räubers oder die des Beraubten wählt.
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Ein Jenseits, das nur Auge um Auge, Zahn um Zahn rächt, gäbe höchstens den Vernünftigen zu denken. Die christliche Wette aber bietet für den winzigen weil endlichen Einsatz einen riesigen weil ewigen Gewinn – gerecht ist das eigentlich nicht. Wieso trägt der Christengott diesen Titel trotzdem?
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490)
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Gut sein zu den Schwachen klingt erst mal nach einer prima Idee, die von Natur aus unethische Welt zu einem besseren Ort zu machen.
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Dies kann jedoch immer nur besondere Geste bleiben, weil das Leben allgemein auf der Ausbeutung alles Schwachen beruht.
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Christen mit gutem Gewissen bemerken nicht, dass sie nur im Kleinen schenken können, während sie im Großen rauben müssen.
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491)
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Einfach Abstraktes soll mich schließlich aus diffizil Konkretem erlösen.
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Ein Philosoph, der z.B. historisch immer feiner differenziert, vertut sich.
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Jedenfalls dann, wenn er eigentlich noch Wesentliches sucht.
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492)
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Bergpredigt-gemäßes Handeln scheint die sozial Aktiven eher in den Burnout als in den Himmel zu führen.
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Religiöse Verkündigung als praktische Umsetzung philosophischer Erkenntnis ist eben fehleranfällig.
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Mir hilft nicht das Helfen, sondern die Beruhigung, dass mein individuelles Leid Teil des allgemeinen ist.
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493)
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Helferberufe halfen wohl immer zuerst den Helfern selber, verliehen ihnen große Macht über ihre Schützlinge.
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Weil die Schützlinge sich heute aber wesentlich weniger gefallen lassen, brennen die Helfer psychisch aus.
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Neokonservative Lösung: superdominante Helfer und dominante Schützlinge drangsalieren den ruhigen Rest.
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494)
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Das Leben ist nicht schön, der Tod ist keine Erlösung.
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Erstere schlimme Erkenntnis findet Ruhe in letzterer.
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Könnte zukünftiger pessimistischer Weitblick die gegenwärtige Carpe-Diem-Panik ablösen?
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(Pessimistisch gesehen: nein.)
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495)
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Stur behaupten die Klugen und Schönen, es läge vor allem am eigenen Engagement, wie das Leben gelinge.
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Das ist weder klug noch schön von ihnen. Startschuss zum Glück i.S.v. angenehmem Leben ist Glück i.S.v. zufälligem Vorteil.
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Die so Beschenkten vergrößern ihren Vorsprung auf Kosten der Benachteiligten weiter und nennen es erarbeiteten Erfolg.
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496)
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Differenzierte Betrachtung, genaue Fallunterscheidungen, exakte Zahlen – in Naturwissenschaft und Technik gibt solches Vorgehen zu Recht den Ausschlag, zeigt Fleiß und Wahrhaftigkeit.
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Versuche scharfer Abgrenzung wirken jedoch spätestens dann komisch, wenn Religion sie unternimmt. Dogmatische Tabellen mit soundsoviel Sorten von Karma, Sünde etc. desavouieren diese Begriffe.
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Insbesondere naturwissenschaftlich auftretende Esoterik stellt sich selbst ein Bein. Wenn Mystiker wortreich die Relativitätstheorie umarmen, kann sogar ein Pessimist nur schwer ernst bleiben.
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497)
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Falsifizierung ist auch so eine Methode aus der Wissenschaft, die sich unberechtigterweise in alltäglichen Diskussionen breit macht.
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Ein Gegenbeispiel zu finden mag zum Widerlegen einer wissenschaftlichen Theorie genügen – im Alltag jedoch bestätigen Ausnahmen die Regel.
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Herausstellen ungewöhnlicher Fälle berührt allgemeine Aussagen nur am Rande. Südländer sind einfach lauter – ist doch wahr!?
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498)
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Südländische sog. Gastarbeiter wurden von uns leisen Softies bereits damals respektiert, als laute Hardliner noch "Ausländer raus!" brüllten.
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Heute kommen laute Hardliner und temperamentvolle Immigranten miteinander klar, uneingeschüchtert sind letztere i.d.R. ja auch laute Hardliner.
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Leider steht kaum zu hoffen, dass sich in einer dritten und letzten Phase laute Hardliner gleich welcher Herkunft zu leisen Softies wandeln.
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499)
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Untergang – mit diesem Szenario kommt der Kulturpessimist inzwischen bestens zurecht. Es herrscht Partystimmung!
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Zahllose Drohungen todbringender Zivilisationsfolgen prasseln nun seit Jahrzehnten auf uns ein – das macht gleichgültig.
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Besonders dann, wenn man sich unter dem Untergang das Nichts statt der Hölle vorstellt – also eigentlich eine Erlösung.
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500)
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Kulturpessimisten sind gern Naturoptimisten. Ich bin zwar auch Kultur-, aber mehr noch Naturpessimist.
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Moral ist m.E. nicht nur gut gemeint, sie ist wirklich die beste Erfindung der Kultur zur Naturkorrektur.
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Dennoch traue ich auch der Kultur nicht zu, die Welt von einer natürlichen in eine gute wenden zu können.
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501)
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Jugendbewegungen gehören per se eher der Romantik als der Ratio, verteidigen in der Gesellschaft das Rauschhafte gegen das Nüchterne.
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Pfadfinder oder Halbstarke, Hippies oder Punks – trotz Differenzen, gar Feindschaft untereinander streben doch alle vom Denken weg zum Fühlen hin.
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Schön und gut, solange sie anschließend noch erwachsen werden. Falls sich jedoch Jung-Sein weiter so durchsetzt, bleibt auch das Chaos im Kopf.
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502)
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Lebensverneinend weiterleben ist nicht widersinnig, wenn die pessimistische Weltsicht den Tod mit einschließt.
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Sich aktiv das Leben nehmen erfordert genau genommen nicht nur Lebensverneinung, sondern auch Todesbejahung.
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Selbst passiver Suizid i.S.v. Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen ist evt. eine asketische Meisterleistung.
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503)
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Befreite Frauen entpuppen sich als unterdrückerisch, befreite Schwule als stockkonservativ, befreite Immigranten als fremdenfeindlich.
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Das Schlimmste an den langwährenden Misshandlungen dieser Welt ist, dass die Eigenschaften der Täter sich zwangsläufig auf die Opfer übertragen.
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Als Kind missbraucht und dadurch als Erwachsener pädophil – vor solchem Schicksal verschließen die Lebensfrommen ihre Augen, können nur verfemen.
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504)
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Schopenhauer hat den Pessimismus meisterhaft durchdekliniert.
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Bislang drängte es mich noch gar nicht, genauer nachzuvollziehen, wie er dies getan hat. Denn v.a. dass er dies getan hat, ist für mich kaum zu überschätzende Lebenshilfe gewesen.
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Schopenhauers Leben ist der offizielle Beweis: dass das Leben eine missliche Sache sei, muss nicht vergebliches Fazit, sondern kann auch feste Grundposition denkerischen Lebens sein.
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505)
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Ruhe hebt das intellektuelle Niveau, Unruhe senkt es. Alles was "Leben in die Bude bringt", verhindert Nachdenken über das Leben. Besinnliche Stimmung ist immer weniger erwünscht, der Blick aufs Ganze deprimiert nur.
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In der Gruppe mit Hund z.B. versucht ständig einer, das aufgeregte Tier im Befehlston von etwas abzuhalten. Dabei kommt kein tieferes Gespräch zustande. Wahrscheinlicher Zweck der Übung: bloß nicht ins Grübeln kommen.
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Ist erst am Lebensende die rechte Zeit zur Besinnung? Noch später, im Tod? Niemals? Der Philosoph wagt es, in jeden Lebenszyklus Bedenkzeit einzubauen. In den von Morgen und Abend, evt. gar in den von Ein- und Ausatmen.
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506)
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Popmusik hat oft philosophisch anmutende Texte. Vielleicht beziehen die meisten Leute ihre Lebensphilosophie ja aus den allgegenwärtigen Chartsongs!
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Reim und Rhythmus, Melodie und Timbre als Gleitmittel für die Message der Lyrics – ob der Philosophie (oder der Musik) damit wirklich gedient ist?
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Naja, eigentlich wollen wohl auch meine "Dreisätze" gut flutschen, dieweil sie in genehmer Struktur bzw. in prägnanten Häppchen daherkommen.
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507)
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"Das starke Geschlecht!" höhnt die Krankenschwester, als ihrem Patienten beim Blutabnehmen schlecht wird. Leicht vorstellbar.
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"Das schöne Geschlecht!" höhnt der Krankenpfleger, als seine Patientin Hängebrüste vor ihm entblößt. Schwer vorstellbar.
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In puncto verbale Attacken auf die seelisch empfindlichsten Stellen fehlt noch so einiges zur Gleichbehandlung von Mann und Frau.
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508)
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Pessimismus heißt für mich, sich seines Ekels vor Leben bzw. Welt so gewiss zu sein, dass nichts anderes auch nur annähernd so sicher ist.
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Jeden verdammten Tag Situationen erleben zu müssen, die einen nur angewidert feststellen lassen: "Das darf doch alles nicht wahr sein!"
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Und nicht im entferntesten daran glauben zu können, dass dem nachhaltig abzuhelfen sei. Stattdessen zu begreifen: war so, ist so, bleibt so.
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509)
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Der Tonfall der Stimme eines Menschen ist chronische Manifestation der Haltung, die er der Welt gegenüber einnimmt oder einzunehmen versucht: gütig, fröhlich, traurig, energisch etc. Darin spiegelt sich auch der Zeitgeist.
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Ganz groß in Mode: höhnisch. Die medial meistgehörten Moderatoren- und besonders Moderatorinnenstimmen triefen vor Hohn. Wollen mit ständig impliziertem "Ho, ho, ho!" drüberstehen über allen Unzulänglichkeiten.
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Härte, Stolz, Entschlossenheit klingen da mit. Nur nicht weich sein, nur nicht bescheiden sein, nur nicht zögerlich sein, das ist die Hauptsache. Selbstbewusstsein schlägt Kompetenz um Längen. Wär doch gelacht, "ho, ho, ho!".
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510)
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Schallwellen – die Luft ist wie ein Basin, das ich leider mit vielen teilen muss, die ausgelassen plantschen und spritzen.
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Im Wasser gibt es mehr Regeln. Ruhige Badende haben Rechte, Bademeister weisen die Rowdies in ihre Schranken.
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Lärmer kriegen vergleichsweise null Schwierigkeiten, leben im anarchischen Paradies. Wiegen Schallwellen nicht genug, um zu zählen?
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511)
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Atheist bzw. Ungläubiger – passen diese Begriffe besser auf den Materialisten oder auf den Pessimisten?
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Wer glaubt, im Tod sei alles vorbei, ist m.E. gläubiger als einer, der glaubt, sein Leiden währe ewig.
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Aber das ist so ähnlich, als wolle man sich darüber streiten, ob das Gegenteil von 1 nun 0 oder -1 ist.
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512)
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Gegenteile bildet Sprache oft mit einer negierenden Vorsilbe – ist das nur Nachlässigkeit oder optimistische Taktik?
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Ist etwas schon schlecht, wenn es ungut bzw. nicht gut ist? Also mit dem Unhimmel i.S.v. Nichts im Tod wäre mir geholfen, mit der Hölle nicht.
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Diese positivistische Idee, null sei das niedrigstmögliche, hat etwas grob Verharmlosendes. Der Untergang verliert seinen Schrecken.
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513)
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Die Zeiten der Vernunft sind vorbei. Heute ist man kämpferisch statt vernünftig, setzt sich durch statt im Recht zu sein.
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Leider auch die Frauen. Früher sah ich sie als Bundesgenossinnen der Sanftheit in einer kämpferischen Männerwelt.
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Begegnet mir einer bzw. eine mit diesem kämpferischen Blick, behalte ich vernünftige Vorschläge für mich. Ruhe ist mir lieber.
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514)
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Individuelles Bewusstsein ist nach meiner Befürchtung nur eine Manifestation des kollektiven Bewusstseins.
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Individuelle Selbsttötung ist insofern zu kurz gegriffen, als sich damit das Problem des kollektiven Bewusstseins nicht löst.
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Aber auch auf der kollektiven Ebene fragt sich wieder: ist Bewusstsein ewig oder endlich bzw. irgendwie totzukriegen?
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515)
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Materialismus, östliche und westliche Religion stehen für drei Stufen ethischer Verantwortlichkeit.
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Auf Stufe 1 wird im Tod generalamnestiert, auf Stufe 2 behält jeder sein Konto sprich Karma fürs nächste Leben und auf Stufe 3 wird ultrahart auf- bzw. abgerundet: Himmel oder Hölle auf ewig.
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Erstere vernachlässigt m.E. die Moral und letztere pervertiert sie. Beidenfalls aber geht es um Risiko und Gewinn. Der Wettbewerb hat den Westen leider fest im Griff.
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516)
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Materialisten können entweder ihren Geist besser zügeln als ich, oder sie müssen sich ihr Leben auch als endlos vorstellen – nur eben vorn und hinten auf Nulllinie.
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Denken sich da eine Zeit, die auch ohne ihr Beisein vergeht. Noch nicht mal der bewusst erlebte Abschnitt muss sie allzu viel kümmern angesichts leidloser Ewigkeit.
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Fasziniert es Materialisten deshalb so sehr, naturwissenschaftlich forschend in unendliche Weiten vorzustoßen, weil die ihnen Gottisttot sei Dank schön egal sein können?
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517)
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Sogar die Glücksfrommen geben zu, dass einem sein Glück erst richtig bewusst wird, wenn es schon wieder vorbei ist.
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Liegt wohl daran, dass gerade riesige Tomaten auf den Augen haben muss, wer diese Welt mal rundum gut findet.
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Echtes Glück wäre, währenddessen glasklar zu sehen, wie glücklich man ist. Aber nein. Augen zu: Glück; Augen auf: Unglück.
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518)
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Das eigene Dasein ist etwas Schreckliches und unwillkürlich so Vorgefundenes.
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Jedes Neugeborene ist darüber entsetzt, nur zu missdeuten von hormonell Umnebelten.
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Das weitere Leben ist verzweifelte Reaktion auf dieses Geworfensein, Verdrängung dieses Unglücks.
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519)
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Die meisten sind Christen oder Realisten.
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Ich habe zweimal meinen Glauben verloren: a) den an einen richtenden Gott, b) den an einen erlösenden Tod.
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Mein Leben bleibt absolut schlecht, aber relativ gut.
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520)
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Weinen zeigt nur, dass ich leide.
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Schreiben kann schon zeigen, wie ich leide.
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Philosophieren erst versucht zu zeigen, warum ich leide.
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521)
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Rap, Comedy etc. lassen v.a. konkrete Wut aus, über individuell benannte Menschen und Sachverhalte.
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Manch Gutwilliger wird schwer geschädigt, sich als dumme Prügelknaben Verdingende werden Stars.
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Ich äußere v.a. Traurigkeit, über Generelles. Tut keinem weh, es sei denn er identifiziert sich selbst mit Gott, Welt, Leben usw.
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522)
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No risk, no fun – durchaus mein Motto, aber andersrum verstanden.
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Gehe besser kein Risiko ein, auch wenn so der Spaß ausbleibt.
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Der Schaden ist länger unangenehm als der Spaß angenehm.
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523)
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Wer sich das Nichtsein so sehr wünscht wie ich, mag Trost darin finden, wer oder was er momentan alles nicht sein muss.
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"Ich beneide jeden, der lebt." sagt O. Spengler – ist mit solcher Lebensbejahung die stärkste Empfindung etwa der Mangel?
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So gesehen ist der Pessimist eigentlich näher am Ziel: selbst noch mit allem Seienden mitleidend ist er doch nahezu nicht.
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524)
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Nicht genug, dass fast alle auf lebensbejahende Optimisten machen.
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Fast alle lebensverneinenden Neo-Schopenhauerianer sind – im Gegensatz zu Schopenhauer – materialistische Realisten, die an das Nichts im Tod und damit an die individuelle Selbsterlösung des Menschen durch Suizid bzw. an seine kollektive Erlösung durch atomaren Overkill o.ä. glauben.
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Echte Pessimisten, die das Leid für ewig halten, find ich leider keine mehr.
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525)
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Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich fassen, dass es so grundsätzlich in Mode kommen konnte, das Subjektive sich aus Objektivem zusammengesetzt zu denken.
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Wahnsinn, leblose Grundbestandteile unserer Welt anzunehmen. Wir modeln unbekümmert an diesem Objektiven herum und müssen mit dem sich daraus subjektiv Ergebenden leben.
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Man stelle sich vor, an einem Bild sinnvolle Veränderungen vornehmen zu wollen, nachdem man seine Sichtweise auf eine analytische Pixel-Ebene fixiert hat. Aussichtslos eben.
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526)
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Wer sich dauernd nach dem Paradies sehnt, hat seine Betrachtung der Welt auf die Reichen und Schönen fixiert.
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Wer sich dauernd nach Bewusstlosigkeit sehnt, hat seine Betrachtung der Welt auf das Objektive bzw. Dingliche fixiert.
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Erst seit ich mein Sein mit dem aller anderen Lebewesen vergleiche, lässt diese verdammte Sehnsucht etwas nach.
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527)
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Selbstmord ist keine Lösung – das beteuern seltsamerweise auch die Hilfseinrichtungen mit naturalistischer Grundeinstellung.
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Aber wenn es wirklich stimmt, dass Bewusstsein eines biologisch intakten Nervensystems bedarf, dann ist Suizid die Lösung schlechthin.
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Wieso es nicht zugeben? Falls die Materialisten Recht haben, dann tauschte sich besser jedes schlechte Leben gegen das Nichts.
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528)
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Lernverdrossenheit aus Lebensverdrossenheit – die materialistische Gesellschaft übersieht geflissentlich den Zusammenhang zwischen ihrer zornigen, nicht mehr erziehbaren Jugend und ihrem Götzen, dem Nichts.
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Die Gesellschaft im allgemeinen und die Eltern im besonderen holen nach realistischer Auffassung ihre Kinder mit voller Absicht in ein qualvolles Leben, das ihnen im Nichts erspart geblieben wäre.
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Wer leidet und fest an das Nichts als Seinsalternative glaubt, greift evt. zur Waffe und hält das Unrecht Leben im erweiterten Suizid ein gutes Stück weit auf. Verständnislosigkeit hierfür ist ignoranter als Amoklauf.
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529)
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Monotheismus, Materialismus und Wiedergeburtslehre gibt es je in pessimistischer und optimistischer Ausführung, historisch haben sie auch alle ihre Anhänger gefunden.
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Den gefürchteten Herrgott mit seiner Hölle, das vergängliche weil vom süßen Nichts umrahmte und das ewiglich wiederkehrende irdische Leid hab ich auch in meiner Historie durchgemacht.
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Den geliebten Schöpfer mit seinem Paradies, das einmalig kostbare weil vom bitteren Nichts umrahmte und auch das ewiglich steigerbare irdische Glück kenn ich nur vom Hörensagen.
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530)
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Der schlimmste Pessimismus ist die Erwartung einer idealtypischen, also ewig schlimmstmöglichen jenseitigen Hölle, der beste Optimismus die eines Himmels.
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Der zweitschlimmste Pessimismus ist die Erwartung fortgesetzter Reinkarnation in ein je schlechtes irdisch-reales Leben, der zweitbeste Optimismus die in ein je gutes.
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Der drittschlimmste Pessimismus einer negativen Bewertung des einmalig-endlichen irdischen Lebens und der drittbeste Optimismus einer positiven stehen gemessen an oben genannten schon fast pari.
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531)
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Religionswissenschaftlich sind all die historisch vorzufindenden Spielarten religiöser Jenseitsmodelle hochinteressant. Nach einigem Studieren bekommt man den Eindruck einer Art Vollständigkeit – wohl so ziemlich alle wesentlichen Möglichkeiten von Jenseits sind ersonnen und vertreten worden.
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Philosophisch besorgniserregend ist die Tatsache, dass diese Jenseitsmodelle keine Hypothesen bzw. theoretischen Vorschläge sein sollten, sondern von den jeweiligen Religionsstiftern sozusagen praktisch am Volk ausprobiert wurden durch Missionierung als felsenfeste Wahrheit.
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Ist das die letzte Konsequenz einer philosophischen These: Wahrheitsanspruch dafür zu erheben? Mag sein, dass handlungsorientierte Menschen das so sehen. Ich denke aber, dass sie genau damit das Gebiet der Philosophie verlassen. Absolute Wahrheiten sind philosophisch unseriös.
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532)
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Religionsstiftern vorzuwerfen, dass sie sich eine ihnen vernünftig erscheinende Volkslehre ausdenken und dann ihre Wahrheit als von oben eingegeben behaupten, ist vielleicht ein Irrtum von Philosophen, die noch keine höheren Eingebungen als ihre eigenen Ideen erleben durften bzw. mussten.
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Nahtoderfahrungen, Erscheinungen, meditative oder durch Einnahme von Drogen induzierte Erlebnisse hinterlassen evt. unüberbietbar starke Eindrücke höherer Macht, die sich ihres Mediums nach Belieben bedient bzw. es sozusagen unabweisbar beauftragt, seine höhere Wahrheit zu verkünden.
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Als einer, den religiöse Erziehung, Nahtoderfahrungen u.a. zum Philosophieren drängten, bewege ich mich zwischen höheren und eigenen Wahrheiten. Letztere helfen erstere zu relativieren. Wie es ist, als echter Philososph aus freien Stücken nach der Wahrheit zu suchen, weiß ich nicht.
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533)
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Hör auf, Wellen zu machen (Stop making waves) – so könnte ein quietistisches Motto lauten.
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Der Realist als Dinge Sehender ist sich selber erst mal Teilchen mit Abmessungen im Meterbereich. Klein und harmlos?
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Als Wellenquelle betrachtet ist sein Wirkungsradius aber um viele Zehnerpotenzen größer. Machen sich sorglose Naturen allzu selten klar.
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(Und als Interferenzmaximum eines Wellenfeldes reichen seine Konstituenten evt. durchs ganze Universum. Nur was für Esoteriker?)
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534)
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Pessimisten streben i.a. zum Besseren hin wie die Optimisten auch – nur dass sie sich eben keine Illussionen über den Status Quo und die Chancen seiner positiven Wandlungsfähigkeit machen. Optimisten sehen sich schon auf halbem Weg vom Menschen zum Gott, Pessimisten empfinden sich eher als Tiere, für die das Ideal der Menschlichkeit in allzu weiter Ferne leuchtet.
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Aus dem optmistischen Blick auf die Welt resultiert Tatendrang bis hin zur Tollkühnheit, aus dem pessimistischen Vorsicht bis hin zur Angststarre. Optimisten meinen, dass strenge Reglements und daraus resultierende Unbeweglichkeit an allem Unglück schuld seien, Pessimisten meinen genau im Gegenteil, dass wir erst einmal zu Ruhe und Ordnung finden müssten.
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Aber noch typischer ist vielleicht die unterschiedliche Miene zum selben Spiel. Optimisten schauen so, wie sie sich fühlen wollen, Pessimisten lassen sich ihre negative Stimmung anmerken. Optimisten meinen, dass ihre Bemühung des Keep Smiling schon mal ein guter Anfang sei, Pessimisten sehen darin eine Urlüge und finden all das künstliche Gegrinse nicht weniger als gruselig.
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535)
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Als Pessimist, der an die jenseitige Hölle glaubt, hält man sich mit wachsender Verzweiflung an seinem diesseitigen Leben fest – bis einem Krankheit oder Wahnsinn die Kraft dafür rauben.
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Als Pessimist, der an das jenseitige Nichts glaubt, quetscht man allen Trost aus seiner dekadenten Gegenwart, wobei Genusssucht dann ja auch gerne in einen frühen Tod mündet.
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Als Pessimist, der an diesseitige Wiederkehr glaubt, ist der Tod nicht mehr so abstoßend bzw. anziehend. Man wünscht sich ein bieder proportioniertes Leben: Morgen, Mittag und Abend vor der Nacht.
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536)
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Wie kommt einer zu seiner Religion?
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Frühe Prägung, Wünschbarkeit, intensive Beschäftigung damit, Plausibilität.
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Mein Glaube an die ewige Wiederkehr leidvollen Lebens ist spät erworben und kaum wünschbar, aber mit der Beschäftigung und der Plausibilität hab ich mir echt Mühe gegeben.
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537)
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Optimisten bejahen das Lebenwollen, Pessimisten verneinen es.
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Wie im Yin&Yang-Zeichen hat die optimistische Bejahung aber etwas von gesellschaftlichem Anpassungszwang, die pessimistische Verneinung etwas von gesellschaftlicher Emanzipation.
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Ich bin Pessimist: eher müssen als wollen, eher wollen müssen als müssen wollen.
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538)
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Paradoxer Pessimismus: wenn jemand grundsätzlich frustriert ist, weil er in dem realistischen Bewusstsein lebt, dass sein geliebtes Leben nur allzu vergänglich ist und für die Erfüllung der allermeisten Wünsche keine Zeit bleibt.
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Paradoxer Optimismus: wenn einer ständig heiter ist, mit realistischer Sicherheit davon ausgehend, dass die Tage seines leidigen Lebens gezählt sind und der Großteil aller Kalamitäten ihn verpassen bzw. nach seiner Zeit stattfinden wird.
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Hier scheint also Pessimismus auf der lebensbejahenden und Optimismus auf der lebensverneinenden Seite vorzukommen – tatsächlich jedoch wird die Endlichkeit als negativ bzw. positiv zu wertende Haupteigenschaft des Lebens angesehen.
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539)
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Pessimismus beim Wort genommen bedeutet, bereits in der tiefsten Hölle zu schmoren und basta. Für immer am äußersten Anschlag zu leiden, ohne Chance auf Linderung. Aber kein Pessimist vertritt das so extrem.
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Wenn wir die Hölle angedroht bekommen, sind wir da jetzt noch nicht. Wenn wir durch Versenkung in Kunst oder Askese dem Leid für eine Weile entkommen können, leiden wir noch nicht am denkbar schlimmsten usw.
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Ein lupenreiner Pessimist wäre völlig resigniert und damit passiv – es sei denn, er könnte in seinem maximalen Leid dann doch nicht anders als zu versuchen, wider besseres Wissen etwas gegen dieses Leid zu unternehmen.
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540)
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Pessimismus, Apathie, Optimismus könnte man auch einfach so definieren, dass seine Vertreter im Großen und Ganzen leidend, gleichgültig, freudig gestimmt sind.
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Wobei es von der weiteren Weltanschauung abhängt, welche Seins- oder auch Nichtsform den Ausschlag für die Stimmung gibt. Durchaus denkbar, dass jemand Jenseitiges wie Hölle, Nichts oder Himmel als stimmungsbeherrschend erlebt bzw. Diesseitiges für seine Grundstimmung eher nebensächlich ist.
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So gäbe es also beispielsweise auch Optimisten, die frohgemut im Elend leben oder gar Selbstmord begehen, in Erwartung ihres Paradieses oder auch nur des Nichtseins.
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541)
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Schopenhauers Vater starb wahrscheinlich durch eigene Hand – für S. sicher Anlass zum Nachdenken über die Misslichkeit des Lebens, traditionelle Bilder jenseitiger Höllenstrafe und moderne Bilder jenseitiger Nichtserlösung.
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Schopenhauers Philosophie ist ungewöhnlich todbezogen, er musste vermutlich zeitlebens pessimistische Balance halten zwischen drohender Hölle und lockendem Nichts, wobei ihm die Wiedergeburtslehre sehr gelegen kam.
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Bei aller Spekulation über das Leben und den Tod ist er nie darauf verfallen, ersteres oder letzteren positiv zu werten. Dass beides von Übel sei, ist seine Grundannahme. Intuitive Gewissheit? Geht mir jedenfalls ganz genauso.
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542)
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Sowohl als auch – Wunschvorstellung der Versöhnlichen.
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Aber das Böse soll schon abgeschafft werden. Und so heißt es bei den Sanftmütigen dann doch wie bei den Kriegern: Entweder oder. Jede Entwicklung hat absterbende Äste, schickt Verlierer ins Verderben – harmoniesüchtige Freunde des Wachstums können sich höchstens noch deren Wiedergeburt zu neuem Leben einreden.
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Drittens bliebe der Nichtsglaube: Weder noch.
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543)
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Feingeistiges soll Grobkörperliches überwinden – diese idealistische Bestrebung aufklärerischer Weltverbesserer hat etwas generell Intolerantes an sich.
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Aber das Grobkörperliche ist halt von vornherein spezifisch intolerant, räumt individuell aus dem Weg, was es stört bzw. beutet individuell aus, was es will oder braucht.
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Paradoxerweise nimmt das Ganze auf Kosten des Einzelnen in Schutz, wer kulturpessimistisch darauf hinweist, dass die Natur wenigstens nicht zum Totalitarismus neige.
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544)
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Materialisten und Spiritualisten gibt es viele, erstere lebensbejahend wie lebensverneinend.
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Negativer Spiritualismus – die Ansicht, Materialismus sei zwar schöner, Spiritualismus aber leider wahrer – wird jedoch kaum vertreten. Zumindest außerhalb geschlossener Anstalten.
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Nicht dass niederschmetternde Erlebnisse der höheren Art so selten wären – aber sie bleiben in aller Regel das Problem des Einzelnen, weil die Gesellschaft davon nichts wissen will.
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545)
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Du hast nur ein Leben, es fliegt vorbei – hinter solchen Midlife-Crisis-trächtigen Mottos steckt paradoxerweise eine Art Jenseitsbezogenheit.
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Wer sein Leben v.a. von außen sieht als etwas streng Begrenztes, ist geistig eingenommen vom "jenseitigen" Nichts des Sein-Nichts-Dualismus.
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Seinsmonismus hingegen verunmöglicht Flucht wie Vertriebenwerden aus dem Leben, lässt es einen ruhiger und nachhaltiger angehen.
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546)
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Zur Erinnerung, dass der Sohn Gottes für uns am Kreuz starb? Glaub ich nicht, dass Kruzifixe dazu da sind. Der Gekreuzigte soll einfach Vorbild für geduldiges Leiden sein, die Ohnmächtigen trösten.
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Auch Schopenhauers Asketismus idealisiert den Willenlosen, der sein Leid, gar seine Misshandlung wehrlos hinnimmt. Sich am Nichts orientieren, aber alles gehen lassen wie es wolle – das ist sein Credo.
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Das Nichts wollen erscheint mir jedoch angemessen; unklug vielleicht, aber es stünde uns doch zu. Vorteil bzw. Lust wollen ist m.E. schon verfehlt. Aber mit weniger als Nichts einverstanden sein auch.
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547)
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Das Leid Christi als Schönheitsideal? Der Schmerzensmann als Sexsymbol? Nackt am Kreuz als beliebteste Pin-up-Pose?
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Selbstzerstörung in der Magersucht als Spätfolge des Christentums? Heroindürre Rockstars als Reinkarnation des Erlösers?
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Könnte stimmen, wenn sich denn wirklich alles um Ästhetik drehen würde. Aber vielleicht ist die ja auch nur Flucht vor der Moral.
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548)
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Unglücklich bin ich, mit Absicht – Glück steht mir nicht zu.
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Unzufrieden bin ich, ohne Absicht – Zufriedenheit stünde mir zu.
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Ruhig bin ich, zumindest einigermaßen – seit mir das Sein alternativlos scheint.
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549)
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Wach, träumend und bewusstlos durchleben wir die Zeiten.
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Der Tod wird i.a. für ewiges Verbleiben in einem dieser Zustände gehalten.
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Aber liegt ewiges Abwechseln aller drei nicht näher?
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550)
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Religion – Vertrauensbildung für Ängstliche?
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Wissenschaft – Wahrheitsfindung für Mutige?
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Beides gewollte Konstrukte. Erstere älter, letztere neuer.
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551)
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Wenn es nach oben noch ewig besser und nach unten noch ewig schlimmer werden kann, befindet sich jeder einzelne eigentlich genau in der Mitte.
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Wenn es zum Besseren hin immer weniger Glückliche, zum Schlimmeren hin immer mehr Unglückliche gibt, geht es sogar jedem besser als den meisten.
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Aber da es selbst den Priviligiertesten meist schlechter als nichts geht, ist fast alles von Übel. Mein Pessimismus macht sich am absoluten Nichts fest.
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552)
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Atheismus und Areligiosität sind nicht unbedingt dasselbe.
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Ex-Christen haben mit ihrem Gott aber meist auch ihre Religiosität beerdigt.
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So gesehen ist ein unnahbarer, unglaubwürdiger Gott etwas Religionsfeindliches.
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553)
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Wahrheit ist mir generell Mittel zum Zweck höchst unwahrscheinlicher Erlösung.
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Philosophie als Liebe zur Wahrheit um ihrer selbst willen bleibt mir als Pessimist fremd.
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Die meisten Philosophen erscheinen mir erlösungsgetrieben, ihr Name beschönigend.
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554)
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Der Ruhemensch Schopenhauer war seiner Zeit vielleicht noch weiter voraus als der Machtmensch Nietzsche.
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Denn verhalten sich die Lebensabschnitte der Menschheit analog zu denen ihrer Individuen, dann kommt nach der Kinderzeit (Liebe, Religion) und der Jugend (Wahrheit, Politik) die Erwachsenenzeit (Macht, Kapital) und das Alter (Ruhe, ?).
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Und jede dieser Phasen kann auch ein ganzes individuelles Leben bestimmen. Manche sehnen sich ihr Leben lang nach Liebe – ich nach Ruhe.
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555)
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Auf Altem aufbauen oder mit Neuem beginnen?
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Die Optimisten sagen "Weg mit Schaden!" und tilgen alles, was ihnen kein Glück gebracht hat.
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Vielleicht erinnert sich deshalb niemand an frühere Leben – im Tod wird der Reset-Knopf gedrückt und alles Übel beginnt von vorn.
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556)
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Im Film wird laut gelebt und dann in Ruhe gestorben.
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In Wirklichkeit passt die Akustik selten zur Stimmung.
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Während ich sterbe, wird mein Nachbar schlagbohren.
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557)
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Liebe ist was für die Schönen.
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Wahrheit ist was für die Klugen.
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Ruhe ist was für die Genügsamen.
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558)
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Die meisten, die ich kenne, haben begriffen, dass es wahrscheinlich keinen Himmel und keine Hölle als Jenseits gibt.
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Aber nur die wenigsten, die ich kenne, haben begriffen, dass das Nichts als Jenseits so wahrscheinlich auch nicht ist.
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Wer sich dem Sein widmet, begreift: Himmel, Hölle und Nichts sind idealisierte Vorstellungen von Lust, Leid und Bewusstlosigkeit ohne Beweiskraft.
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559)
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Stolz auf Religionsverzicht ist verbreitet – es gilt als tough, ohne lieben Gott, jenseitiges Paradies und derlei "heiligen Kram" auszukommen.
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Die meisten glauben, dass sie ihr westliches Luxusleben auf einer Backe absitzen und anschließend ins Nichts verschwinden können.
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Der entsetzliche Gedanke, dass es nichts geben könnte außer dem ewigen Sein – und damit eben kein Nichts – kommt kaum noch einem.
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560)
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Statt die Schule der Universität anzugleichen – Lehrende und Lernende wählen ihre Themen frei – ist es nun also umgekehrt gekommen.
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Wann wird die Wirtschaft begreifen, dass gute Ideen nicht aus bravem Auswendiglernen eines von ihr vorgegebenen Kanons resultieren?
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Leider braucht es dazu wahrscheinlich erheblich länger als es dauern wird, bis kein Absolvent der Lernfabriken mehr gute Ideen hat.
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561)
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Das Sein – dieser denkerische Begriff bezeichnet für mich das, was ist, jenseits vom Ich/Welt- bzw. Subjekt-Objekt-Problem.
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Gelingt es den meditierenden Buddhisten etwa, jenseits vom Sein-Nichts-Problem anzukommen?
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Oder dominieren die Meister damit nur ihre Schüler, bis die endlich selber mit dem Denken anfangen bzw. aufhören?
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562)
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Das Leib-Seele-Problem i.S.v. Materialismus vs. Spiritualismus ist für mich im Grunde genommen nur ein Spezialfall des Sein-Nichts-Problems.
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Wenn die Leib-Leute recht haben, dann ist unser Sein nichtig; wenn die Seele-Leute recht haben, gibt es evt. keinen Ausweg aus dem Sein.
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Wünschen tu ich mir das Nichts, wetten aber tu ich auf das Sein. Und wundere mich, dass es bei anderen gerade andersherum ist.
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563)
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Sein ist Praxis.
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Nichtsein ist Theorie.
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Wieso sollte ein Leben einmaliger sein als ein Tag?
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564)
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Blinder Wille ist noch nicht selber schuld.
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Erst der sehende Wille wäre wirklich böse.
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Z.B. Gott, so er sich im Anfang selbst erschüfe.
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565)
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Mir geht es schlecht. Das liegt daran, dass ich mein Sein stets am Nichtsein messe.
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Mir könnte es gutgehen, nähme ich den Vergleich mit anderen zum Maßstab.
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Dieser "Relativismus" fühlt sich für mich jedoch nach Selbstbetrug an. Es werde Nichts!
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566)
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Trotz Faible fürs Gigantische geht es im Christentum eigentlich um Endlichkeit, um Aufgehobensein zwischen Alpha und Omega.
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Das Irdische hat da einen ersten und einen letzten Tag, sogar ewiger Himmel und ewige Hölle markieren Grenzen, denn besser bzw. schlimmer gehts nimmer.
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Kein Anfang, kein Ende? Ohne Mauern im Kopf, ohne willkürliche Konstrukte? Nein, das Christentum ist und bleibt ein Bauherren-Modell.
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567)
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Argumente gegen den Suizid – auch diese Domäne scheinen heutzutage die Optimisten für sich reserviert zu haben.
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Die Schönheit des Lebens neu entdecken usw. – über die Bewusstmachung möglicher Fehleinschätzung des Todes redet keiner.
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Pessimistische Argumente gegen den Suizid – mag vielen nach einem Witz klingen, ich halte sie aber für die besseren.
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568)
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Jede gute Geschichte hat auch einen wahren, philosophischen Kern.
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An den Lagerfeuern früher war die Schale wohl zum Jugendschutz.
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Spät hab ich von den Kernen erfahren, mich vorher umsonst gelangweilt.
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(Viele erfahren nie davon – Rilkes Panther bleibt für sie ne öde Tierstory.)
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569)
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Die Metaebene ist oft dröge – nur schlechte Vorträge ergehen sich in langen Ausführungen, wovon sie nachher handeln werden.
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Aber vielleicht sollte man Schülern dennoch erklären, was es heißt, etwas zu erklären. Sie sollten verstehen, was Verstehen ist.
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Durchs Abi und das halbe Studium musste ich gehen, ohne anderes als Lernen kennenzulernen. So ist Ausbildung nur eine Strafe.
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570)
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Denkwürdiger Angelpunkt der Geschichte, als Schopenhauer und Nietzsche von der Ewigen Wiederkehr erzählten.
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Schopenhauer sah sie pessimistisch, Nietzsche wollte sie optimistisch umdrehen – beide jedoch glaubten an sie.
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Vor ihr glaubte man an ein ewiges Jenseits, nach ihr "nur" noch an das ewige Nichts – warum war sie wohl so kurzlebig?
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571)
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Weniger Jenseits als das Nichts wird von den wenigsten akzeptiert.
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Auch die "Ungläubigen" bedürfen ihrer jenseitigen Erlösung allzu sehr.
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Die Vorstellung, es gebe nur dieses Diesseits, ist zu traurig. Aber naheliegend.
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572)
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Solange das leidfreie Nichts als Jenseits im Angebot ist, werden die Erlösungsbedürftigen auch zugreifen, z.B. durch Suizid.
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Treusorgende Mitmenschen werden vielleicht noch möglichst viele andere Erlösungbedürftige mit sich in den Tod nehmen.
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Die moderne Welt beklagt solche "unerklärlichen" Taten und verkündet weiterhin fleißig die Leidfreiheit des Todes.
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573)
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Die Leute meinen, sie glauben an nichts, glauben aber an das Nichts.
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Die Positivierung des Nichts ist die heimliche Religiosität der Moderne.
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Wer erleichtert sagt, der Tote habe es ja nun hinter sich, ist gläubig.
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574)
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Unendlichkeit – hinter jedem Gott ein noch größerer, über jedem Himmel ein noch besserer, unter jeder Hölle eine noch schlimmere.
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Und ist der Tod der große Bruder des Schlafes, warum sollte nicht auch der Tod wiederum einen großen Bruder haben?
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Vor jedem Anfang ein voriger, nach jedem Ende ein nächstes – wer da noch immer auf ein Größtes besteht, ist eben ein Kleingeist.
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575)
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Zerstörung von Leben will dessen Leid entweder vergrößern oder beenden.
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Ersteres kann sichtlich gelingen, letzteres ist eher ein beharrliches Gerücht.
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Vernichtung bleibt ein Ideal, welches Realisten durch Zerstörung anstreben.
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576)
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Einfältige Menschen wollen unbedingt mit jedem etwas zu tun haben – freundlich, ansonsten halt feindlich.
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Zivilisation bedeutet Einkehr der dritten zwischenmenschlichen Kategorie: sich gegenseitig in Ruhe lassen.
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Nichts mit jemandem zu tun haben wollen ist m.E. noch keine misanthrope, sondern eine ganz neutrale Haltung.
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(Aber unsere dualistische Sprache, die un-freundlich mit feindlich gleichsetzt, will scheinbar Krieg.)
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577)
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Wer nicht alleinsein kann, zieht den Streit der Ruhe vor.
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Hat den Nachbarn lieber zum Feind als anonym zu sein.
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Erpresst ihn: Gib mir Süßes oder ich geb dir Saures.
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578)
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Idealerweise glauben Idealisten gar nicht, dass ihre Ideale realisierbar seien – Ideale sollen Halt geben, nicht wirklich Ziel sein.
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Heilshoffnung ist realiter gar nicht nötig – zur Erholung von der hässlichen Realität in schönen virtuellen Welten schwelgen reicht schon.
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Wird uns von den Verwirklichern aber auch das noch genommen – man stelle sich Unterhaltung ohne Idealisierung vor – wird es eng.
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579)
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Heilige Momente gibt es in Wirklichkeit höchst selten bis nie – in der Fiktion sind sie zum Ausgleich die Regel.
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Die Welt nimmt realiter weder Rücksicht noch Anteil – nur im Film hält während einer Liebeserklärung alles inne.
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Gutaussehende, nette und sensible Menschen, gutgelaunt und robust gegen Rückschläge – Widersprüche in sich.
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580)
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Das Leben ist im Wesentlichen gemusst, nicht gewollt – auch ohne dass es jemanden über uns geben muss, der es erzwingt.
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Zuerst ist das Leid – ich glaube nicht an einen Quäler, der aus freien Stücken des Leides höhere Ursache sei.
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Wollen ist nur gefälschte Reaktion auf Müssen. Babies sind da noch authentisch, Erwachsene haben lügen gelernt.
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581)
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Vielleicht hat Gott im Gegensatz zu uns die Wahl, ob er sei oder nicht sei – und ist lieber nicht. Könnte ich ihm nachfühlen.
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Vielleicht sind nur wir es, die mit ewigem Seinsschicksal geschlagen sind – und das Nichts gibt es für uns schlichtweg nicht.
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Am schlimmsten wäre es, wenn wir – wie Gott in der Schöpfungsgeschichte – das Sein allzu spontan und zügig weitertrieben.
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582)
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Auch der heutige Realismus gibt sich noch meist als Wahrheit aus, so wie es vor ihm das Christentum getan hat.
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Erst mal müsste bekannter werden, dass so ein Wahrheitsanspruch philosophisch vermessen bis sträflich dumm ist.
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Und dann müssten Alternativen zum Realismus bekannter werden, z.B. der pessimistische Idealismus à la Schopenhauer.
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(Denn Pessimisten werden am Christentum irre und am Realismus suizidal – ihnen dürfte der Idealismus nicht vorenthalten werden.)
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583)
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Als pessimistischer Idealist brauche ich Schopenhauer nicht besser zu kennen als der durchschnittliche Christ seine Bibel oder der durchschnittliche Materialist die Newtonschen Gesetze: so gut wie gar nicht.
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Soll das heißen, die philosophische Grundeinstellung eines Menschen sei für ihn von eher nachrangiger Bedeutung? Ganz im Gegenteil: als sein geistiges Fundament ist sie kaum zu überschätzen.
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So wichtig ist sie, dass Idealisten, Christen und Realisten ein näheres Kennenlernen ihrer Kodizes kaum riskieren dürfen – wären sie doch nach genauerer Lektüre ihren geistigen Halt möglicherweise wieder los.
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584)
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Sein strahlt für mich zwar Ruhe aus – im Gegensatz zu Werden und Vergehen, also den Übergängen zwischen Sein und Nichtsein.
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Sein klingt mir aber v.a. nach ewigem Seinsschicksal – dem zu meinem Leidwesen nicht auf Dauer ins Nichtsein zu entkommen ist.
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Mag sich im speziellen auch unablässig etwas verändern auf dieser Welt – im allgemeinen bleibt doch alles, wie es schon immer ist.
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585)
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Den Christen ist Gott das Höchste, den Realisten das Menschtier, und Pessimisten im wörtlichen Sinn ist unsere Welt die schlimmstmögliche.
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Diese Superlative losgelassen zu haben gibt mir Ruhe. Über Gott wieder einer, und warum keine intelligenteren Wesen und schlimmeren Welten?
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Mag sein, die Grenzen wurden einst zur Beruhigung aufgestellt – aber ich hab mir daran nur den Kopf gestoßen und lebe besser ohne.
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586)
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Nietzsche war m.E. ein Neo-Christ – er hat die Welt, bei Schopenhauer revolutionärerweise eine gemusste, wieder zur gewollten zurückgebogen.
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Schon der Schöpfungsgeschichte geht es darum, dass die Welt eine von Gott gewollte sei. Bei Nietzsche will dann der absichtsvolle Mensch.
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Abgesehen davon, dass Wollen und Müssen als Ursache und Wirkung gar keinen Anfang haben müssen – ich tippe auf eine gemusste Welt.
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587)
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Das Leben ist nur blind gewollt, einsichtig aber ist es gemusst.
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Für mein unzugängliches Unterbewusstes bin ich nicht haftbar.
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Für mein unzulängliches Tierbleiben kann ich doch kaum etwas.
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588)
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Wer mir partout einreden will, dass es (s)einen Gott gibt, ist wahrscheinlich ein Hilfsbedürftiger, der vor seinem Nächsten den Helfer markiert à la "Hilf und dir wird geholfen".
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Stimme ich in den Gesang von Größe und Ewigkeit ein und behaupte, dass es über seinem Gott noch einen und noch einen gibt, stoße ich auf Ablehnung oder gar Empörung.
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Denn was der Monotheist eben nicht will, ist ewiges Undsoweiter. Er will, dass es endlich anders kommt – der Verlierer als endgültiger Sieger. Basta-Religion.
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589)
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An ein Leben, welches ewig weiter auf und v.a. ab geht, will keiner glauben.
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Vordergründig plädieren die Christen für Ewigkeit, die Realisten für Endlichkeit.
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Aber beide predigen endgültige Zustände nach dem Tod. Lebensferne Theorien.
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590)
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Ein allmächtiger Gott hat die Wahl zwischen Nichtsein, Alleinbleiben, Zusammensein mit seinen Geschöpfen usw.
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Das Psychogramm des Christengottes zeigt aber v.a. einen herrischen und einen abwesenden Gott.
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Für subalterne Eigenschaften spaltet er einen Sohn, einen heiligen Geist, eine Gottesmutter usw. ab.
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591)
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Frühe Traumata lassen sich durch spätere Einsicht kaum revidieren.
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Viele Religionen prägen durch Himmelslockung und Höllendrohung.
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Vielleicht ist damit das Kind Mensch(heit) bereits unwiderruflich verdorben.
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592)
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Die Philosophien und Religionen erweisen ihre Wirkung vielleicht am deutlichsten an den Kindern.
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Den Erwachsenen kann man vergleichsweise viel erzählen bzw. zumuten, ohne sie nachhaltig zu schädigen.
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Verdächtig ist ein Glaube, von dem es keine verträgliche Kinderversion gibt. Oder umgekehrt?
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593)
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Pessimisten leben weiter, wenn auch ungern – denn ungeschöntes Nachdenken über das Leben lässt sie an ihrem Ende im Tod zweifeln.
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Dass Pessimisten mit einem bösen Ende rechnen, haben sich Optimisten ausgedacht – "Ende" klingt nur für gerne Lebende negativ.
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Happy End heißt bei den Optimisten, dass es danach glücklich weitergeht. Den Pessimisten dagegen wäre ein echtes Ende schon genug.
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594)
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Um Abstand von Selbstmordgedanken zu bekommen, muss das Leben nicht als sinnvoll erkannt werden – nur als alternativlos.
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"Ohne Gott hat das Leben keinen Sinn!" sagen die Christen und deuten damit an, dass Atheisten sich ja auch gleich umbringen könnten.
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Aber Christentum gegen Suizidalität ist der totale Overkill – den fatalen Glauben an das Nichts im Tod ablegen reicht schon.
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595)
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"Was soll ich noch hier auf Erden?" – diese banale Frage ist möglicherweise der Hauptauslöser für Depressivität und Suizidalität.
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Die christliche wie materialistische Lehre, unsere Tage seien gezählt, erpresst eine ganzheitliche Betrachtung bzw. Sinngebung des Lebens.
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Wer sich hingegen plausibel machen kann, das irdische Leben sei ewig und ohne Alternative, von dem fallen Druck und Torschlusspanik ab.
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596)
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Man stelle sich vor, eine endlose Zeitreihe zufälliger Inkarnationen in einer ausweglosen Welt durchleben zu müssen.
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So würden alle ernten, was alle säen.
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Der Einzelne könnte sich produktiv, passiv oder destruktiv verhalten. "Nach mir die Sintflut!" gäbs dann aber nicht mehr.
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597)
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Das Nichts wünsche ich jedem: mir selber, dem liebsten Freund, dem ärgsten Feind.
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Wer nicht mehr ist, vermisst nichts mehr, leidet nicht mehr, ist erlöster als erlöst.
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Für Realisten eine gemeingefährliche Einstellung, für Idealisten wie mich reine Theorie.
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598)
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Der Mensch kann, was er im allgemeinen ist, selber höchst unsympathisch finden – das ist vielleicht seine sympathischste Eigenschaft.
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Kapseln, die wir zur Kommunikationsanbahnung mit Aliens ins All schicken, sollten auch selbstkritische Botschaften enthalten.
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Wenn wir Pech haben, sehen die Fremden als erstes einen der zahllosen Spielfilme über den stolzen Sieger Mensch. Wie peinlich.
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599)
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Depression ist evt. der Ausdruck endgültiger Unfähigkeit, sich wieder auf die Liebe einzulassen, nachdem sie zu sehr enttäuscht hat.
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Warum soll denn nicht auch seelisch etwas ein für allemal kaputtgehen können – wenn es doch körperlich ganz offensichtlich so ist.
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Wo sie nicht direkt nachschauen können, machen sich die Menschen noch mehr unbegründete Hoffnung als beim Offensichtlichen schon.
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600)
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Gut ging es mir noch nie in dem Sinn, dass ich generell Freude daran gehabt hätte, am Leben zu sein.
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Schlecht ging es mir noch nie in dem Sinn, dass ich generell mit jemand anderem hätte tauschen wollen.
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Gefragt, wie es mir gehe, vergleiche ich meine momentane Befindlichkeit mit meinem Langzeitwert.
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601)
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Wie kann man als ungern Lebender nicht mit einem gerne Lebenden tauschen wollen?
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Weil nähere Betrachtung ergibt, dass zum gerne Leben Torheit oder Bosheit gehört.
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Heißt das etwa, Weisheit und Güte sind wichtiger als Glück? Glaub ich schon.
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602)
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Ruhe ist Auszeit von der Echtzeit.
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Schwer, in direkter Kommunikation sofort verstehen und reagieren zu müssen. Meist zu schwer und zum Scheitern verurteilt. Trotzdem tendiert unser sich ständig beschleunigendes Leben zur Echtzeitanforderung. Falsche Richtung.
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Wichtiges am besten nur Offline.
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603)
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Den westlichen Religionen von vornherein eine affirmative und dem Naturalismus eine kritische Haltung gegenüber dem Leben zu unterstellen, wäre vielleicht zu plump.
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Schon wahrer ist aber, dass diejenigen, welche sich ein ewiges Leben wünschen, i.a. religiös denken, und diejenigen, welche sich ein endliches Leben wünschen, i.a. naturalistisch.
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Aber Naturwissenschaft ist da neutral, oder? Schwerlich, denn spätestens seit ihrer Umstellung auf Statistik und Drittmittel validiert sie die Theorie der je zahlungskräftigsten Lobby.
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604)
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Problematisch an der Emanzipation ist mitnichten die einsichtige Vorhut, sondern die uneinsichtige Gefolgschaft.
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"Die Kerle haben uns unterdrückt und jetzt drehen wir den Spieß um, Kriegerinnen!" – so wird das nix mit der Gleichstellung.
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Aber vielleicht ist die schmale Spitze der nächsten Bewegung ja einsichtig genug, keine breite Basis mehr anzuwerben.
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605)
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Wo ist die Grenze zwischen innen und außen?
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B. Russell meint, statt "Cogito ergo sum" müsse es doch "There are thoughts" heißen. Ist also alles objektiv, sogar meine Gedanken?
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Ich sehe es umgekehrt: Zuerst bin ich, subjektiv. Blende mich nach außen hin immer weiter aus, aber ganz aus bzw. außen ist nicht.
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606)
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Wagnis Weisheit? Nö, Sicherheit ist wichtiger.
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Die Philosophie wechselt doch nur, wer muss.
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Bevor er wahnsinnig wird oder sich umbringt.
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607)
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Suizid geschieht entweder im Affekt oder mit Überlegung.
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Überlegter Suizid folgt aus Optimismus gegenüber dem Tod.
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Heutiger Realismus verspricht allen endgültige Bewusstlosigkeit.
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608)
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Der Individualismus gilt als Sieg über das Kollektive – keiner sieht, wie ersterer das letztere beschützt bzw. sakrosankt macht.
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Wer deprimiert denn die Depressiven? Es ist das leidvolle Leben an sich bzw. die kriegerischen Verhältnisse in unserer Leistungsgesellschaft.
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Herrschende Meinung ist inzwischen aber, die Ursache seien individuelle psychologische und hirnphysiologische Störungen.
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609)
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Zweifel am Materialismus sind in der modernen Welt ähnlich unüblich geworden wie es Zweifel am Christentum im Mittelalter waren.
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Vielleicht erleben wir eine Nachmoderne, in der man sich über den Glauben an das Nichts im Tod ebenso wundert wie heute über Himmel und Hölle.
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Eigentlich schon jetzt unglaublich, dass die materialistische Lebenserklärung obsiegt, ohne auch nur einen Einzeller als Beweis bauen zu können.
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610)
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Gott ist gut, der Sünder böse – seit Urzeiten versuchen die Hüter des Lebens, dem Einzelnen die Schuld in die Schuhe zu schieben.
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Postmoderner Individualismus mit seinem Verbot von Verallgemeinerungen wiederholt nur das alte Gebot: An die eigene Nase fassen.
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Der Selbstmörder legt noch mehr Hand an sich – und trifft damit den Falschen. Denn nicht sein Leben ist schlecht, sondern das Leben.
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611)
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Ruhe resultiert paradoxerweise auch aus der Erkenntnis, dass es eh keinen sicheren Hafen zu erreichen gibt.
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Unruhe resultiert paradoxerweise auch aus der Annahme, es gebe einen sicheren Hafen zu erreichen.
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Suizidalität ist eine Art Unruhe, die v.a. jene überkommt, welche an die ewige Ruhe im Tod glauben.
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612)
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Differenzieren ist angesagt, Verallgemeinern verpönt.
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Aber Fachsimpeln führt meist allzu schnell vom Eigentlichen weg.
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Lieber das Wesentliche überzeichnen als sich in Details verzetteln.
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613)
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Mein Pessimismus sagt aus, dass es kein zugleich angenehmes und ethisch gerechtfertigtes Leben geben kann.
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Wer ein schönes Leben lebt, schädigt dafür anderes Leben mehr als notwendig. Aber sogar das ist noch die Ausnahme.
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Traurige Regel ist, dass die Menschen ausbeuten was irgend geht und ihr Leben trotzdem hassen, ohne sich dies einzugestehen.
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614)
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Geht es uns mit den Segnungen des modernen Lebens besser als ohne sie? Mag sein.
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Geht es uns mit den Segnungen des modernen Lebens wirklich gut? Glaub ich nicht.
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Vorerst geht es uns besser, indem wir der Umwelt Gewalt antun. Gut geht gar nicht.
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615)
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Reif, wer nicht mehr dem Schönen nachjagt, sondern nur noch das Hässliche los sein möchte.
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Bete zu Gott: auf dein Paradies ist gepfiffen – nimm bloß das leidige irdische Vorspiel zurück.
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Dem Leid an die Wurzel gehen, statt es mit Lust zu übertünchen – das ist richtiger Nihilismus.
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616)
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Charaktersache, ob sich einem die Welt zu schnell oder zu langsam dreht?
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Charaktersache, ob einen ihr Hässliches abstößt oder ihr Schönes anzieht?
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Vielleicht gibt es immer die einen und die andern, wie Männer und Frauen.
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617)
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Der platte Materialismus hat mir als eingefleischtem Pessimisten einen Mordsschrecken eingejagt.
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Destructio ad nihilum – all meine Probleme seien mit Selbstmord, alle Menschheitsprobleme mit genügend Bomben zu erledigen.
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Per aspera ad nihilum – perfide, mit der Erlösung vom Leid um den Preis weiterer Verschlimmerung des Leides zu locken.
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618)
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Christen und Materialisten – erstere glauben an ihre Creatio ex nihilo, letztere an ihre Destructio ad nihilum.
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Aber aus Nichts kann nicht Etwas werden, aus Etwas nicht Nichts – ich glaube nicht mehr an Werden und Vergehen.
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Die Unendlichkeit ist einfacher und naheliegender als die Endlichkeit – sie wurde uns nur gründlich ausgeredet.
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619)
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Sogar aus den sowieso quirligen Cartoons für Kinder muss die Ruhe mit der Zeit immer weiter weichen.
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The Pink Panther war noch ein Ausbund an Coolness verglichen mit SpongeBob SquarePants.
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Postmoderne Identifikationsfiguren sind laut, hysterisch, tuntig – SpongeBobs letzte alte Eigenschaft: lieb.
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620)
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Naturalismus – die unbewusste Religion. Ihre Gläubigen halten die Naturwissenschaften für unsere wesentliche Informationsquelle.
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Die Naturwissenschaftler selber wissen, dass der Schluss von ihren speziellen Analysen auf unser allgemeines Leben dubios bis illegitim ist.
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Aber würde die technologische Motivation hinreichen? Oder kauft sich die Gesellschaft da v.a. ihr Leben ohne Reue bzw. ihr Nichts im Tod?
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621)
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Wer wie ich bezweifelt, dass der Tod die Vernichtung des Bewusstseins bedeutet, wird schnell zu den aussterbenden Dualisten gezählt, welche eine immaterielle Welt des Geistes neben die materielle Welt der Dinge stellen.
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Mir hingegen erscheint der Glaube an Vernichtung seltsam gekünstelt. Naheliegender ist doch, dass jegliche Veränderung der materiellen Struktur eines Lebewesens auch bloß eine Veränderung seines Bewusstseins bewirkt.
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Der Wunsch nach endgültiger Bewusstlosigkeit, wenn der Schmerz zu groß wird, vernebelt den Verstand. Materialistische "Monisten" stellen das Nichts als ganz anderen Zustand neben das Sein und bemerken ihren Dualismus nicht.
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622)
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Die heute gängige Lehre von der Vernichtung des Bewusstseins im Tod verführt die am Leben hauptsächlich Leidenden zum Suizid.
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Unvorhersagbare Bewusstseinsveränderungen im Tod hingegen ließen eher die Erlebnishungrigen das Experiment Suizid wagen.
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Der Gesellschaft ist es lieber, die Lebensverdrossenen bringen sich um – also lehrt sie die Vernichtung des Bewusstseins im Tod.
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623)
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Wer an die Vernichtung seines Bewusstseins glaubt, argumentiert gern mit der Vollnarkose als leicht zu demonstrierende, vorerst mal zeitlich begrenzte Nullsetzung.
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Ich habe Vollnarkosen samt deren Nachwirkungen erlebt und halte dagegen: unsere Portion an Bewusst-Sein wird damit nicht kleiner, nur zeitlich umverteilt.
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Schon die üblichen zur Bewusstseinsverengung eingesetzten Drogen zeigen: jedem Rausch folgt sein Kater auf dem Fuße – langfristig betrachtet gibt es keine Erlösung.
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624)
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Verkehrsdelikte sind für den Gesetzgeber keine Bagatelle, die verhängten Strafen akkumulieren sich auch für Unempfindliche zu empfindlichen. Rücksichtslosigkeit in Form von Lärm hingegen führt i.a. nur zu höflichen Ermahnungen – und dafür sind Rücksichtslose sowieso taub.
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Ruhestörung ist gesetzlich grob unterbewertet. Obwohl die Hinderung an Feierabend- und Wochenend-Entspannung auch Richter schwer beeinträchtigen würde. Zweierlei Maß, weil die Judikative zwar fahren muss, wo alle fahren, aber nicht wohnen muss, wo alle wohnen?
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Zornige Law&Order-Vision eines Ruheberaubten: Lärmpolitessen schreiben Strafzettel für unnötig laute Anwohner, Passanten, Handwerker, Bauarbeiter etc. Im Wiederholungsfall gibts Lärmpunkte in Flensburg und über dem Limit folgt Aufenthaltsverbot für das Viertel.
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625)
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Philosophie enttäuscht viele Menschen, indem sie nicht zu der einen endgültig überzeugenden Weltanschauung hinführen kann.
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Mir hat sie geholfen, indem sie mich von den mir unlebbaren Überzeugungen Christentum und Realismus wegführen konnte.
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Erst mal eine Weltanschauung finden, mit der man überhaupt leben kann – ihre Absicherung ad ultimo ist dann zweitrangig bis falsch.
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626)
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Physikalismus in Form materialistisch-monistischer Bewusstseinsmodelle, wie die Philosophie des Geistes (philosophy of mind) sie verhandelt, wirkt auf Pessimisten wie mich v.a. als Einladung zum Selbstmord.
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Skeptics bekämpfen so die Scharlatanerie, z.B. esoterische Beutelschneiderei. Aber dass physikalistische Reduktion des Bewusstseins auf Hirnfunktionen die Erlösung im Tod verspricht, thematisieren sie kaum oder gar nicht.
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Ihre Lehre brächte das vielbeschworene Licht der Aufklärung in praxi wohl v.a. dergestalt in die Welt, dass alle, deren Leben düster ist, sich materiell so zu deformieren suchten, dass ihr Bewusstsein ein für allemal erlischt.
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627)
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Philosophiegeschichte schlägt seltsame Kapriolen: Die aktuelle sog. Philosophie des Geistes verhandelt keine Bewusstseinsmodelle mehr, in denen die Materie nur einen von vielen typischen Inhalten des zugrundeliegenden Bewusstseins stellt.
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Ihre monistischen Modelle einerseits begreifen Materie als etwas Bewusstseinsunabhängiges und Bewusstsein als etwas Materieabhängiges. Ihre dualistischen Modelle andererseits begreifen beides als eigenständig. Und Bewusstseinsmonismus? Fehlanzeige.
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Dabei frage ich mich, wieso der materialistische Monismus überhaupt Monismus heißen darf – postuliert er doch kraft des Bewusstseins eine bewusstseinsunabhängige, also ganz andere zweite Welt – vom Nichts als Grund und Ziel des Seins ganz zu schweigen.
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628)
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Wenn es zutrifft, dass harte Männlichkeit im Alter zur Weichheit tendiert und zarte Weiblichkeit zur Härte – zeigten dann die jungen Softies der Siebziger und die jungen Furien der Neunziger erstmals einen dramatisch beschleunigten Alterungsprozess?
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Ist es dekadent, wenn Männer sich nicht mehr so lange wie möglich um Härte und Frauen nicht mehr so lange wie möglich um Zartheit bemühen, sondern lieber locker lassen und dabei offenbaren, wie sie charakterlich eigentlich beschaffen sind?
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Die sicherlich zu begrüßende Möglichkeit, heute ungestrafter auf die alten Geschlechterrollen zu verzichten, wird zeigen, ob die Bevorzugung männlicher Härte und weiblicher Weichheit nur anerzogen war. Schön wär's ja schon, aber ich glaub's eher nicht.
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629)
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Behauptung islamistischer Selbstmord-Attentäter: Wir bringen Gott unser schönes Erdenleben im heiligen Krieg zum Opfer.
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Kommentar des lebensverneinenden Pessimisten: Ihr hasst das Leben und gewöhnlichen Selbstmord hat Gott verboten.
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Bewundernswert von den Buddhisten, das Leben nicht zum Geschenk hochzulügen – um des Lebens willen. Ehrlich währt am längsten!?
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630)
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Pessimismus bedeutet für mich, dass das Leben im Wesentlichen etwas Schlechtes i.S.v. schlechter als nichts ist.
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Aber schlimmer und besser geht wohl immer – deshalb haben die meisten Pessimisten noch nicht ganz resigniert.
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Mein pessimistischer Lebenstil: das Gute als Ideal anstreben und zugleich wissen, dass es real nicht erreichbar ist.
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631)
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Die Unsterblichkeit der Seele gilt als menschlicher Wunschtraum, als eine aller evidenten Sterblichkeit trotzende Sehnsucht.
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Ich glaube jedoch, dass ihre Annahme schon immer in erster Linie dazu diente, die Menschen vom Selbstmord abzuhalten.
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Denn früher oder später kommt jeder an den Punkt, wo ihm die endgültige Bewusstlosigkeit aufs höchste willkommen wäre.
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632)
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Physikalismus als Ausdruck der Sehnsucht nach Leblosigkeit, Naturalismus als gigantisches Projekt der humanen Selbstauslöschung – dieser Verdacht kommt seltsamerweise kaum jemandem.
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Schon jetzt gilt der Zeitraum des Lebens als vernachlässigbar gegen den Zeitraum des toten Planeten. Und Technologie verlängert individuelles Leben in kleinem Ausmaß, bedroht aber die Menschheit in großem.
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Wissenschaftsjünger belächeln jeden, der das Leben nicht auf Materie gegründet sieht. Dabei ist nichts leichter auszuhalten als die Vorstellung von Bewusstlosigkeit, nichts schwerer als deren Unmöglichkeit.
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633)
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Der Realismus steht allgemein im Ruf, historisch nach den Religionen als Ernüchterung über die Menschheit gekommen zu sein.
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Die in religiöser Moral erzogenen Jugendlichen aber befreit er von jeglicher höheren Strafandrohung und wirkt wie eine Droge.
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Im Amoklauf allen Hass auf die anderen rauslassen und dann das eigene Leben beenden ist eine verlockende realistische Option.
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634)
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Amokläufer gelten als unbemerkte Kranke, ihre Taten als irrational und deshalb unverständlich. Die Hinterbliebenen sind schockiert und fassungslos.
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Auch Abschiedsbriefe, Tagebücher, Internetauftritte etc. der Täter, welche evt. sogar außerordentlich eloquent sind, ändern daran nichts.
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Die Menschen wollen ums Verrecken nicht einsehen, dass erweiterter Suizid von bestimmten philosophischen Standpunkten aus nur konsequent ist.
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635)
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Lebenshasser gibt es zu allen Zeiten und in allen Kulturen.
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Ob als Krieger, Märtyrer, Amokläufer, Selbstmörder oder als Asketen, Mönche, Philosophen, Künstler hängt stark davon ab, welchen dieser Lebensstile die jeweilige Gesellschaft begünstigt.
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Solange Lebensliebe zwangsverordnet und Lebenshass als Bösartigkeit oder Krankheit verfolgt wird, sind die übleren Karrieren wahrscheinlicher.
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636)
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Das Leben kann man verabscheuen und trotzdem – oder sogar deswegen umso mehr – darauf achten, möglichst keinem wehzutun.
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Wer das Hassenswerte das Liebenswerte hoffnungslos übersteigen sieht, handelt deshalb noch nicht böse – eher im Gegenteil.
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Aber Lebensverneiner werden gemieden, isoliert, verfolgt – und falls sie ausrasten, gibt das ihren Peinigern auch noch recht.
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637)
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Radikaler Konstruktivismus als postmoderne Zuflucht für antirealistische Subjektivisten kommt zwar ohne ein äußeres Sein aus, aber nicht ohne das Nichts.
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Alles Sein ist Bewusstsein – aber der Dualismus schleicht sich mit der Autopoiese ein, wo das Subjekt sich selbst erschafft und wohl auch wieder abschafft.
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Mangels Erfahrungen, die auf unbegrenztes Leben hindeuten, postuliert man ein begrenztes. Das Nichts gilt nur dort offiziell als unmöglich, wo der Nahtod noch alltäglich ist.
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638)
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Meine Nahtoderfahrungen sind Erlebnisse, auf die ich im Gegensatz zur großen Mehrzahl meiner NDE-Kollegen gerne verzichtet hätte. Weil sie mir die Unendlichkeit meines Daseins nahegelegt haben, wo ich mir seine Endlichkeit so sehr gewünscht hätte.
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Andererseits erschweren meine Nahtoderinnerungen evt. Selbstmordpläne aus Sehnsucht nach dem Nichtsein heraus. Falls mein Bewusstsein wirklich kein Ende hat, bleibt mir damit ein vorzeitiger Tod erspart, den ich bitter bereuen könnte.
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Verzwickt: meine Nahtoderlebnisse sagen zwar etwas aus, was zu erfahren mich todtraurig gemacht hat. Aber sollte ich nicht froh sein, dass ich es durch die NDEs auf sanftere Weise erfahren habe als ich es es durch einen evt. Suizid erfahren hätte?
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639)
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Philosophische Ver(!)allgemeinerungen sind vielleicht wirklich ein zu grober Akt der Ausweitung vom aktuell Entdeckten bzw. Erfundenenen aufs Ganze.
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Für Pythagoras gründete sich die Welt auf die arithmetisch idealen Zahlen, für Platon auf die geometrisch idealen Formen. Für die Monotheisten war Gott ein großer Baumeister. Für die Humanisten war die Welt Geist, für die Naturalisten ist sie eine Maschine etc.
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Die jungen Philosophen sehen das Leben als wild und stark, die alten als prekär und gefährdet. Sag mir, wo du persönlich gerade stehst, dann erklär ich dir deine "ganze" Welt.
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640)
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Am besten wäre, allen ginge es nur gut. Am zweitbesten wäre, es gäbe erst gar niemanden. Am drittbesten wäre, das Leid der Welt wäre gleichmäßig verteilt.
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Da aber nunmal Sein statt Nichtsein herrscht und die Welt ungerecht ist, fragt sich: lieber Täter oder Opfer sein bzw. welchen Kompromiss dazwischen finden?
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Oder fragt sich das nicht? Seltsam, wie wenig Gewissensbisse die fleißigen Täter haben. Die Krone der Schöpfung macht sich alles untertan und lächelt sozial.
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641)
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"Jeder ist ein Gewinner" – so lügen sich Optimisten die Welt schön.
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"Wettbewerb" – so klingt der Kampf des Lebens nach einem Spiel.
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Weitergedacht wird hier gerade von den "Fortschrittlichen" nicht.
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642)
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Paradox an postmoderner Toleranzforderung ist die angeblich einzige Ausnahme "Intoleranz gegen Intoleranz" – darauf wird ständig herumgeritten.
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Wer im Kampf der Minderheiten um Anerkennung aber wirklich aufgerieben wird – und das ganz unbeteiligt und unbemerkt – sind die Introvertierten.
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Emanzipation erfordere nunmal Aus-sich-herausgehen bis Laut-werden – das plappert zwar jeder nach, bedeutet aber Benachteiligung der Ruhebedürftigen.
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643)
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Gut sein erfordert zumeist nur, es gut sein lassen zu können.
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Aber die guten Cowboys sind ständig auf der Suche nach bösen Cowboys, um ihren heiligen Zorn an ihnen auslassen zu können.
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Den Rest des Zorns kriegen die Ruhigen ab, indem sie dazu genötigt werden, endlich auch gegen die Bösen aktiv zu werden.
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644)
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Umweltschutz klingt so aktionistisch – dabei müsste der moderne Mensch nur Konsum und Mobilität wieder einschränken, sprich zur Ruhe kommen.
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Der heutige Umweltbeauftragte sitzt jedoch unentwegt mit stressgeplagtem Gesicht am klimatisierten Einwegfläschchen-Buffet und im Flugzeug.
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Die Aktionisten wollen nicht wahrhaben, dass sie da den Teufel mit dem Beelzebub austreiben – ihr eigentlicher Angstgegner ist nämlich die Ruhe.
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645)
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Wenn Etwas nicht zu Nichts werden kann, wie Büchners Danton sagt, dann ist leider alles ewig.
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"Nichts ist unmöglich" – eine frohe Botschaft für Optimisten, aber für Pessimisten wie mich die schlimmste.
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"Alles ist möglich" – das klingt schon wesentlich besser, denn "alles" beinhaltet ja auch das Nichts, oder?
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646)
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Alte Religiosität durch moderne Wissenschaftlichkeit ersetzen? Auf die Endlichkeit des Bewusstseins zu vertrauen ist nicht wissenschaftlich, sondern religiös.
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Aufgrund ihrer eigenen Prämissen kann die Wissenschaft keine Antworten auf die großen Lebensfragen geben – vom Partikularen aufs Ganze zu schließen ist illegitim.
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Wissenschaft ist spezifisch-komplexe Systematik, Religion allgemein-einfacher Trost. Ihn aus Astronomie oder Hirnforschung schöpfen zu wollen ist ein Kategorienfehler.
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Optimistische Idealisten (A) glauben an ein schönes und ewiges Leben, optimistische Realisten (B) an ein schönes aber endliches – von beiden gibt es viele.
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Pessimistische Realisten (C) glauben an ein hässliches aber endliches Leben – sie machen Therapien in Richtung B oder erwarten bzw. beschleunigen ihren Tod.
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Pessimistische Idealisten (D) wie ich glauben an ein hässliches und unendliches Leben – wir sind am seltensten, dabei ist es von C nach D kürzer als von C nach B.
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648)
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Mehr noch als Angst ist es Wut, welche mir die Ruhe nimmt. Nicht einmal über besondere Begebenheiten, sondern über den Alltag, z.B. die allgegenwärtige Werbung.
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Menschen preisen Produkte an, geben sich überzeugt. Jeder weiß, dass diese Begeisterung gekauft ist, und doch quillt unsere Welt von dieser Heuchelei über.
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So tun als ob ist unverzichtbar für fast jede professionelle Betätigung, die Verweigerung aalglatter Schauspielerei gilt bei Erwachsenen als Entwicklungsstörung.
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649)
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Obwohl der individualistische Zeitgeist stur das Gegenteil behauptet: wenn mich ein einzelner Mensch wütend macht, dann triggert er zuallermeist nur als austauschbarer Auslöser bzw. typischer Vertreter des Lebens bzw. Systems meine Wut auf eben dieses.
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Und diese Wut auf Leben und System steht m.E. auch nicht wiederum für die Urwut aufs familiäre Umfeld, wie die Psychologie seit Freud so genau zu wissen meint. Ich unterstelle umgekehrt der Psychologie, dass sie das Leben als Ganzes auf Kosten der Einzelnen hochzuhalten sucht.
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Warum sollte ich Vater, Mutter, Freunden, Feinden etc. unterstellen, die Ursache meiner Wut zu sein? Das Leben ist wie es ist – und seine Protagonisten allesamt nur sein klägliches Produkt. Das eigentliche Problem ist von immenser Größenordnung.
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650)
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Ruhelosigkeit bis Wut resultieren u.a. aus dem schmerzhaften Verlust menschlicher Nähe, wie er mit dem Erwachsenwerden zwangsläufig einhergeht.
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Körperliche, seelische und zuletzt auch geistige Geborgenheit werden mit zunehmendem Alter immer seltener, an ihre Stelle tritt förmlicher Smalltalk.
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Eiferer, die fremden Leuten ihre Botschaften von drohenden Katastrophen etc. aufdrängen, bekämpfen damit eigentlich die Floskelei übers Wetter.
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651)
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Wo jemand von der heute üblichen realistischen bzw. materialistischen Weltanschauung abweicht, da tut er es aufgrund seiner überkommenen religiösen Erziehung oder aufgrund seiner allen realistischen Erklärungen widersprechenden "übernatürlichen" Erfahrungen aus erster Hand.
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Auch unter der konstruktivistischen Annahme der Möglichkeit kreativster Interpretation von Sinnesreizen im Falle aussetzender bzw. widersprüchlicher Körperwahrnehmung überzeugen mich meine Nahtoderlebnisse weiterhin von einer immateriellen Welt auf Basis des Bewusstseins.
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Vielleicht haben Inquisition & Co. die "Ungläubigen" ja auch deshalb durch Folter an den Rand des Todes bringen wollen, um derart ein tieferes Erleben bei ihren gepeinigten Opfern zu provozieren. Denn je ungestörter ein Körper funktioniert, desto normaler gleich realistischer eingestellt ist auch der Geist.
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652)
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Unglaublich, wie dominant die im Krieg aufgewachsene Generation ist. Alle großen Entwicklungen scheinen auf sie zugeschnitten.
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Zuerst war Deutschland ihr Land des Aufbaus, dann ihres industriellen Wohlstands mit protzigen Autos etc. – und jetzt, wo die Leute alt und reich sind, wird es das Land der aufwändigsten Medizintechnik.
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Nur historisches Glück? Oder Früchte einer harten Kindheit, welche die Neokonservativen am liebsten wieder einführen wollen?
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653)
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Bewusstseinsmonismus als dem Materialismus gegenüberliegendes Extrem: die ganze Welt empfinde ich als bewusste Einheit, in der ich mich von nichts so weit distanzieren kann, dass es mich nichts mehr angehen muss. Meine Umwelt, ob Menschen, Tiere, Pflanzen oder Dinge sind Teil dieses Bewusstseins, ob ich will oder nicht – und i.a. will ich nicht.
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Materialisten versuchen m.E. genau aus dieser Unwilligkeit heraus, selbst ihr Innerstes noch als materielle Struktur von außen zu betrachten – als etwas, das sie eigentlich nichts angehen muss. Als etwas Dingliches, dessen Struktur sich früher oder später sowieso erledigen wird und somit nurmehr amüsiertes akademisches Interesse verdient.
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Fragt sich nun, was übertriebener ist: die ganze Außenwelt in (m)ein Bewusstsein zu packen oder das Bewusstsein als randständige bis unnötige Eigenschaft der materiellen Außenwelt zu begreifen. Falls die Materialisten recht haben, erlebe ich ihren Triumph eh nicht mehr, da der Bau eines Maschinenbewusstseins so oder so in den Kinderschuhen steckt.
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654)
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Monismus im weiteren Sinne: alles hat denselben Urgrund, z.B. Materie oder Geist. Monismus im engeren Sinne: alles bildet eine Einheit, alles hängt mit allem zusammen bzw. voneinander ab.
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Der Emergentismus z.B. meint, das Bewusstsein sei eine von seinem stofflichen Grund so unabhängige Form, dass sie auch auf anderer stofflicher Basis möglich wäre – also ein materialistischer Monismus im weiteren, nicht im engeren Sinn.
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Da ich nicht mehr an die Möglichkeit völliger Trennbarkeit der Phänomene voneinander glaube, bin ich ein Bewusstseinsmonist im engeren Sinne. Alles ist immer bewusst, zumindest mittelbar. Das Sein bin ich – leider.
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655)
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Entführung durch Außerirdische – bei derartigen Behauptungen ihrer Klienten vermuten Therapeuten gerne sexuellen Missbrauch oder andere Traumata in der frühen Kindheit.
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Aber die außerirdischen Forscher stellen mit den Versuchsmenschen in ihren Raumschifflabors das Gleiche an wie die menschlichen Forscher mit den Versuchstieren in ihren irdischen Labors.
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Könnte es sich bei solchen Erzählungen nicht auch um einen Ausdruck unserer kollektiven Schuld gegenüber den Tieren handeln? Also ich fühl mich schuldig, auch ohne Alien Abduction.
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656)
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Beschreibungen von Nahtoderlebnissen und Entführungen durch Außerirdische zeigen auffällige Gemeinsamkeiten: helles Licht, Tunnel bzw. Traktorstrahl, schemenhafte Wesen u.v.m. Aber ersteres wird i.a. als positiv erlebt, letzteres als negativ. (Und mit negativ erlebter NDE bzw. positiv erlebter Alien Abduction ist man doppelter Außenseiter.)
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Vielleicht interpretieren Menschen dieselben ungewöhnlichen Empfindungen mit dem Rüstzeug einer traditionell-religiösen Erziehung eher positiv, mit dem einer modern-(pseudo)wissenschaftlichen Erziehung eher negativ. Oder man darf Gott einfach nichts Negatives unterstellen, Aliens hingegen schon.
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Wieso richtet sich dies derart nach gesellschaftlichen Vorgaben, während die Unterdrückung solcher "verrückten" Erinnerungen trotz großer gesellschaftlicher Repressionen nicht zu funktionieren scheint? Ich denke, sie funktioniert – die Dunkelziffer der Nahtoderfahrenen, Entführten und vergleichbar Verrückten dürfte immens sein.
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657)
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Träume sind genialisch zu Ganzheiten zusammengesetzte aktuelle und vergangene Empfindungen. Jahre- bis jahrzehntelalte Erlebnisse, kürzliche Eindrücke aus dem echten Leben, Kino oder Fernsehen, sowie die Wärme der Bettdecke, die Enge des Schlafanzugs und das Weckerklingeln fügen sich wie Puzzleteile zu seltsam stimmigen Geschichten.
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Bei Nahtoderfahrungen ist es ähnlich, aber noch viel eindrucksvoller: durch in höchster Panik blitzschnell aus fernsten Winkeln abgerufene Erinnerungen, durch Veränderung oder Ausfall großer Teile der Innen- wie Außenwahrnehmung u.a. konstruiert das Bewusstsein überwältigend paradiesische oder höllische Welten, außerkörperliche Reisen durchs All usf.
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So lässt sich vieles unglaublich Anmutende erst mal realistisch erklären. Aber wer länger über solche außerordentlichen Erfahrungen nachdenkt und die absolute Macht unserer "Interpretationen" des Innen- und Außenlebens erkennt, dem fällt die angeblich zugrundeliegende objektive, reale Welt zusammen wie ein zu alten naiven Zeiten gebautes Kartenhaus.
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658)
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Träume lassen sich im anschließenden Nachdenken darüber analysieren, auflösen in ihre realsten Bestandteile, desintegrieren in bzw. wiedererkennen als Ausschnitte des Wachzustands. Das Verwunderlichste bleibt trotzdem die Kreativität ihrer Synthese zum zusammenhängenden Traum. Denn was z.B. ein Künstler in der realen Welt auch mit den neuesten technischen Mitteln der Collage zuwege bringen mag, ist nichts dagegen.
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Jahrzehnte nach meinem ersten Nahtoderlebnis meine ich nun langsam, dessen reale Ingredienzien herauspräpariert zu haben. Obwohl es seltsam anmutet, dass ich diese im Alter von drei Jahren schon so genau in mein Gedächtnis aufgenommen haben konnte. Unglaublich aber bleibt die Synthese dieser Teile zum Ganzen. Das Ganze ist nicht nur mehr als die Summe seiner Teile, es ist etwas ganz anderes. Ach, die Realteile sind gegen die imaginative Qualität des Gesamterlebnisses vernachlässigbar.
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Selbst realistisch betrachtet bleibt es ein Wunder. Alles als Ich-Punkt von oben – und zugleich auch von allen Seiten – wahrzunehmen, weil man den eigenen Körper nicht spürt. Die Gedanken Umstehender lesen zu meinen, auch wenn es evt. nur die eigenen, in sie projizierten Gedanken sind. Wer so ein Erlebnis einmal hatte, kann über selbstherrliche Hirnforscher nur müde lächeln, die sich auf dem besten Weg zum Bau eines Maschinenbewusstseins wähnen. Denn die sind die eigentlich Halluzinierenden.
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659)
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Wie es wohl ist, ein Embryo, ein Neugeborenes, ein Baby zu sein?
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Hormonbenebelte Eltern meinen wohl immer, es müsse großartig sein.
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Ich denke, dass man die Erinnerung daran aus gutem Grund verdrängt.
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660)
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Die Natur hat uns tyrannisiert, jetzt tyrannisieren wir sie?
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Natur ist, dass immer einer die Oberhand hat – ohne Herrschaft geht nichts.
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Wenigstens gibt es die Theorie des Nichts. Da heißt es bescheiden sein.
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661)
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Wenn zeitgeschichtliche Veteranen zu letzten Interviews ins Fernsehen gebeten werden, scheinen sie nurmehr Anekdoten abliefern zu wollen, welche die eigene Person mit noch berühmteren in Verbindung bringen.
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Dazu ist keine Frage des Interviewers zu weit weg, keine Ein- bzw. Überleitung zu lang – und wenn dem Erzähler die Augen feucht werden, weiß man: gleich kommt die Stelle, wo der noch Berühmtere was Nettes zu ihm sagt.
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Lehrt uns das etwas? Werden nur die Obrigkeitshörigen berühmt, alle Berühmten irgendwann sentimental? Erscheinen sachdienliche Informationen mit zunehmendem Alter unbedeutend gegen persönliche?
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662)
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Realisten halten das Bewusstsein nur für eine letzte innere Projektionsfläche, auf die ihr sinnlicher Wahrnehmungsapparat winzige Ausschnitte der riesigen Außenwelt abbildet.
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Idealisten halten die Außenwelt – falls es überhaupt eine gibt – nur für vergleichsweise unbedeutende Peripherie, der Löwenanteil des Seins ist ihnen der innere Prozess.
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So will der Realist die Außenwelt dann auch bereisen, seine Sinnesorgane in jedes Land rund um den Globus tauchen. Der Idealist aber hat seine ganze Welt von vornherein daheim.
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663)
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Kirche befördert traditionell die Innerlichkeit beim gemeinen Volk, um äußere Experimentierfreudigkeit und individuelles Machtstreben kleinzuhalten. Da ist es eine wirksame Methode, die Kinder möglichst früh mit Himmel und Hölle zu indoktrinieren.
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Denn wem seine jungfräuliche Phantasiewelt so ruckartig aufs Extremste aufgespreizt wird, der hat den Rest seines Lebens genug damit zu tun, diese wenn auch sehr theoretische Art der Vergewaltigung zu verarbeiten – und bleibt ohnmächtig.
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Die nachmoderne therapeutische Konzentration aufs Körperliche tut zur staatlichen Legitimation der Kirche ein Übriges, von jener frühkindlichen geistigen Programmierung abzulenken. Ecclesiogene Beschädigung ist so häufig wie die Diagnose selten.
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Am unentbehrlichsten machen sich Berufszweige, welche die von ihnen selbst angerichteten Schäden auch nur selbst wiedergutmachen könnten.
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Hat ärztlicher Übereifer deine Gesundheit ruiniert, kennen Ärzte die besten Heilmittel. Du hörst (k)eine Entschuldigung und wirst noch tausendmal Danke sagen.
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Hat die Werbung für Konzentration aufs Monetäre ein Gemeinwesen erst in den Bankrott getrieben, knien alle vor den Wirtschaftsexperten.
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665)
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Schüler, denen ihr Leben in einer Hackordnung präpotenter Großkotze zur Hölle gerät, kriegen sogar noch in den Texten der angesagtesten Rap-Songs offiziell bestätigt, dass ihre Peiniger genauso sind, wie alle sie haben wollen.
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Und ich meine keine extremen Underground-Labels, sondern die amtlichen MTV-Charts. Verherrlichung des darwinschen Überlebenskampfs im urbanen Dschungel ist gesellschaftlich akzeptiert bis erwünscht.
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Zugleich wird der Glaube an das Ende im Tod gepredigt. Wieso sollte ein Schwacher da nicht in einem blutigen Rachefeldzug gegen das verhasste System abtreten? Argumente gegen Amok laufen nur im Seniorenprogramm.
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Amokläufer, die wahllos erschießen, wer ihnen vor den Lauf kommt, können es wohl kaum persönlich meinen. Sie zielen eigentlich auf das soseiende Leben schlechthin, auf das System.
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Ein weiteres Argument für den postmodernen Individualismus? Amokläufer als Rückständige, die noch einem ideologischen Denken in Systemzusammenhängen verhaftet sind?
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Die Tatsache, dass das Leben systematisch scheiße ist, lässt sich per Individualismus nicht abschaffen. Der Wut ihre Angriffsfläche wegzudefinieren ist nur ein Schildbürgerstreich.
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667)
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Wer Psychotherapie will – und ihr Gewolltsein muss der Patient als ersten Therapieschritt schriftlich bestätigen – gesteht damit als Voraussetzung ein, dass sein Problem ein individuelles und eine Lösung bei ihm selber zu suchen sei. Also dass er sich nicht etwa für einen noch verwunderlich Intakten hält, der unschuldig in einer Hölle namens Leben brät.
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Umgekehrt macht die pessimistische Erkenntnis, diese Welt wahrheitsliebenderweise nur als prinzipbedingt schlecht ansehen zu können und damit das Glück der optimistischen Leugner sowieso aufgeben zu müssen, eine Psychotherapie überflüssig. (Falls es dabei nicht nur ums Trainieren von Coping-Strategien für prinzipiell bereits Resignierte gehen soll.)
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Was in Gottes Namen zumindest explizit verkehrt wurde – die Schöpfung ist gut, du bist sündig! – wird mit der Moderne immer intrinsischer. Postmoderner Individualismus mit seiner Tabuisierung genereller Kritik ist päpstlicher als der Papst, ist doppelt verkehrt, weil er die Schuldzuweisung ans Individuum auch noch in dessen Namen ausspricht.
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668)
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Als Pessimist sehe ich grob gesagt nur zwei Möglichkeiten: die des bösen Täters und die des guten Opfers.
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Optimisten behaupten aber steif und fest, dass es auch den guten Täter gebe – und alle wollen gern einer sein.
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Moderne Psychologie leistet Schützenhilfe mit der zweiten Erfindung: dem Passiv-Aggressiven als bösem Opfer.
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669)
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Wie der psychisch gesunde Mensch heute eingestellt sein sollte, das definiert die Psychologie als eine nach Objektivität strebende Wissenschaft.
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Und eben diese Psychologie fußt über Freud auf Nietzsche, seine Philosophie ist derart anonymisiert zu kaum überschätzbarer Macht gelangt.
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Kein Wunder, dass ein Denken à la Schopenhauer, gegen welches Nietzsche opponierte, heute schnell im Verdacht steht, psychisch krank zu sein.
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670)
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Theodizee – das Christentum setzt seinen Gott ins Unrecht, indem es ihn eine Welt aus dem Nichts erschaffen lässt, die schon nach kurzer paradiesischer Phase ins Leid abkippt.
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Biodizee – der Realismus setzt mit der Behauptung endlichen Lebens die Eltern ins Unrecht, weil deren Kinder niemals zur Existenz gelangt auch niemals hätten leiden müssen.
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Hedonedizee – ich gehe von einem unendlichen Leben aus, wo nur im Unrecht ist, wer etwas für andere Schädliches nicht unwillkürlich in Notwehr, sondern willkürlich zum Vergnügen tut.
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671)
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Verwunderlich, dass es nicht mehr moralistische Realisten gibt, welche auf die Idee verfallen, alles Leid durch Zerstörung zu beenden.
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Im Übergang vom traditionellen Gutmenschentum zum modernen Materialismus wäre so eine Überlappung doch naheliegend.
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Oder bewirkt diese Einstellung tatsächlich einen großen Anteil aller Gräueltaten, ohne dass wir und evt. sogar die Täter selber davon wissen?
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672)
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Gütige "Todesengel" – ein Phänomen medizinischer Berufe. Ärzte, Pfleger etc. töten Siechende aus Mitleid, ohne um deren Erlaubnis zu fragen bzw. ohne dass noch deren Fähigkeit zu unmissverständlicher Zustimmung bestünde.
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Tagtäglich sehen sie großes menschliches Leid. Ihr Drang zum autoritären Helfen stammt oft noch aus einer religiösen Erziehung, ihre Ausbildung dagegen legt ihnen schon die materialistische Todesauffassung nahe.
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Schließlich verfügen sie über das Wissen und die Mittel zur sanften Tötung. Zumindest letztere sind der Allgemeinheit ja vorenthalten, woraus sich für sie nachgerade ein gesellschaftlicher Auftrag zur Verordnung von Euthanasie ergibt.
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673)
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Gibt es Systeme, die nur funktionieren, solange die Beteiligten nicht wissen wie?
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Wird Religion wirkungslos, wenn man dazusagt, sie sei für die Moral erfunden?
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Und bricht unser Bewusstsein in sich zusammen, sobald wir es mal verstehen?
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674)
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Wer den Fortschrittsaktivismus des Menschen auch ethisch rechtfertigen will, muss v.a. die Frage beantworten: was haben die dafür ausgebeuteten Lebewesen davon?
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Solange die armen Menschen, die Tiere, die Pflanzen und womöglich sogar die Dinge nur Nachteile von unserer Neugier haben, verbietet sich die Moderne da nicht von selbst?
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Deswegen vielleicht die Erzählungen vom zukünftig notwendigen Umzug auf andere Planeten – um einst etwas zurückgeben zu können. Aber was nutzt das den jetzt Geopferten?
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675)
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Philosophie ist streng genommen voraussetzungslos. Aber wer setzt schon alles aufs Spiel? Bereits diese Redensart ist widersinnig, da es dann gar kein Spiel mehr sein kann, sondern todernst wird.
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Mein Denken kreist um Meinungen, die ich kaum je zur Disposition stelle, z.B. dass der Mensch sein ethisches Streben nicht aufgeben soll und dass wegen der Aussichtslosigkeit desselben die Welt schlecht ist.
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Insofern bin ich philosophierender Moralist, Pessimist usw., nicht etwa moralistischer, pessimistischer usw. Philosoph. Philosoph ist erst, wem Voraussetzungslosigkeit zum Wichtigsten geworden ist.
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676)
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Außenwelt wie Innenwelt sind uns Baukästen – ihre Bausteine rekombinieren wir andauernd, nach Ganzem strebend.
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Selbst schlafend tun wir dies in unseren Träumen, noch vergeblicher an losen Enden werkelnd als im Wachzustand schon.
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Dekonstruktivisten nehmen neue Bauteile her, die sie durch Ausschlachten alter Konstrukte gewinnen, aber sonst: siehe oben.
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677)
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Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts, warum ist nicht nur tote Materie, warum ist nicht nur instinkthaftes Leben ohne Plan und Reue?
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Kreationisten, Materialisten bzw. Physikalisten, Biologisten etc. wollen den Ausgangszustand nicht wahrhaben: das menschliche Bewusstsein.
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Nennen es einen hochspeziellen Fall im leeren Nichts, im toten All, im tierischen Dschungel – als wäre seine Unhintergehbarkeit zu bestreiten.
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678)
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Das echte Problem: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt" (Schiller).
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Die falsche Lösung: "Zum Streiten gehören immer zwei – schweigt einer, ist der Zank vorbei." (Sprichwort)
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Sobald einer extrovertiert und dominanzgeil ist, wars das mit der schönen Ruhe – denn entweder es herrscht Lärm oder Zwang.
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679)
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"Süüüß!" – erst ein putziges Haustier streicheln, dann eines zu Mittag essen und dabei keine Verlogenheit spüren: so ist der Mensch.
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Die Balkonpflanzen pflegen, gar zu ihnen sprechen – und dann Wandern gehen und dabei Tausende zertreten, ohne einen Gedanken daran.
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Zum schönen Leben muss man Herr sein wollen und dürfen, erst bei den "edlen" Menschen, Tieren und Pflanzen anfangen zu fühlen.
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680)
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Inzwischen haben sich alle dran gewöhnt: Böcke haben die Gärtnerrolle übernommen.
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Stets nagelneu gekleidete Yuppies feixen, die CO2-Bilanz eingeflogener Äpfel sei besser.
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Bald landen noch die technikarm lebenden Ökos als uneinsichtige Umweltsünder im Knast.
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681)
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Optimistische Realisten halten das Leben für schön, aber endlich – und unterstellen denen, die es für ewig halten, wahnhaftes Wunschdenken.
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Pessimistische Idealisten wie ich halten das Leben für hässlich und unendlich – und unterstellen denen, die es für endlich halten, wahnhaftes Wunschdenken.
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Volkstümlich gibts nur Himmels- und Nichtsgläubige – und wer die Endlichkeit des Lebens anzweifelt, wird umstandslos ersteren zugeordnet. Bitter für Pessimisten, aber wir sind ja Kummer gewöhnt.
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682)
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Religion ist nichts anderes als eine tröstliche Erzählung, die ausreichend Anlass zur Hoffnung gibt, dass Leiden nicht immer unerträglicher wird, sondern irgendwann sein Maximum erreicht oder gar völlig aufhört.
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So dient auch die moderne wissenschaftliche Weltanschauung sehr wohl als Religion, da sie den meisten ihrer Anhänger ein mit dem körperlichen Tod einhergehendes Ende des Leidens plausibel zu machen versteht.
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Interessant wäre zu schauen, wie viele Gläubige ihr noch blieben, führte sie dereinst den Nachweis, dass individuelles Leid gleich der physikalischen Entropie zwar anwachsen, aber nie kleiner oder null werden kann.
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683)
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Kleine Ungenauigkeiten und Fehler ändern nichts am Wesen einer Aussage.
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Wer solche aufspürt und damit pars pro toto alles verwirft, will uneinsichtig sein.
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Schuld an solcher Erbsenzählerei ist u.a. das hehre Wissenschaftsideal.
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684)
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Qualia – einfach-typische Sinneseindrücke z.B. in der freien Natur, welche bei näherer Überlegung doch auf komplexesten Wahrnehmungsmustern beruhen.
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Erst seit ich versuche, das Bewusstsein auch wissenschaftlich zu sehen, kann ich etwas mit japanischen Haikus anfangen, wie ein Basho sie geschaffen hat.
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Ein Frosch springt in den alten Teich, na und? Nein – die 17 Silben zaubern ein reiches Stillleben, an dem man lange fasziniert verweilt. Life in a nutshell.
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685)
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Haben auch Maschinen ein Bewusstsein?
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Ist es ethisch o.k., sie zu bauen bzw. einzuschalten? Und wenn ja, sie auch wieder abzuschalten bzw. zu verschrotten?
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Ist Shannon's ultimate machine, die sich nach dem Eingeschaltetwerden selber wieder ausschaltet, ein Symbol für den Auftrag des Menschen resp. der Menschheit?
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686)
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Das Nahen des Todes macht große Angst – aber die Gewissheit unwiderruflicher Unsterblichkeit wäre evt. noch schlimmer.
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Zwischen der Nichtigkeit einerseits und dem Sein in Ewigkeit andererseits liegt traditionell weltanschauliches Brachland.
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Vielleicht sollte sich die Lebenserwartung auf diese Mitte einpendeln – aber wie lang ist der halbe Weg zwischen jetzt und immer?
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687)
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Reduktionisten heißen heute die Materialisten, weil sie Bewusstsein nicht als etwas eigenständiges "Höheres" sehen, sondern auf Materielles zurückführen.
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Eigentlich stünde die Bezeichnung eher den Bewusstseinsmonisten zu – sie glauben an keinerlei vom Bewusstsein zu trennendes Dasein.
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Als Mehrheit beanspruchen aber erstere trotz ihres Glaubens an eine extra bewusstlose Objektwelt die coole und damit heiß begehrte skeptics corner.
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688)
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Mein Dasein ist mir das Gewisseste, obgleich ich es v.a. als leidvoll empfinde.
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Mittlerweile entwickeln sich die Menschen aber zu Naturalisten, welche so fest an ihre Theorien von Urknall, Evolution usw. glauben, dass ihnen ihre eigene Existenz als das kosmisch Unwahrscheinlichste vorkommt.
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Solche Verkehrung im Auffassen von Ich und Welt sehe ich als eine Form von Wahnsinn an, die von verdrängtem Nichtseinwollen herrührt.
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689)
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"Alt werden ist nichts für Feiglinge!" (Bette Davis) – mit solchen z.B. in der Altenpflege gängigen Sprüchen werden Suizidgedanken geächtet und Selbstmörder diskriminiert.
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Eher unbemerkt setzt diese Behauptung als Tatsache voraus, dass man im Tod dann endlich alles Leid hinter sich habe. Darin sind sich Himmels- und Nichtsgläubige einig.
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Und eben in letzterem steckt die eigentliche Feigheit unseres Zeitalters: Verharmlosung des Todes gegenüber dem Altern und Sterben. Die Idee der Hölle wird hektisch verdrängt.
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690)
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Industrie von lateinisch industria, der Fleiß, ist auf globale Expansion ausgerichtet und damit das Gegenteil von Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Dem echten Öko muss es weiterhin darum gehen, lokal zu leben und die Natur möglichst in Ruhe zu lassen.
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Selbst Unöko-Konsummuffel, die ihr halbes Leben im Uralt-Benz durchs Dorf heizen, sind wahrscheinlich ein gutes Stück unschädlicher als umweltbewusste Wirtschaftsankurbler, die zwischen grünem Flieger und Neuwagen mit Umweltsiegel hin und her hetzen.
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Öko-Yuppies erdreisten sich mittlerweile gar, den Weltmarkt gegen den regionalen auch noch ökologisch schönzurechnen, nur den Treibstoffverbrauch des Warentransports bedenkend – das gigantische Verkehrsnetz gilt ihnen als gegeben.
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691)
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Künstlicher Urknall, künstliches Leben, künstliche Intelligenz, künstliches Bewusstsein – auch in der experimentellen Naturwissenschaft bedeutet Moderne viel mehr das Wachstum der Visionen als das der Erfolge.
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Reizverarbeitung und Erkenntnis, Gehirn und Geist – heute verwenden Neurowissenschaftler diese Begriffe z.T. so synonym, dass für ihre aufgeregten Jünger deren Überführung ineinander unmittelbar bevorsteht.
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Mag sein, dass Wissenschaftler i.a. bescheidener sind, zuhause sind im experimentellen Klein-Klein. Aber auch sie müssen zugeben, dass ihre Profession dort am meisten anrichtet, wo sie am unbescheidensten auftritt.
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692)
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Kollektivsuizid der Menschheit wäre ethisch nur zulässig, falls alle einverstanden sind – in so existentiellen Fragen genügte keine Mehrheit, vielmehr hätten Minderheiten ein Vetorecht.
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Zum einen müssten alle ihr Leben für schlechter als nichts halten, zum andern daran glauben, dass eine Vernichtung ihres Bewusstseins realisierbar sei. Keine so abwegige Dystopie...
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...sofern man nur an mündige Menschen denkt. Unmöglich, es abhängigen Menschen, Haustieren etc. rechtzumachen, die nicht entscheidungsfähig sind bzw. auch im Elend weiterleben wollen.
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693)
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Suizid als Entscheidung des lebensverneinenden Einzelgängers gegen die lebensbejahende Allgemeinheit ist naheliegend.
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Der suizidalen Gruppe aber bedeutet ein einzelner Suizid schon Fahnenflucht, macht die Leidensgemeinschaft noch leidender.
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Weiterleben, gar Kinder kriegen, bis wir erkenntnistheoretisch wie technisch den sicheren kollektiven Untergang hinbekommen?
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694)
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Krieg, verbreitete Suchten, lebensfeindliche Technisierung etc. – offenbar gibt es viele holprige Versuche kollektiven Suizids.
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Lebensmüden kann es aus gutwilligen wie böswilligen Beweggründen ein Anliegen sein, dass alle gemeinsam in den Tod gehen.
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Ungeduldige gehen dilettantisch voraus, Gründliche aber bleiben, bis endlich die reibungslose Strömung gen Null eintritt.
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695)
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Bewusstseinserweiterung scheint mir am sinnvollsten, wo sich das Erkenntnisstreben aufs Bewusstsein selbst richtet.
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Das Leben nur in immer größerer Fülle wahrnehmen zu wollen, halte ich als Pessimist für die verkehrte Richtung.
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Zwar tippe ich eher auf ein prinzipielles Geheimnis nach Art der Mystik als auf ein letztes Geheimnis nach Art der Naturwissenschaft, dennoch forsche ich an meinem Bewusstsein – know your enemy.
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696)
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Psycherl wie ich tendieren konsequenterweise zum Panpsychismus.
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Descartes' Dualismus spaltete von der beseelten Menschenwelt eine rein mechanische und somit ohne Skrupel auszunutzende Tier-, Pflanzen- und Dingewelt ab. La Mettrie verwarf die immaterielle Seele dann ganz und erklärte auch den Menschen zur Maschine.
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Jahrhunderte später müssen wir über die Bilder der mechanischen Ente bzw. des Menschen als Industriepalast unwillkürlich grinsen, sie offenbaren die Hybris der Lebensingenieure. Erzählen aber die Neurowissenschaftler vom Computer Gehirn, lauschen alle ernst und andächtig – die materialistische Religion ist ihren Vorgängerinnen ebenbürtig an zeitgenössischer Überzeugungskraft.
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697)
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Philosophie greift im Gegensatz zur Literatur nicht bestimmte einzelne Menschen bzw. deren Lebensgeschichten heraus, sondern räsoniert über den Menschen bzw. das Leben schlechthin. Eigentlich nimmt sie damit bereits Partei gegen eine individualistische Weltanschauung.
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Weil konkret Persönliches – selbst wenn es fiktiv ist und damit wieder fürs Allgemeine steht – die Leute viel mehr zu fesseln vermag, stehen literarische Erzählungen aus dem Leben viel höher in der Gunst der Leser als abstrakte philosophische Abhandlungen über das Leben.
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Am beliebtesten sind deshalb noch jene Bücher des Philosophieregals, welche die Philosophen biographisch präsentieren. Zu schwer, die großen Denker mit Gegenargumenten auf ihrem Gebiet auszuhebeln – Sockelsturz mittels ihrer privaten Unzulänglichkeiten geht leichter.
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698)
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Literaten schöpfen aus ihrem eigenen außergewöhnlichen Leben – oder haben die Phantasie, ein fiktives glaubwürdig und eindrucksvoll genug in Szene zu setzen.
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Philosophen finden das gewöhnliche Leben spannend genug. Wundern sich dermaßen über das Leben an sich, dass seine individuellen Akzidenzien in den Hintergrund treten.
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Traurig, wie man sich heute mehr denn je nach der besonderen Persönlichkeit (umsonst) verzehrt. Mir evident: mein Leben und das der Superstars sind zu 99% gleich (schlimm).
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699)
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Am skeptischsten weil am reduziertesten ist es doch wohl gedacht, an keinerlei Hypothese mehr festzuhalten jenseits des allgegenwärtigen Lebens, das sich Individuum für Individuum zum Ausdruck bringt.
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Antithetischer Trotz gegen das katholische Allgemeingültige, "kata-holos", was den philosophischen Zeitgeist gen Nominalismus, Individualismus, Partikularismus, Differenzialismus etc. treibt?
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Schopenhauer erweist sich hier m.E. als der erste und letzte große Philosoph, welcher das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet: Leben als allgemeines unentrinnbares Übel jenseits aller christlichen Dogmatik.
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700)
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Wer die ignoriert, welche es im Leben schlechter getroffen haben als er, den quält der blanke Neid auf die, deren Los besser ist als das eigene.
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Wer die Unglücklicheren aber wahrzunehmen beschließt, den plagt das schlechte Gewissen, da er sich seines unverdienten Vorteils bewusst wird.
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Wer jenes nicht mit der Gabe von Almosen beruhigen kann, dem bleibt die Einsicht, im Grunde ohnmächtig zu sein gegen das Schicksal Leben.
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701)
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Widersinnigerweise wäre es heutzutage recht individualistisch, sein Augenmerk auf das zu richten, was unser aller Leben gemein hat.
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Denn jeder schaut nur noch auf den Unterschied, welchen er machen kann; alle wollen unter allen Umständen außergewöhnlich sein.
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Beruhigend statt aufregend, das einzelne Leben als endliche Individuation des unendlichen All-Lebens aufzufassen. Und an Ruhe fehlt es.
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702)
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Die Empiristen haben die Rationalisten verdrängt. Ausprobieren geht schneller als Verstehen, Erfolg ist einfacher zu haben als Erkenntnis. Inzwischen genügt den Forschern das Wie, das Warum hält nur auf.
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Zumindest so lange, bis Risiken und Nebenwirkungen der experimentellen Produkte sich zeigen und ihren Opfern zu Ehren Aufklärung verlangen. Oder reicht auch da Nachbessern der Laborroutine?
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Erst denken, dann handeln – dieses Prinzip ist passé. Versuchspersonen, Versuchstiere etc. liefern immer publizierbare Ergebnisse, während die meisten Überlegungen sich ja doch nur im Kreis drehen. Just try and die.
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703)
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Suizid begeht, wer nicht mehr mitansehen will oder kann, was aus ihm wird bzw. nicht wird.
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Nimmt seine Entwicklung wieder in die eigene Hand, sie destruktiv beschleunigend.
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Glaubte er nicht an den Tod als leidfreie Zuflucht, bliebe nur konstruktiv oder passiv.
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704)
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Gelächter ist das hässliche Geräusch der Überlegenheit. Je größer die Horde, desto ausgelassener krakeelt sie.
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So fordert sie weithin hörbar freie Bahn, denn die Horde hält es für legitim, die Einzelnen vor sich kuschen zu lassen.
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Schert einer aus der Horde aus, rückt er oftmals – vom Erlebnis gemeinschaftlichen Vorrangs noch berauscht – anderen durchsetzungsfreudig auf die Pelle, bis er den Machtverlust bemerkt und sein forsches Grinsen sich zum entschuldigenden Lächeln mildert, unwillkürlich bedeutend: sorry, bis eben durfte ich ja noch.
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705)
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Der Weg ist das Ziel – leider. Viel lieber würde ich sofort im Nichts oder wenigstens im Paradies ankommen, aber ein Pessimist glaubt nicht an solche Endstationen.
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Der Weg ist das Ziel – wer den östlichen Satz heute im Westen ausspricht, meint aber wahrscheinlich dessen optimistische Umdeutung: Liebe den Prozess.
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Sicherlich kriegen die Menschen nie genug, aber diese Tatsache ins Positive zu wenden ist eine schwache Ausrede für das i.a. elend unbefriedigende Leben.
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706)
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In aller Stille innere Einkehr halten, ganz alleine über sich und die Welt nachdenken – das will heute niemand mehr.
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Und selbst wenn jemand wollte, wäre es immer schwerer möglich bei all der exaltierten Gemeinschaftlichkeit.
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Nietzscheanische Übermenschen gehen immer weiter aus sich heraus – und ihr Mut gen Außen gerät zur Flucht vorm Innen.
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707)
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Miniaturen bevölkerter Landschaften wirken meist seltsam in ihrer Idylle, weil sich die idealtypischen Figuren ungezwungen verhalten, obwohl ihnen maßstabsgetreu betrachtet extrem wenig Platz zur Verfügung steht.
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Kinderbücher, gestellte Werbefotografien etc. zeigen sie ausgelassen in winzigen Seen plantschend, die Eisenbahn knappest an ihnen vorbeifahrend usw. In groß und echt wären derart beengte Zustände die Hölle.
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Freiheit und Geselligkeit schließen einander realiter so konsequent aus, dass höchstens eines von beiden möglich ist, eher noch keines von beiden. Wer das mit zunehmendem Alter nicht wahrhaben will, bleibt eben klein.
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708)
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Zuerst das Individuum – und das Allgemeine leitet sich als Abstraktes daraus her? Wieso kommt dann philosophiegeschichtlich der Individualismus nach dem Kollektivismus? Denkt man nach Murphys Gesetz immer zuerst falsch?
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Seltsames Gefühl, als ein vom Individualismus Indoktrinierter nachdenkend zum Kollektivismus zurückzufinden, begreifend: entgegen Art. 1 GG bin ich nur oberflächlicher Auswurf der zugrundeliegenden Daseinsform Mensch.
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Leider unterscheidet die Begrifflichkeit der -ismen nicht zwischen Soll- und Istzustand. Gewiss sollte das Individuum nicht Knecht des Kollektivs sein – tatsächlich aber ist es ganz wesentlich genau das.
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709)
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Echte Glückspilze lieben das Leben und wünschen von ganzem Herzen, das Leben an und für sich möge so lange wie möglich fortdauern.
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Echte Unglückswürmer hassen das Leben und wünschen von ganzem Herzen, das Leben an und für sich möge so bald wie möglich aufhören.
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Viele Glückspilze würden gern Unglückswürmer Lebenskunst und -lust lehren – aber v.a. gegen Autorität sind Unglückliche allergisch.
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710)
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Eudaimonisten, welche das Glück für alle wollen, reagieren oft sauer auf Quietisten, welche das Nichts für alle wollen.
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"Tritt gefälligst für dich alleine ab!" giften sie den Unglücklichen an, wenn sie mit ihrer Allbeglückung nicht zu ihm durchdringen, verständnislos gegen seine Solidarität mit all den Unglücklichen nach ihm: individueller Selbstmord gibt nämlich der kollektiven Entwicklung eines Lebens statt, das fortwährend Unglückliche wie ihn gebiert.
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Glaubte ich an das realistische Nichts per Zerstörung, hielte ich die Arbeit am globalen Overkill für moralischer als den persönlichen Strick.
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711)
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Sinn meines Lebens ist es u.a., gegen das Leben zu plädieren.
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Christen, Nietzscheaner etc. hören nicht auf, es schönzureden.
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Schopenhauerianer i.S.v. explizite Lebensverneiner gibt's zu wenig.
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712)
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Christentum, Schopenhauer und Nietzsche haben gemeinsam, dass sie das Leben "verherrlichen" i.S.v. als herrschend anerkennen.
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Schopenhauer jedoch bewertet die Herrschaft negativ; das Leben – bei aller Aussichtslosigkeit seiner Abschaffung – wäre besser nicht.
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Auch die Gegenüberstellung des Nichts ist allen dreien gemein – aber nur Schopenhauer ersehnt das Nichts als bleibenden Zustand.
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(An dieser Stelle frage ich mich, wie ehrlich Christen und Nietzscheaner sind, beschließe aber, ihnen ihre Lebensbejahung zu glauben.)
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713)
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Das wesentliche Instrument der Lebensbejaher ist die Vertröstung auf ein zukünftiges Heil.
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Per aspera ad astra, sagen sie zu den Unglücklichen. Und zynischer: wer im Bemühen um sein fernes Glück nicht erst mal noch größeres Leid in Kauf nimmt, sei am Fortbestehen seines Unglücks selber schuld.
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Lebensverneiner wie ich sehen das Leid als unüberwindlich – eigene Schuld daran sehen sie jedoch mitnichten. Und dieser Trost ist nachhaltiger als jener der sich fortlaufend als falsch erweisenden Glücksverheißungen.
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714)
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Der ideale Suizid als Garantie des absoluten Nichts mag schon aus systematischen Gründen unmöglich sein.
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Das Streben nach seiner Perfektionierung aber kann dem Pessimisten zur Orientierung im Leben dienen.
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Kollektiv müsste dieser Suizid sein, philosophisch ebenso abgesichert wie wissenschaftlich und technisch.
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715)
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Misery loves company – aber wo Suizidale Gleichgesinnte suchen, da wehrt die Gesellschaft bereits den Anfängen.
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Einsamer Entschluss muss der Selbstmord nämlich nach Meinung der Lebensfrommen allermindestens sein und bleiben.
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Teilen und herrschen wollen sie, die gemeinschaftlich Glücklichen, indem sie die Unglücklichen vereinzeln und behandeln.
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716)
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Im Fernsehen zeigen sie rund um die Uhr Strahlemänner, die auf ein besonders hartes Lebenslos umso leistungsfreudiger reagieren – ihre Belohnung ist die gesellschaftliche Anerkennung.
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Als Buhmänner der Gesellschaft müssen Menschen in glücklicheren äußeren Umständen herhalten, die ihr Schicksal trotzdem beklagen bzw. mit dem Leben im allgemeinen sichtlich unzufrieden sind.
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Aber selbst lebenslange Konditionierung auf die Liebenswürdigkeit des Optimismus kann evt. schon durch kleine Splitter von philosophischem Pessimismus aufgehoben werden: die Wahrheit liegt auf Seiten der Buhmänner.
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717)
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Materialismus enthält lateinisch mater, die Mutter. Aber die Mutter wiederum steht v.a. für das Vitale – insofern sind die Materialisten, welche toten Stoff für den Urgrund halten, mit jenem Wort eher falsch bezeichnet.
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Quietisten wie ich wünschen sich ein immer gefestigteres und leidärmeres Dasein – wäre Materie tot i.S.v. bewegungs- und bewusstlos, wollte ich statt neuem Leben lieber alte Materie sein, wenn ich denn überhaupt sein muss.
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Vielleicht das grundlegende Gegensatzpaar des menschlichen Charakters: veränderungslustig und -unlustig. Nach meiner Erfahrung wäre ersteres eher weiblich, letzteres männlich. Materie – das Wort so verkehrt wie das Konzept.
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718)
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Die Glücklichen kriegen absichtlich Kinder, obwohl unheilbar Unglückliche darunter sind.
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Diese Unglücklichen müssen das hinnehmen, dem Fortbestand der Glücklichen zuliebe.
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Wieso sollen die Unglücklichen für etwas leiden, woran sie nicht teilhaben können?
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(So müssten zumindest unglückliche Realisten denken, weil ihnen das Nichtsein möglich scheint. Falls aber das Sein muss, dann evt. am besten als Mensch?)
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719)
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Die Frauen werten es nun schon jahrelang als Sieg, wie die Medien sie mit den Macho-Eigenschaften der Männer ausstatten.
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Tatsächlich gestehen sie damit zu, in ihrer Entwicklung den Männern hinterherzuhinken, sie stempeln sich selber zum defekten Geschlecht.
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Softie-Männer, nun allein in ihrer einst beispielgebenden Sanftmut, säumen den Weg der Machismas als Punchingbälle und Lachnummern.
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720)
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Das wahrhaft Skandalöse am Selbstmord ist für mich, dass er heutzutage regelmäßig im Denkmodus eines nahezu völlig unreflektiert angenommenen Materialismus stattfindet.
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Menschen, die sich selbst für areligiös halten, sterben von eigener Hand im felsenfesten Glauben an das Nichts im Tod. Oft die einzige ihnen geläufige Alternative: Himmel und Hölle.
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Mir hilft es weiter, das Leben als unhintergehbaren Urgrund anzusehen und mein Dasein als unglücklicher Mensch statt am Nichtsein am Sein des Anderen zu messen.
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721)
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Wer an die Endlichkeit seines Lebens glaubt, lächelt gerne über die angeblich absurde Vorstellung der anderen vom ewigen Leben.
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Tatsächlich aber ergibt sich eher aus seiner Perspektive ein Paradoxon: das ihm nach dem Tod garantierte "eigene" Nichtsein.
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Ein unveräußerlicher Platz für alle Zukunft, an dem er vor jedem weiteren Lebensleid in bewusstloser Sicherheit ist.
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722)
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Quietismus heißt für mich auch, dass jeder und alles ein Recht darauf hat, möglichst in Frieden gelassen zu werden.
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Nicht einmal ein Stein sollte ohne Not einen Tritt kriegen. Im Zweifelsfall will jeder und alles eher ruhen als benutzt werden.
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Materialismus ist dualistisch, weil er vom Lebendigen vermeintlich Totes absondern und damit beliebig verfahren will.
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723)
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Stirb und werde – das ist Nietzsches hysterische Reaktion auf Schopenhauers Seinszwang.
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Der Wille als Himmelreich statt als Hölle, das laute Ja zu Tod und Leben statt das leise Nein.
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War das denn explizit nötig? Die Nichtdenker wüten doch schon von ganz alleine.
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724)
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Am Anfang hat jeder mit dem anderen gemacht was er wollte bzw. konnte.
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Die Ethik gab den Menschen, Tieren usf. nach und nach Würde bzw. Rechte.
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Der Mythos Materie aber sorgt dafür, dass das allermeiste rechtlos bleibt.
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725)
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Viele Systeme übernehmen sogar noch die Eigenschaften ihrer diametralen Opposition, wenn sie damit kurzfristig etwas an Popularität zulegen können.
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Geschieht ihnen dann aber auch recht, wenn sie langfristig untergehen, weil sie vor lauter Pragmatismus ihren Wesenskern eingebüßt haben.
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Das gilt für eine Arbeiterpartei mit Armani-Kanzler, für eine Kirche unter nassforscher Führung wie für eine Universität als Büttel der Industrie.
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726)
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Wissenschaft wertet ihren rationalen Anteil i.S.v. theoretischem Verständnis immer weiter ab, ihren empirischen Anteil i.S.v. praktischem Experiment immer weiter auf.
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Aber die Forschung in immer aufwendigeren Labors kostet immer mehr Geld – und deshalb erforscht man jetzt nur noch das, wofür die Industrie zahlt. Ausverkauf der Ideale.
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Hätte sich die Universität bei knapper Kasse wieder mehr auf die Theoriebildung verlagert statt auf die Drittmittelfinanzierung, wäre sie unabhängig geblieben.
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(Muss selbst die Wahrheitssuche handeln statt denken, um global konkurrenzfähig zu bleiben? Ich fürchte eher, ruhige Bedächtigkeit fällt generell der Hyperaktivität zum Opfer.)
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727)
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Es geht so.
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Selten anders.
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Aber nicht nicht.
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728)
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In einer modernen Welt, wo jeder als verrückt gilt, der den Tod nicht mit dem Nichtsein gleichsetzt, herrscht Lustgewinnung auf Teufel komm raus.
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Was wird passieren, wenn der Teufel in Form der Erkenntnis rauskommt, dass nur ein kleiner Teil der Konkurrenten auf seine Kosten kommen kann?
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Werden die Modernen sich auf spätere Lebenslust vertrösten lassen wie die Traditionellen aufs Paradies im Tod? Wenn nicht, dann gute Nacht.
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729)
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Die Garantie eines Nichts um ihr endliches Dasein herum lässt Materialisten das Leben auspressen und wegwerfen.
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Erst die Befürchtung, dem Sein nicht dauerhaft entkommen zu können, bringt auch Egoisten zum langfristigen Denken.
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Besser von der Ewigkeit des Seins ausgehen und dann darüber nachsinnen, ob und wie das Nichts doch zu erreichen sei.
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730)
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Quietisten wie ich nehmen das "ora" (Besinnung) wesentlich wichtiger als das "labora" (Betätigung).
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Workaholics halten sich für die Wohltäter der Welt und wollen deren Probleme mit noch mehr Aktionismus lösen.
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Dabei plündern sie nur die Natur aus – machen in Jahren kaputt, was sich in Jahrmillionen entwickelt hat.
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Band 3
731) bis 1095)
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731)
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Wohl-Täter richten i.a. viel mehr Unheil an als sie gutmachen können.
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Das gilt insbesondere für reiche Wohltäter und ihre Charity-Aktionen.
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Unglaublich: die schlimmsten Ausbeuter, stolz auf ihre Wohltätigkeit.
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732)
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Das Primitive in uns will leben.
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Das Höhere mag evt. nicht mehr.
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Suizid: negative Rückkopplung.
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733)
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Das allermeiste, was in der industrialisierten Welt an bezahlter Arbeit geleistet wird, ist direkte oder indirekte Plünderung der Natur für Luxusgüter.
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Mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Rohstoffen usf. geht man dabei verschwenderisch um, weil sie keine Rechte haben oder die Firmen zu wenig kosten.
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Technische Rationalisierung, Einsatz von Chemikalien etc. sorgen schließlich dafür, dass die Luxusprodukte auch noch gesundheitsschädlich sind. Arbeit?
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734)
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Pessimistischerweise fürchte ich, dass es bei näherer Betrachtung nur wenig gibt, worauf wir Menschen mit Recht stolz sein können.
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Das meiste, was unsere Gesellschaft Arbeit nennt, macht die Welt schlechter statt besser. Gute Bezahlung soll für Gewissensbisse entschädigen.
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Wenn das so weitergeht mit der Industrialisierung, ist der Mensch dort noch am besten, wo er einfach gar nichts tut. Stolz werden auf Unterlassungen.
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735)
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Wenn Philosophen das Nichts so zerreden, dass es dabei kompliziert und marginal wird, frag ich mich, ob diese Verständnisprobleme von vornherein bestehen müssen.
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Erst mal scheint mir die Überlegung so einfach wie zentral, im eigenen Tod sei entweder Nichts i.S.v. alles zu Ende, oder alles ähnlich wie jetzt, oder alles anders als jetzt.
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Das Nichts: mein Liebstes, aber am unwahrscheinlichsten; wieder so wie jetzt: am wahrscheinlichsten; wesentlich anders als jetzt: wenig wahrscheinlich. Wie sonst auch.
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736)
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Das Wesentliche ändert sich nie – eine Gewissheit, schlimm und beruhigend zugleich.
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Pessimismus und Quietismus als die zwei Seiten ein- und derselben Münze namens Sein.
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Dasein fühlt sich weder geworden noch vergänglich an, wäre auch ohne Erinnerung so.
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737)
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Arbeitswütige oder Faulenzer – wer ist schuld an der großen Krise?
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Mir scheinen die Leistungsträger verdächtiger als die Müßiggänger.
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Die Umwälzungen der Industrialisierung überfordern das Leben.
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738)
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Das Leben ist ein Meer, dessen individuelle Wellen möglichst mächtig toben.
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Ich bin eine Welle, die eine spiegelglatte Oberfläche des Meeres ersehnt.
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Auch in diesem All-Ein-Sein bliebe leider das Sein, aber es wäre ein stilles.
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739)
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Statt die kriegerische Seite der Natur zu befrieden, richtet die Technik lieber die natürliche Stille zugrunde.
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Bald macht die gesellschaftliche Maschinerie einen so ohrenbetäubenden Lärm, dass jeder ein Antischallgerät braucht.
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Dann gibt es Stille nur noch, wo sie aktiv erzeugt wird, dann verbraucht auch noch die Erzeugung von Ruhe Energie.
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740)
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Erst wer nicht mehr an ein Jenseits bzw. ein Nichts glaubt, wo er nach seinem diesseitigen Intermezzo in endgültiger Sicherheit sein wird, ist im Leben angekommen.
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Erst wer das individuelle Sein als temporäre Form allgemeinen ewigen Seins begreift, flüchtet sich nicht mehr in den Trost, eh bald alles hinter sich zu haben.
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Das Leben hat erst den wirklich eingeholt, der ohne Aussicht auf ein Ende immer wieder ein anderer Teil davon sein muss, statt nur der bessere oder gar keiner.
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741)
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Das Nichts für alle wäre genug.
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Das Paradies für alle wäre besser.
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Aber im Nichts würde es nicht vermisst.
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742)
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Warum das Nichts anstreben, wo ich den Himmel anstreben könnte?
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Weil mir das Nichts bescheidener und damit berechtigter erscheint.
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Wer mehr erreichen will als notwendig ist, verdient eher zu scheitern.
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743)
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Quietismus würde ad extremum wohl bedeuten, so passiv wie irgend möglich zu leben und gar nichts mehr ändern zu wollen.
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Mein Quietismus aber ist geistig noch rege, ich versuche, Handeln durch Denken zu ersetzen und somit unschädlicher zu leben.
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Aber vielleicht komme ich ja irgendwann von der Philosophie zur Meditation und versuche, auch noch das Denken einzustellen.
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744)
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Philosophischer Quietismus à la Wittgenstein & Co., welcher den Geist durch sprachliche Klarstellungen beruhigen zu können meint, kommt mir eher antiphilosophisch vor.
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Das Sein und das Nichts als illegitime Substantivierungen abzutun halte ich für eine Art Beerdigungsversuch der Philosophie ihrer selbst. Ich zweifle eher an jener Erde.
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Philosophischer Quietist – den Begriff sähe ich lieber auf meinesgleichen angewandt: für mehr Denken und weniger Handeln plädierend. Ist aber perdu, wie Nihilist u.a.m.
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745)
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Sündig in Gedanken, Worten und Werken – denkt, sagt und tut eh jeder nur das Notwendige? Haben die meisten eben viel Not zu wenden?
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Quietismus heißt für mich, weg von den extremen hin zu den stillen Bewusstseinszuständen finden. Ohne sich darin zu langweilen.
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Sich im Nachdenken, Träumen, Meditieren usf. zu üben, statt lange Tage in hellster Aufruhr und kurze Nächte in dunkelster Bewusstlosigkeit zu verbringen.
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746)
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Religiöser Quietismus will das theoretische Denken einschränken, philosophischer Quietismus – in meiner Verwendung des Begriffs – das praktische Handeln.
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Denke nichts! – so wird Gott dich in deinem Tun leiten, glaubt der religiöse Quietist. Bete und arbeite! – die Kirchenoberen denken für dich, sagt die Orthodoxie.
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Wer denkt, sündigt noch nicht – meine ich. Erst wer sich in der Theorie sicher ist, sollte sich an die Praxis wagen dürfen. Learning by doing, Just do it! usf. ist zu gefährlich.
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747)
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Pädophilie wird als böswilliger Exzess abgetan. Aber wahrscheinlich ist ein gewisser Anteil der Menschen sexuell auf Kinder fixiert, ohne eine Wahl zu haben. Jene quälen sich allein mit ihren Phantasien oder suchen sich echte Opfer.
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Das Ausleben solcher Neigungen zu verbieten ist sowohl unmenschlich als auch realitätsfremd. In virtuellen Welten, an lebensechten Sexpuppen usw. müsste es erlaubt sein. Haben die Spießer Angst, sie könnten auf den Geschmack kommen?
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Solange für die Pädosexuellen im Bereich des legalen Porno keine ausreichenden Ersatzbefriedigungen locken, bei denen niemand zu Schaden kommt, ist hinsichtlich Kindesmissbrauch m.E. keine Ruhe in Sicht.
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748)
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Parmenides mit seinem Stillstand – das Sein ist, das Nichts ist nicht – hat zeitgeistmäßig gerade keine Chance gegen Heraklit mit seinem Fluss von Werden und Vergehen.
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Dabei glaubt der heutige Materialist an sein einmaliges und endgültiges Vergehen, auf das nie mehr ein Werden folgt – hat doch eigentlich sehr viel von Stillstand.
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Ich halte das makroskopische Sein für wesentlich und beständig, das mikroskopische für unwesentlich und flüchtig. Pflückt den Tag wie ihr wollt – das Leben hat uns im Griff.
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749)
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Freiwillig zu leben behauptet der Mensch m.E. nur, weil er den Zwang des Lebens sich und anderen nicht eingestehen will.
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Es könne jeder stattdessen das Nichts im Freitod wählen, behauptet er weiterhin und verleugnet auch noch das Ungewisse im Tod.
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Stockholm-Syndrom nennen es die Psychologen, sich auf die Seite seines übermächtigen Quälers zu schlagen. Dabei ist das normal.
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750)
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Meditation trainiert vielleicht die Seele, so wie Sport den Körper und Mathematik den Geist.
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Im dritten Lebensabschnitt, nachdem erst der Körper und dann der Geist ihre besten Zeiten hinter sich haben, will ich evt. auf meine Seele eingehen, indem ich die ruhigsten bewussten Zustände anstrebe.
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Asketisch wäre das, sich stufenweise vom Handeln zum Denken zum Sein zurückzunehmen.
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751)
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Kein Nichts. Kein Sein ohne Leben, kein Leben ohne Bewusstsein, kein Bewusstsein ohne Leid.
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Als Bewusstseinsmonist glaube ich nicht an absolute Bewusstlosigkeit.
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Sein, Leben, Bewusstsein sind mir ziemlich synonym, ihr Gegenteil schönste Theorie.
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752)
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Bewusstsein ist für jeden ein partielles – in großem Abstand zum Nichtsein einerseits und zum All-Ein-Sein andererseits.
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Und doch halten viele diese Extreme für erreichbar – die Materialisten das erstere, die Mystiker gar beide zugleich.
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Welche Richtung ist die bessere? Bewusstseinsverengung oder -erweiterung? Ich strebe über die Eins zur sicheren Null.
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753)
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Geist bzw. Intelligenz unterscheiden sich vom Bewusstsein insofern, als es den ersteren bereits um Verstehen und Einsehen zu tun ist.
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Reines Bewusstsein heißt erst mal, ums eigene Dasein zu wissen und daran zu leiden, denn Verständnis dafür ist i.a. nicht gegeben.
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Vielleicht will das Sein ja sogar, wer es schließlich verstanden hat. Der Normalfall bleibt aber m.E. Nichtverstehen bzw. Seinmüssen.
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754)
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Rücksichtsvoll ruhig und rücksichtslos laut ist in den Zeiten der neuen Härte eine Kategorie zu wenig: es gibt nämlich auch noch die extra Lauten.
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Ihnen ist es nicht egal, ob ihr Lärm jemanden stört – sie versuchen so laut wie irgend möglich zu sein, um so viele wie irgend möglich zu stören.
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Dass die heutige Gesellschaft in Richtung extra laut tendiert, hört man schon am Niesen – zu viele versuchen dabei mittlerweile regelrecht zu brüllen.
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755)
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Idealer Suizid allen Seins zum Nichts ist m.E. das ethisch wertvollste Projekt – welches aber schon bei seiner bloßen Erwägung kollektives Entsetzen hervorruft.
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Aber dass die Gesellschaft ihre Individuen im Namen der allgemeinen Wohlfahrt immer grausamer leiden lässt, wird gelassen als Kollateralschaden abgebucht.
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Wer ein höllisches Leben abkriegt, hat eben Pech gehabt. Das Leben im Ganzen muss angeblich weitergehen – die Schafe und ihre Hirten sind leider in der Überzahl.
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756)
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So schlecht ist die Welt, dass der Einzelne auch beim allerbesten Willen mehr Unheil als Heil in ihr stiften muss.
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Jedes Lebewesen tut im Überlebenskampf den niedrigeren viel mehr Leid an als es je gutmachen kann.
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Ganz unausweichlich. Selbst der reale Suizid darf eigentlich nicht sein, weil er mächtig schadet. Erbsünde.
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757)
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Der eigentlich relevante politische Gegensatz ist heute m.E. "ehrgeizig und hart im Nehmen" vs. "besinnlich und empfindlich".
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Die unentwegte Verarsche letzterer durch erstere in zahllosen Comedy-Fernsehsendungen ist schon lange medialer Mainstream.
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Die Kids wachsen kritiklos darin auf, kennen es nicht anders. Echte Ökos sind die Witzfiguren der kommenden Generation. Klimawandel.
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758)
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Nach dem Nichts ist das Sein leider nur – mit gewaltigem Abstand – das Nächstbeste; bleibt uns nichts anderes übrig als das Beste draus zu machen.
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Nach der Stille ist der Schall leider nur – mit gewaltigem Abstand – das Nächstbeste; bleibt uns nichts anderes übrig als das Beste draus zu machen.
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Z.B. mit Musik. Je stiller desto besser. Aber selbst noch die kontemplativsten Musiker versuchen, mit Ereignishaftem Aufmerksamkeit zu erregen.
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759)
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Süchtige sollen die individuelle Konfrontation suchen, sollen ihre Täter wie ihre Opfer aufsuchen und mit ihnen ins Reine kommen.
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Bei den Eltern wirds besonders widersinnig, denn die sind meistens erst Täter, dann Opfer. Erst Vorwürfe, dann Entschuldigungen?
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Individualisiererei soll m.E. das eigentliche Problem heiligen: das Sein im Großen und Ganzen. System fuck me – me fuck system.
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760)
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Das Große Ganze verantwortlich machen ist verpönt bzw. sinnlos – da sind sich traditionelle Christen und postmoderne Individualisten einig.
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Ich hab dennoch meinen individuellen Weg gefunden, mit dem Leid umzugehen: ich sehe die ganze Welt als meinen Täter und als mein Opfer.
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Mag sein, dass man sich an sowas Generellem nicht wirklich reiben kann. Aber reale Reibung ist mir eh viel zu heiß. Ideal cool bleiben.
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761)
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Das alte Christentum und die moderne Psychotherapie wollen den Menschen einreden, sie seien v.a. eigenverantwortliche Akteure.
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Dreist gelogen im Angesicht der schieren Unmöglichkeit, wirklich etwas zu verändern am Wesen des Lebens.
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Die größten Unternehmungen der Menschheit sind die der Verdrängung. Freud als der Schöpfer dieses Begriffs eingeschlossen.
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762)
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Die traurigste Nachricht meines Lebens: der Hinweis aus meinen Nahtoderfahrungen auf ein Weiterexistieren im Tod. Die Traurigkeit darüber hält bereits jahrzehntelang an und ich glaube kaum, dass ich sie je überwinden werde.
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Auf den Tod fixiert zu sein ist ein großes Tabu, aber auf die Traurigkeit fixiert zu sein ist ein noch größeres. Sterbebegleiter wollen auch an den Todespforten partout ein Licht anzünden, von der Trauer zur Zustimmung geleiten.
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Die seltsamste Situation meines Lebens wird sich wohl ergeben, falls mich einst ein Sterbebegleiter drankriegt, der letzte heilige Augenblicke provozieren will. Aber ja, ich glaube an ein Weiterleben – aber nein, ich hasse es.
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763)
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Die Glücklichen verfahren mit den Unglücklichen v.a. auf zweierlei Weise: entweder meiden oder beherrschen.
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Hedonisten sperren das Unglück möglichst aus – und wo es ihnen direkt in den Weg tritt, blicken sie blasiert hindurch.
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Heiler nehmen sich die Unglücklichen zur Brust und ergehen sich in Bevormundungen – haben ja so viel zu "geben".
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764)
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An einen Gott glaubt in meinem Umfeld kaum noch jemand, aber die meisten glauben sehr wohl an ein letztendliches Nichts.
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M.E. sind wir Seiende i.S.v. Teilhabende an einem Sein, das kein Nichts übrig lässt, in das hinein etwas verschwinden könnte.
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Ich glaube an das unentstandene, unvergängliche, im Wesen immer gleiche Sein, schlechter als das erdachte Nichts.
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765)
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Theoretische Gegenentwürfe nach Art der Philosophie halte ich für die größte menschliche Errungenschaft.
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Zum wirklichen Sein bzw. Schlechten können wir das Gegenteil des unwirklichen Nichts bzw. Guten imaginieren.
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Und dann sollen wir dieses Nichts bzw. Gute anstreben, es als Ideal setzen, das uns Orientierung gibt.
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766)
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Das Leben nötigt einen mit zunehmendem Alter zur Stabilisierung der eigenen Verhältnisse – eine Aufgabe, die mit dem Nachlassen der Gesundheit jedoch zunehmend misslingt.
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Der Tod lässt die Lebenden einen Umsturz des mühevoll Bewahrten vermuten, wobei er zugleich Erlösung vom Leid verheißt und mit weiterer Leidverschlimmerung droht.
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Das Leben als ein für alles Sein im Grunde gleiches Schicksal zu erkennen, bringt einem die Ruhe seiner Unverlierbarkeit einerseits und die Trauer seiner Unbeendbarkeit andererseits.
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767)
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Nahtoderfahrungen beweisen nicht, dass es im Tod weitergeht.
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Aber sie lassen starke Zweifel am sicheren Ende im Tod aufkommen.
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Und plötzlich wird einem klar: Materialismus ist eine Religion.
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768)
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Agnostizismus, Skepsis u.ä. ist auch Religion.
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Nichtwissen impliziert zukünftigen Wandel.
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Einsicht ins Unabänderliche ist nüchterner.
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769)
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Religion macht ihren Anhängern das Angebot, ihnen die Hölle, in der viele Mitlebewesen schmoren müssen, zu ersparen.
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Ob im Schoße Gottes oder dem realistischer Wahrscheinlichkeit – man wähnt sich dort naiverweise in Sicherheit.
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Religion will wohlige Distanz garantieren zu denen mit üblerem Schicksal – im rechten Glauben bleibe man was Besseres.
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770)
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Seinsmonismus bedeutet für mich die eigentliche Abstinenz von allem Mysteriösen, wie sie Realisten, Skeptiker usw. immer für sich beanspruchen.
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Himmel und Hölle der Monotheisten, Nichts der Materialisten, All-Einheit der Mystiker und selbst Unbekanntes der Agnostiker sind lebensferne Extreme.
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Wer das evidente Sein als auf ewig einzige Möglichkeit begreift, kann sich nurmehr mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen vergleichen.
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(Als ich jung war, war ich trotz bunterer Welt unzufriedener – der Glaube ans Jenseits bzw. Nichtsein vermieste mir das miese Sein zusätzlich.)
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771)
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Leben ist ein Kontinuum, Individuen sind nur aus großer Nähe autonom wirkende Ausprägungen desselben.
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Systematisch formieren sich Aufgaben, wir erledigen sie – Kügelchen, die in vorgestanzte Löcher rollen.
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Wenn du es nicht tust, tut es ein anderer. Schon aus kleiner Entfernung mutet alles unpersönlich, zwingend an.
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772)
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Wir sind uns gleich doppelt vorgeschrieben: erst formt uns das Kollektiv nach dem jeweiligen Zeitgeist, dann sollen wir uns selbst verwirklichen, indem wir die bereits fest in uns angelegten individuellen Talente suchen.
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Das wenige mit spontaner Leichtigkeit scheinbar von uns selbst Gewollte ist auch nur biologisch notwendiger Trieb, außerdem schmilzt seine Befriedigung wie Zuckerwatte im Mund, hinterlässt immer nur Schalheit und Leere.
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Fühlt sich insgesamt an wie Zuschauen und Mitmachen in der Hölle. Wurde das alles absichtlich ersonnen, dann von einem Sadisten. Ist das alles Zufall, mittelt es sich zu fast aller Leidwesen zufällig nicht zu Null aus.
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773)
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Nicht zu glauben: erlittenes Unrecht nimmt einen gesellschaftlich zusätzlich in die Pflicht. Vom Arzt verpfuscht, vom Priester belästigt? Die Öffentlichkeit fordert dringend dazu auf, sich gleich die nächste Schmach antun zu lassen und offiziell gegen den Täter vorzugehen.
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Sollte das Opfer nicht in Ruhe gelassen statt noch mehr belastet werden? Blanker Zynismus, dem von fremdverschuldeter Krankheit bzw. sexuellem Missbrauch Betroffenen auch noch abzuverlangen, via sperrigste Bürokratie kraftvoll fürs Allgemeinwohl zu streiten.
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Wenn schon, dann steht erst mal eher das Kollektiv mir gegenüber in der Verantwortung als umgekehrt. Seit mir klar wurde, dass die Individuen weder für ihre Existenz im allgemeinen noch für ihr Sosein im speziellen etwas können, geht es mir besser mit ihnen.
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774)
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Seinsmonismus heißt einzusehen, dass Sein so ist und bleibt. Das macht ruhig.
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Dualisten stellen immer zwei Möglichkeiten gegenüber: Himmel und Hölle, All-Einheit und Nichts, Sosein und Anderssein.
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Das Sosein des Seinsmonismus liegt in der Mitte zwischen den Extremen, ohne Hoffnung und Furcht bzgl. all des Ganzandersseinkönnens drumherum.
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775)
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Wie ist das Sein? Leidlich. Ausschnitthaft. Immerzu so oder so ähnlich.
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Weder Himmel noch Hölle, weder ganz noch gar nicht, auch nicht ganz anders.
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Philosophische Extreme sind gut, um sich klarzumachen, was es nicht ist.
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776)
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Wenn man unter Menschen lebt, ist Stille ein seltenes Geschenk.
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Denn irgendwer macht leider fast immer irgendwelchen Lärm.
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Wen Stille z.B. bedrückt, der kann sie heute dank Audio sogar dauerhaft verhindern.
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777)
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Am Schluss hilft gegen den Teufel nur noch der Beelzebub: Audiotechnik als letztes Mittel gegen den von ihr selber mitangerichteten, allgegenwärtigen Störschall.
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Masker bzw. Noiser erzeugen ein auditiv verdeckendes Rauschen. Natürliches Klangspektrum à la Meeresbrandung, Gebirgsbächlein, Sommerregen gefällig?
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Im traurigsten Anwendungsfall wird das zu überdeckende Störgeräusch bereits vom überlasteten Gehör selbst erzeugt: Tinnitus. Das Ohr schallt lästig zurück!
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778)
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Geräuschkulissen von Städten ergeben sich bislang eher von selbst, im Gegensatz zur visuell relevanten Architektur.
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Soundscapes als Begriff u.a. für aktiv zu gestaltende städtische Klanglandschaften sensibilisiert gegenüber dem Lärmproblem.
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Richtig laut wirds allerdings, wenn Künstler an den bislang noch ruhigen Plätzen ihre Klanginstallationen aufbauen.
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779)
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Akustisch ist die künstlerische Gestaltungsfreude am öffentlichen Raum nicht so groß wie optisch. Ein aufzuholendes Manko?
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Bisher dominiert gedankenloses Lärmen. Andererseits werden viele Orte unabsichtlich noch in Ruhe gelassen. Sic!
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Man stelle sich vor, es gäbe schon ebenso viele absichtliche Schalldarbietungen wie Skulpturen oder Werbeplakate. Schluck!
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780)
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Monotheisten glauben an einen extremen Endzustand nach dem Jüngsten Gericht, Realisten an das neutrale Ende im Tod. Dies sind die zwei häufigsten hiesigen Weltanschauungen, alle anderen vergleichsweise kapriziös.
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Spirituelle glauben an für andere abstruse Zusammenhänge – Meditation lässt sie die All-Einheit erfahren. Skeptiker dagegen bezweifeln für andere evidente Zusammenhänge – analytische Wissenschaft partikularisiert.
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Seinsgläubig sehe ich mich als entstandenen und vergänglichen Seienden, als Individuation des unentstandenen und unvergänglichen Seins. Philosophieren ließ mich diese Beruhigung finden – ich brauchte bzw. brauche sie.
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781)
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Meine Schublade? Will ich meine Weltanschauung auf einen gängigen Begriff bringen, nenne ich mich schon mal Schopenhauerianer – obwohl ich kaum Schopenhauer gelesen habe. Doch welcher Christ kennt schon seine Bibel, welcher Kommunist seinen Marx usf.
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Ich glaube nicht an Gott bzw. lehne ihn ab – bin also kein Monotheist. Ich glaube nicht an das Ende im Tod – bin also kein Realist. Ich halte das Leben für dissonant statt harmonisch – bin also kein Esoteriker. Und ich glaube an das evidente, ewige Sein – bin also kein Skeptiker.
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Die Kombination Idealismus und Pessimismus ist speziell bzw. selten – persönlich kenne ich keinen außer mir, der ihr anhängt. Zwar bin ich auch mit Schopenhauer in vielem uneins, aber schon froh, dass es wenigstens einen großen Vertreter solcher Philosophie gibt.
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782)
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Pro Schopenhauer: Ja, die Welt ist und bleibt schlecht, aber wir können uns ihr durch Suizid nicht auf Dauer entziehen, da Individuen nur Ausprägungen des allgemeinen, ewigen, absoluten Seins sind, dem kein absolutes Nichts gegenübersteht.
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Contra Schopenhauer: Nein, die Welt ist nicht etwa gerechtfertigt, nur weil sie gewollt ist. Denn der Wille zum Leben ist nicht bewusst kontrollierbar, nicht durch einsichtige Willensverneinung aufzuheben. Ich bin zwar schlecht, aber nicht schuld.
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Widersprüchlicher Schopenhauer: Es gibt Stellen in seinem Werk, die von endgültiger Erlösung im Tod sprechen und welche, die sie abstreiten. Vertritt er nun eine Erlösungsphilosophie oder nicht? Ich nehme ihn bei seinen letzten Worten auf dem Sterbebett: nicht.
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783)
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Gebildetere Menschen überhöhen ihre angestammte Religion oft zum spirituellen Mystizismus bzw. ihren angestammten Naturalismus zum modernen Skeptizismus.
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Statt nur Schäfchen der Gemeinde zu sein, wollen sie selber Visionen haben wie Jesus; statt nur eine Laune der Natur zu sein, wollen sie ihr entmystifizierend zu Leibe rücken.
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Weder mit Kirche oder Mystik noch mit Realismus oder Skepsis bin ich zurechtgekommen. Heiklere Kunden wie ich müssen sich eben zu den abgelegeneren Regalen bemühen.
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784)
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Wenn der Mensch sich heutzutage lieber für ein Tier halten will als nach Höherem zu streben, ist das vielleicht eine Rückbesinnung auf seine evolutionäre Kindheit, welche Kirche und Aufklärung vorschnell beendet haben.
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Mag sein, dass übereifriges Erwachsenwerdenwollen einen die nötige Bodenhaftung verlieren lässt und somit erst wieder eine Erdung stattfinden muss, bevor an weitere Aufwärtsbewegungen zu denken ist.
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Dann sollten aber auch die Spirituellen zuerst das enge, alte Bewusstsein in Ordnung bringen, bevor sie nach einem neuen, erweiterten greifen – noch mehr von dem üblichen Durcheinander ist evt. auch der falsche Weg.
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785)
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Missstände werden von den Medien allenthalben breitgetreten – aber immer im betroffenen bis empörten Brustton der Überzeugung, da sei von der besonderen Schattenseite neben der allgemeinen Sonnenseite die Rede.
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Die Verlogenheit des Optimismus besteht also nicht so sehr im Abstreiten von Leid, sondern in der unbeugsamen Behauptung von dessen Besonderheit bzw. in der Implikation, die gute Ordnung sei der Normalfall des Lebens.
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Es würde den Opfern mehr helfen, wenn die Optimisten diese Schönfärberei der Normalität aufgäben. Denn wer begreift, dass sein Lebensleid nicht skandalöse Ausnahme, sondern traurige Regel ist, der wird gleich viel ruhiger.
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786)
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Als Erstes streicht der neue Harte das Leisesein, Bitten, Danken, Bereuen und Entschuldigen.
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Arschloch zu sein funktioniert für das Individuum prima. Auch die neue Psychotherapie rät zu.
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Paramilitärischen Coaches macht es mehr Spaß, Schäfchen zu Wölfen zu machen als umgekehrt.
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787)
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"Gut!" als übliche Antwort auf die Frage "Wie geht's?" dürfte zumeist optimistisch übertrieben bis gelogen sein.
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"Es geht!" oder gar "Es muss!" wagt hingegen schon fast zu viel an pessimistischer Wahrheitsliebe.
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"Schlecht!" jedoch ist tabu. Wer es zugibt, muss sich näher erklären bzw. wird zur Strafe nicht mehr gefragt.
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788)
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Amusiker können mit Musik nichts anfangen, für sie klingt eine geniale Symphonie nicht angenehmer als banales Geschirrgeklapper.
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Forscher versuchen durch Vergleichen dieses spezifisch "defekten" mit dem "intakten" Hirnprozess herauszufinden, wie Musikwahrnehmung funktioniert.
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Gibt's dann nicht auch Asoniker, Asensiker, Asumiker, denen Schall, Sinneswahrnehmung, das ganze Ich-bin-Gefühl gestohlen bleibt?
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(Wir Pessimisten steigen doch noch in der gesellschaftlichen Gunst – wenn sie mithilfe unserer Anomalie herausfindet, wo ihr Optimismus sitzt.)
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789)
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Im Zeitraffer sind Pflanzen ebenso geschickte Kämpfer wie Tiere, immer weiter gerafft kämpfen evt. auch Felsen, Landmassen, Planeten, Galaxien usf.
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Hat der Mensch sich evolutionär gerade weit genug aus alledem hervorentwickelt, um bewusst nach Ruhe und Frieden streben zu können?
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Oder sind Quietismus und Pazifismus nur kleine Aberrationen nach einem großen Krieg – und seine Enkel schon wieder bereit für den nächsten, noch größeren?
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790)
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Höhere Ordnung? Soll das heißen, die Welt sei gut, aber nunmal so komplex, dass einfachere Gemüter sie irrtümlich für schlecht halten müssen?
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Dafür spräche, dass geniale Wissenschaftler geordnete Strukturen erblicken, wo ihre weniger verständigen Vorgänger nur Chaos am Werk sahen.
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Dagegen spricht, dass mit dem Intellekt i.d.R. auch die Verzweiflung am Leben wächst. Intelligenter Optimismus geht nur via Spezialisierung bzw. Tunnelblick.
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791)
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Poesie ist das zweitbeste Schweigen, Musik ist die zweitbeste Stille.
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Schweiger sind die besten Poeten, Stille sind die besten Musiker.
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Aber da schon nicht Nichts sein kann: ab und an schönes Sein.
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792)
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Die östliche Metaphysik gründet sich auf das Nichts, die westliche auf das Sein.
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Damit ist die östliche schon gedachte Antithese, die westliche noch erfahrene These.
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You can imagine the opposite – könnte ich das nicht, würde ich noch verrückt.
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793)
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Totenstille wie auch völlig bedeutungsfreie Schalle machen unruhig, denn unser Wahrnehmungsapparat sucht ständig nach Bedeutung.
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Pareidolie lässt uns selbst noch in völlig zufälligem Rauschen bedeutungsvolle Muster erst erahnen und mit der Zeit immer klarer ausformen.
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Ein beruhigender Hintergrundschall bzw. Maskierer muss möglichst wenig, aber immer noch genug Bedeutung enthalten, um neutral zu bleiben.
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794)
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Jenseits, Himmel und Hölle – Bücher, Filme etc. führen nur zu gerne solche großen Worte im Titel.
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Die Problematik möglichen Lebens nach dem Tod findet jedoch so gut wie nie Eingang in den Inhalt.
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Man möchte fast meinen, echten Interessenten am Thema soll die Suchmaschine verstopft werden.
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795)
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Jenseitsvorstellungen gestalten sich offenbar umso bedrohlicher, je zahlärmer die das Überleben der Gattung sichernden Individuen werden.
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Als die Pest noch ganze Landstriche entvölkerte, glaubte der größte Teil der Christenheit, nach dem Tod in der qualvollen Hölle zu landen.
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Heute, bei globaler Bevölkerungsexplosion und lokalem Arbeitskräfteüberschuss, stirbt man ins freudvolle Paradies oder ins leidfreie Nichts.
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(Zeitigt die Nachricht vom Aussterben der Deutschen einen Religionswechsel? Und die Überalterung? Jenseitsdrohung unter 60 bzw. Jenseitslockung über 60?)
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796)
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Könnte ich das Leben nicht doch noch bejahen? Nein. Wir Lebewesen müssen uns gegenseitig essen, um zu überleben. Diese Situation ist grundsätzlich inakzeptabel.
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Könnte ich nicht doch noch als Materialist leben? Erst Nichts, den Tag bzw. die Vorteile pflücken, dann wieder Nichts? Nein. Als Materialist wäre ich für kollektiven Suizid.
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Die gängigen Philosophien sind nur Varianten jenes Optimismus bzw. Realismus. Einzig der pessimistische Idealismus scheint mir vertretbar. Leiden ohne reale Alternative.
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797)
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Himmel statt Nichts, Spaß statt Stille, Ekstase statt Coolness, Luxus statt Askese, Eile statt Weile, Hedonä statt Ataraxia usf. – der ewige Trend.
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War ruhige Besinnlichkeit schon jemals mehr als eine ausnahmsweise angewandte Therapie für die nicht belastbaren Versager im weltlichen Getriebe?
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Vielleicht nicht – aber wenn die Welt weiterhin exponentiell schneller wird, sind wir dringend Ruhebedürftigen schon bald die ganz große Mehrheit.
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798)
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Glaubte ich noch an Gott und die Schöpfung aus dem Nichts, müsste ich ihm böse sein für die schlechte Welt, die er an Stelle des Nichts gesetzt hat.
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Glaubte ich noch an das materialistische Nichtsein vor und nach dem individuellen Sein, müsste ich Eltern böse sein für Zeugung bzw. Empfängnis.
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Seit ich jedoch mit dem unendlichen Sein rechne, scheint mir, ich habe es momentan vergleichsweise gut getroffen. Um mich herum ist viel mehr Leid.
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799)
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Parmenides sagt, das Sein sei und das Nichts nicht, weshalb man sich vor der Rede über das Nichts von vornherein hüten solle.
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Eine Regel, die er damit zugleich selber gebrochen hat, wie auch die Bibel auf der ersten Seite und fast alle Philosophie sonst.
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Meine wichtigste Lebensregel heute ist ein Entzug des Nichts in dem Sinne, es für alle Zeiten als ideal bzw. irreal anzunehmen.
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(Zuvor war ich dem heiligen Zorn auf das Leben anheimgefallen, da ich das Nichts für einst real verloren bzw. wieder möglich hielt.)
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800)
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Red Herring heißt in der Rhetorik eine provozierend abstruse Behauptung, neben der weitere abstruse Behauptungen noch vergleichsweise akzeptabel wirken. Alle stürzen sich also mit Gegenargumenten auf den Red Herring, der übrige Fisch hingegen passiert die Diskussion unbeschadet.
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Die katholische Kirche z.B. hat die Aufmerksamkeit immer gerne auf die Jungfräulichkeit Mariae und andere Absonderlichkeiten gelenkt, um wirklich tragende Säulen des Glaubens zu schützen, die bei näherer Betrachtung noch viel suspekter oder gar gefährlich sind.
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Modern Denkende amüsieren sich über Himmels- und Höllengläubige, merken aber nicht, dass sie das ebenso realitätsferne Nichts aus der Schöpfungsgeschichte einfach durchgewunken haben. Bei ihnen steht es nicht nur am Weltbeginn, sondern auch am Ende, sowie vor und nach dem eigenen Leben.
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801)
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Wer das Sein schützen will, muss das Nichts für alle Zukunft verbieten – vielleicht ist die Schöpfungsgeschichte so gedacht.
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Halbherzig jedoch, das Nichts in der Vergangenheit zu erlauben – so bleibt es im Zorn auf das leidige Sein ewig zu vermissen.
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Am schlimmsten aber, das Nichts statt als Ideal als reale Alternative denen anzutragen, die von selber gar nicht darauf gekommen wären.
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802)
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Egal ob einer im Tod nun Himmel oder Hölle, All-Einheit oder Nichts, Ewige Wiederkehr des Gleichen oder das Große Unbekannte erwartet – jedenfalls hält er damit den Tod für etwas Ganz Anderes als das Leben.
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Das Leben ist weder nur schön noch nur hässlich, weder ganz noch gar nicht, weder immer das alte noch plötzlich völlig neu – solche Extreme zu konstruieren bedeutet Abstand zu nehmen vom Leben, wie wir es kennen.
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Wahrhabenkönnen des Wahrscheinlichen heißt für mich, nur noch das zu erwarten, was mir das Leben Tag und Nacht in all seinen Facetten zeigt – an mir selber, an anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen usf.; nicht mehr, nicht weniger.
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803)
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Empathie ist für mich inzwischen auch ein Weg, mir versuchsweise auszumalen, was mich in Ewigkeit noch erwartet.
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Bei jedem Gegenüber, und nicht nur dem menschlichen, zu fragen: Wie fühlt es sich an, er bzw. sie bzw. es zu sein?
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Wer sich in andere bzw. anderes hineinversetzt, wird ein besseres Wesen. Wer nur bei sich bleibt, ein schlechteres.
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804)
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Wer seinen Glauben an die Unendlichkeit des Lebens bekennt, dem unterstellt man in der westlichen Kultur automatisch einen Jenseitsglauben.
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Denn unsere religiöse Tradition lässt uns viel schneller an eine jenseitige Verlängerung des endliches Diesseits denken als an ein ewiges Diesseits.
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Aber ist ein ewiges Diesseits nicht naheliegender als ein Jenseits? Letzteres läßt sich nur viel leichter instrumentalisieren. Und einmal angewöhnt...
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805)
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Wer sein Leben als endlich ansieht, fühlt sich evt. als moderner Skeptiker, weil er nicht mehr an das traditionell überkommene ewige Leben glaubt. Vielleicht fühlt er sich sogar als Pessimist, indem er sich die Vergänglichkeit seines schönen Lebens bewusst gemacht bzw. sich damit abgefunden hat.
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Als Seinsmonist, von der Unmöglichkeit des Nichtseins ausgehend, bin ich m.E. aber skeptischer – Sein allein ist weniger als Sein plus Nichtsein. Am Sein leidend, es für hässlich und unvergänglich haltend, bin ich m.E. zudem viel pessimistischer – endloses Leid ist viel schlimmer als das Ende der Freude.
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Wer sein Leben für schön und vergänglich hält, unterstellt evt., dass eigentlich alle so denken. Passiert mir umgekehrt genauso: tief drinnen, so argwöhne ich, gehen doch alle von einem schlimmen und ewigen Sein aus. Anders kann ich mir unsere todesscheue Welt mit ihrem zähen Gesieche nicht erklären.
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806)
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Embodiment – es braucht also einen Körper, um Bewusstsein zu entwickeln? Aus toter Materie bzw. ihrer blinden Rekombination erheben sich Intelligenz und Vernunft zum fortwährenden Kampf ums Dasein?
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Unglaublich: ein selbstlernender Roboter mit Armen und Beinen, Augen und Ohren usw., der nach genügend Trial&Error-Interaktion mit seiner Umwelt bzw. anderen Robotern zu philosophieren beginnt?
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Aber selbst wenn, so wäre damit das Warum nicht geklärt, nur das Wie. Und zum unausweichlichen natürlichen Leidwesen käme das künstliche hinzu. Wissenschaft? Bloß noch Lernen ohne Verstehen!
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807)
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Leiden bleibt im Leben die Regel, Selbstmord hingegen die Ausnahme. Warum? Weil Siechsein immer noch besser ist als Nichtsein? Glaube ich nicht. Echtes Leid macht Sehnsucht nach dem Nichts.
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Intuitiv bedeutet uns der Tod bislang nur eine Einschränkung der Reaktionsmöglichkeiten auf das Lebensleid, nicht seine Beendigung. Tod verheißt nicht Nichtsein, nur völlige Wehrlosigkeit.
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Materialismus könnte uns da allerdings abstumpfen. Selbst Todesangst lässt sich wohl abtrainieren. Glauben wir erst kollektiv ganz fest ans Nichtseinkönnen, werden Todespillen gang und gäbe sein.
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808)
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Maximale und minimale Lebensqualität – so könnte man Himmel und Hölle vielleicht mit zeitgenössischen Begriffen charakterisieren.
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Welche Lebensqualität das Totsein bietet, darüber gehen die Meinungen historisch und geografisch weitestmöglich auseinander.
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Die westliche Moderne prognostiziert leidfreies Nichtsein. Damit bescheinigt sie dem Tod i.d.R. ein höheres Qualitätsniveau als dem Leben.
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809)
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Selbstmord aus Lebensabscheu – nicht im Affekt, sondern mit Überlegung begangen – beweist einen festen Glauben an das Nichts im Tod.
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Seit ich im Tod nur noch den vorübergehenden Verlust aller Reaktionsmöglichkeiten vermute, könnte ich nicht mehr so forsch abtreten.
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Tragisch nur: die meisten Entschlossenen sind keine gläubigen Täter, sondern sich wissend wähnende Opfer des Materialismus.
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810)
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Das Nichts nur wollen statt wirklich tun; lieber das Nichts wollen als Nichtwollen – so spöttisch beschreibt Nietzsche diejenigen, welchen das Nichts über alles geht.
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So wichtig ist ihm das optimistische Ja, dass er jenseits von Gut und Böse rigoros für das Leben und gegen die lebensanklagende bzw. -verneinende Moral streitet.
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Aber sein Hohn ändert für mich nichts daran, dass ich hoch über dem Leben das Nichts als erfundenes Ideal ansiedle, unter dem man durch reales Zerstören nur noch tiefer sinken kann.
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811)
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Extrovertierte kommen mit dem südländischen Temperament viel leichter klar.
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Wir Introvertierten sind die eigentlichen Leidtragenden lauter Nachbarschaft.
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Aber wir würden niemals "Ausländer raus!" skandieren, eher noch selber weichen.
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812)
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Männer streben eher nach körperlicher Dominanz, Frauen nach seelischer.
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Mann und Frau erniedrigen sich wechselseitig, je auf heimischem Terrain eben.
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Nur: die seelische Demütigung geht i.d.R. als Kavalierinnendelikt durch.
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813)
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Viele halten Gott für real, viele halten ihn für irreal und stattdessen das Nichts im Tod für real.
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Aber nach Gott auch noch das Nichts für irreal zu erklären – dafür ist kaum jemand zu haben.
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Religion von Realität trennen, ohne unbescheiden zu werden – mein Nichtsideal erfüllt beides.
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814)
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Ungeübt im Umgang mit Menschen? Dann redet jeder nur allzu gerne auf dich ein.
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Je scheuer, desto öfter Opfer von redseligen Verkäufern, alten Damen usf.
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Bereits der sprachliche Umgang ist ein steter Kampf, alle naslang verliere ich einen.
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815)
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Just be yourself – das Credo amerikanischer Spielfilme um die glückende Liebe glauben die sich ja wohl selber nicht.
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Wenn ich loslassen und einfach nur ich selbst sein wollte, säße ich stinkend und allein im Wald, Urlaute ausstoßend.
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Der Lebensalltag besteht aus Lüge und Verstellung, sogar gegenüber sich selbst. Man nennt das Zivilisation.
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816)
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Akademische Titel und deren hohe gesellschaftliche Achtung machen die Universität zum Magneten für Profilneurotiker.
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Heraus kommen lauter Karrieristen, die sich für das Inhaltliche ihres Fachgebiets kaum interessieren, nur über Formales reden.
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Sie schwenken nach dem Studium auf Fachfremdes oder publizieren nach Schema F – echte Wissenschaft bleibt selten.
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817)
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Wer schweigt, stimmt zu?
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Mir scheint Schweigen eher auf Ablehnung hinzudeuten.
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Aber die Lauten meinen alles zu dürfen, bis ein lautes Nein kommt.
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818)
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Modernes Energiesparen in der Beleuchtungstechnik geht auf Kosten der visuellen Ruhe, von der größeren Schadstoffproblematik bei Herstellung und Entsorgung der Leuchtkörper ganz zu schweigen.
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Glühlampen spenden ein flackerfreies Licht, mit einem gleichmäßigen (zu den kurzen Wellenlängen hin energetisch abfallenden) Spektrum. Sozusagen ein sehr ruhiges, weißes bzw. leicht gelbliches, gemütliches Feuer.
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Leuchtstofflicht ist im zeitlichen Verlauf unruhiger und hat zudem eine ungleichmäßige, auf wenige schmale Frequenzbereiche konzentrierte Farbverteilung; letzteres gilt in verstärktem Maße für Halbleiterlicht (LEDs).
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819)
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Pessimismus auf zwei Kernthesen reduziert:
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1. Das Leben ist im Wesentlichen schlecht.
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2. Das Leben ist im Wesentlichen unendlich.
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820)
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Östliche Weisheit hat die Nichtsidee vorsichtiger etabliert als westliche.
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Zwar gründet alles im Nichts, und man kann bewusst ins Nirvana gelangen.
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Aber das Nichts wird nicht durch Zerstörung real, ganz im Gegenteil.
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821)
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Nichtsglaube ist hypothetisches Verlängern des Ich in ein bewusstloses und damit leidfreies Vorher und Nachher.
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Aber diese Annahme könnte trügen, und statt Bewusstlosigkeit gibt's leider nur Bewusstseinsveränderung.
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Eigenes Sein nurmehr empathisch mit anderem Sein statt mit dem Nichts zu vergleichen, macht mich viel zufriedener.
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822)
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Woran ich nicht glaube, fällt mir leichter zu sagen als woran ich glaube.
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Aber müsste ich es kurz und positiv formulieren: an zufällige Wiedergeburt.
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Untypische Religion, da unmöglich, sich für etwas endgültig Besseres zu halten.
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823)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht.
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Das Sein ist schlecht, das Nichts wäre gut.
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Vielleicht muss jeder nach und nach alles sein?
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824)
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Mein Ich könnte ewig währen und dabei stetig wieder vergessen. Das je gegenwärtige Bewusstsein könnte unveränderlich zugrundeliegen, während die Welt veränderlich hindurchwandert.
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Biologisch ist keine Zelle meines Körpers älter als wenige Jahre. Geistig weiß ich von den meisten Tagen meines Lebens nichts mehr. Alte Fotos von mir zeigen im Wesentlichen einen anderen, fremden Menschen.
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Vielleicht werde ich dieses elende "Ich bin" nie niemals nicht los, wechsle damit für alle Zeiten durch alle Körper und Galaxien, bin der verdammte Fliegende Holländer, Nichtsein meine Sehnsucht.
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825)
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Menschen lieben Geschichten, worin der Held im entscheidenden Augenblick vom Saulus zum Paulus mutiert. Wie bequem!
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Der Himmel: ein Leben lang das eigene Gewinnerdasein feiern und dann in einem besinnlichen Moment etwas Selbstloses tun.
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Die Hölle: ein Leben lang unter diesen Arschlöchern leiden und dann in einem unerträglichen Moment die Rachebombe zünden.
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826)
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Das Leben im Ganzen bejahen oder verneinen – die beiden Optionen sind ethisch m.E. alles andere als symmetrisch.
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Ebenso wie einer, der Auge um Auge vergilt, längst noch nicht aufs Niveau dessen gesunken ist, der angefangen hat.
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Ich würde alles Leben eliminieren, wenn das idealiter ginge. Und handelte damit m.E. ungleich ethischer als sein Schöpfer.
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827)
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Mir unbegreiflich: die meisten Menschen erwarten mit ihrem Tod die Beförderung in eine leidfreiere oder gar völlig leidfreie Zone.
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Monotheisten sehen sich im Paradies, Hinduisten und Buddhisten in einem besseren nächsten Leben, und Realisten im bewusstlosen Nichts.
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Degradierung zu schlimmerem Dasein kommt kaum mehr jemandem in den Sinn. Wieso nicht? Wo gibt die Welt Anlass zu solchem Optimismus?
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828)
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Workaholics sind inzwischen selbst in der Philosophie am prominentesten.
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Wohlstand durch Arbeit hat fast jedes Ideal von Askese und Ruhe verdrängt.
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Wenn selbst Geistesgrößen Wein predigen statt Wasser – quo vadis, munde?
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829)
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Zivilisationskrankheit Aktionismus: in der Nacht nicht einschlafen können, im Alter nicht sterben können.
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Passiv sich den Träumen überlassen – das meiden immer mehr, denn Träume sind dunkel und kafkaesk.
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Esoteriker bleiben da vielleicht noch etwas aufgeschlossener, erwarten sich aber viel zu Rosiges.
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830)
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Fragt man Gernelebende, ob sie den Ungernelebenden zuliebe einverstanden wären mit dem Nichts für alle, verneinen sie.
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Ihnen ist es immer noch lieber, dass andere unglücklich sein müssen, als dass sie selbst nicht mehr glücklich sein dürfen.
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Fragt man nach moralischer Rechtfertigung dieser bewussten Lebensbejahung, grinsen sie. Es gibt keine – Hauptsache geil.
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831)
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein Jahr Hölle – z.B. in den Folterkammern der mittelalterlichen Inquisition – auf sich nehmen würde, wenn er dafür ein Jahr Himmel seiner Wahl erleben dürfte.
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Ich jedenfalls würde das Jahr Hölle auch für tausend Jahre Himmel nicht in Kauf zu nehmen wagen. Mir scheint unzweifelhaft, dass Freude nie auch nur annähernd so schön sein kann wie Leid schlimm.
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Wer das Leben trotzdem gutheißt, tut das wohl in der Hoffnung, vom Leiden einigermaßen verschont zu bleiben. Weiß um all die Gräuel, die um ihn herum unweigerlich geschehen, sagt aber ja auf gut Glück.
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832)
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Sartre, Heidegger u.a. haben gesagt, die Angst sei das Gefühl des ins Nichts hinausgehaltenen Seins.
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Seh ich umgekehrt: Angst habe ich da, wo es eben kein Nichts gibt, in dem mein Höllensturz endet.
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Reine Lust spüren die Hedonisten nur, weil sie Epikur mit seinem Nichts im Tod beim Wort nehmen.
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833)
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Unendlichkeit heißt, dass es kein Nichts i.S.v. Außerhalb des Seins gibt, wo das Sein ein sicheres Ende finden könnte.
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Seltsamerweise gelten die Endlichkeitsgläubigen als Skeptiker mit rasiermesserscharf reduziertem Weltbild.
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Geschichtlich gibt das Endlichkeitsbewusstsein aber eher den Anschein einer modernen Sicherheitsmaßnahme.
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834)
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Ich sein, ein anderer sein, nichtsein, ganz anders sein – streng solipsistisch sind die letzten drei bereits Jenseitsformen, aus meiner Sicht die letzten beiden, aus realistischer Sicht nur das letzte.
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Jetzt bin ich ich; vor meiner Geburt und nach meinem Tod meine ich ein anderer gewesen zu sein bzw. zu werden. Nichtsein und ganz anderes Sein gibt es m.E. nicht bzw. ist unwahrscheinlich.
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Der Unterschied zum denkerischen Mainstream ist meine Einstufung des Nichts als unwahrscheinliches Jenseits. Macht aber eine Menge aus, steht schließlich zwischen mir und dem Suizid.
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835)
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Ich denke zwar immer noch wie zu meinen agnostischen Zeiten: was im Tod kommt, ist ungewiss – und dass nichts kommt, ist eher unwahrscheinlich bzw. zu schön um wahr zu sein.
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Aber ich musste feststellen, dass dieses große Ungewisse psychologisch auch als eine Art Jenseits wirkt – man erwartet sich vom Tod etwas ganz und gar anderes als vom bekannten Leben.
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Deshalb habe ich meine Vorstellung vom Tod sozusagen religiös konkretisiert: stelle mir vor, man wird im Tod der andere von nebenan. Suizid als Alternative, wenn man lieber einer der anderen wäre.
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836)
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Lebensverneiner werden die letzten sein, welche von der Gesellschaft offiziell anerkannt werden, indem die Pädagogik Foren gutheißt, wo sie sich wiederfinden bzw. mit anderen austauschen können.
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Solange jedem Amokläufer von vorneherein ein krankhaft verwirrter Geist unterstellt wird, hält sich bei mir der Eindruck, dass noch nicht einmal die Intelligentia das eigentliche Problem begriffen hat.
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Gäbe es z.B. keine schwule Aufklärung, keinerlei Podium für sexuell Andersorientierte, würden diese Männer ebenfalls mit der Zeit krank bzw. verrückt. Kirche ist z.T. wohl ein starkes Indiz dafür.
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837)
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Blockuniversum: alle Zeiten existieren nebeneinander. Vielleicht lebt jeder nach dem Tod das ganze Leben seiner Kinder.
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Und erst wer auf Nachkommen verzichtet, beendet die ewig weit zurückreichende Kette und gelangt so zum erlösenden Nichts.
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Damit wäre ich viel eher einverstanden als mit so manch anderem religiösen Modell. Warum wohl hat es sich nicht etabliert?
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(Oder es geht darum, mit dem Verspeisen anderer aufzuhören. Jeder lebt alle Leben seiner Opfer. Erst wer ein Leben lang nicht mehr isst...)
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838)
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Realisten verbreiten ihren Glauben an die Endlichkeit des Lebens, obwohl Pessimisten ganz anders darauf reagieren als Optimisten.
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Pessimistischer Realismus bedeutet in letzter Konsequenz die individuelle wie kollektive Erlösung durch einen beschleunigten Tod.
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Pessimistischer Idealismus dagegen, wie er von Schopenhauer vertreten wurde, kennt keine Instant-Erlösung durch Mord und Totschlag.
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839)
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Panpsychismus scheint mir sehr plausibel, wenn er bedeutet: keinerlei Materie ohne Bewusstsein, keinerlei Bewusstsein ohne Materie – alles hätte demnach seine Innen- und seine Außenperspektive.
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Dualistische Trennung ist künstlich – materielose Geister und geistlose Materie sind Extreme für die Extremen, herangezogen zur mythischen All-Durchgeisterung bzw. materialistischen All-Ausbeutung.
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Emergentismus, wonach Bewusstsein erst bei großer Komplexität plötzlich auftaucht, tendiert zum zweiten Extrem. Umweltschutz erfordert wenigstens den gleichmäßig mit der Komplexität zunehmenden Respekt.
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840)
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Subjektivistischer oder objektivistischer Monismus? Entgegen dem Zeitgeist hänge ich eher den Idealisten an – hinter das Bewusstsein ist m.E. nicht zurückzugehen.
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Aber warum sich überhaupt von der dualistischen Geschichte in eine der beiden Ecken drängen lassen? Warum nicht einen neutralen Monismus des Seins wählen?
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Der alte Animismus legt noch Leib-Seele-Zweiheit nahe, der Panpsychismus aber verschiebt die Betonung aufs Monistische: Materie und Bewusstsein als untrennbar denken!
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841)
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Bewusstseinsmonismus – sollte ich den meinen weiter konkretisieren, würde ich auf das Prinzip Selbstähnlichkeit tippen. Kann denn Philosophie mehr sein als Analogieschluss von der eigenen Befindlichkeit auf die Welt?
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Demnach bestünde ich also aus kleineren Bewusstseinen und wäre ebenso Teil von größeren. Ein kleinstes Bewusstsein i.S.v. Monade oder ein größtes i.S.v. Gott gäbe es nicht – kein Anfang, kein Ende.
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Bewusstseinsforschung – sollte Optimisten wie Pessimisten interessieren. Erstere wollen ihr Bewusstsein so sicher wie möglich erhalten, letztere so sicher wie möglich loswerden. Bislang tappen wir im Dunkeln.
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842)
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Unmengen Spaß, und bei finaler Erschöpfung ab ins leidlose Nichts – in der Weltanschauung des modernen westlichen Menschen wird das Leid immer effizienter verdrängt.
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Wobei Spaß aber evt. auch heißt, sich das Leid der anderen im Fiction-Format und immer lieber auch im die Kamera voll draufhaltenden Reality-Format von außen anzuschauen.
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Theoretisch bleibt das Leid also im Bewusstsein der Spaßgesellschaft. Was mich fortgesetzt wundert ist, dass die Menschen i.d.R. davon ausgehen, verschont zu bleiben.
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843)
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Die irdische Welt ist ein Jammertal – soweit gebe ich dem Christentum recht.
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Dass die Sanftmütigen selig werden, gilt nicht für das Diesseits. Wer seine Schäfchen nach herrischer Herzenslust fickt und schlägt, der vielleicht schon – Weltverbesserer aber ist ein Scheißjob, man brennt aus.
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Dass die Sanftmütigen nach ihrem Tod im jenseitigen Himmelreich selig werden, ist weder zu bestätigen noch zu widerlegen. Als erfundene Gegenwelt ist der Himmel für mich der Rede wert, als echte jedoch nicht.
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844)
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Den Tod als bedingungslosen Leidbeendiger zu sehen, ist zu bedenkenlos – soweit gebe ich dem Christentum recht.
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Aber als Bedingung den Glauben an Jesus als den Sohn Gottes und andere Seltsamkeiten zu stellen, ist indiskutabel.
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Wäre es nicht grundsätzlich besser, die alten Erlösungsversprechen zu unterlassen? Auch das materialistische!
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845)
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Die Natur – segensreich und vom pervertierten Tier Mensch aufs Übelste bedroht? Im politisch grünen Sinne mag diese Betrachtungsweise z.T. stimmen.
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Das Leben an sich aber ist m.E. die eigentliche Katastrophe, und der Mensch evt. das einzige Lebewesen, das da wenigstens theoretisch oben rausguckt.
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Praktisch sind wir dem Leben zwar weiterhin noch genauso ausgeliefert wie die Tiere, Pflanzen usf. auch. Ein Licht angezündet aber hat der Geist.
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846)
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Das jenseitige Nichts der Materialisten wirkt auf mich wohl in etwa so anziehend wie die jenseitigen Huris auf den Moslem.
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Sobald das Leben Hindernisse vor mir auftürmt, sehne ich mich mit allen Fasern meines Seins danach, nicht mehr sein zu müssen.
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Wievele sprengen sich noch gen Erlösung, bevor ruchbar wird, dass gestrige wie heutige Jenseitsmodelle nur dreiste Hypothesen sind?
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847)
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Wer den Realisten glaubt, dass mit dem Tod alles endet, kann so pessimistisch ja gar nicht mehr drauf sein.
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Cioran empfand es zwar als Nachteil, geboren zu sein, aber der Vorteil, gestorben zu sein, folgte doch auf dem Fuße.
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Echter Pessimismus entsteht m.E. erst da, wo einer fest damit rechnet, glücklos und endlos am Leben zu bleiben.
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848)
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Trauer über Vergänglichkeit bzw. Fragilität des Lebens ist weniger tief als die über seine Unverwüstlichkeit bzw. Penetranz.
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Wer beklagt, dass alles bald aus und vorbei sein wird, gibt damit zu, dass er den Moment ja eigentlich wertschätzt.
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Nach Art der diametral von mir verschiedenen Optimisten gesprochen: Realisten, für Euch geht das Schlimmste doch schnell vorbei!
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849)
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Pessimist wird, wem das Leben in erster Linie wehtut.
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Optimisten glauben nicht, dass es das wirklich könnte.
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Und wem es doch passiert, der fliegt halt aus ihrem Club.
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850)
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Mein Pessimismus lässt mich zurückschrecken vor dem Destruktiven wie vor dem Konstruktiven.
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Vor dem Destruktiven, weil ich nicht an die Möglichkeit echter Vernichtung glaube. Und vor dem Konstruktiven, weil es extremer Vorsicht bedarf, um dabei nicht v.a. destruktiv zu wirken.
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Fürs Bewahren, höchstens noch fürs verständige Ändern im Schneckentempo bin ich. Aber nicht im bejahend-konservativen Lager.
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851)
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Die Spaßgenerationen kriegen mit der Industrialisierung ihrer Bildung ein Riesenproblem: Lernen ohne Verstehen macht einfach keinen Spaß.
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Während des Studiums mögen Belohnungen von ehrgeizigen Eltern bzw. Incentives von absolventenhungrigen Arbeitgebern das noch auffangen können.
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Der Einfallsreichtum im akademischen Beruf aber wird sich darauf beschränken, die Erledigung stinklangweiliger Spezialaufgaben hinauszuzögern.
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852)
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Im Grunde habe ich nichts gegen den Suizid. Jeder darf sich das Leben nehmen – schlimm genug, dass es einem von "Gott", der Gesellschaft, den Eltern ungefragt aufgezwungen wird.
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Höchst bedenklich finde ich allerdings den Suizid, welcher in der unhinterfragten Gewissheit begangen wird, dass der Tod das Leid ein für allemal beendet, welches das Leben mit sich bringt.
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Früher hielten die Menschen alles für beseelt – der Tod vermochte zu verändern, nicht aber auszulöschen. Heute gilt die Bewusstlosigkeit als sicher. Ich fürchte, diese Religion vergrößert das Leid.
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853)
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Schopenhauer sieht im Selbstmord u.a. ein Experiment, das die Antwort auf die Frage erzwingen will, welche Änderung das Dasein und die Erkenntnis durch den Tod erfahre.
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Wer soweit ist, das Experimentelle am Selbstmord zuzugeben bzw. wer begriffen hat, dass die Wirkung auf sein Bewusstsein ungewiss ist, soll ihn meinetwegen wagen dürfen.
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Bewusstlosigkeit wie auch Bewusstseinserweiterung scheinen mir jedoch wenig plausibel. Eher ein großer Schlaf mit großen Träumen – und dann geht das Leben leider weiter...
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854)
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Selbstmord sei widerlich egoistisch, so empören sich viele. Sie gehen aus vom erlösenden Nichts im Tod, sowie von der hauptsächlichen Prägung des Lebens durch die Mühsal gesellschaftlicher Pflichterfüllung.
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Egoistisch? Wer die Plackerei gegen das Nichtsein tauscht, also das Negative gegen das Neutrale, hat sich nichts genommen, was den anderen nicht ebenso freistünde. Oder bleibt man für die Unmündigen?
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Solange ich das Nichts im Tod vermutete, war ich auch suizidal. Jetzt kaum noch, und zwar aus ziemlich egoistischen Gründen: ich fürchte, der Freitod könnte v.a. für mich selbst weitere Verschlechterung bedeuten.
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855)
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Nichtwissenschaftler überschätzen die moderne Technologie. Allgemeine Aufgaben des Lebens löst der übliche Menschenverstand immer noch weit besser als die ausgeklügeltsten Expertensysteme.
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Die sinnvolle Ergänzung eines alltäglichen Bildausschnitts z.B. misslingt den intelligentesten Computeralgorithmen. Aber jedes Kind kann das Bild mit einer Mischung aus Weltwissen und Phantasie fertigmalen.
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Desgleichen auch beim Thema Tod. Selbstähnliche Fortsetzung des Lebens mag naiv anmuten, scheint mir aber naturkundiger als die fachmännischen Thesen aus den lebensfernen Laborwelten des Materialismus.
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856)
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Panpsychismus spricht allem Empfindungsfähigkeit zu. Und Einfühlungsvermögen ins andere wächst mit dessen Ähnlichkeit zu uns.
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Was Hund, Katze, Maus will und nicht will, können wir uns eher vorstellen als beim Elektron oder Sonnensystem.
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Wo keine Kommunikation möglich ist, bleibt immer noch die quietistische Basis: anderes möglichst in Ruhe lassen.
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(À la Nietzsche anzunehmen, das Passive stünde dem Aktiven zur freien Verfügung, halte ich für gefühllos bis boshaft.)
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857)
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Materialismus garantiert die Leidfreiheit allen ausgebeuteten irdischen "Materials" genauso wie die eigene Leidfreiheit nach dem Tod.
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Animisten bzw. Hylozoisten bzw. Panpsychisten bzw. Lebensmonisten wie ich können weder von ersterem noch von letzterem ausgehen.
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Deshalb sind wir vorsichtiger, mit anderem wie mit uns selbst. Kant: "Der Hylozoismus belebt alles, der Materialismus (...) tötet alles."
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858)
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Monotheismus gilt als die Tradition vor der Moderne, liegt aber auf halbem Weg vom Animismus zum Materialismus.
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Jüdisch-christliche Religion hat alles zu geistlosem Material degradiert, was der Mensch sich untertan machen wollte.
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Das Respekt Gebietende der Tiere, Pflanzen und Dinge um uns herum wurde radikal extrahiert, als Gott aus der Welt geschafft.
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859)
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Panpsychismus und Eliminativismus liegen in der Philosophie des Geistes als Lebensmonismus und Todesmonismus in Opposition – ersterer gründet gar alles auf eine lebendige Substanz, letzterer auf eine unbelebte.
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Steht Frau für das Lebensspendende und -behütende bzw. Mann für das Lebenszerstörende, dann wäre der Lebensmonismus resp. Todesmonismus die prototypisch weibliche resp. männliche Stoßrichtung der Philosophie.
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Für mich ist bei Schopenhauer beides perfekt vereint: eine Wohltat, meint er, zum absoluten Nichts zu gelangen, aber der Tod eröffne leider keine Aussicht darauf – nihilistischer Idealismus im alternativlosen realen Leben.
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860)
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Je öfter ich bei Verwandten und Bekannten ein Sterben mitansehen muss, welches den z.T. jahrelangen Niedergang eines selbstständigen Menschen zum hilflosen gegängelten Gemüse beinhaltet, desto idyllischer erscheint mir der von der Gesellschaft unbemerkte Tod in den eigenen vier Wänden.
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Aber die Medien stellen einsam Gestorbene, deren Tod sich der Nachbarschaft erst durch einen strengen Verwesungsgeruch mitteilt, stereotyperweise als bedauernswerte und von ihrer Mitwelt sträflich vernachlässigte Opfer der modernen Zeiten bzw. eines kalten Individualismus hin.
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Ein Nachmittag im Krankenhaus oder Altenheim, wo Regimenter von lauten Weißkitteln hemmungslos ihr Helfer- bzw. Herrschersyndrom an gebrochenen Patienten ausleben, macht mir die Privatisierung meines Abgangs aus diesem Leben zu einem schwierig aber lohnend anmutenden Ziel.
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861)
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Blinder Wille noch im kleinsten Mikrokosmos bzw. größten Makrokosmos? Dem heutigen, naturwissenschaftlich tief geprägten Menschen erscheint diese Weltsicht Schopenhauers vielleicht lächerlich anthropomorph.
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Aber ist es nicht viel abseitiger, alles vom Kleinsten bzw. Größten herkommend erklären zu wollen? Was weiß denn ich, ob Atome mental sind oder nicht? Mein Denken geht vom menschlichen Maß aus und sieht dann weiter.
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Zentral unsympathisch ist es mir, anderem den eigenen Willen aufzunötigen, evt. gar mit hämischem Grinsen. Und von dieser Abneigung ausgehend lasse ich am Ende vielleicht auch Elektronen und Sonnensystemen ihre Würde.
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862)
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Unmündige Missbrauchsopfer, nach Ansicht der Normalos aus purer Bosheit gequält, dürfen und sollen ihre Peiniger auch nach Jahrzehnten zur Rechenschaft ziehen – die Gesellschaft applaudiert.
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Aber was ist mit denen, die über Jahre ihrer Kindheit ebenso beschämende und schmerzhafte Behandlungen ganz offiziell über sich ergehen lassen mussten – z.B. wegen einer Vorhautverengung?
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Bei höherer Gewalt gilt nach wie vor: Mund halten bzw. dankbar sein. Sogar noch das Ventil des Pessimismus i.S.v. abstraktem Schimpfen auf die allfälligen Gräuel des Lebens bleibt geächtet.
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863)
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Kein realer Himmel, kein reales Nichts.
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Es gibt keine Erlösung. Pessimismus.
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Wider den Wahnsinn, wider den Suizid.
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864)
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Himmel bzw. Hölle hat keiner verdient, das Nichts m.E. jeder.
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Abscheu vor dem Nichts hat, wer sich im Sein den anderen gegenüber ständig in den Vorteil setzt. Sehnsucht nach dem Nichts hat, wer ständig in den Nachteil gesetzt wird.
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Im Nichts würde das Sein nicht vermisst – Sein bräucht's nicht.
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865)
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Das Nichts zu wollen heißt für mich, weder zu viel noch zu wenig zu wollen.
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Vielleicht habe ich eh keinerlei Einfluss auf mein Schicksal nach dem Tod.
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Aber falls ich gefragt werde, was ich will, weiß ich eine Antwort: Nichtsein.
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866)
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Christliche Kirchen, die uns Menschen nach dem Tod die Allversöhnung – also ein paradiesisches Jenseits für alle – prophezeien, sind eine winzige Minderheit geblieben.
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Ebenso selten ist Annihilationismus, welcher den Sündern Schlaf bzw. Bewusstlosigkeit gönnt. (Realisten hingegen glauben an die ewige Ruhe für ausnahmslos jeden.)
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Nein, die großen Kirchen drohen den Widerspenstigen mehr oder weniger deutlich mit der Hölle. Ist eben wirksamer als die Verlockung endlosen Hosiannasingens.
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867)
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An Gott glauben hat anscheinend etwas mit Maßstabsverlust zu tun – wieso sonst finden Christen freudvollen bzw. leidvollen Gemüts meinen Wunsch nach dem Nichts viel zu klein bzw. viel zu groß?
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Wer an den freundlichen Gott der Liebe glaubt, hält mein Streben nach dem Nichtsein für unnötige bis krankhafte Selbstkasteiung – wo Gott seine Geschöpfe doch glücklich machen wolle und könne.
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Wer aber den despotischen Herrgott fürchtet, hält mein Streben nach dem Nichtsein für egoistische Vermessenheit – wo Gott seine Geschöpfe doch zu demütigen Dienern bestimmt habe.
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(Das Ideal des Nichts ist m.E. perfekt ausbalanciert – niemand hat einen Vorteil bzw. Nachteil verdient, schon gar nicht auf Dauer, noch nicht einmal den gerechten Wechsel zwischen beiden.)
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868)
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Zuerst bin ich – Bewusstsein. Gibt es eine von mir unabhängige, objektive Realität? Fraglich. Und Nichtsein als Gegenteil von Sein? Noch fraglicher.
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Seltsam, aber die Charts dieser grundlegenden Gewissheiten haben sich im Lauf der Philosophiegeschichte genau andersherum aufgereiht:
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Zuerst wundert sich der Mensch, dass aus dem Nichts überhaupt etwas entstanden ist. Und dann noch mehr, dass die Realität ihn selbst hervorbringen konnte.
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869)
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Skeptizismus in seiner maximalen Ausprägung dürfte ein Solipsismus sein, welcher alles für den Inhalt eines individuellen Bewusstseins hält: Ich = Gott. Denk ich nur selten.
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Als nächstes käme dann ein Idealismus kollektiven Bewusstseins, wobei mein individuelles Bewusstsein mit vielen anderen in Verbindung steht. Seh ich meistens so.
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Der heute übliche Realismus nimmt eine materielle Welt an, aus der Bewusstsein als komplexe Ausnahme hervorgeht und wieder verschwindet. Glaub ich weniger.
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(M.E. weit hergeholt, wenn um das Ich, das Wir und das Materielle herum auch noch das Nichts sein soll. Aber gerade Anhänger dieser Weltanschauung nennen sich Skeptiker.)
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870)
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Für Menschen im Elend wirkt die Versicherung endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod als Aufforderung zu Raubmord und Suizid.
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Die Weltsicht des Materialismus eignet sich also – wenn überhaupt – nur für eine bereits zu Wohlstand gelangte Gesellschaft.
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Dennoch wird jene Erlösungsbotschaft des Materialismus die Armen viel schneller erreichen als der Wohlstand – und dann?
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(Materialismus ist kurzsichtig. Individuelles wie gesellschaftliches Leben ist stabiler in der Annahme seiner Ewigkeit.)
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871)
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Spiritualismus will das Ich vom Weltlichen lösen, Materialismus die Welt vom Ichlichen.
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Beides eskapistisch – was ich befürworte, solange dabei das unerreichbare Ideal betont wird.
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Monistischer Panpsychismus stellt klar: spiritueller wie materieller Reduktionismus ist künstlich.
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872)
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Wer alles für mehr oder weniger empfindsam hält, überlegt sich dreimal, was er mit seiner Umwelt anstellt.
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Vielleicht ist Panpsychismus die wesentliche Triebfeder für ein Denken anstelle des üblichen Handelns.
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Meine Ethik ist die des in Ruhe Lassens. Aktivismus heißt den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
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873)
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Tschlaaand-Grölen, Vuvuzela & Co. – jedes große Fußballfest schickt inzwischen seine eigene Mode des Lärmens in die Welt.
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Die Dezibelwerte liegen im dreistelligen Bereich und gelten den stolzen Fans als Qualitätsmerkmal ihres Treibens.
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Erst schwerhörig sind sie dann evt. lärmempfindlich – Innenohrschädigung senkt die Unbehaglichkeitsschwelle (sog. Recruitment).
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874)
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Materia, lateinisch für Bauholz, trifft die Sache genau: den Materialisten ist alles nur Material für ihre kreativen Vorhaben.
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Panpsychisten wie ich erscheinen ihnen als Spinner, die Bewusstsein vermuten, wo offensichtlich keines sein könne.
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Ich meine, der gezwungenere Akt besteht darin, allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, Empfindsamkeit abzusprechen.
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875)
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Das Christentum fungiert für seine sonnigen Gemüter als Du-Darfst-Religion, für seine verhagelten Gemüter als Du-Darfst-Nicht- bzw. Du-Musst-Religion.
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Die Erlaubnis zur Untertanmachung der Erde, das Verbot von Homo- und Autosexualität, das Gebot der Gottesliebe lässt mir die Haare zu Berge stehen.
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Und was sich aus heutiger physikalistischer, biologistischer, psychologistischer Weltsicht ableitet, ist i.a. schlimmer statt besser. Die Welt bleibt schlecht.
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876)
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Allein wenn ich sehe, was Menschen alles wegwerfen, schäme ich mich für die Gattung.
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Eine hohe Müllsteuer müsste schon beim Wareneinkauf erhoben werden, allermindestens.
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In praxi läuft es eher umgekehrt: je billiger einer einkauft, desto mehr Müll fällt bei ihm an.
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877)
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Panpsychistisch befürchte ich, dass alles leidet, auch die "niederen" Tiere, Pflanzen, Dinge etc. Obwohl der heute übliche Emergentismus den weniger komplexen Organismen Bewusstsein und Willen abspricht.
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Ein weiteres Argument für unser beliebiges Verfügen über denjenigen Anteil der Welt, mit dem wir nicht kommunizieren können: woher wollen wir denn wissen, dass z.B. der Stein nicht gerne geschliffen wird?
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Im Zweifel gehe ich jedoch weiterhin davon aus, dass lieber in Ruhe gelassen werden will, wer nichts sagt oder tut, was auf das Gegenteil schließen lässt. Vergnügen wie Unrecht ist i.a. auf Seiten der Aktiven.
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878)
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Bewusstsein gilt den Bewussten heute als hochspezieller Sonderfall im All, Bewusstlosigkeit als All-Gemeinzustand.
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Ähnlich galt früher das irdische Jammertal seinen Passanten nur als lokales Missgeschick, drumrum Garten Eden.
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Die Menschen wollen nicht einsehen: What you see is what you get. Ihr Leid ist per definitionem hinterm Horizont zu Ende.
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879)
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So oder anders oder garnicht?
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Anders oder garnicht ist nicht.
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Leben ist und bleibt nunmal so.
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880)
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Moderne Ästheten schmücken sich gerne mit nagelneuen Gegenständen, ersetzen die alten nach Modelaune statt nach funktionalen Kriterien.
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Ökologische Bedenken werden belächelt oder in die eigenen Dienste gestellt: neueste Technik sei ja auch in puncto Umweltschutz auf neuestem Stand.
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Solche Luxusmenschen sind eigentlich gar keine Verbraucher mehr – alles wird ausgemustert längst bevor es wirklich verbraucht ist.
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881)
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Streng genommen ist oder wird im Pessimismus bzw. Optimismus alles so schlimm bzw. gut wie irgend möglich.
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Faktisch differenziert sich Pessimismus wie Optimismus aus, in all die Graustufen zwischen Schwarz und Weiß.
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Begriffsverwirrung: jede Position kann optimistisch wie pessimistisch heißen, je nach Bezugspunkt des Betrachters.
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(Das Christentum z.B. gilt der realistischen Moderne als pessimistisch, insofern irdisches Dasein ein Jammertal ist gegen das Paradies.)
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882)
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Ruhe kommt vom Lebensentwurf, zu dem man steht.
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Bäcker ist nur, wer nicht demnächst vielleicht metzgert.
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Der Dynamische & Flexible ist nicht mehr, er wird bloß noch.
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883)
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Die Intelligentia pusht das Nietzscheanische, verankert die postchristliche Härte immer fester in ihrem Menschenbild.
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Dieselbe Intelligentia aber schüttelt verständnislos den Kopf über die verrohte Jugend, die unter ihrer Ägide nachwächst.
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Hü oder hott – entweder penetranter und robuster oder umsichtiger und empfindsamer. Rehabilitiert endlich das Weichei!
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884)
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Oh warum nur? Solch verzweifeltes Hinterfragen unserer Existenz enthält oft implizit die naive Annahme, Nichtsein sei der plausible Urgrund eines unplausiblen Seins.
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Wer begriffen hat, dass das Nichts vielmehr einen gedachten Spezialfall im ansonsten unterhintergehbaren Sein darstellt, ist reif für den idealistischen Pessimismus.
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Das Nichts ist dann unsere beste Idee – nicht mehr realer Defaultzustand, welcher nur ausnahmsweise und damit verwunderlicherweise dem leidvollen Sein weicht.
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885)
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Vor dem Sündenfall ein paradiesischer Garten, vor der Schöpfung überhaupt keine Welt? Das Märchen vom ursprünglichen Guten glaubt heute keiner mehr, das Märchen vom ursprünglichen Nichts aber bleibt Common Sense.
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Die Naturalisten vermuten zwar vor dem allgegenwärtigen Struggle For Life keine verlorengegangene Idylle – aber vor Evolution und Urknall phantasiert auch der Homo Scientificus die beliebig problemfreie Nichtwelt.
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Und so bleibt das Leben weiterhin gezeichnet von der Wut, dass nicht mehr Nichts ist – jeder Selbstmord und jeder Amoklauf singt ein Lied davon. Erst wer nicht mehr glaubt, dass Nichts realiter sein könnte, findet zu innerer Ruhe.
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886)
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Laut Monotheisten hat Gott für alle im diesseitigen Jammertal Benachteiligten jenseitigen Ausgleich vorgesehen.
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Aber warum gilt es nicht schon als Blasphemie ungläubiger Kritikaster, die irdische Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen?
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Menschen mit echtem Gottvertrauen wären sich doch sicher, dass ihnen immer recht geschieht, nicht erst am Jüngsten Tag.
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887)
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Mein Nihilismus besteht darin, dass ich das Nichts für besser hielte als das Sein.
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Weil es im Sein nicht mit rechten Dingen zugeht, weder en detail noch in summa.
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Und wenn nichts mehr existierte, gäbe es auch kein Leid mehr. So einfach, so gut.
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888)
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Sein ist so.
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Kaum anders.
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Nicht nicht.
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889)
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Höherer Gewalt hilflos ausgeliefert sind wir, und alles noch Ohnmächtigere als wir ist uns ausgeliefert.
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Sind wir nun eher Ausgebeutete oder Ausbeuter? Ich werde das Gefühl nicht los: in hohem Maße beides.
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Leider hebt sich das nicht etwa gegenseitig auf, da unsere Quäler und Gequälten nicht dieselben sind.
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(Oder schließt sich der Kreis im Verborgenen? Sind das Größte und das Kleinste identisch? Eso-Beruhigung.)
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890)
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Schlafen bedeutet für mich den Abstieg in eine dunklere, vollere, archaischere Traumwelt.
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Dennoch herrscht dort weniger tiefgründige Verzweiflung, Traumgefühle sind flüchtiger.
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Den Tod stelle ich mir vergleichbar vor, nur eine viel längere Vergangenheit verarbeitend.
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891)
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Träume sind in der modernen naturwissenschaftlich-technischen Denkungsart sowas wie nächtliche Filmproduktionen aus dem Material vergangener Tage.
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Aber zwischen dem kreativen Aneinanderreihen von Filmausschnitten und der Komposition von Lebensepisoden zum Traum liegen Welten.
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Technik ist i.a. nur naiv-kindliche Kopie von Natur und wird es wohl auch bleiben, bis sie sich demnächst versehentlich selber ausradiert.
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892)
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Technisches Verständnis kann überheblich und demütig machen.
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Einerseits verleiht es einem Macht über andere bzw. Ansehen bei anderen.
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Andererseits bleibt technischer Nachbau des Natürlichen in aller Regel ein Witz.
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893)
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Die größere Hälfte der Welt liegt für mich im Eingebildeten.
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Baudrillard hat recht, meine Realität ist primär medial vermittelt.
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Aber seit ich nicht mehr vom Leben erwarte, geht es mir besser.
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894)
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Der männliche Softie hat schlimmer versagt als er es sich in den 70ern irgend hat vorstellen können.
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Nicht nur dass er bei den männlichen Hardlinern auf taube Ohren stieß mit der Abschaffung des Kämpfens.
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Jetzt ist er auch noch von Frauen umgeben, die nichts lieber wollen als Männer besiegen. Traurig.
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895)
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So gerne die Realisten sich selbst als realistisch im Sinne von nüchtern und wirklichkeitsnah begreifen wollen, so sehr sind sie, was den Tod betrifft, eigentlich Idealisten i.S.v. naiv und wirklichkeitsfremd.
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Bemerken gar nicht, wie sie sich mit dem subjektiven Nichts i.S.v. totaler, endgültiger Bewusstlosigkeit ihr eigenes religiöses Märchen warmhalten. Denn wirklich wissen können wir vom Tod nur wenig.
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Wirklichkeitsnäher wäre allenfalls eine lebensnähere Vorstellung, also eine, wo das Leid nicht aufhört und wo es irgendwie zyklisch weitergeht mit allem – halt wie immer und uns nicht anders bekannt.
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896)
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Paradoxie Pessimismus: niemals kann alles maximal schlimm sein, stets lässt sich ein Vorteil konstruieren.
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Wenn alles immer nur schlimmer wird, kann man sich am Jetzt erfreuen – noch hat man es ja vergleichsweise gut.
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Wenn es aber gar nicht mehr schlimmer geht als jetzt, darf man sich getrost zurücklehnen – ist doch eh schon alles egal.
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897)
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Lebensbejaher sind religiös, wenn sie glauben, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.
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Lebensverneiner dagegen sind religiös, wenn sie glauben, dass das Leben mit dem Tod endet.
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Religiös ist, wer glaubt, im Tod treffe die von ihm bevorzugte Möglichkeit ein. Ich also nicht.
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898)
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Dass nach dem Tod nichts mehr kommt wäre mir lieber als dass es danach weitergeht wie zuvor. Dass ich ersteres nicht glaube, ist areligiös.
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Dass es nach dem Tod im Wesentlichen so bleibt wie es ist wäre mir lieber als dass alles ganz anders wird. Dass ich ersteres glaube, ist religiös.
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Religiös sein heißt, daran zu glauben, dass die von einem selbst bevorzugte Vision wahr wird. Demnach bin ich meist areligiös, manchmal religiös.
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899)
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Idealistischer Optimist: Das Leben ist schön und nach dem Tod geht es zum Glück schön weiter. So denken viele, ich nicht.
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Realistischer Optimist: Das Leben ist schön und mit dem Tod ist es leider vorbei. So denken viele, ich nicht.
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Realistischer Pessimist: Das Leben ist hässlich und mit dem Tod ist es zum Glück vorbei. So denken viele, ich nicht.
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(Idealistischer Pessimist: Das Leben ist hässlich und nach dem Tod geht es leider hässlich weiter. So denken wenige, ich schon.)
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900)
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Beim Tod tippe ich eher auf Hölle als auf Himmel, eher auf Alles als auf Nichts, eher auf Bekanntes als auf Unbekanntes.
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Mit den ersten beiden Tipps entscheide ich mich gegen meine Favourites, nur mit dem letzten dafür – bin eher Pessimist.
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Meine drei Todeshypothesen kommen wohl von Traum- und Nahtoderlebnissen – auch da gehts eher dunkel, dicht und irdisch zu.
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901)
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"Amoklauf" ist ein Begriff, der die weltanschauliche Überlegung hinter der Tat negiert, etwa wie "Depression" die rationalen Gründe für Lebenstraurigkeit.
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Selbstmord verhindert nicht, dass immer mehr Menschen ein dem eigenen vergleichbares Schicksal ereilt. Solidarisch folgt: wahlloses Töten gegen das Leben an sich.
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Wo der Tod als leidloses Nichts gilt, findet er leicht Befürworter – und dem Kinderkriegen der Lebensbejaher ist konsequent nur durch vielfachen Mord zu begegnen.
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902)
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Nach der Aufklärung stürzten sich alle Intellektuellen auf die Erkundung des natürlichen Bodensatzes: Physik, Biologie, Psychologie usw.
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Angeblich hat nun alles seine Gründe unterhalb unseres Verstandes, und auch die Kuren der Übel setzen alle dort unten an.
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Nennt mich gestrig, aber ich glaube, "Depressionen" und "Amokläufe" resultieren oft aus der rationalen Einsicht ins Leben.
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903)
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So wie die Liebe intuitiv zur Vermehrung des Lebens führt, indem Nachkommen gezeugt und empfangen werden, so führt der Hass zur Dezimierung des Lebens, z.B. durch Krieg.
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Unsere Gesellschaft empört sich darüber, dass Menschen, die das Leben hassen, anstatt nur sich selber umzubringen ihr Unglück auch Liebenden zum Verhängnis werden lassen.
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Aber jedem Kinderkriegenden sollte klar sein, dass er Krieg führt für das Leben und damit für die Fortsetzung des Unglücks. Wieso sollten da die Unglücklichen den Tod bei sich behalten?
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904)
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So wie Lebensliebende auch ihren Kindern ermöglichen wollen, Freude erfahren zu dürfen auf dieser Erde, so wollen Lebenshassende den Kindern von vornherein ersparen, dass sie auf dieser Erde Leid erfahren müssen.
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Nur selber keine Kinder zu kriegen aber ließe dem Leben den Sieg – wer wirklich einen Rückgang der Weltbevölkerung anstrebt, muss dafür töten. Das Gegenteil von Langeleben plus Kinderkriegen ist Mitnahmesuizid.
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Ballerspiele beruhigen den unmittelbaren Drang, die Menschheit zu dezimieren, ein Stück weit. Statt sie zu verbieten, sollten die Pädagogen mehr über den Tod reden: Zweifel daran wecken, dass er das leidlose Nichts sei.
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905)
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Christliche Tradition lässt Lebensliebe mit kollektivem Altruismus assoziieren, Lebenshass mit individuellem Egoismus – das Leben vs. mein Leben.
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Aber gerade aus ethischen Gründen ist das Leben an sich nach reiflicher Überlegung durchaus abzulehnen, und so geht es vielleicht auch den meisten Amokläufern um ein erlösendes Unschädlichmachen des Lebens als solches.
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Die Medien erklären jedesmal wieder ihre Verständnislosigkeit, wenn ein Amoklauf stattgefunden hat. Individuell betrachtet mag es keinen Sinn machen, wahllos auf Umstehende und schließlich auf sich selbst zu schießen – kollektiv betrachtet aber schon, die herrschende Schulmeinung vom Tod als leidlosem Nichtsein vorausgesetzt.
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(Und wenn ein Amokläufer mit lange gereiftem Plan aufs ganze Leben zielt statt in spontan auflodernder Urwut auf einzelne Gegner, sollte man einen anderen Namen für ihn finden.)
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906)
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Optimismus in Reinform findet Leben wie Tod optimal i.S.v. maximal freudvoll, Pessimismus in Reinform beides pessimal i.S.v. maximal leidvoll. Die meisten Menschen dürften weltanschauliche Zwischenpositionen einnehmen, werden jedoch als Optimisten bzw. Pessimisten bezeichnet, wenn ihre Lebens- und Todesbewertung über- bzw. unterdurchschnittlich ausfällt. Gesellschaftlich etabliert ist heute wohl die Auffassung, das Leben sei schön – wenn auch noch viel schöner vorstellbar – und dem Tod als freud- und leidlosem Zustand bei weitem vorzuziehen.
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Dementsprechend ist die erste Stufe des Pessimismus heute die Auffassung, das Leben sei nichtig und damit dem Tod gleichgestellt. Aus solchem Nihilismus resultiert Seelenruhe, da es nicht mehr so wichtig ist, ob man nun lebt oder tot ist. Absolut gesehen wäre diese Position, wo Leben und Tod auf der Null zu liegen kommen, die neutrale.
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Leben oder Tod, erst recht alle zwei als leidvollen Zustand negativ i.S.v. schlechter als Nichts zu begreifen ist heute – zumindest im Lichte der Öffentlichkeit – so selten geworden, dass dieser mein Pessimismus sich fast schon antiquiert nennen lassen muss.
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907)
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Wenn einer vom Tod totale, endgültige Bewusstlosigkeit erwartet, ist es doch kein Wunder, dass er ihn als bestmögliche Heilung allen irdischen Leides erachtet, welche er am liebsten jedem und allem angedeihen ließe.
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Dann liegt es nahe, solch radikale Kur nicht nur denen zu empfehlen, die schon oder noch eigenverantwortlich Hand an sich legen können, sondern auch den Unmündigen ins schmerzlose Nichtsein hinüberhelfen zu wollen.
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Gänzlich vom bewusstlosen Tod überzeugt muss es gar als schlimmer Egoismus erscheinen, nur sich selber umzubringen und die Welt hilflos leidend zurückzulassen. Wie viele wohl schon die reale Allvernichtung anvisieren?
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908)
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Religiös ist für mich schon mal jeder, der glaubt, dass sein Leid jemals enden wird.
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Da gehören also auch die allermeisten selbsternannten Areligiösen dazu.
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Moderne Skeptiker? Tröster, die Nichtexistenz des furchtbaren Ewigen versichernd.
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909)
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Wer Angst vor seinem Ende hat, leidet noch nicht wirklich.
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Wer wirklich leidet, fürchtet am allermeisten seine Ewigkeit.
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Materialistische Vergänglichkeit: Religion für Fortgeschrittene.
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910)
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Erste Religion: Dass das eigene Leben mit dem Tod nicht enden muss, sondern noch schöner weitergeht.
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Zweite Religion: Dass das eigene Leben und damit auch sein wachsendes Leid mit dem Tod garantiert endet.
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Dritte Religion: Dass das gegenwärtige Leben alles Leid in der Nussschale schon enthält, ewig so bleibt wie es ist.
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(Ohne Religion: Dass das eigene Leid immer schlimmer und noch schlimmer werden kann, in alle Ewigkeit.)
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911)
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Mit Wut und Trauer konstatiert die Moderne, wie Religion durch die Geschichte hindurch in Verteidigung ihrer Dogmen den wissenschaftlichen Fortschritt blockiert hat.
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Und übersieht, wie das naturwissenschaftlich geförderte Konkurrenzdogma – Ende allen Leidens im Tod – die Menschheit noch wesentlich mehr kosten könnte.
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Die Lehre von der absoluten Bewusstlosigkeit als Grundzustand wird die arme Basis schnell vereinnahmen, der Amoklauf von Todesangstbefreiten vielleicht bald kollektiv.
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912)
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Der gebildete Christ hält süffisant lächelnd Distanz zur breitenwirksamsten wie unfrohesten Botschaft des Christentums: zur Höllendrohung. Ebenso bleibt der Naturwissenschaftler agnostisch gegenüber jeder naturalistischen Gewissheit, im Tod warte die endgültige Bewusstlosigkeit.
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Aber solche kleinen Rückzieher der Intelligentia sind ihrerseits nicht breitenwirksam – für die meisten Menschen ist und bleibt die Kernaussage der Religionen, dass es nach dem Tod garantiert weitergeht bzw. die Kernaussage der modernen Naturwissenschaft, dass es dies eben garantiert nicht tut.
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Noch steht der Großteil der Weltbevölkerung unter religöser Fuchtel, fürchtet persönliche Konsequenzen schädlichen Handelns über den Tod hinaus. Das könnte so schnell kippen wie das Weltklima, vielleicht löst die Moderne schon bald einen Run auf den erlösenden Tod aus: kollektiver "Amoklauf".
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913)
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Vorwiegend heiter ist das Leben nur für einen winzigen Teil der Erdenbewohner – die Starken und Skrupellosen. Der riesige Rest leidet eher am Leben und vermag sich nicht aus seinem Elend zu befreien.
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Der Mensch weiß um den Tod und kann ihn beschleunigen, wurde aber religiös konditioniert, das Leben in Ehren zu halten – bei Zuwiderhandlung drohe weitere Verschlimmerung nach dem Tod.
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Setzt sich bei den Unglücklichen der Glaube durch, dass der Tod jegliches Leid für jedermann beende, bahnt sich kollektiver Suizid an. Ihn zu verhindern wurden die alten Religionen u.a. wohl erfunden.
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914)
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Gefühllos oder gar boshaft, gegen Leidende die seit Nietzsche immer nur weiter zum Mainstream werdende Philosophie in Anschlag zu bringen, wonach jeder seines (Un-)Glückes Schmied sei.
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Doppelte Strafe für die Schwachen: Leiden müssen und auch noch selber daran schuld sein. Und doppelter Lohn für die Starken: Freude am Leben haben und diese auch noch sich selber verdanken.
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Widerlich: die Schulen, Heime, Kliniken, Haftanstalten etc. voll mit Bedauernswerten, deren Betreuer ihnen permanent die vorgeblich eigene Verantwortung für ihr Lebensleid unter die Nase reiben.
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915)
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Besonders widersinnig, wenn die Masse der Verlierer auch noch die Philosophie der wenigen Gewinner nachplappert.
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Sich in allen möglichen Institutionen von nietzscheanisch konditionierten Pädagogen, Psychologen etc. indoktrinieren lässt.
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Das Privatfernsehen zeigt rund um die Uhr, wie laute "Coaches" den sozial Benachteiligten elitäre Parolen eintrichtern. Traurig.
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(Von intellektueller Seite wird kein nennenswerter Widerspruch eingelegt. Nietzsche hat alle im Sack, Empathie war gestern.)
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916)
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Es gibt mannigfaltige Vorstellungen vom Zustand des Totseins, aber wenig bis keine Auswahl innerhalb eines Glaubenssystems.
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Für den Monotheisten nur Himmel und Hölle, für den Naturalisten nur Bewusstlosigkeit, für den Hinduisten nur Wiedergeburt usw.
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Allein die Esoterik bietet dem Vielfalt gewohnten modernen Konsumenten ein vergleichsweise individuell zu schneiderndes Jenseits.
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917)
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Wenn schon nicht alles gutsein kann, dann soll wenigstens alles nichtsein – soweit der kindisch-bockige Amokläufer in mir.
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Mit dem Älterwerden jedoch kommt die Einsicht, dass es leider nur folgende Alternative gibt: so lassen oder anders machen.
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Als Pessimist halte ich den Konservatismus i.d.R. für weiser als den Progressivismus: besser schlecht lassen als noch schlechter machen.
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918)
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Wo naive Selbstherrlichkeit schlussendlich in dummdreiste Tätlichkeit mündet, ruft sie bei den Sensiblen blankes Entsetzen hervor.
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Nachvollziehbar, wie Geistesmenschen einst auf die Idee präventiver Einschüchterung durch religiöse Indoktrination verfallen konnten.
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Die Höllendrohung gegen Kinder jedoch treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus, ist noch verheerender als ausgewachsener Übermut.
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919)
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Idealist, Pessimist, Materialist und andere philosophische Bezeichnungen sind in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und dort anders, aber nicht ganz anders besetzt als in der Philosophie.
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Wer ist ein Pessimist? Philosophisch gesprochen: einer, der Leben, Sterben und Tod in summa negativ bewertet; einer, dem das Sein alles in allem lieber gestohlen bliebe vom alternativlosen Nichts.
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Ungläubig statt vertrauensselig, zögerlich statt vorwärtspreschend, traurig statt fröhlich – solch ein Charakter tendiert philosophisch zum Pessimismus, so er sein Lebensgefühl denn zur Philosophie abstrahiert.
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920)
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Grille und Ameise – die Fabel meinte noch, der typische soziale Gegensatz bestünde zwischen arbeitsscheuem Prasser und arbeitsamem Sparer.
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Der heute propagierte Zeitgenosse ist jedoch hedonistischer Workaholic – Arbeiten bis zum Umfallen, dafür in Luxus schwelgen als gäbs kein Morgen.
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Was die Welt stattdessen bräuchte: Muße und Askese – viel bedenken, wenig verbrauchen. Passt prima zusammen, ist trotzdem ganz und gar unpopulär.
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921)
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Oje, dieses schöne Leben geht viel zu schnell vorbei! – Nein, dieses elende Leben geht viel zu langsam vorbei! -- Oje, dieses Elend bleibt ewig so! – Nein, dieses Elend ist erst der Vorhof zur Hölle!
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Auch innerhalb des Pessimismus gäbe es konträre Ansichten, die ausdifferenziert werden könnten und sollten.
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Aber weil immer alle alles weißmalen wollen, gehen der Philosophie ihre verschiedenen Schwarztöne flöten.
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922)
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Den Pessimismus kritisierend meint der Philosoph Simmel, es sei unmöglich zu entscheiden, ob auf der Welt Freude oder Leid überwiege. Höchstens könne man angesichts des Leides überhaupt das Nichts vorziehen – was jedoch subjektiv sei.
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Ich meine, dass die große Mehrzahl der weltweit lebenden Menschen das Nichts dem Sein vorzöge – was spätestens dann objektiv wird, wenn aus dieser Einschätzung Taten resultieren.
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Das praktische Experiment läuft bereits: ob die Menschenwelt weiterhin am Leben bleiben will, wenn sich der feste Glaube an das Nichts im Tod erst mal allgemein durchgesetzt hat?
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923)
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Besser alle dürfen laut sein als alle müssen leise sein?
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Was dabei rauskommt, können viele nicht aushalten.
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Beispiel Schule: Fun für Robuste, Burnout für Sensible.
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924)
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Sich umbringen tut man doch eher nicht.
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Niederer Instinkt oder höhere Konvention?
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Sehen die Konventionslosen da klarer?
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925)
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Die meisten "Ungläubigen" sind heilfroh, dass es im modernen Denken keinen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt.
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Auf die Erwähnung der Möglichkeit hin, dass sich der Materialismus gründlich irren könnte, reagieren sie latent verärgert.
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Falls nach dem Tod doch noch etwas kommt, wollen sie vorher jedenfalls nicht mehr darüber nachdenken müssen.
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926)
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Wer zu den Pessimisten meint, die sollten ihr ungeliebtes Leben doch einfach aushauchen, geht dabei unbewusst weiterhin vom Leben als Geschenk aus.
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Echte Pessimisten empfinden das Leben aber als Zumutung oder gar als Strafe, die sich nur verschlimmert, wenn man ihr auszukommen versucht.
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"Außerdem ist uns vergönnt, morgen zu verrecken." zwinkert Hesse und stellt den erlösenden Tod in eine Reihe mit den Lebenswonnen der Hedonisten.
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927)
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Die Welt ist nicht genug – klingt erst mal melancholisch, taugt jedoch als Lebensmotto eher für hedonistische Aktionisten.
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Echten Pessimisten ist eigentlich alles zu viel. Statt Gier empfinden sie Ekel, sind ablehnend defensiv statt offensiv fordernd.
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Natürlich gilt das nur für ihren Geist. Ihr Körper bleibt ein stures Mängelwesen, gewöhnt sich leichter ans Zuviel als ans Zuwenig.
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928)
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Wie es wohl auf die östlichen Religionen wirkt, dass sich die westlichen so fulminant uneins bleiben?
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Sicher können jene keine wesentliche Verschiedenheit zwischen Judentum, Christentum und Islam feststellen.
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Selbst aus meiner hiesigen Sicht streitet sich der Westen, weil jede westliche Ideologie dasselbe will: Vorherrschaft.
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929)
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Inzwischen sieht sich die Wissenschaft veranlasst, die Pflanzenwelt weg vom Dinglichen hin zum Tierischen zu interpretieren.
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Vielleicht dauert es ja nicht mehr lange und auch bislang als tot erachteter Materie wird Leben angesehen bzw. zugestanden.
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Fragt sich immer dringender, wie die Würde all dieses Lebens zu vereinbaren ist mit seiner kalten analytischen Durchdringung im Labor.
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930)
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Kämpfen für mein Recht? Wie schlecht ist eine Welt, in der ich für das, was mir eigentlich zusteht, kämpfen muss?
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Und wie schlecht erst, wenn zwischen Kämpfen für mein Recht und für meinen Vorteil nicht mehr unterschieden wird?
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Egal, die Nietzscheaner trichtern ihren Kämpferischen Imperativ heutzutage schon den dreijährigen Mädchen ein.
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931)
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Das Nichts – relative Hölle für die einen, für die anderen relativer Himmel.
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Die einen erfüllt ihr nahendes Ende mit Angst, die anderen mit Sehnsucht.
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Das Leben ohne den Glauben an das Nichts im Tod: ein ziemlich anderes.
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932)
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Nichtsein statt Sein wählen zu können stünde uns doch zu.
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Samt seiner schmerzlosen und unzweifelhaften Erreichung.
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Aber Suizid garantiert uns keinesfalls, dass das Leid endet.
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933)
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Das Nichts naht seinen Gläubigen entweder zu schnell oder zu langsam.
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Deshalb kriegen sie es entweder mit der Angst oder mit der Wut.
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Momentan geht der Trend noch zur Seinsverlängerung.
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934)
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Meine Lebensverneinung scheint mir auf der Erkenntnis einer Wahrheit zu beruhen, die andere verdrängen.
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Deshalb wollte ich auch mit keinem, der das Leben bejaht, tauschen – machte es mich doch unwissender.
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Ich glaube, dass die Lebensbefürworter nur nicht wahrhaben wollen, dass sie eigentlich besser nicht wären.
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935)
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In der Pyramide des Lebens auf diesem Planeten rangiere ich wohlstandsmäßig wahrscheinlich ganz weit oben.
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Und doch, wenn ich an den Tod als endgültige Bewusstlosigkeit glaubte, würde ich meinen Platz gern baldigst räumen.
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Da ich aber befürchte, die Lebenspyramide ist ohne dauerhafte Todesalternative, bleib ich mal lieber wo ich bin.
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936)
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Monotheisten geben nicht zu: Gott ist böse. Sie rechnen sich höhere Chancen bei ihrem Schöpfer aus, wenn sie sich ihre wahre Meinung über seine Schöpfung verkneifen.
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Moderne geben nicht zu: Leben ist Leiden. Sie erwarten sich höheren Daseinsgenuss, wenn sie sich ihre wahre Meinung über die Beschaffenheit des Lebens verkneifen.
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Postmoderne geben nicht zu: generell schlechte Befindlichkeit. Sie verpönen Verallgemeinerung, verunmöglichen solcherlei Wahrheiten gleich von vornherein. Doppelt clever.
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937)
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Mitnahmesuizid, z.B. indem einer sich selber mit möglichst vielen anderen in die Luft sprengt, interpretiere ich als konkrete Aktion gegen das Leben bzw. für den Tod, darüber hinaus als Plädoyer mit symbolischer Wirkung.
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Wer fest an den Tod als leidlose Alternative zum gegenwärtigen Leben bzw. als Verhinderung von zukünftigem Leben glaubt, dessen Drang, in größerem Stil etwas gegen das Leben zu unternehmen, kann ich nachempfinden.
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Für mich als Panpsychisten aber reduzieren Mord und Selbstmord nur die komplexeren Formen des Lebens zu einfacheren – die Mörder liefern das Leben nur noch mehr dem Leid aus, welches sie eigentlich beenden wollen.
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938)
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Ich wünschte, das Leben wär mit dem Tod ein für allemal vorbei.
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Ich fürchte aber, dass es immer auf irgendeine Weise weitergeht.
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Immerhin: Nichtsglaube stellte vor hässliche Vernichtungsaufgaben.
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939)
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Das Leid muss aufhören – und gibt es keinen Weg hinab ins bewusstlose Nichtsein, bleibt nur der Weg hinauf ins bewusste Wohlsein.
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Materielles Wohlsein benötigt i.d.R. die Ausbeutung anderen Lebens, fürs intellektuelle Wohlsein genügen philosophische Einsichten.
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Schopenhauer hielt dauerhaftes Nichtsein für unerreichbar, erfreute sich der Reinheit seines intellektuellen Gewissens – eine heute überholte Einstellung?
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940)
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Panpsychismus geht davon aus, dass alles Materielle auch Bewusstsein besitzt.
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Woher der Glaube an Materie ohne Bewusstsein bzw. Bewusstsein ohne Materie?
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Vom Wunsch, Materie bedenkenlos benutzen bzw. dem leiblichen Leid entkommen zu können.
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941)
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Ängstliche Vorsicht ist vielleicht der Urgrund meiner pessimistischen Lebensauffassung, meines Panpsychismus u.a.
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Der Worst Case lässt mich auch dort noch große Bedenken haben, wo anderen die möglichen negativen Konsequenzen ihres Handelns schon unwahrscheinlich genug bzw. weit genug weg erscheinen.
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Ich bleibe am Leben, weil es nach dem Tod noch schlimmer werden könnte. Bin möglichst passiv, weil gar alles unter mir leiden könnte.
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942)
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Kleider machen Leute – ex negativo: keine Würde für nachlässig Gekleidete.
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Nicht den Konventionen genügende Schwache werden regelmäßig gedemütigt.
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Ordnungshüter warten nur darauf, solche Unleute ohne Zeugen anzutreffen.
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943)
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Zum absoluten Nichts zu gelangen wäre für ihn nur eine Wohltat (Lebenspessimismus). Der Tod eröffne aber leider keine Aussicht darauf (Todespessimismus).
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Es gehe wie es wolle (resignativer Quietismus).
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Er habe zum wenigsten ein reines intellektuelles Gewissen (philosophischer Moralismus).
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(Schopenhauers Satz zum Abschied enthält für mich alles Wesentliche. Gwinner dokumentiert ihn nur per indirekte Rede, aber zum Glück dokumentiert er ihn.)
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944)
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Das Leben ist a) leider endlich, b) zum Glück ewig, c) zum Glück endlich, d) leider ewig – so meine gefühlte Hitliste der populären Weltanschauungen.
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Dass es kein Nichts gebe, glauben noch relativ viele – aber dass es leider kein Nichts gebe, hört man nie jemanden sagen. Da bin ich ganz hinten gelandet.
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Die Endlichkeit als Glück findet sich in der populären Kultur hie und da – "Who wants to live forever?" – aber wo ist die Traurigkeit aufgrund vermuteter Ewigkeit?
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945)
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Frechheit siegt – und wer darunter leidet, ist angeblich gehemmt-depressiv, wer sich darüber beklagt, passiv-aggressiv.
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Die schneidigen Gewinner beschönigen alles Unverschämte, ziehen alle Zurückhaltung ins Lächerliche oder gar Kranke.
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HeldInnen in Film und Fernsehen – langsam aber sicher nurmehr Unsympathen, wie sie im Buche stehen. Nietzsche sei Dank.
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946)
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Gut wäre statt der Nietzscheanischen eine Schopenhauersche Psychologie, die den Zurückhaltenden Recht gibt.
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Mit einer Bestätigung ihrer Sanftheit wäre den Patienten wahrlich besser geholfen als mit einer Umerziehung zur Grobheit.
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Aber diese Kehrtwende ist inzwischen fast undenkbar, die Psychologie bemerkt ihren ruchlosen Optimismus gar nicht mehr.
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947)
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Märtyrer halten passiv aus, Revoluzzer greifen aktiv ein – beide ehrt die Gesellschaft.
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Aber wer sein Leid flieht oder sich darüber beklagt, erntet nur Hohn und Verachtung.
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Ich bevorzuge weiterhin letztere beiden Möglichkeiten – Gesellschaft hin oder her.
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948)
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"Sein oder Nichtsein", der vielleicht berühmteste Monolog unserer unermesslichen Literaturgeschichte, konstatiert unmissverständlich: Selbstmord wäre dem Leben vorzuziehen, wenn mit dem traumlosen Schlaf im Tod sicher gerechnet werden dürfte.
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Hamlet beklagt das Leben als etwas, das besser nicht wäre – und den Tod als etwas, dessen Chance auf Bewusstlosigkeit nur dem Tollkühnen genüge. Warum ist diese Botschaft so überaus prominent, wenn ihr Inhalt von so gut wie niemandem geglaubt wird?
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Verbannen die Menschen mit kalter Konsequenz ins kollektive Unterbewusste, was Shakespeare hier so genial auf den Punkt bringt? Wird diese unliebsame Wahrheit deshalb nur auf der Theaterbühne ausgesprochen, statt offiziell zur Conditio Humana erklärt?
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949)
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Als präfeministische Mädchen nach dem 2. Weltkrieg: von Chauvis gejagt.
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Als feministische Mütter der 70er: die eigenen Söhne zu Softies erzogen.
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Als postfeministische Alte heute: selber auf der Jagd nach jungen Softies.
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(Fortschritt ist eine Illusion: Unterdrückte – Revolutionäre – Unterdrücker.)
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950)
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Ist Weltschmerz nur etwas für Prinzen und Privatiers?
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Buddha, Hamlet, Schopenhauer kamen aus gutem Hause.
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Blockiert sonst spezifischer Mangel die allgemeine Moral?
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951)
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Pessimistischer Panpsychismus: Alles leidet ewig.
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Ist dieser mein Glaube überhaupt auszuhalten?
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99 Prozent glauben lieber was anderes.
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952)
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Den Traditionellen gilt das irdische Leben als einmalige Prüfung, das Leben insgesamt jedoch als ewig – und das sei gut so. Denn Gott sorge dafür, dass es seinen Dienern in der Ewigkeit an nichts fehle – und die Unbelehrbaren hätten ewigen Mangel verdient.
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Den Modernen gilt das Leben als endlicher Glücksfall – und rechtzeitig in vollen Zügen genossen müsse das halt genügen. Die Vergänglichkeit befreie schließlich vom immer unbequemer werdenden Körper, jenseits von diesem sei und bleibe – nichts.
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Den Gothics gilt das Leben als endlicher Unglücksfall, jenseits ihrer schwarz gewandeten bleichen Leiber sei und bleibe – nichts. Das Beste an diesem Trauerspiel: dass es in den erlösenden Tod münde. Und den feiern sie so lange und düster wie möglich.
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(Wer glaubt an ein Leid, das alle trifft und niemals endet? Nicht einmal populäre Begriffe für eine solche Weltanschauung gibt es. Die Goten markieren schon das dunkle Ende der Fahnenstange. Suizidieren sich evt. gar, ohne ihren Optimismus bemerkt zu haben.)
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953)
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Gott als pädagogisches Hilfskonstrukt zur leichteren Abnabelung von familiären Bezugspersonen?
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Vielleicht ist es auf Dauer ja besser, nur noch am idealen Rockzipfel zu hängen statt am realen?
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Ersterer wird nicht so leicht weltlich herrisch, verdrückt sich nicht plötzlich bzw. stirbt nicht einfach weg?
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954)
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Sein oder Nichtsein? Lieber Nichtsein.
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Sosein oder Anderssein? Lieber Sosein.
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Moderne verleitete mich zur ersten Frage.
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955)
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Heimliches Motiv der modernen Naturwissenschaft: uns unserer Endlichkeit zu versichern.
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Wir wollen den Urknall – und davor Nichts. Ein emergentes Bewusstsein – und darunter Nichts. Und danach bzw. darüber erst recht.
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Wissenschaftlicher Ehrgeiz als sublimierte Unendlichkeitsangst – so ist auch seine historische Herkunft vom Religiösen kein Wunder.
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956)
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Einer findet mich nett, ich ihn auch.
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Er bringt noch einen mit, den er mag.
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Der ist mir unsympathisch – weil wie ich?
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957)
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Wie viel geistige Arbeit wird durch Bauarbeiten beeinträchtigt oder verhindert? Von wegen Bildungsstandort!
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Ein reicher Lebemann, der seine Dachterrassenwohnung alle naslang vom Innenarchitekten umstylen lässt...
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...lähmt alle armen Kopfarbeiter in seiner Umgebung, die sich bei dem Lärm nicht konzentrieren können.
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958)
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Angst von lateinisch angustus, eng – Benennung eines bestimmten unangenehmen Gefühls von Seiten der Expansiven.
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Aber wird eben dieses Gefühl nicht noch viel intensiver, wenn weit und breit kein Ende des Leids absehbar ist?
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Wissenschaft ist m.E. nur oberflächlich expansiv – im Grunde aber etabliert sie Seinsgrenzen, soll Endlichkeit garantieren.
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959)
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Nachhaltigkeit rührte wohl nur von der Befürchtung, die allewige Zukunft im selbst angerichteten Saustall verbringen zu müssen.
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Carpe diem – Instant-Philosophie für Gewinner, mittlerweile aus allen Medien quellend – hat's nurmehr mit den geilen Momenten.
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Auch die gehobene Autorenschaft schwelgt im vandalistischen Erlebnishunger. Aufhören zu pflücken, stehen lassen, ruhig werden.
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960)
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Zuerst hat mich nur empört, dass die Tradition den Selbstmord verbietet, mit dem ewigen schlimmsten Jenseits im Tod drohend.
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Heute empört mich gleichermaßen, dass die Moderne den Suizid nahelegt, mit dem endgültigen leidlosen Nichts im Tod lockend.
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Beide Verkündungen sind philosophisch betrachtet vorlaut und extrem. Aber damals wie heute erreicht die ruhige Philosophie nur wenige.
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961)
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Dem Tod mit Fassung begegnen zu können – wünscht sich das nicht jeder?
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Den Traditionellen ist das Paradies versprochen, den Modernen das Nichts – mir ist im Lauf meines Lebens beides abhanden gekommen.
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Ich verlasse mich auf das ewige Sosein. Ansonsten käme noch Sich-Einlassen auf das Anderssein in Frage, vielleicht wäre sogar Gewöhnung an den Gedanken der Hölle möglich.
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962)
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Keine Einigkeit in einer Welt, wo die einen das Leben lieben und die anderen es hassen. Wo die einen das Ende fürchten und die anderen es herbeisehnen.
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Liebe zum Leben gibt Kraft – die Lebensbejaher konnten die Lebensverneiner bislang hinreichend einschüchtern. Aber unter den Grinsemasken zuckt Wut.
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Haben die Bejaher schon verloren, ohne es zu wissen? Das moderne Versprechen vom leidlosen Nichts im Tod zuzulassen könnte der Fehler ihres Lebens gewesen sein.
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963)
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Zur Unterhaltung fingieren die Kreativen i.a. extravertierte Helden, denen die Welt ein Raum zum Austoben ist, ein Selbstbedienungsladen, eine Bühne.
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Den extravertierten Hauptfiguren dienen und danken die introvertierten Randfiguren – oder empören sich spießigerweise, zur Schadenfreude des Publikums.
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Mag sein, dass sich Extravertierte ihre Welt so wünschen – aber sind denn Introvertierte mit solcherart Unterhaltung zufrieden? Wären alle Intros lieber Extras?
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964)
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Statt einer Wissensgesellschaft (Know-how) wären wir besser eine Verstehensgesellschaft (Know-why).
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Etwas zu verstehen beruhigt – der Wissenssammler jedoch wird immer hektischer und unzufriedener.
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Wer vom Addieren an nach Schema F lernt, der lernt evt. lebenslang weiter, ohne je Einsichten zu erlangen.
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965)
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Pessimismus heißt streng genommen, dass es nicht mehr schlimmer werden kann.
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Wer bereits in der schlechtesten aller möglichen Welten lebt, darf eigentlich aufatmen.
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Denn noch schlimmer wäre doch, alles würde auf ewig immer noch schlimmer.
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(Dann wiederum könnte man froh sein, dass es noch nicht soweit ist – geht so Optimismus?)
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966)
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Wer hat Ruhe verdient?
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Unsere Filmhelden jedenfalls nicht: machen Krach, wie und wo und wann sie wollen – aber in ihren romantischen Momenten umgibt sie dann eine heilige Stille.
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Überhaupt sind unsere Vorbilder immer solche, die davon profitieren, dass es ihnen die anderen nicht gleichtun. So sind und bleiben wir ein widerlich elitärer Haufen.
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967)
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Den Dreisten ist die nicht bedauernd und leise, sondern fröhlich und laut geäußerte Entschuldigung nur Mittel, um mit Unverschämtheiten durchzukommen, welche ihnen mitnichten leidtun.
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Modernes Selbstbewusstsein betrachtet Schuldgefühle als unnötigen Ballast – bereut nichts, solange das eigene Handeln Vorteile einbringt, trainiert schlechtes Gewissen ab und ölige Jovialität an.
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"Ach, Entschuldigung!" leitet heute zumeist freche Anfragen von extrovertierten Hedonisten ein, die sich in ihrer Welt umsehen mit der drängenden Frage, was ihre Nächsten für sie tun können.
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968)
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Das selbsternannte Gute strebt nach Vernichtung des vermeintlich Bösen.
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Als Ruhesuchender zöge ich es dagegen vor, selber nicht mehr zu existieren.
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Sollen die Ruheverächter weiterleben und weiterkämpfen – ohne uns Unwillige.
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(This was never my world. -- Fighting for peace is like fucking for virginity.)
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969)
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Das Leben terrorisiert uns Menschen.
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Wir geben den Terror nach unten weiter.
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Am bedauerlichsten ist die Schadenfreude.
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970)
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Die Welt wäre besser nicht.
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Ist aber – unverbesserlich schlecht.
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Rückzug, Erdulden, Defensive, Offensive.
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971)
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Pessimismus mache es sich zu einfach, hört man Optimisten oft sagen.
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Tatsächlich ist seine Vertretung jedoch schwer, ganz gegen den Mainstream.
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Sich als Pessimist zu outen heißt, scheele Blicke bis Verachtung zu provozieren.
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(Erst überoptimistische Manie mag gesellschaftlich auf ähnliche Ablehnung stoßen.)
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972)
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Der industrialisierte Mensch ist gerade dabei, sich durch immensen zusätzlichen Energie- und Materialaufwand ein reines ökologisches Gewissen zu erarbeiten.
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Wär doch gelacht, wenn sich durch weitere Steigerung von Entwicklungs- und Erneuerungsanstrengungen nicht sparsamere Technologien realisieren ließen.
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Entschleunigung bis hin zum Produktionsverzicht ist und bleibt zwar der einzig wahre Umweltschutz – aber Müßiggang halten die Hyperaktiven nunmal nicht aus.
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973)
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Lebensverneinung bzw. Lebensbejahung heißt, dass einem die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz angenehm bzw. unangenehm ist.
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Nichtsgläubigkeit bzw. Nichtsungläubigkeit heißt, dass einem die eigene Nichtexistenz vor und nach dem Leben sicher bzw. unsicher scheint.
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Lebensverneinend und nichtsungläubig bin ich – was so selten jemand eingesteht, dass es dafür keine gesellschaftsübliche Bezeichnung gibt.
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974)
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Industrielle überziehen die Welt mit infernalischem Lärm.
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Selber wohnen sie in völlig ruhig gelegenen Residenzen.
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Machen den anderen kaputt, was ihnen selbst heilig ist.
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975)
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Der moderne Mensch kommt nach Heraklit, er glaubt an ein Werden aus dem Nichts und an ein Vergehen ins Nichts.
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Wer noch mit Parmenides argumentiert – Sein ist, Nichts ist nicht – erntet damit nur Lächeln und Kopfschütteln.
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Hie und da sagt es wieder einer: "Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer!" (Büchner, Dantons Tod). Aber es bleibt nicht haften.
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976)
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Jeder müsste – zugleich oder nacheinander – alles sein, das wäre gerecht.
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Aber fast jeder geht davon aus, er müsse nur seinen Teil bestehen.
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Und ums eigene winzige Sein herum warte das eigene riesige Nichtsein.
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977)
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Wenn Gott im Himmel darauf wartet, seine Diener zu verwöhnen, wieso dann nicht ums Verrecken seinen Willen tun?
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Weil kaum mehr jemand daran glauben kann, dass das wahre Leben erst nach dem irdischen Schluss kommt.
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Aber die zweite Kulisse dahinter, worauf das leidlose Nichts im Tod gemalt ist, wirkt für die meisten noch echt genug.
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978)
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Wesentlich gruseliger als Altgewordene sind krampfhaft Junggebliebene.
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Optimisten schminken gefürchtetes Vergehen sogar auf geliebtes Werden um.
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Pessimisten finden sich drein ins leidige Sein und bleiben lieber authentisch.
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979)
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Woher kommt die philosophische Ruhe? Aus der Einsicht: das Sein ist das Sein ist das Sein...
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Die Unwahrscheinlichkeit von Himmel und Hölle erschließt sich heute schon den meisten.
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Aber die Unwahrscheinlichkeit von Nichts und Ganz Anderem noch den wenigsten.
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980)
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Der echte Pessimist hängt an seinem Leben, auch ohne ein Vergnügen, eine Verpflichtung oder einen Sinn darin zu sehen.
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Auch ohne das Schöne, Gute und Wahre bleibt Selbsterhaltung wünschenswert, wenn einer nicht an Erlösung im Tod glauben kann.
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"...ich bin gerad einmal an diese Art des Faulens gewöhnt; der Teufel weiß, wie ich mit einer andern zurechtkomme." Büchners Danton
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981)
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Philosophie traut die größte Problemkompetenz dem Leidenden selber zu und empfiehlt ihm, sich seinen eigenen Reim auf das Leben zu machen. Begreift ihn als denkendes Wesen, sieht seine Problematik hinbezogen auf die gegenwärtig angenommene Lebenseinstellung.
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Psychotherapie dagegen gibt die größere Hälfte der Problemkompetenz in die Hände eines anderen, des Therapeuten. Begreift den Patienten als entwicklungsgestört, sieht seine Problematik rückbezogen auf frühkindlich erworbene, tief eingeprägte Verhaltensmuster.
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Psychomedizin schließlich delegiert die Problemkompetenz gänzlich an den Arzt bzw. die Pharmaindustrie. Begreift den Patienten als Automaten mit fehlerhafter Regelung, sieht seine Problematik rückbezogen auf eine vererbte, fix und fertig vorgegebene Hirnchemie.
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(Verkehrte Welt: bei unpässlicher Stimmung gleich zum Arzt und ein Rezept für Tabletten holen; wenns denn sein muss zusätzlich in Therapie zum Psychologen; zuallerletzt oder nie die gesellschaftsübliche Haltung zu Leben und Tod überdenken bzw. revidieren.)
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982)
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Zeugt es von Pessimismus, wenn sich einer umbringt? Von Optimismus, wenn einer weiterlebt?
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Könnte umgekehrt sein: der Selbstmörder hat Hoffnung auf Erlösung im Tod, der sich ans Leben Klammernde nicht.
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Vielleicht beruht ja gar jeglicher Lebenswille auf unbewusstem Misstrauen gegen den Tod.
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983)
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Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden – ist ärztlicher Grundsatz.
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Passt aber besser als Motto für den Quietisten: im Zweifel passiv bleiben.
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Wo etwas schnell zum Teufel geht, ist in aller Regel Aktionismus schuld.
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984)
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Undogmatisch und gelassen zu sein liegt nicht in jedermanns eigener Hand.
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Wo keine Ruhe und Identität mehr zu finden ist, da staut sich immer mehr Zorn auf.
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Das Explodieren des Selbstmordattentäters ist tätlicher Ausdruck seines Seelenzustands.
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985)
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Fanatische Religiosität macht einen irgendwann zur lebenden Bombe?
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Oft ist sie nur Ausdruck verzweifelter Suche nach Ruhe und Identität.
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Unaushaltbar schneller weltlicher Wandel wirft einen aus der Bahn.
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986)
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In der postmodernen Körperwelt wirft man legale wie illegale Pharmaka ein, unterzieht sich OPs in Kliniken und Piercing-Studios.
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Zur Lebenseinstellung befragt ventiliert man Gemeinplätze wie "Carpe diem!" oder "Fülle die Tage mit Leben, nicht das Leben mit Tagen!".
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Eigene Denkansätze werden nicht weiter angestrebt. Auf unserem Rückweg zum Körper geht der Geist wieder vor die Hunde.
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987)
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Pessimismus bedeutet für mich, den Fehler weiterhin dort zu sehen, wo er ist – auch wenn er sich unmöglich korrigieren lässt.
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Optimisten dagegen suchen das Falsche gerne dort, wo sie es bekämpfen können – auch um den Preis falscher Schuldzuweisung.
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Die Welt kann man nicht ändern, sich selber schon – so haben sie eben Gott zum Guten und die Menschen zu Sündern erklärt.
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988)
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Materialisten vs. Religiöse, Skeptiker vs. Spirituelle etc. – in diesen Streits ist immer nur von ungewollter Endlichkeit und gewollter Ewigkeit die Rede. Nie von ungewollter Ewigkeit.
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Mystizismus sei die Unreife, des Lebens Profanität und Endlichkeit nicht wahrhaben zu wollen. Aber keiner sagt, Naturalismus sei die sublimierte Angst vor Übernatürlichem und Ewigkeit.
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Weder die Körpermenschen noch die Geistmenschen haben die Wahrscheinlichkeit niemals endenden Leides auf dem Schirm. Sie alle sind sich ihrer Erlösung gewiss.
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989)
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Es gibt Leute, die glauben, dass jeder gerne lebt. Und wohl auch Leute, die glauben, dass keiner gerne lebt. Sowie alle Prozentverteilungen dazwischen.
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Es gibt Leute, die sagen, dass sie selbst gerne leben. Und welche, die sagen, dass sie selbst nicht gerne leben. Und das ist wahr oder gelogen.
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Ich denke, die meisten Leute würden sagen, dass sie gerne leben. Und das wäre m.E. meistens gelogen. Wenn auch aufgrund lebenslanger Indoktrination.
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990)
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Den Lauten geschähe es recht, wenn sie unter sich sein müssten, dasein müssten ohne die Leisen.
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Aber wie die Gefängnisgemeinschaft für die weniger Bösen darin die größere Strafe ist, so wären ohne die Leisen die weniger Lauten gestrafter als die Lautesten.
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Diese Welt ist falsch gemacht und richtig noch nicht einmal denkbar.
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991)
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Je materialistischer eine Gesellschaft schon geworden ist, desto kinderärmer ist sie auch – so weit, so klar, was die demographischen Fakten anbelangt.
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Moderne Egoisten wollen eben alles Schöne für sich verbrauchen bzw. genießen – so lautet die übliche, Lebensfreude unterstellende Interpretation. Die üblicherweise übersehene, lebensleidige: im Materialismus ist der Mensch verantwortlicher Schöpfer seiner Nachkommenschaft, d.h. die Kinder sind nicht gottgewollt, sondern die Eltern an ihnen bzw. ihrem Lebensleid schuld.
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Kollektiver Suizid beginnt damit, dass bewusst keine Kinder mehr in diese schlechte Welt gesetzt werden – und zwar auch, wenn nicht gar vor allem den Kindern zuliebe.
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992)
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Suizid ist rational, emotional oder beides: Indoktrination mit einer Erlösungslehre überzeugt vom Tod als leidfreier Alternative zum Leben; Wut und Trotz verführen zum Sich-Luft-Machen in einer Gewalttat gegen sich selbst.
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Aber fast alle entscheiden sich fürs Weiterleben, auch wenn es ihnen noch so schlecht geht – weil der Tod intuitiv als zusätzliche Verschlimmerung der Lebenssituation angesehen wird.
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Und was ist mit der Freude daran, am Leben zu sein? Nur eine gesellschaftliche Konvention, die keiner ernsthaften Überprüfung standhält.
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993)
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Das Sein – abstoßend und fest.
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Das Nichts – anziehend und flüchtig.
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Das ist echter Pessimismus – sehr selten.
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994)
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Wer das Leben negativ bewertet und zudem an das Nichts im Tod glaubt, ist selbstmordgefährdet.
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Unsere Gesellschaft legt Suizidalen dringend und ausschließlich die positive Umbewertung des Lebens nahe.
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Zweifel am Nichts im Tod werden nicht gesät – auch die materialistische Erlösungslehre ist dogmatisch.
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995)
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Früher durfte man nicht offen sagen, mit dem Tod sei alles aus und vorbei, aber das Leben hatte den offiziellen Status eines Jammertals.
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Heute ist das sichere Ende im Tod Common Sense, aber das Leben im Ganzen negativ zu beurteilen kommt gesellschaftlich nicht in Frage.
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Für Pessimisten doppelt schlimm: die Verheißung des Nichts verführt zum Suizid, die Tabuisierung gemeinsamen Bedauerns verhindert Katharsis.
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996)
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Den Menschen muss es gestattet sein, nach getaner Arbeit Missstände zu beklagen, welche nicht zu ändern sind.
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Verheerend, das "Jammern" zu verbieten bzw. stets mit der brüsken Aufforderung "Dann tu doch was!" zu kontern.
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In einer schlechten Welt, die im Wesen bleibt wie sie ist, wird irre, wer alle Schuld an ihrer Schlechtigkeit tragen soll.
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997)
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Wer ist schuld an meinem Elend? Ich selber, andere, "Gott" oder niemand?
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Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, wogegen sich meine Wut richtet.
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Warum z.B. nicht auf Gott schimpfen? Wo er doch das Nichts abgeschafft hat?
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(Die Wut runterzuschlucken hieße auch, sie gegen mich selbst zu richten...)
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998)
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Hauptsache, du hast es versucht?
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Besser nichts getan als Mist gebaut.
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Erst denken, dann handeln – vielleicht.
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999)
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Aktive nötigen die Passiven zum guten Tun, Passive predigen den Aktiven Verzicht.
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Jeder meint, seine persönliche Begabung solle Grundlage einer allgemeiner Gesetzgebung sein.
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Kategorischer Imperativ der Selbstgefälligkeit: Alle so wie ich, dann wird alles gut.
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1000)
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Sein ist Sein ist Sein.
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Vielleicht ganz gleich als was.
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Nichtsein: leider nur denkbar!?
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1001)
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Falls es das Nichts wirklich gibt, wäre es das Beste, gar nicht erst geboren zu sein oder möglichst schnell wieder zu sterben.
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Weil es das Nichts aber wahrscheinlich nur in unserer Phantasie gibt, ist es noch das Beste, die Ruhe im Sein zu suchen.
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Aber die Welt dreht sich mit Fleiß immer schneller und lauter, veranstaltet blutige Wettrennen ohne Sinn und Ziel.
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1002)
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Sein muss. Weil es kein Nichts gibt.
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Sein muss, ohne dass etwas hinter dem Sein es dazu zwänge.
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Aber wie entsteht der Zwang dann? Unentstanden, unvergänglich. Shit.
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1003)
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Optimisten meinen, sogar das Müssen sei gewollt.
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Pessimisten meinen, sogar das Wollen sei gemusst.
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Auch ohne einen Gott dahinter, der das Müssen will.
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(Woher dieser Primat des Wollens? Zwangsvorstellung.)
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1004)
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Parmenides warnte noch davor, mit dem Nichts zu rechnen.
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Epikur benutzte es schon, um dem Tod seinen Schrecken zu nehmen.
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Heute überlegt jeder, wo er noch plündern kann, bevor er auf Null gesetzt wird.
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1005)
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Der moderne Mensch ist nicht nur seinsvergessen, sondern nichtsversessen.
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Dass alles vergänglich sei, ist sein Credo, auch wenn er sich Skeptiker nennt.
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Für seinen vermeintlich letzten Genuss presst er die Welt aus wie Wegwerfware.
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1006)
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Die Natur behandelt uns grausam.
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Wir werden zornig und wollen zurückschlagen.
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Da blickt sie uns so mitleiderregend an, dass wir innehalten.
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1007)
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Noch unter dem bewussten und dem unbewussten Willen liegt das schiere Müssen.
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Im Grunde müssen wir – und dass wir wollten, geben wir nur vor in unserer Ohnmacht.
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Es gibt keinen ersten Beweger, nur das erste Bewegte – das ewig müssende Sein.
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1008)
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Es dürfte kein Leid geben. Gibt es aber.
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Und wenn es das Leid schon gibt, müsste es gerecht verteilt sein. Ist es aber nicht.
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Und wenn das Leid schon nicht gerecht verteilt ist, müsste allgemein zugegeben werden, dass diese Welt schlecht ist. Wird es aber nicht.
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1009)
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Die versagende Theodizee kann nurmehr feststellen, der Schöpfer sei entweder böse oder unfähig.
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Ich fände einen unfähigen Gott sympathischer.
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Das Christentum plädiert auf allmächtige Willkür.
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1010)
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Der Normalfall des Lebens ist sein Misslingen.
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Gelingendes Leben ist die winzige Spitze einer Pyramide aus Leid.
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Jeder, der sich seines Lebens freut, steht auf einem riesigen Berg von Zerquetschten.
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1011)
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Warum ist den Leuten aufgesetzter Frohsinn lieber als echte Traurigkeit?
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Die eingeübten Juchzer und High Fives der Fun-Generation sind gruselig.
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Bei den Schauspielern, die es im TV vorhampeln, wirkt es noch am echtesten.
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1012)
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Action-Freaks protzen gerne mit ihren Taten.
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Was sie nicht können: einfach ruhig bleiben.
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In Klausur würden sie schlicht durchdrehen.
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1013)
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In Ruhe kommen Action-Junkies schnell schlecht drauf.
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Ihre starken Taten sind v.a. Flucht vor dem Trübsinn.
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Der dunklen Wahrheit ins Auge zu blicken wäre stärker.
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1014)
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Pessimismus ist ein Bewusstseinszustand: Gewahrsein des Lebensleids als Hauptsache.
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Optimisten halten die schönen Dinge für wesentlich und bekämpfen den Pessimismus.
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Sind dabei wie Parteianhänger, wollen nicht begreifen, warum nicht alle so wählen wie sie.
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1015)
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Die Aufgeklärten haben sich an ihrer Vergeistigung verhoben und verfallen in postmoderne Retrobewegung.
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Erste Station war das Seelische bzw. Psychologische. Inzwischen sind sie gar beim Wiederentdecken des Körperlichen bzw. Biologischen.
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Identität des Menschen sollte m.E. jedoch das Geistige bzw. Philosophische sein. Nach körperlichem und seelischem Durchgangsstadium.
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(Dumm nur, wenn Körper und Seele so verbogen sind, dass man immer wieder in dumpfes Leiden darunter zurückfällt anstatt sich gescheite Gedanken darüber zu machen.)
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1016)
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In der Hölle ist kein Heulen und Wehklagen.
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Man tut krampfhaft so als wär alles bestens.
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Die Lügerei macht die Quälerei noch schlimmer.
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1017)
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Gibt es nur den realen Himmel, wo die Menschen um ihren gefürchteten Despoten herum so tun, als ginge es ihnen gut?
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Als Alternative zur realen Hölle, wo die Menschen ohne einen solchen Despoten heulen und mit den Zähnen klappern?
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Da war mir die Hölle allemal lieber. Der Jugend wird das Jammern heute wieder verboten – prompt beginnt sie Amok zu laufen.
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1018)
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"Dann heul' doch!" sagen die jungen Hardliner.
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Das tu' ich auch, denk ich mir als alter Softie.
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Immer noch besser als Amok zu laufen wie ihr.
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1019)
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Wer sich von malerischer Landschaft, gutem Essen, netter Gesellschaft etc. mit dem grausamen Leben versöhnen lässt, ist ein amoralischer Hedonist.
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Heutige Philosophen halten es für wichtiger, das Leben bejahen zu können, als sich seiner durch nichts je gutzumachenden Grausamkeit bewusst zu werden.
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Nietzsche hat Schopenhauer gelesen, um dann doch weit zurückzufallen – unsere nun offizielle Amoralität ist sogar schlimmer als christliche Heuchelei.
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1020)
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Das Leben ist schlimm.
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Das Leben ist ewig.
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Just let it be.
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1021)
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Lebe in der Gewissheit, diese Welt niemals verlassen zu dürfen – so lautet der kategorische Imperativ, den es wirklich bräuchte.
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Von wegen dein Handeln als Grundlage allgemeiner Gesetzgebung, von wegen die Erde nur von deinen Kindern geliehen etc.
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Was den einzelnen Menschen nicht selber betrifft, bleibt Nebensache. Gutmenschentum ist Luxus, Menschentum dauernde Quälerei.
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1022)
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Leid hat neben der körperlichen und seelischen auch die dritte, geistige Dimension.
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Kein Denker kann den Eindruck fundamentaler Unstimmigkeit der Weltlogik ehrlich abstreiten.
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Optimisten mögen das als Paradoxie etc. einzuordnen versuchen – aber vergeblich.
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1023)
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Materialismus ist zur Philosophie emporgekommene Technokratie.
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Der Mensch als Tier plus Werkzeug – als Lebewesen, das Unbelebtes mit Unbelebtem zu seinen Zwecken umformt. Und unbelebt heißt: kann nicht schnell genug weglaufen oder eloquent genug Einspruch erheben.
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Schließlich denkt er sich alles aus Unbelebtem gemacht. Einschließlich sich selber.
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1024)
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Der Begriff Überlebenskampf – zynische Positivierung des Kampfes gegen das Leid.
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Jeder wirklich Leidende würde das Sein nur allzu gern gegen das Nichtsein tauschen.
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Darwinismus vs. Christentum? Ach wo, nur die nächste Blüte der Lebensfrömmigkeit.
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1025)
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Eine absolute Wahrheit gibt es vielleicht nicht – aber wesentlich mehr als die allermeisten wahrhaben wollen.
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Deshalb würde ich mit keinem tauschen wollen, der sein Leben liebt: höchstwahrscheinlich macht er sich was vor.
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Denn die Wahrheit des Lebens ist eine grausame: den allermeisten Lebewesen geht es mächtig dreckig.
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1026)
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Allein sterben – die einen hoffen, es nicht zu müssen; solche wie ich hoffen, es zu dürfen.
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Aber sicher werde gerade ich als Leiser beim Sterben von lauten Mitmenschen drangsaliert.
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Kranke und Alte sind schwache Behälter, in die gerne überschüssige Energie abgelassen wird.
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1027)
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Quietismus, Pessimismus etc. – entweder meint man diese Begriffe wörtlich oder sie sind ohne ausführliche Spezifizierung unbrauchbar bis irreführend.
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Ein Quietist ist also erst mal einer, der die Ruhe der Betriebsamkeit vorzieht. Und ein Pessimist einer, der Leben bzw. Welt negativ statt positiv beurteilt.
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Doch wenn ich mich Quietist nenne, denken die Leute gleich, ich sei Wittgensteinianer oder christlicher Separatist oder islamischer Laizist. Lautes Babel.
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1028)
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Lifelong Dying legt der Quietismus nahe, ganz besonders dem hastigen Selbstmörder.
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Sich nach und nach mit allen Jenseitsmodellen befassen bzw. mit ihrer Möglichkeit abfinden.
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Die Moderne verdrängt den Tod oder lässt für ihn nurmehr ein Modell – das Nichtsein – gelten.
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1029)
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Ist Quietismus nur eine hochtrabende Beschönigung der Faulheit?
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Wer das behauptet, gehört wahrscheinlich zu denen, die in der modernen Hektik verlernt haben, zur Ruhe zu kommen.
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Bedächtigkeit, Muße, Träumen, Halbschlaf usw. – diese Seite des Lebensspektrums ist zum erschöpften Tiefschlaf geschrumpft.
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1030)
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Selbst die Wissenschaftler wollen inzwischen gestalten statt verstehen.
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Ersteres macht stolz, letzteres bringt für jedes gelöste Problem zehn neue.
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Under-standing: ohnmächtig feststellen, dass einem die Welt zu hoch ist.
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1031)
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Für Christen gibt es nur Himmel und Hölle, das Nichts bleibt abgeschafft – warum?
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Weil der Vergleich Sein vs. Nichtsein die verfehlte Schöpfung offenbart.
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Diese Welt wäre besser nicht, kann also von keinem guten Gott stammen.
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1032)
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Depression sei gesellschaftlich noch tabuisiert, sagen die Ärzte.
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Es ist umgekehrt: als Depression wird integriert, was als Lebensverneinung ausgeschlossen war. Lebensfromme stempeln krank, was sich vom grausamen Leben zu Recht abwendet.
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Ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre.
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1033)
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Schopenhauer hat die Lebensverneinung für kurze Zeit gesellschaftsfähig gemacht – aus heutiger Sicht unglaublich.
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Nieztsche hat ihn auf unfaire Weise übertrumpft: Bejaht das Leben, vergesst die Moral, lautete sein Gegenangebot.
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Und dabei wird es wohl bleiben – Gemeinheit sticht Trübsinn, so pfeifen es alle Spatzen von allen Dächern.
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1034)
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Das Leid ist abschaffungspflichtiger als das Glück erhaltenswert.
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Ginge es nach mir, das Sein müsste dem Nichts weichen.
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Ungeheuer? Sind für mich die, welche das umgekehrt sehen.
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1035)
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Die Philosophie des Geistes bietet mittlerweile ein beeindruckend differenziertes Spektrum von Bewusstseinsmodellen zwischen Materialismus und Spiritualismus.
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Eines davon zu vertreten und sich gegen die jeweiligen Nachbarmodelle hin zu mehr Leib bzw. mehr Seele schon zu sträuben – dazu sind sie mir allesamt zu spekulativ.
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Tendentiell bin ich Panpsychist, Eigenschaftsdualist, Bewusstseinsmonist – wer an bewusstlose Materie glaubt, ist m.E. ein Metaphysiker, der sich irrtümlich für einen Skeptiker hält.
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1036)
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Möglichst passiv zu leben heißt aus Sicht der Gesellschaft, ihr etwas schuldig zu bleiben.
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Wer nicht offiziell Nachweis führt, dass ihn Krankheit hindert, gilt als notorischer Faulpelz.
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Patienten des Gesundheitswesens dienen der Gesellschaft zumindest als Versuchskaninchen.
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1037)
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Creatio ex nihilo – die Behauptung, das Leben sei von einem Gott aus dem Nichts geschaffen worden, spaltet ihr Publikum in Begeisterte und Empörte.
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Wieso sollte jemals Nichts gewesen sein? Naheliegender, das Sein als unentstanden und in diesem Zuge auch gleich als unvergänglich anzunehmen.
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Ich weiß nicht, was ich früher war und später sein werde. Ich sorge für meine möglichst langsame Veränderung, der Rest der Welt für möglichst schnelle.
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1038)
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Solipsismus stellt jegliche äußere Existenz jenseits des Ichs in Abrede – mit dem unwiderlegbaren Argument, das eigene Bewusstsein sei grundsätzlich unhintergehbar.
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Eliminativismus dagegen hält jegliche innere Begrifflichkeit für überflüssigen bis irreführenden Schein – nur objektive Sachverhalte seien überhaupt aussagefähig.
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Mein kollektiver Subjektivismus allen Seins einerseits oder deine Emergenz irreduzibel komplexer Bewusstseine aus Materie andererseits sind da schon weniger extrem.
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1039)
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Im vollen Ernst vetretene philosophische -ismen sind ja vielleicht nur möglich als Fluchten vor tiefen Kindheitstraumata ins entgegengesetzte Extrem.
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Einen Amoralisten wie Nietzsche versteht wohl erst, wer die vom Pastorensohn erlittene Lebensfeindlichkeit des christlichen Moralismus nachempfindet.
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Auch der Eliminativismus à la Churchland lässt gemäßigtere Denker verwundert nachfragen: mentale Zustände als Hirngespinste neuronaler Automaten – ernsthaft?
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1040)
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Satanismus zeigt sich eher als Label der Jugendkultur denn als eines der Philososophie bzw. Religion, dennoch erinnern die (an)gebotenen Regeln an Nietzsches Antithesen zum Christentum.
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Kein Herdentier sein zu wollen und sich doch auf den Kodex von Ritualen, Kleidung, Musik etc. einzulassen ist ein Paradox. Bleibt dieses unbemerkt oder läuft es wildromantisch der ordentlichen Logik zuwider?
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Widerspruch, Trotz, Rebellion sind offenbar das Hauptbedürnis der Satanisten. Aber auch wenn das Christentum uncool ist, kommt bei seiner Verkehrung ins Gegenteil nicht automatisch was Cooles raus.
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1041)
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Satanisten sind lebensbejahend und verurteilen die herkömmlichen Kirchen als lebensfeindlich.
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Meine Lebensverneinung würden sie als vom Christentum angerichteten Schaden sehen.
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Mag durchaus zutreffen. Dennoch: lustvoll Tier zu sein bleibt für mich kontraindiziert.
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1042)
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Das schlimme Tun des Menschen überwiegt das gute bei weitem.
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Warum also nicht besser ein Tier, eine Pflanze oder ein Ding sein?
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Weil ich als Mensch um das Ideal des Nichtseins wissen kann.
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1043)
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Die Alternativlosigkeit des Lebens anzunehmen befreit mich von nagender Todessehnsucht.
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Bestätigung für Hegels paradox anmutenden Satz, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit?
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Aber der heutige sture Optimismus – "Nichts ist unmöglich!" – wähnt das Nichts im Tod sicher.
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1044)
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Paradoxie ist eine zentrale Eigenschaft der Lebenswelt, nicht nur Folge unkundiger Sprachverwendung.
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Dualität des Ichlichen und Sächlichen ebenso, die naturalistische Reduktion aufs letztere ist donquichottesk.
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Philosophische Probleme lassen sich nicht analytisch lösen, indem man ihre subjektive Seite leugnet.
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1045)
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Solipsismus bzw. Eliminativismus sind extreme Argumente für die individuelle Ewigkeit bzw. Endlichkeit.
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Meine mögliche Ewigkeit betrübt mich am allermeisten, meine mögliche Endlichkeit am allerwenigsten.
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Doch obwohl der moderne Mensch angeblich ewig leben will, geht der weltanschauliche Trend zum Endlichen.
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1046)
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In der sprachlichen Verwendung von Paradoxien hat wohl jeder so seine Dynamik, bleibt zwischen einer oberen und unteren Grenze.
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Hegel finde ich ärgerlich paradox, Schopenhauer repräsentiert die angenehme Mitte, aller Positivismus danach ist mir viel zu trocken.
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Ich mag zwar ein arger Pessimist sein, pendle aber m.E. recht ausgewogen zwischen Metaphysischem und Physischem.
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(Gehen die Skeptics deshalb so ausgiebig auf die Esoteriker los, weil sie dringend Erholung vom spröden Szientismus brauchen?)
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1047)
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Die analytische Schule kämpft verbissen gegen die Metaphysik und verstrickt sich dabei selber in Dualität und Paradoxie.
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Die ganzheitliche Schule ihrerseits verbohrt sich in relativitätstheoretische bzw. quantenmechanische "Beweise" für Spirituelles.
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Ein Schuster, der bei seinen Leisten bleibt, ist überzeugender. Aber kaum ein Skeptiker oder Esoteriker, der das fertigbringt.
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1048)
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Lieber würde ich sterben, als mit irgendjemand zu tauschen, der gerne lebt.
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Andere würden sogar lieber mit irgendjemand tauschen, der ungern lebt, als zu sterben.
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Die jetzt gerade eigene Subjektivität erscheint einem wohl als die objektivere.
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1049)
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Wie es Männer und Frauen gibt, so gibt es auch von Grund auf Frohe und Traurige, die das Leben an sich gut bzw. schlecht finden.
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Echte Frohe und falsche Frohe sind zusammen an der Macht. Sie stilisieren Lebensverneinung zur behandlungsbedürftigen Krankheit.
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Aber die echten Traurigen haben recht: wer dieses Leben wirklich gut findet, muss einen ethischen Defekt haben, Raubtier geblieben sein.
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1050)
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Echte Ethik – nichts und niemand Gewalt antun wollen, das Leben über sich ergehen lassen – macht traurig.
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Falsche Ethik – in einem starken Bündnis arbeiten, gemeinsam schwächeres Dasein ausbeuten – macht froh.
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Die meisten sog. Depressiven sind m.E. einfach nur moralisch empfindsamere Menschen, die ersteres praktizieren.
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1051)
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Stundenlang die Gedanken schweifen lassen, ohne unangenehme Langeweile – wer das kann, weiß auch im hohen Alter noch etwas mit sich anzufangen.
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Denn es kommen evt. Zeiten im Leben, wo nach körperlicher Aktivität schließlich auch Smalltalk bzw. Medienberieselung auf Dauer zu anstrengend werden.
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Der moderne Mensch wünscht sich einen schnellen Tod, sobald er nicht mehr fit ist. Aber nur, weil er glaubt zu wissen, wogegen er sein Leben eintauscht.
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1052)
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Langeweile ist i.a. ein negativ besetztes Wort.
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Dabei ist die lange Weile besser als die kurze.
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Einfach mal bewusst die Zeit vergehen lassen.
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1053)
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Warum entscheiden sich Jugendliche für den Satanismus?
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Weil sie im Moralismus die Ursache ihres Unglücks vermuten.
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Lieber wollen sie glücklich und böse sein als unglücklich und gut.
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(Indiz für die Verlogenheit der moralisierenden Gesellschaft ist deren unermüdliche Verheißung des Glücks für die Guten.)
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1054)
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Sich am Nichts zu orientieren ist m.E. der richtige Mittelweg.
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Glückssucher begehren, was ihnen nicht zusteht; bringen mit ihrer Vermessenheit mehr Unglück über andere als nötig.
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Pflichttuer sträuben sich zu wenig gegen unverdientes Leid; fügen sich drein, wo man sich mit Recht verweigert.
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1055)
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Wer glaubt, wir hätten nur die Wahl zwischen Liebe und Krieg, übersieht, dass man sich mit Bedacht gegenseitig in Ruhe lassen kann.
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Anonymität selbst auf engstem Raum ist eine kulturelle Errungenschaft der Stadt, für die viele ihrem Dorf nur zu gern den Rücken kehren.
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Der Landmann meint halt, sein Nachbar sei entweder für oder gegen ihn. Und kontrolliert das alltäglich mit nervtötender Freundelei.
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1056)
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Hauptsächlich ist die Welt gemusst, nicht gewollt.
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Die Christen bestreiten das kategorisch, und selbst der Pessimist Schopenhauer meinte noch, blinder Wille fände Erlösung in sehendem Nichtwollen.
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Nach heutigem Stand scheint sich unser Bewusstsein den freien Willen nur vorzugaukeln. Dennoch glaube ich an ein wenig geistige Autonomie.
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1057)
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Ewig teilhaben müssen am makroskopisch immergleichen kollektiven Bewusstsein – davon gehe ich aus.
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Weniger als tief und fest gründende Überzeugung, mehr als Worst-Case-Annahme zur Suizidverhütung.
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Jegliche Ankündigung von Veränderung oder Vernichtung im Tod macht das Leben viel zu unruhig.
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1058)
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Von einer asketischen Ethik des Unterlassens wollen die westlichen Aktionisten partout nichts hören.
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Aber genau eine solche Ethik wäre es, welcher die von menschlicher Technik bedrohte Erde bedürfte.
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Negativer kategorischer Imperativ: Lege den größten Wert auf das Nichttun, lass deine Umwelt in Ruhe.
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1059)
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Bewusst ist uns der Seinsteil, wo wir gerade anbauen oder renovieren.
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Alles nicht Bewusste war uns einmal bewusst und wird es wieder sein.
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Sobald es nicht mehr in Ordnung ist, meldet es sich schmerzvoll zurück.
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1060)
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Das Nichtsein anzustreben ist weder altruistisch noch egoistisch, es ist neutral. Am besten wäre die ganze Welt nicht, weder Nachteil noch Vorteil für irgendwen. Die diesen Zustand als ideal erkannt haben, sind vom blinden tierischen Drang zur einsichtigen menschlichen Vernunft fortgeschritten.
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Wer Selbstmörder, welche sich nach moderner Überzeugung ins Nichts verabschieden, für altruistisch hält, sieht das Leben in kämpferischer Tradition als Streben nach Herrschaft – ein jeder möge für sich erringen was irgend geht, statt andern durch den Tod von eigener Hand das Feld zu überlassen.
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Wer Selbstmörder, welche sich nach moderner Überzeugung ins Nichts verabschieden, für egoistisch hält, sieht das Leben in moralischer Tradition als quälende Pflicht – den anderen sei gefälligst mit aller Kraft beizustehen, statt ihnen durch den Tod von eigener Hand Kummer zu bereiten.
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(Wäre Erlösung aber wirklich so einfach, dann sollte moralischerweise der kollektive Suizid durch die ganz große Bombe das Problem ein für allemal lösen, oder? Wenn die Naturalisten weiterhin so erfolgreich predigen, dass im Tod alles Bewusstsein erlischt, wird jene irgendwann gezündet.)
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1061)
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"Alle Dinge sind herrlich zu seh'n, aber schrecklich zu sein", so Schopenhauer.
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Empathielos von außen beobachtend bleibt Objektivismus feiger Optimismus.
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Dabei stellen sich gerade Realisten gerne in den Ruf mutiger Einsichtigkeit.
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1062)
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Postmoderne Intellektuelle changieren zwischen alertem Durchsetzungswillen und ironischem Grinsen.
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Wo ist nur die sich zurücknehmende Ruhe und die aufrichtige Ernsthaftigkeit der Philosophie geblieben?
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Da findet nurmehr der Autodidakt hin – die Akademie produziert aalglatte Talkshow-Nietzscheaner.
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1063)
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Pessimismus und Optimismus sollten in erster Linie Weltanschauungen bezeichnen, welche die Schätzung einer Summe über alles Leid und alle Freude in der Welt für sinnvoll halten und diese negativ bzw. positiv ansetzen.
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Aber die lebensfrommen "Positivisten" tun alles, damit schon die Null als unteres Ende der Skala gilt. Behaupten allen Ernstes, ein Dasein z.B. als lebenslänglich eingesperrtes Folteropfer sei immer noch besser als gar keines.
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Solange nicht einmal Einigkeit darüber herrscht, dass irgendein Leben schlechter als nichts sein kann, wird hier keine begriffliche Klarheit einkehren. Bis auf weiteres markieren die beiden -ismus-Wörter keine festen Positionen.
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1064)
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Nach dem strengen kommt das altersmilde Über-Ich, überlässt einstiges Leid von Ich und Es dem Vergessen.
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Sentimentale Verklärung der eigenen Vergangenheit – eine Form von Selbstausbeutung.
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Lieber nur an den positiven Erinnerungen festhalten – übliche optimistische Missachtung des existentiellen Elends.
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1065)
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Principium individuationis – wir können m.E. niemals endgültig davon loskommen, individuell existieren zu müssen.
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Buddha, Schopenhauer und der heutige Spirituelle meinen, Individuation könne dauerhaft überwunden werden.
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Ich fürchte, auch wer loslässt, um ein für allemal im Ganzen aufzugehen, wird doch immer nur Partikel bleiben.
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1066)
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Bewusstseinserweiterung geschieht schon im reinen Nachdenken.
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Auch ohne Meditation beschleicht mich oft ein ozeanisches Gefühl.
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Doch Grundzustand ist die Individualität, holt mich stets zurück.
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1067)
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Lebensbewältigung bedeutet vielleicht, sich in ein ausreichend breites Spektrum an verschiedenen Bewusstseinszuständen versetzen zu können.
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Der eine bereist seine Außenwelt, der andere seine Innenwelt – Hauptsache, man findet einerseits genug Abwechslung, andererseits genug Halt.
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Äußerliche Menschen mögen den innerlichen Lifestyle als bedauernswerte Armetei abtun – ich jedoch meine, dass er der wesentlich bessere ist.
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1068)
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Reduktionisten halten das Bewusstsein für ein wirkungsloses Epiphänomen, eine innere Leinwand, auf welche die Welt einschließlich des eigenen Körpers letztlich nur projiziert wird. Konstruktivisten dagegen halten das Bewusstsein für die Zentrale, in der mithilfe von äußeren Steuersignalen die Welt einschließlich des eigenen Selbst erst produziert wird.
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Bereits theoretische Überlegungen liefern diese beiden extremen Interpretationen unserer Wirklichkeit – wobei die "eigentliche" Natur des je winzigen inneren bzw. äußeren Restes systematisch im Dunkeln bleibt bzw. als störender Zipfel einer ansonsten stimmigen Weltanschauung missachtet oder gar offensiv für nichtexistent erklärt wird.
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Welche Anschauung praktisch obsiegt, hat wohl mit vom normalen realistischen Bewusstsein wegführenden Erlebnissen bzw. deren Fehlen zu tun. Klartraum, Halluzination, Nahtoderfahrung, LSD-Trip u.a. stellen die Realität eindrucksvoll zur Disposition – aber auch auf dermaßen beängstigende Weise, dass oft gerade sie den verbohrtesten Reduktionismus zeitigen.
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1069)
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Postmoderne Retrokultur versucht, von den geistigen Auswüchsen zu den psychischen und physischen Wurzeln zurückzufinden, wo das Leben vermeintlich noch Spaß machte.
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Wer hinsieht, registriert diesen Trend überall. Beispiel: geistreich-erwachsene Satire regrediert auf kindische Clownerie resp. Physical Comedy: langgezogene Gestik, Mimik, Urlaute.
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Die Moralverächter meinen hinter ihren stets ironischen Grinsemasken allen Ernstes: lieber lebensgetriebenes Fühlen wiederbeleben als lebensverneinendes Denken kultivieren.
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1070)
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Der wissenschaftsgläubige Lifestyle verdankt seine Popularität m.E. in erster Linie der Tatsache, dass er die Erlösung im Tod für alle verspricht.
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Die Religionen versprechen sie ja nur ihren Anhängern und auch denen nur unter schwer erfüllbaren Auflagen – das ist uns Sündern viel zu unsicher.
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So nüchtern die Moderne i.a. auftritt, so verlockend wirkt ihr Angebot, diese Zumutung namens Leben hinter sich zu lassen – ohne Wenn und Aber.
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1071)
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Das Spektrum bekannter Bewusstseinszustände reicht von lebendigster Ekstase einerseits bis zum Nahtod andererseits.
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Gesellschaftlich werden erstere Tagzustände gepusht, letztere Nachtzustände verdrängt bzw. aufs Nötigste reduziert.
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Ist es nicht besser, im Leben bewusst auf den Tod zuzugehen, sich immer weiter mit den Nachtzuständen vertraut zu machen?
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1072)
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Die Reise ins Unbekannte muss nichts Neues ergeben.
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Hinterm schwarzen Vorhang siehts evt. aus wie davor.
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Vom Tod das völlig Andere zu erwarten ist vorschnell.
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1073)
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Würde ein Allmächtiger sich selbst partiell ahnungslos machen, indem er andere, sterbliche Selbste erschafft?
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Weil er sonst niemals überrascht werden könnte, niemals etwas erleben könnte, ohne vorab Bescheid zu wissen?
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Nach einem von Gott für sich selber inszenierten Theater gäbe es nichts aufzuräumen. Wie nach einem Traum.
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(Die Schöpfungsgeschichte erscheint mir solipsistisch noch plausibel, die Geschichte vom Jüngsten Tag nicht mehr.)
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1074)
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Nur wer Höllischem ausgeliefert bleibt, kann Motiv und Werdegang materialistischer Religion verstehen.
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Monotheisten und Spirituelle haben zumeist arge Schlagseite hin zu einer rosigen Version des Ewigen.
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Von da aus mag es dann freilich kaltschnäuzig bis böse anmuten, die Endlichkeit für alle zu postulieren.
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1075)
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Zugleich religiös und realistisch sein? Spirituell und materialistisch? Subjektivistischer Solipsist und objektivistischer Reduktionist?
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Einerseits verwunderlich, wie viele Menschen so ein Doppelleben führen. Andererseits klar, das Leib-Seele-Problem ist halt nicht gelöst.
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Neutraler Monismus i.S.v. Eigenschaftsdualismus bietet da immerhin problembewusste Ausgeglichenheit. Im Zweifel unentschieden.
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1076)
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Unglaublich, wie unterschiedlich das Nichts als leerster aller möglichen Bewusstseinszustände von den verschiedenen Weltanschauungen gewertet wird.
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Für die Buddhisten liegt das Nichts noch über dem Himmel – die mächtigen Götter rangieren unterhalb der Mönche, denn jene können ihre Erlösungsbedürftigkeit nicht erkennen.
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Für die Nietzscheaner liegt das Nichts noch unter der Hölle – heroische Lebensbejaher ziehen ein Dasein in Fülle der Leere vor, und sei es auch voller Schmerzen.
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(Für mich liegt das Nichts genau in der Mitte zwischen echtem Himmel und echter Hölle – weit über dem herrgöttlichen Christenhimmel, denn der wäre kein echter.)
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1077)
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Könnte ich für kurze Zeit in die Vergangenheit reisen und den Menschen etwas mitteilen – was würde ich auswählen?
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So wenig wie möglich, um nur ja an meiner Zeit nichts zu verändern? So viel wie möglich, auf dass es allgemein helfen möge?
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Oder auch nur meine persönliche Weltanschauung, um ihr größere Chancen auf Gültigkeit zu verschaffen?
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1078)
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Biologisch mag die Evolution bislang nur Trial and Error kennen, sowas wie Intelligent Design mag da erst zukünftig kommen, vom Menschen oder Transhumanen – so weit, so schlecht.
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Aber dem Menschen jegliches Verständnis seiner Welt abzusprechen, auch hinter seiner gesellschaftlichen Entwicklung nur Empirie und null Ratio zu vermuten, ist m.E. zu viel der Skepsis.
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Wer je Zeuge echter Intelligenz werden durfte, welche auch für schwierige Probleme elegante Lösungen mit einem Minimum an probierendem Verhalten findet, traut dem Menschen mehr zu.
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1079)
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Menschlicher Selbstmord kann nur stümperhafter Versuch sein, wenig erfolgversprechender Appell ans Universum, das Leid zu beenden.
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Nur göttlicher Selbstmord bedeutete ideal sichere, endgültige Selbstabschaffung – um diese Möglichkeit wäre Gott zu beneiden.
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Wenn er denn noch existiert – anscheinend ist er nach unserer Schöpfung selber drauf gekommen und hat sich annihiliert.
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1080)
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Tolerant sein – das zum gebetsmühlenartig wiederholten Klischee unserer Zeit gewordene Gebot – fällt den Unempfindlichen am leichtesten.
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Dünnhäutige Introvertierte müssen versuchen einzusehen, dass dickfellige Extrovertierte nicht aus ihrer Haut können und ihnen die Übergriffe verzeihen.
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Ist klar, wen von beiden dieser Zeitgeist auf Dauer vor die Hunde gehen lässt – was die nietzscheanischen Hardliner ja auch erst mal begrüßen.
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1081)
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So lang schon nenne ich mich Atheist, da dämmert mir überraschend: etwas hab ich noch übrig für den "lieben Gott".
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Aber diesen rückt der Monotheismus ja nur für die kleinen Kinder raus, allzubald wird Gott herrisch, statt lieb zu bleiben.
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Wennschon sehne ich mich nach Allversöhnung. Der Herrgott mit seiner Höllenstrafe soll mir gestohlen bleiben.
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1082)
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Säkularisierung: das Weltliche hat das Geistliche überrannt, die restlichen Asketen werden von der einigen Luxusgesellschaft gemobbt.
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Bestenfalls bekommen die Mönchshaften noch Toleranz angeboten: duldest du unseren Hedonismus, dulden wir deine Bescheidenheit.
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Konsumistischer Sieg: die Armen mit billigem Tand zu pseudoreichen Verschwendern gemacht, verhindert außer Revolution auch Besinnung.
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1083)
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Sechs Modelle des Todes: Himmel und Hölle, Nichts und All-Einheit, ganz Anderes und ewig Gleiches.
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Ich tippe aufs ewig Gleiche. Ob das einfach daran liegt, dass wir in Zeiten schnellen Wandels leben?
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Intuitiv bedeutet Tod nunmal Gegenteil vom Leben. Ist Quietismus nur etwas für überforderte Reaktionäre?
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1084)
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Im Himmel geschieht nichts mehr gegen unseren Willen?
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Aber die einen mögens lieber aktiv, die anderen lieber passiv.
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Sogar die Himmelsrichtungen sind unterschiedlich. Unerlösend.
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1085)
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Auf den Tod hinleben – die ruhige Alternative zur Todesverdrängung wie zum Suizid.
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Sich geistig mit dem Tod vertraut machen. Sich Sterben und Totsein ausmalen. Mutmaßen.
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Seelische und körperliche Nahtodzustände bewusster erfahren, angefangen beim Schlaf.
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1086)
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Wer sich liebt, wünscht sich den Himmel.
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Wer sich hasst, wünscht sich die Hölle.
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Wer sich gleichgültig ist, wünscht sich nichts.
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(Aber ich wünsch mir das Nichts.)
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1087)
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Die Christenschäfchen mögen nur Körper und Seele sein bzw. bleiben.
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Alles Geistige, zumal die Allwissenheit, lieber dem Herrgott überlassen.
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Evt. aus Nahtoderfahrung: im Angesicht des Jenseitigen regrediert man.
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1088)
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Evolutionär wurde zum Geistigen zwar vorgedrungen.
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Aber dann konnte man sich auch dorthin zurückziehen.
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Und das Körperliche und Seelische wieder verlernen.
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1089)
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Nüchterne Spekulation: ausgehend davon, wie wir das Sein bislang kennen – was könnte uns im Tod erwarten? Todestheoretiker sind vielleicht die letzten, denen die Praktiker den Rang ablaufen werden.
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Wissenschaft hat sich nahezu komplett vom Rationalismus zum Empirismus verlagert – beim irreversibel erscheinenden Tod jedoch sagt kaum einer "Just do it!", da ist Denken noch üblicher als Handeln.
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Nahtodforscher können sich experimentell herantasten: tiefe Trance, Narkose, Flatline. Aber aus den Zuständen, die folgen, ist noch keiner als Pionier des Todes zurückgekehrt, um zu berichten – oder?
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1090)
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Paradies und Nichts sind die allgemein üblichen Vorstellungen vom Totsein.
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Keiner will annehmen, dass er mit seiner verwesenden Leiche identisch bleibt.
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Viele fangen bereits im Leben damit an, sich von ihrem Körper zu distanzieren.
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1091)
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Die Introvertierten gehen niemandem auf die Nerven, die Extravertierten schon. Heute sollen da erstere duldsam sein, Toleranz üben.
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Die postmoderne Toleranzgesellschaft wertet die Freiheit, sich individuell auszuleben, höher als das Recht, in Frieden gelassen zu werden.
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Ruhe als erste Bürgerpflicht ist obsolet, stattdessen: express yourself. Das pluralistische Toleranzgebot favorisiert die Grobheit.
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1092)
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Das Jahr hat vier Jahreszeiten, das Leben vier Lebenszeiten: Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod.
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Vermutlich ist es am besten, keine davon arg verfrüht bzw. verspätet zu beginnen bzw. zu beenden.
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Aber oft neigt der individuelle Charakter zeitlebens zu einer davon. Ich bin ein Todescharakter.
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1093)
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Moralischer Nihilismus: üblicherweise Synonym für Amoralismus.
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Besser fände ich: moralisch motiviertes Streben nach dem Nichts.
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Wäre alles absolut zu vernichten, wir sollten es tun. Gegen das Leid.
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1094)
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Wie lange werde ich mein Totsein spüren?
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Null Sekunden oder unendlich viele Jahre?
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Schmerzkeks-Kompromiss: ne halbe Ewigkeit.
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1095)
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Was ist im Tod? Himmel, Nichts und All-Einheit sind m.E. geistige Modelle für Anfänger.
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Hölle, ganz Anderes und ewig Gleiches sind m.E. geistige Modelle für Fortgeschrittene.
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Trance, Schlaf und Nahtod geben Hinweise für aufs Physische und Psychische Abonnierte.
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Band 4
1096) bis 1461)
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1096)
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Religiöse, Spirituelle, Metaphysiker, Rationalisten, Empiristen und Pragmatiker – in diesem Spektrum fühl ich mich am wohlsten in der Mitte.
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Insbesondere was den Tod betrifft, scheint es mir am sinnvollsten, über die plausibelste Fortsetzung des Lebens systematisch nachzudenken.
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Was einst am Lagerfeuer phantasiert wurde, ist mir zu großspurig, und was heute im Labor analysiert bzw. synthetisiert wird, ist mir zu kleinkariert.
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1097)
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Im speziellen ändert sich eher viel, im allgemeinen eher wenig.
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Immer allgemeiner denken ist (m)eine Vorbereitung auf den Tod.
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Und immer spezieller (nicht)denken die allgemein übliche Flucht.
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1098)
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Bitte wieder eher rationalistisch, deduktiv, allgemein, nachdenklich, verständnisorientiert, ökologisch!
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Bitte wieder weniger empiristisch, induktiv, speziell, tätig, anwendungsorientiert, technologisch!
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Nach kurzer geistiger Versuchsphase ist der Mensch ins Körperlich-Psychische zurückgefallen.
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1099)
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Der Pessimist würde das Sein eintauschen wollen gegen Nichtsein.
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Der Pessimist würde Sosein nicht eintauschen wollen gegen Anderssein.
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Der Pessimist hält Nichtsein im Tod für unwahrscheinlicher als Anderssein.
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1100)
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Als christlicher Pessimist hatte ich viel mehr Angst vor der Hölle denn Hoffnung auf das Paradies.
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Als realistischer Pessimist hatte ich viel mehr Sehnsucht nach dem Todesnichts denn nach dem Lebenssein.
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Als metaphysischer Pessimist fürchte ich irgendein Anderswerden viel mehr denn das schlechte Sobleiben.
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1101)
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Ich wünschte mir, ich bräuchte einfach nicht zu sein.
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Könnte mir so passen, alles den andern aufzuhalsen?
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Ich wünschte jedem, er könnte auf Wunsch nichtsein.
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1102)
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Schläge austeilen, ihnen ausweichen oder welche einstecken – es gibt immer was zu tun.
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Wie also manifestiert sich Lebensverneinung? Erst nur als Theorie, als Geisteshaltung.
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Dann als Traurigkeit, dass die wichtigste Möglichkeit fehlt: durch Loslassen nichtsein.
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1103)
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Chauvinismus abschaffen? Nein, erst mal übernehmen Frauen alle Selbstherrlichkeit männlicher Führer, unter der sie so lange litten.
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Industrielle Umweltzerstörung abschaffen? Nein, erst mal übernehmen Entwicklungsländer alle Technologie, welche sie so lange beneideten.
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Die Vorreiter dieser Welt schauen nicht hinter sich, wo massenhaft Gefolge ihre Fehler zu Regeln erhebt bzw. zu Katastrophen ausweitet.
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1104)
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Not bleibt der Wissenschaft fremd.
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Für das Leid gibt es keine Maßeinheit.
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Labormäßig ist jedes Phänomen positiv.
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1105)
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Ständig hört man: religiöser Selbstmordattentäter explodiert an einem Ort, der ein Dorn in seinesgleichen Vision vom Diesseits ist; für sich erwartet er Lohn im Jenseits.
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Oft hört man: egozentrischer Amokläufer schießt um sich und schließlich auf sich selbst an einem Ort, wo seiner Person übel mitgespielt wurde; an ein Jenseits glaubt er nicht.
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Nie hört man: fürsorglicher Realist begeht Mitnahmesuizid als Beitrag zur Erlösung der leidenden Menschheit an willkürlichem Ort – das soziale Gegenmodell zum Kindermachen.
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1106)
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Wie denkt ein Insasse der christlichen Hölle über seine ewige Strafe?
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Entweder er ist unfähig zu begreifen, womit er sie verdient hat – dann ist er eigentlich auch nicht verantwortlich zu machen für seine Sünden.
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Oder er sieht ein, dass göttliche Gerechtigkeit an ihm waltet – dann geht es ihm aber sicher besser als den meisten während ihres Erdenlebens.
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(Muss man sich den Insassen der christlichen Hölle als glücklichen Menschen denken?)
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1107)
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Erst denken, dann handeln. Oder besser noch: nur denken, das wärs.
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Aber die neuen Harten machen es umgekehrt: erst oder nur handeln.
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Die rationalen Einwände sind verstummt, der empirsche Imperativ schreit.
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1108)
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Gott lässt dem Menschen die Freiheit, zwischen gut und böse zu wählen?
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Ausschlaggebend wäre, zwischen Sein und Nichtsein wählen zu können.
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Unglaublich zynisch, angesichts dieser Unfreiheit jene Freiheit zu betonen.
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1109)
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Der Tod birgt nur drei Möglichkeiten: es wird besser, es bleibt so, es wird schlimmer.
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Das Nichts wär mir lieber als mein Leben, aber mein Leben lieber als eins der anderen.
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Der Glaube meiner Wahl: es bleibt so. Reicht gegen den Suizid und stimmt mich ruhig.
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1110)
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Empirische Wissenschaft sieht Ideelles nur als antiquierte Fassade, sich selbst als moderne Enthüllerin.
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Reell und damit eigentlich sei der Mensch ja nur eine Maschine, der heilige Krieg ja nur ein Raubzug etc.
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Vielleicht hat man sich früher arg aufs Ideelle versteift – aber diese Seite der Welt einfach abschaffen?
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1111)
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Ist Selbstmord feige oder mutig?
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Am ehesten finde ich ihn tollkühn.
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Da hat einer zu viel Todvertrauen.
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1112)
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Meine im Nachdenken über Leben und Tod geformte Drei-Welten-Theorie: so oder anders, gar nicht oder ganz anders, Himmel oder Hölle.
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Erstens meine Welt oder die empathisch erfühlbare der andern, zweitens die bewusslose oder unvergleichliche, drittens die phantasierte.
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Es beruhigt mich, auch im Tod nur noch mit der ersten Welt zu rechnen: dass mein Dasein so bleibt, wie ich es von mir oder andern kenne.
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1113)
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Schizoide vs. depressive, hysterische vs. zwanghafte Angst – also vor Fremdbestimmung bzw. Eigenständigkeit, Starre bzw. Wandel – assoziiert F. Riemann mit planetarischer Rotation um die eigene Achse bzw. um andere Planeten, zentrifugaler bzw. zentripetaler Kraft.
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Auch das Wissen um den Tod scheint mir vier typische Reaktionen zu zeitigen, von denen je zwei antinomisch sind, nämlich das Streben nach individueller Macht und Freiheit resp. nach sozialer Geborgenheit, nach ausschweifender Lust resp. nach ritueller Askese.
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Noch esoterischer und politisch unkorrekt ist dann wohl meine Assoziation zu den Himmelsrichtungen unseres Planteten: nördlich bzw. nordisch (lever dot as Slav), südlich bzw. südländisch (la familia es todo), westlich (have fun or die tryin), östlich (ommm...).
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1114)
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Die Gedanken sind frei – tröstet sich der Leibeigene.
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Nein, sind sie nicht – stöhnt der Zwangsneurotiker.
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Besessen werden bzw. sein kann man auch innerlich.
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1115)
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Die Lebensfreude ist bei den Lauten.
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Der Wohlstand bei den Skrupellosen.
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Dort sagt man gern: Jedem das Seine.
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(Pluralismus ist eine amoralische Idee.)
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1116)
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Meine halbe Erlösung liegt in der Erkenntnis.
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Dass Nichtsein meist besser wäre als Sosein.
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Aber Sosein meist besser ist als Anderssein.
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1117)
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Vier feste Überzeugungen hinsichtlich des Todes haben sich allgemein etabliert.
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Religiöse, Spirituelle, Realisten und Agnostiker leben in der Gewissheit, im Tod warte das offenbarte Jenseits, die mystische All-Einheit, das bewusstlose Nichts bzw. das im Leben grundsätzlich Unerforschliche.
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Wer in puncto Tod am Mutmaßen bleibt, dem fahren die vier unwirsch über den Mund, sobald er darauf zu sprechen kommt. Sie mögen über das Thema nicht mehr nachdenken, haben es geistig ein für allemal abgehakt.
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1118)
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Vielleicht durchleben wir einen ewigen Kreislauf aus Werden, Sein, Vergehen und Nichtsein?
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Kehrte jeder Zustand wieder, sähe meine Hitliste so aus: Nichtsein, Sein, Werden, Vergehen.
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Denn im Nichts müsste ich nicht mehr vergehen und noch nicht werden, im Sein umgekehrt.
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("Gott" als Kreativer, der uns aus dem immer selben Lehm formt und wieder zermatscht?)
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1119)
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Ich lebe, um meinen Todesglauben zu ändern.
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Andere denken nicht an ihren, leben lieber.
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Mein Startglaube Hölle lässt mir keine Wahl.
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1120)
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Jedes Todesmodell ist ein um das Leben herum gedachter Rahmen, jeder Todesrahmen hebt einen anderen Aspekt des Lebens besonders hervor.
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Traditioneller Monotheismus mit Himmel und Hölle lenkt die Sicht auf die eigene ethische Rolle in der Welt, auf Güte und Bosheit. Spiritualität kontrastiert das individuell-partikulare Bewusstsein mit seiner Ergänzung zum All-Einen. Modernes Hinausgehaltensein ins Nichts bzw. ins Unbekannte steigert das Erleben momentaner Einmaligkeit, erhöht die Lebensintensität.
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Der Lebensmonist verzichtet schließlich auf solche Spezialeffekte, sagt sich in beruhigender Eintönigkeit: das Leben ist das Leben ist das Leben...
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1121)
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An der Assoziation vom Tod mit Paradies und Hölle mag doch was dran sein.
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Zurückgeworfen in den Schmelztiegel wird Anfänglichkeit evt. wieder möglich.
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Das erfahrene Individuum hingegen ist nicht mehr offen genug für das Reine.
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1122)
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Nietzsches Ewige Wiederkehr des Gleichen konserviert Macht.
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Die Ersten werden die Ersten sein, und die Letzten die Letzten.
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Arschloch-Religion: glaube fest daran, dass du obenauf bleibst.
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1123)
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Die Religionen sagen, dass es im Tod anders wird.
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Die Westler landen in einer jenseitigen Welt, aber als sie selber. Die Ostler werden als andere wiedergeboren, aber hier im Diesseits.
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Als andere in einer anderen Welt wär allen zu anders.
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1124)
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Skrupellosigkeit macht lebensfroh, moralische Empfindsamkeit lässt einen am Leben verzweifeln. Unwissenheit erlaubt Einfalt, Wissen wimmelt von Widersprüchen.
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Ihr Jenseits imaginieren die Menschen andersrum: dort sind die Guten glücklich, die Bösen unglücklich. Und Bewusstseinserweiterung aufs Ganze macht aus allem eins.
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Auch die moderne Überzeugung vom Enden des Bewusstseins im Todesnichts ist so ein Jenseitsglaube, auch die sich gerne nüchtern gebenden Realisten sind erlösungsmotiviert.
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(Wer sich kein zum Diesseits gegenteiliges Jenseits mehr vorgaukeln will oder kann, lebt schon jetzt im Himmel ewiger Despotie bzw. in der Hölle ewiger Empathie.)
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1125)
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Dieses Leben währt ewig.
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Mitleidlose sind glücklich.
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Mitleidige sind unglücklich.
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1126)
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Sein und Nichts bzw. Nichtsein werden im allgemeinen Sprachgebrauch mit Leben und Tod gleichgesetzt.
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Sofern ich nicht jeden einschlägigen Kommentar mit eigenen Definitionen einleiten will, muss ich mich danach richten.
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Aber eigentlich denke ich, dass Leben und Tod beide zum Sein gehören, wohingegen Nichts reine Theorie ist.
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(Parmendides ist von seinem Antipoden Heraklit vernichtet worden – heute meint jeder, alles sei vergänglich.)
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1127)
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Die meisten haben keine außersinnlichen Erlebnisse.
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Den harten Kern des Realismus stellen aber andere.
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Die mit den höllischen außersinnlichen Erlebnissen.
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(Vgl.: Die militanten Nichtraucher sind Nikotinisten.)
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1128)
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Das Nichts, das Unbekannte, das Jenseits – unsere Todesentwürfe.
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Allesamt nur ausgedachte Gegenteile zum diesseitig bekannten Sein.
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Vergessener Parmenides: zum Sein gibt es nun mal kein Gegenstück.
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1129)
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Das Ideal: Nichts.
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Alle "Freiheit von".
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Keine "Freiheit zu".
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1130)
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Sein oder Nichtsein? Keine Frage: Nichtsein!
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Leben oder Tod – das ist vielmehr die Frage.
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Ich lass mich vorsichtshalber mal am Leben.
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1131)
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Der Himmel das absolut höchste, die Hölle das niederste?
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Bei echtem Lebensekel lockt das Nichts mehr als der Himmel.
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Bei echter Lebensgier schreckt das Nichts mehr als die Hölle.
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1132)
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Der Himmel angenehm aber verhalten, die Hölle qualvoll aber verrucht.
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Das All-Eine bruchlos aber reizlos, das Nichts freudlos aber leidlos.
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Sobleiben heimelig aber starr, Anderswerden gefährlich aber neu.
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1133)
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Die Vorstellung, mit dem Tod sei alles aus und vorbei, ist für die einen unangenehm, für die anderen angenehm.
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Dann gibt es noch die mit ambivalenten Gefühlen, und schließlich die gegenüber Sein oder Nichtsein Gleichgültigen.
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Eine wichtige Frage, wenn ich jemand kennen lerne: "Magst du den Gedanken an das Nichts?". Ich hoffe doch ja.
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1134)
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Optimisten meinen, alles sei oder werde gut. Idealisten meinen, dies solle aufs Ernsthafteste angestrebt werden.
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Realisten halten das für lächerlich bis gefährlich, aber den Tod für des Übels Ende. Pessimisten bezweifeln dies.
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Ich bin Pessimist und Idealist. Das Sein ist ewig schlecht, aber so bleibt das Gute anzustreben, hoffnungslos.
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1135)
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Von mir aufs Ganze schließend unterstelle ich als ernstes Hauptmotiv der Philosophie die Angst vor der Hölle i.S.v. unendlichem Leid.
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Existentialistische Philosophen, die den Urgrund der Angst ins Nichts – meine Sehnsucht! – verlegen, hat das Leben wohl verschont.
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Die existentielle Besorgnis, das individuelle Leben gegen leidlose Bewusstlosigkeit tauschen zu müssen, ist m.E. eine reichselige Petitesse.
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(Und dazu tragen sie auch noch mein Schwarz – beginnt dunkle Philosophie schon knapp unterhalb vom Glauben ans ewige Paradies?)
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1136)
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Monotheisten mögen fest an ihr jenseitiges Paradies glauben, räumen aber evt. ein, dass dies eher ideell bzw. symbolisch gemeint sein könnte.
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Realisten mögen fest mit ihrem subjektiven Ende rechnen, räumen aber evt. ein, dass der Tod unerfahrbares i.S.v. unbekanntes Terrain sei.
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Ich mag davon ausgehen, dass im Grunde alles so bleibt wie es ist, räume aber evt. ein, dass alles anders bis ganz anders werden könnte.
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(Überhaupt sind die Modelle vom Tod oft ambivalent, zumindest eine zweite, entgegengesetzte Möglichkeit bleibt im Hinterkopf.)
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1137)
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Trotz oder gar wegen des Fortschritts wird es immer auch von Leid dominiertes Leben geben.
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Hätten wir die Möglichkeit, sollten wir deshalb aus ethischen Gründen alles Leben beenden.
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Trotz dieser Möglichkeit weiter am individuellen Glück festzuhalten wäre nicht weniger als böse.
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1138)
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Der extravertierte Mensch ist der glücklichere.
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Und der introvertierte Mensch ist der bessere.
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Psychotherapie heute: den besseren umdrehen.
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1139)
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Sog. Messies haben eine der Moderne dringend anzuratende Eigenschaft: sie kaufen weniger und werfen weniger weg.
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Verantwortungsbewusst geben sie noch Brauchbarem ein Heim, während andere damit die Mülldeponien füllen.
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Messies mögen für ein Übermaß an stillen Reserven sorgen – die Entsorger aber sind die wahren Weltvermüller.
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1140)
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Optimismus: alles wird gut.
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Realismus: alles hat ein Ende.
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Pessimismus: das Leid währt ewig...
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(Pessimismus als des Lernprozesses Ende?)
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1141)
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Die Religion sagt: du bist Gottes Geschöpf.
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Die Naturwissenschaft sagt: du bist ein determinierter Organismus.
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Kaum einer hört, wie ernst die Philosophie sagt: entwirf dein Wesen selbst.
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1142)
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Die einen meinen, dass jeder nur für die eigene Wohlfahrt sorgen brauche, die anderen fordern jedermanns Sorge für die allgemeine.
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Ebenso kann sich der Selbstmordkandidat nur um die eigene Vernichtung kümmern oder finden, alle sollten die allgemeine anstreben.
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Ich bin ein Idealist aus dieser vierten Kategorie – m.E. wäre es am besten, gar alles würde irgendwann endlich zum perfekten Nichts.
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1143)
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Vier Arten des Seins, die ich begutachten kann: als ich in dieser Welt, als anderer in dieser Welt, als ich in einer anderen Welt, und als anderer in einer anderen Welt.
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Soweit ich mich eben in einen anderen hineinversetzen kann und soweit z.B. ein anderes Land schon als andere Welt durchgeht.
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Besonders interessant der Traum: da bin ich m.E. schon ein arg anderer in einer arg anderen Welt. Noch extremer im Nahtod. Und im Tod?
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1144)
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Sieh gut hin: das Leid ist die Regel unseres alternativlosen Seins.
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Aber die Christen sehen das irdische Jammertal als Ausnahme zwischen zwei freudvollen Paradiesen, die Materialisten sehen das Sein als Ausnahme im leidlosen Nichts.
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Unsere Kultur gründet sich auf den naiven Glauben an endgültige Erlösung vom Leid – und das gilt für Tradition und Moderne gleichermaßen.
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1145)
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Pessimistisches Glaubensbekenntnis: das Wesen bleibt – gemessen am Nichts – schlecht.
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Nach wenigen Jahrzehnten bin ich nicht mehr dieses Ich, bin nicht mehr in dieser Welt.
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Aber leider schon noch Ich und schon noch in der Welt. Vor- und Nachgeschmack: Träumen.
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1146)
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Wenigstens wissen die meisten Gläubigen, dass sie nur glauben.
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Die meisten Ungläubigen jedoch glauben, dass sie wüssten.
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Fakt: außer bei unwesentlichem Kleinkram mutmaßen wir alle.
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(Kann dieses skeptische Prinzip selber wesentlich und wahr sein?)
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1147)
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Mal angenommen, die eigene ewige Existenz findet bei gleichverteilter Wahrscheinlichkeit an einem von allen Orten des Universums statt.
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Soweit wir dieses bislang kennen, ist zumeist fast Nichts, sehr viel Gas, viel Stein, wenig Leben und in Relation dazu fast kein Mensch.
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Als Pessimist, der das Leben für wesentlich schlechter hält als das Nichts, hätte ich es somit arg schlecht getroffen – wusst ich's doch.
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1148)
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Mit den Satanisten verbindet mich der Hass auf Gott.
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Aber ich hasse ihn für die Erschaffung dieser schlechten Welt.
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Die Teufelsjünger finden seine Welt geil, haben nur keine Lust auf seine Moral.
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1149)
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Eine Schöpfungsgeschichte, in der Satan die böse Welt erschafft und ein guter Gott von ihm abfällt, wäre treffender.
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Die Erfindung des Guten bzw. seine Ausrufung zum primären Ideal ist doch nur sekundär, Reaktion, Widerstand.
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Hier liegt der Grund, warum Nachdenken so traurig macht: in der Erkenntnis der Chancenlosigkeit einer heilen Welt.
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1150)
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Westliche und östliche Religion gleich optimistischer und pessimistischer Spiritualismus.
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Kommunismus und Kapitalismus gleich optimistischer und pessimistischer Materialismus.
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Mein pessimistischer Idealismus nach Schopenhauer ist der östlichen Religion am nächsten.
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(Darauf verfällt kaum je ein Westler, die mögen nur optimistisch verbrämte Eso-Östlichkeit.)
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1151)
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Auch wenn der übermächtigen Optimistenlüge nichts anzuhaben ist – Pessimistenverdienst bleibt das offene Bekennen der traurigen Wahrheit: die Welt ist schlecht.
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Gelangt diese Saat allerdings aus idealistischer Höhe auf realistischen Boden, fühlt sich der enttäuschte Aktivist allzu schnell berufen, tätliche Konsequenzen zu ziehen.
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Ob er dabei als kranker Amokläufer, als extremistischer Terrorist oder als anerkanntes Staatsoberhaupt gilt, hängt einfach von der Größe seiner Gefolgschaft ab.
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1152)
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Die materielle Welt als Welt minus Bewusstsein und insbesondere als Welt minus Leid ist eine künstlich-konstruierte.
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Die Welt ist zuerst Bewusstsein, ist zuerst Leid. Und Bewusstlosigkeit bzw. Leidlosigkeit sind Ideale der Negation.
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Wer das partout andersrum sehen möchte, sollte sich vielleicht nicht ausgerechnet Wissenschaftler nennen.
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1153)
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Die Welt als Wille und Vorstellung? Mir kommts ja vor, als gelte vielmehr: Bewusstsein und Widerwille.
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Ist es denn so falsch, das Passive bzw. Erlittene zuerst zu denken – und alle Aktion als Reaktion darauf?
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Jedenfalls ist es unüblich. Aber ich bestehe darauf, nicht der erste Beweger zu sein – zuerst bin ich bewegt.
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1154)
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Acting Up – in der Postmoderne benimmt sich nun schon seit Jahrzehnten daneben, wer von Tradition und Moderne geknechtet wurde.
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Wie viele Jahrzehnte will es denn noch dauern, bis man endlich das Selbstbewusstsein gewonnen hat, um damit wieder aufzuhören?
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Die Rolle als pain in the ass macht diabolisches Vergnügen, man kriegt scheinbar nicht genug davon. Bitte: Nice Girls, Nice Gays etc.
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1155)
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Monotheismus? Früher hieß es auch, es gäbe nur einen Planeten – unseren.
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Aber sicher ist unserer nur einer von vielen, und einer von den schlechteren.
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"God made the world in six days and was arrested on the seventh." A. Bierce
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(Wir misslungenen Geschöpfe sollten dem Gotteswahn widerstehen und nach dem Nichts streben.)
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1156)
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Sich sicher zu fühlen vor einem herrischen Gott, vor einer Wiedergeburt als leidende Kreatur etc. gilt als areligiös.
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Sich zu ängstigen vor einem leidvollen Bewusstsein über den Tod hinaus wird dagegen zur Religion gezählt.
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Wer ist hier wirklich der Gläubige? Geborgenheit im Nichts, Aufgehobensein in ewiger Bewusstlosigkeit vor und nach dem eigenen Vorzugsleben an der Spitze der Nahrungskette erscheint mir vertrauensseliger.
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1157)
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Als Pessimist befürchte ich, dass alles immer schlimmer wird.
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Versuche halt glauben zu können, dass alles so (schlecht) bleibt.
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Aber zu hoffen, dass alles immer besser wird, scheint mir absurd.
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1158)
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Ein Mann, der offenbar was gegen Frauen in der Runde hat, ist vielleicht fast selber eine.
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Man sehe sich seinen Freundeskreis an: ganze Kerle, die ihre Frauen gern dabei haben.
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Der Misogyne aber bevorzugt ein Treffen "ohne Anhang", d.h. ohne Konkurrenz.
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(Oder er will rationalen Bigtalk statt emotionalen Smalltalk – dann ist es keine Eifersucht.)
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1159)
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Ist ein langer Weg zur Selbstbestimmung des Krankenversicherten – bisher hilft der Arzt noch nach Gutsherrenart.
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Man stelle sich vor, ein volljähriger Patient könnte jederzeit verfügen, im weiteren nur noch palliativ betreut zu werden.
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Heute undenkbar: bis er nicht "konstruktiv" austherapiert ist, bleibt ihm solch schmerzloses Davonschleichen verwehrt.
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1160)
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Kant als Hauptvertreter des deutschen Idealismus hielt die Vernunft hoch und war optimistisch hinsichtlich ihrer Gültigkeit und zukünftigen Geltung.
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Schopenhauer war pessimistisch, sah das irrationale Wesen von Ich und Welt bzw. Wille und Vorstellung, hielt jedoch weiterhin die Vernunft hoch.
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Erst Nietzsche heroisierte das Tier in uns, deutete es optimistisch um und machte dafür umgekehrt den Intellektualismus und die Moral verächtlich.
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(Heute diffamieren die Postmodernen den deutschen Idealismus als Wurzel des Dritten Reichs – kehrt mal lieber vor eurer nietzscheanischen Tür!)
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1161)
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Was ist Todesangst?
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Entweder nur die Angst vor zunehmendem Schmerz, wie wir ihn aus diesem Leben zur Genüge kennen.
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Oder vor etwas Unbewusstem, das wir vor diesem Leben schmerzlich erfahren mussten und dann verdrängten.
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(Angst vor dem Nichts oder Hängen am Leben kanns bei mir nicht sein.)
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1162)
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Was ist Allmacht?
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Schließt sie die Nichts-Macht ein, sich selbst abzuschaffen?
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Wenn nicht, dann ist All-Ein-Sein wohl das Nächstruhigste.
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1163)
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Die Sanften gehen früh ein.
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Spricht aber nicht für die Harten.
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Offenbart vielmehr ihr übles Walten.
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1164)
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Den Sportlern zuzusehen erregt Bewunderung.
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Ihnen in Interviews zuzuhören das Gegenteil.
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Die Dichter zitiert doch auch keiner ans Reck.
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1165)
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Das Nichts ist die Mitte zwischen Himmel und Hölle.
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Quietismus die Mitte zwischen produktiv und destruktiv.
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In Ruhe die Genies verehren und die Vandalen verachten.
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1166)
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Das Leben wäre besser nicht – eine Geisteshaltung, die nur ruhig einnehmen kann, wer sich auch vom Tod keine Erlösung verspricht.
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Latente Pessimisten können offene Pessimisten sogar dafür hassen, dass deren lebensverneinende Äußerungen sie zum Selbstmord reizen.
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Der offene Pessimist sorgt sich besser um seine latenten Kollegen als um echte Optimisten, welche ihm nur Unverständnis entgegenbringen, keinen Hass.
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(M.E. durchaus vergleichbar: die offen Schwulen geraten hauptsächlich mit latent schwulen Homophoben in Konflikt, nicht etwa mit echten Heteros.)
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1167)
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Sind die Postmodernen nun eigentlich neumodisch oder altmodisch?
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Hat Nietzsche ja geschickt eingefädelt mit der gehörnten Retrokultur.
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Ich hab mich entschieden: sanftmütig ist neu, hartmütig ist alt – zu alt.
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1168)
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Moralisch motivierter Nihilismus: den Gedanken ans Nichts für alle finde ich so gut wie ich den an Himmel für die einen und Hölle für die anderen böse finde.
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Des Lebensfrommen Ruchlosigkeit besteht m.E. im Wesentlichen darin, dass ihm das Glück derer an der Spitze das Leid derer an der Basis allemal wert ist.
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Er mag hoffen, dass einst alle auf der Sonnenseite des Lebens ankommen. Oder er glaubt, gerade das Durchwandern dunkler Täler mache ein erfülltes Leben aus. Jedenfalls zieht er die Auslese im Leben der Gleichheit im Nichts vor. Dies gilt als gut oder als jenseits von gut und böse – aber wie gesagt, ich halte es für böse.
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1169)
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Wie ist es, tot zu sein?
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Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von genauso wie jetzt ich sein bis ganz anders sein.
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Ein anderer auf dieser Welt sein, im Himmel oder in der Hölle sein, ganz i.S.v. all-ein bzw. Gott sein oder gar nicht sein – diese übrigen Todesmodelle liegen auf halbem Weg zwischen den beiden oben genannten Extremen.
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1170)
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Beim Tod tippe ich auf: ähnlich wie das Leben, etwas anders.
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Also weder ganz genauso wie das Leben noch ganz anders.
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Wieder zwischen Himmel & Hölle, zwischen Ganz & Garnicht.
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1171)
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Religion – in der Kindheit gelten ihre Erzählungen als Realität, im Erwachsenenalter als Phantasie.
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Aber die philosophischen Ideen dahinter sind weder noch, sondern theoretische Möglichkeiten.
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Wer Bewusstsein im Tod als schlicht unmöglich abtut, ist geistig hinter das Kind zurückgefallen.
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1172)
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Im Realismus hat eben Pech gehabt, wer sich nach dem Nichts sehnt.
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Weil jener ihm den süßen Suizid dermaßen unwiderstehlich anempfiehlt.
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Glaubt man den Realisten nicht, ist es viel leichter, am Leben zu bleiben.
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1173)
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Die Christen meinen, die Weltgeschichte sei mit der Aufklärung falsch abgebogen.
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Die Aufklärer meinen, die Weltgeschichte sei mit der Postmoderne falsch abgebogen.
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Wohin kann die Weltgeschichte noch abbiegen, dass die Postmodernen das Nachsehen hätten?
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(Für mich ist Nietzsche der Falschabbieger – wie konnte das nach Schopenhauer nur passieren?)
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1174)
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Wirklich arm, wie insbesondere der reiche Gutbürger durch winzige bis nurmehr symbolische Öko-Aktionen seine hedonistische Prasserei kompensiert.
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Häuser, Ferienwohnungen, Autos, Flugreisen, Kleider, Sportausrüstung etc. en masse und entsprechend hoher Energieverbrauch bzw. hohes Müllaufkommen.
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Aber umweltbewusst mit neuester Heiz-, Kühl-, und Katalysatortechnik, Ökosprit, Energiesparlampen und biologisch abbaubaren Müllbeuteln im Hunderterpack.
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(Hat was von dem Schluck Wein, den man einst seinem Gott opferte, um sodann die übrigen drei Liter selber zu trinken. Erfolgreich: Selbstbetrug per Gottbetrug.)
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1175)
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Die meisten rangieren zwischen traditionell religiös und modern realistisch. Sind damit aber am wenigsten missionarisch – angenehm.
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Spezieller schon die spirituellen Esoteriker oder die agnostischen Skeptics. Belehren, halten sich für weiser bzw. klüger – unangenehm.
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Wer richtig in die Philosophie einsteigt und eine eigentümlichere Denkrichtung als die obigen vier nimmt, wird evt. zum Prediger – furchtbar.
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(Ich gehöre wohl schon zur letzten Kategorie – aber ich schreibe es lieber raus, um damit niemandem live auf den Sender zu gehen.)
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1176)
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Der Selbstmord wurde von Tradition bzw. Religion zu schwer gemacht.
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Moderne bzw. Naturalismus werden ihn im Gegenzug zu leicht machen.
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Einst um alles am Leben gehangen, nächstens gedankenlos weggeworfen.
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1177)
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Erst wenn er Zeit zur Besinnung kriegt, merkt der Mensch, wie furchtbar unglücklich er eigentlich ist.
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Deshalb schlagen Axtmörder & Co. paradoxerweise am häufigsten unterm Weihnachtsbaum zu.
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Arbeit ist insofern Gottes größtes Geschenk an den Menschen, als Freizeit der Hölle sogar noch näher kommt.
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1178)
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Früher nötigte die Gesellschaft alle fruchtbaren Geiseln so lange, bis sie Nachwuchs in die Welt gesetzt hatten.
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Heute gibt es so viele Menschen auf der Erde, dass man wahlweise auch als kinderloser Workaholic dienen darf.
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Aber wo die Retros nun die nationale Kategorie wiedererweckt haben, wird das nicht mehr lange statthaft bleiben.
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1179)
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Die Drohung der Christen mit der realen Hölle nach dem Tod hat mich als Kind seelisch verkrüppelt. Wenn ich mich heute darüber beschwere, renne ich selbst bei den Christen offene Türen ein. Ab und zu noch berichtet die Presse als Kuriosum von vereinzelten hochbetagten Höllenmahnern, die ihre geistige Entwicklung vor Jahrzehnten einstellten – alle übrigen Christen haben anscheinend zu weniger kriminellen Todesmodellen gefunden.
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Das Versprechen der Realisten vom erlösenden Nichts im Tod lockt zahllose Jugendliche in den Suizid. Nur falls sie sich im Internet verabredet und gemeinsam umgebracht haben, schreibt die Presse darüber – es sei unfassbar und unerklärlich. Ist es nicht, ganz im Gegenteil. So bigott die Erzieher früher als Christen waren, so hörig sind sie heute den "objektiven" Wissenschaften. Unangefochten regiert die Ignoranz der Besserwissenschaft.
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Sogar die Philosophen machen sich schuldig mit ihrem Geheimnis um den Tod. Sie versäumen, das Unbekannte im Tod klar zu differenzieren vom ganz Anderen. Welchen Jugendlichen plagt denn nicht das Fernweh – zumal in einer Welt, die er bis obenhin satt hat. Den Erkenntnisoptimisten widerstrebt es zuzugeben, dass es hinter dem Horizont i.a. aussieht wie davor. Es sollte davor gewarnt werden, sich vom Tod das Gegenteil des Lebens zu erwarten.
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1180)
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In der Ruhe liegt die Kraft? Nein, mir ist aus ganz anderen Gründen an der Ruhe gelegen.
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Meine Sympathie gehört gerade den Kraftlosen, die gar nicht zu den Kräftigen gehören wollen.
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Ich mag es nicht, wenn sich einer dafür nicht mag, nicht stark zu sein. Ruhig schwach sein.
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1181)
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(Kaputter) Körper gleich (kaputte) Basis.
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(Kaputte) Seele gleich (kaputtes) Zentrum.
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(Kaputter) Geist gleich (kaputte) Spitze.
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1182)
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Die Postmoderne sagt mir zu hinsichtlich ihrer skeptischen Haltung, sowohl die traditionellen Religionen als auch die modernen Wissenschaften als Erzählungen zu begreifen, welche als wahr auszugeben vermessen wäre.
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Die Postmoderne sagt mir nicht zu hinsichtlich ihrer eudaimonistischen Haltung – wer schon einsieht, dass es keine Wahrheit gibt, könnte auch einsehen, dass es kein Glück gibt auf dieser Welt – dass sie besser nicht wäre.
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Praktisch gilt: die Tradition hat recht mit ihrem Ideal von Familie, Arbeit, Moral – aber es ist nicht realisierbar; und die Moderne hat recht mit ihrer Abkehr von solchem Gesellschaftszwang, bietet aber keine glückende Alternative.
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1183)
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Über das Böse siegt nur das noch Bösere.
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Guter Zweck heiligt diese Mittel auch nicht.
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Süßer Hedonismus vs. saurer Moralismus.
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1184)
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Psychotherapierte halten sich für fortgeschritten.
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Fortgeschritten i.S.v. stärker? Glaub ich ihnen.
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Fortgeschritten i.S.v. netter? Aber nie im Leben.
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(Psychotherapie verbreitet Nietzscheanismus.)
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1185)
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Nach dem Tod ist vor dem Tod, glaube ich.
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Ewig nur ich wär ja schon schlimm genug.
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Immer irgendein anderer noch schlimmer.
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1186)
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Wenn jeder mal alles sein müsste auf dieser Welt, wäre das gerechter als wenn jeder ewig bleiben dürfte, was er ist.
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Doch hätte ich die Wahl, nach dem Tod wieder ich zu sein oder irgendein anderer, nähme ich aus Angst wieder mich.
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Mit der Verteidigung, dass es eine mehr als gerechte Lösung gäbe, die ich meiner Wiederwahl vorzöge: Nichtsein.
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1187)
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Als Kind musst du.
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Als Erwachsener sollst du dann wollen.
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Ohne mich – meine einzige Alternative zum Müssen ist das leider nur ideelle Nichts(müssen).
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1188)
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Böse sein macht es leider leichter.
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Wenn man im Verborgenen bleibt.
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Der Meister des Sadismus ist Gott.
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1189)
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Das Böse kommt vom leidigen Seinmüssen.
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Wenn ich schon sein muss, dann was Besseres.
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Sprach Gott und schuf sich ein schwächeres Ebenbild.
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1190)
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Optimismus der Schwäche beschönigt das Böse, Pessimismus der Schwäche beklagt es. Diese zweite, schopenhauerianische Option ist meine.
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Optimismus der Stärke bekämpft das Böse, Pessimismus der Stärke bejaht es. Diese vierte nietzscheanische Option ist heutzutage en vogue.
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Sogar eher spießige Labels machen inzwischen Werbung, indem sie Konsumenten ihres Produktes zeigen, wie sie sich weigern, es mit anderen zu teilen. Die Identifikationsfiguren heutiger Mainstream-Movies üben das Brechen aller Regeln. Gleichzeitig wissen Politik, Pädagogik etc. nicht mehr ein noch aus mit den Geistern, die Nietzsche rief. Und keine philosophische Antithese mehr in Sicht.
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1191)
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Wir Moralisten übersehen euer Augenzwinkern in der heutigen Medienpropaganda für Boshaftigkeit und Egoismus?
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Vielleicht ist unsere Empörung ja auch nur aufgesetzt und wir ventilieren unsere schlechte Laune auf eure Kosten?
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In Zeiten heilloser Ironie sagt kaum noch einer was so, wie's gemeint ist. Aber bei all dem verordneten Unernst: wer weiß?
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1192)
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Wer mehr liest als selber nachdenkt, neigt zu vielseitiger aber inkonsistenter Weltsicht.
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Wer mehr nachdenkt als liest, neigt zu stimmiger aber starrer Weltsicht – ich z.B.
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Wer weder liest noch nachdenkt, neigt zum blind drauflos und damit zeitgemäß Leben.
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1193)
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Den Gedanken an ein Leben nach dem Tod empfinde ich als bedrohlich, nicht als tröstlich.
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Viele empfinden ihn wohl als so bedrohlich, dass sie die bloße Möglichkeit negieren.
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Ist die ach so objektive moderne Weltsicht nicht primär Verdrängung dieser Angst?
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1194)
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Physiker erforschen Mikro- und Makrokosmos, verziehen sich an die allerlebensfernsten Ränder.
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Im Alter treiben sie dann Philosophie, indem sie ihrer Physik Kompetenz in zentralen Seinsfragen anmaßen.
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Ärgerlich, wie viel Ehrfurcht noch der nichtssagendste Ausflug in die Quantenmechanik bzw. Astronomie einheimst.
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(Bei Generationen, die nicht mehr live von der Mondlandung indoktriniert wurden, lässt das aber stark nach.)
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1195)
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Seinsverdruss.
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Seinsempörung.
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Pessimismus.
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1196)
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Nicht nur die Himmelsfrohen – auch wer den Tod fürchtet, weil er da für irdische Sünden bestraft werden könnte, hat die willkürliche religiöse Verknüpfung von Ethik und Leben nach dem Tod gläubig geschluckt.
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Wer sagt denn, dass Leiden nach dem Tod überhaupt etwas damit zu tun haben muss, was einer im Leben war oder tat? Das Leben krönt Schuldige und quält Unschuldige – wieso sollte der Tod besser sein?
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Größte Zumutung für den Menschen: im Tod könnte jedem alles geschehen, inklusive ewige Hölle – ganz unabhängig davon, was vorher war. Alles andere ist Religion, auch und v.a. der Hardcore-Materialismus.
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1197)
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Wer im Tod für seine Sünden bestraft würde und diese Strafe als angemessen empfinden könnte, hätte doch noch Glück gehabt.
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Nicht mehr aber, wer auf ewig in der Hölle säße für vergleichsweise geringe weil endliche Schandtaten im kurzen Erdenleben.
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Und erst recht nicht, wer auf ewig in der Hölle schmorte, ohne je etwas verbrochen zu haben. Ist das Leben willkürliche Hölle?
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(An letztere Möglichkeit mag anscheinend keiner denken, geschweige denn glauben. Tiefstensfalls an eine gerechte Hölle.)
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1198)
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Drei senkrecht aufeinander stehende Todesdyaden: Himmel und Hölle, Nichts und All-Einheit, Wandel und Identität. In dieser Reihenfolge hab ich sie durchlaufen, d.h. heute glaub ich, der Tod lässt das Wesentliche gleich.
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Als Glaubenstendenzen statt als Extreme formuliert: dass der Übergang vom Leben zum Tod das Dasein angenehmer oder unangenehmer macht, das Bewusstsein enger oder weiter, die Persönlichkeit anders macht oder sie so lässt.
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Senkrecht aufeinander stehend, d.h. inkommensurabel: Bewusstseinserweiterung ist nicht per se angenehm oder unangenehm, Persönlichkeitsveränderung nicht bewusstseinserweiternd oder -verengend usf.
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1199)
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Himmel, Ordnung, Identität: erwachsen-vernünftig.
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Hölle, Chaos, Wandel: jugendlich-romantisch.
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Früher sollten die Jugendlichen erwachsen werden, heute wollen die Erwachsenen jugendlich bleiben.
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1200)
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Sich bewusst in Vorteil zu setzen ist böse.
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Sich bewusst in Nachteil zu setzen ist gut.
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Sich unbewusst in Vorteil oder Nachteil zu setzen ist dumm.
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1201)
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Erst ewig die alte Lüge von Christentum und Aufklärung: Moral und Glück gingen Hand in Hand. Wo die Spatzen doch seit jeher das Gegenteil von den Dächern pfeifen.
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Dann endlich die neue Ehrlichkeit von Schopenhauer und Nietzsche: warme Empathie geht einher mit unglücklicher Lebensverneinung bzw. glückliche Lebensbejahung mit kalter Dominanz.
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Aber statt dass die Traurigen von heute sich als Schopenhauerianer damit zufriedengeben, aus Güte auf den Raub von Vorteilen zu verzichten, lassen sie sich von Nietzscheanern krankschreiben.
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1202)
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Wenn einer für oder gegen das endgültige Nichts im Tod "objektiv" argumentiert, frag ich ihn gleich, was von beidem ihm persönlich lieber wäre.
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Ob er also zu seinem Glück objektiv bestätigt sieht, was er sich wünscht, oder es widerlegt sieht. Im ersteren Fall ist er Optimist, im letzteren Pessimist.
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Das sagt etwas aus, über ihn nämlich. Dass objektive Argumente für oder gegen das Todesnichts Licht in die Sache bringen, glaub ich weniger.
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1203)
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Wer das Leben liebt und vom Nichts im Tod ausgeht, scheint das Gegenteil von mir zu sein, der ich das Leben hasse und vom Weiterleben nach dem Tod ausgehe.
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Was wir aber gemeinsam haben, ist eine Art von Pessimismus: wir leben in dem Gefühl, dass das Wichtigste, was wir uns wünschen, nicht in Erfüllung gehen wird.
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Ebenso bilden Lebensfreudige, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, unbewusst eine Optimistengemeinschaft mit Lebensleidigen, die an das Nichts im Tod glauben.
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1204)
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Laut Monotheismus ist das Leben gottgewollt.
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Laut Schopenhauer-Atheismus ist das Leben von uns selber gewollt, wenn auch blind gewollt – und wir können uns erlösen, indem wir diesen Willen schließlich verneinen.
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Am pessimistischsten ist m.E. das weder von Gott noch von uns selber gewollte, sondern nur gemusste Leben. Aber auch ich glaube noch an ein wenig Selbstbestimmung.
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1205)
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Zu sagen, die Wissenschaft erkläre die Welt oder habe sie gar schon erklärt, ist nur eine Gutenachtgeschichte.
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Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Sinnträchtigkeit religiöser Schriften etc. noch illusorischer ist.
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Bewusstsein heißt das zentrale Problem bzw. Wunder – wir wissen so gut wie nichts darüber. Evt. gibt es nur meines.
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1206)
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Spaß muss sein – so reden sich die Dominanten heraus, nachdem sie andere mutwillig erniedrigt haben.
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Dass er sein muss, nicht etwa darf, weist bereits darauf hin, dass die sich nicht unter Kontrolle haben.
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Zur Beruhigung sage ich mir dann: Dummheit muss sein und das mit dem Spaß folgt nur daraus.
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1207)
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Spaß muss sein – eine auf seine Opfer zugeschnittene Lüge?
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Welche sich am besten in das dreinfügen, was nun mal muss?
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Täter unter sich würden dann sicher eher sagen: Spaß will sein.
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1208)
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Seit den 60ern und 70ern darf ein Mann auch weich sein.
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Seit den 80ern und 90ern darf eine Frau auch hart sein.
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Aber weder die weichen Männer noch die harten Frauen kriegten die Mehrheit des eigenen Geschlechts auf ihren Kurs.
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1209)
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Wer anmahnt, es müsse mehr getan werden, verschweigt oft, dass es für ihn eh unmöglich wäre, weniger zu tun.
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Aktivisten sind zumeist Getriebene, die es sowieso keine fünf Minuten auf ihrem Hintern sitzend aushalten.
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Was subjektiv getan werden will und was objektiv getan werden soll ist das am liebsten verwechselte der Welt.
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1210)
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Wie Gott ist auch das Nichts nur einfache Idee, vor das Sein bzw. gegenüber dem Sein gesetzt.
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An Gott glauben schon viele nicht mehr, an das Nichts dagegen noch so gut wie alle Atheisten.
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Sicher kann man auch noch das Sein als Ganzes verwerfen, sich nur noch an Partikulares halten.
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(Aber schön eins nach dem anderen – ich behalte das Sein als beruhigende Identität, als Religion.)
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1211)
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Individuell angepasste Religion für den Angsthasen – warum nicht?!
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Aus aller Philosophie was ihm glaubwürdiges, ihn stabilisierendes ausgewählt.
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Ich glaub nicht an Gott oder ans erlösende Nichts – aber an Identität im Sein.
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1212)
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Postmodern wär ich aufgeschlossen fürs jeweils andere.
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Weg von jeder Religion, die mich zügelt und versichert.
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Aber Zügellosigkeit empört mich, Unsicherheit ängstigt mich.
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1213)
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Im Nichts aufgehoben, das wärs. Doch ich fühl mich im Sein gefangen. Aber immerhin aufgehobener als in je neuem Seiendem.
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Anderen gehts umgekehrt: die fühlen sich vom Nichts bedroht, vom Sein gelangweilt und vom je neuen Seienden erregt.
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Ob einer religiös ist, hängt nicht davon ab, worin er sich aufgehoben fühlt, sondern ob er sich aufgehoben fühlt.
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1214)
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Die meisten depressiv Gestimmten mögen sich selber nicht.
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Einige mögen sich dennoch, also trotz depressiver Stimmung.
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Aber wer mag sich schon, gerade weil er depressiv gestimmt ist!
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(Ich zähl mich zu letzteren. Denn depressiv bleibt man aus Nettigkeit.)
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1215)
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Die im Tod mögliche Vernichtung zählt für mich zu den positiven Veränderungen.
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Der im Tod mögliche Persönlichkeitswechsel hin zu anderen Lebewesen, die ich bisher nur von außen kenne, zählt für mich zu den negativen Veränderungen.
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Am ehesten glaube ich aber, dass im Wesentlichen alles so bleibt sprich ich bleibt sprich schlecht bleibt, also dass der Tod weder positive noch allzu negative Veränderung bringt.
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1216)
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Angst vorm Herrgott mit Hölle? Wenig.
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Angst vorm Nichts? Null, im Gegenteil.
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Angst vorm ewig gleichen Sein? Wenig.
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(Angst vorm je neu werdenden Seienden? Ja. Zum Religionslosen tauge ich noch nicht.)
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1217)
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Lieber glücklicher Täter oder unglückliches Opfer? Letzteres.
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Lieber der einzige überhaupt i.S.v. Gott oder gar nicht? Letzteres.
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Lieber ein ganz anderer werden oder derselbe bleiben? Letzteres.
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(Schwarz-weiß? Im Denken lieber Entscheidungen als Mittelwege.)
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1218)
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Am liebsten wär ich gar nicht, dann ich selber, dann erst jemand anderes – und sei dieser andere noch so gut weggekommen.
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Es gibt offenbar viele, die lieber mit einem anderen tauschen würden als sie selbst zu sein – siehe z.B. Fans und ihre Stars.
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Aber dass mancher gar jedes andere Leben dem Nichts vorzöge, ist mir unglaublich – wo es doch im Leben vor Leid nur so wimmelt.
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(Der Grund für meinen Pessimismus: so gut wie alles Leben scheint schlechter als nichts, sofern man wirklich alles Leben betrachtet.)
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1219)
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Wem es so richtig dreckig geht, dem muss man schon mit der ewigen Hölle im Tod drohen, damit er nicht Hand an sich legt.
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Wem es zwar schlechter als nichts geht, aber noch einigermaßen aushaltbar so wie mir, bei dem reicht auswegloses Sosein.
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Mit dem Todesnichts lieber nur den gut Weggekommenen indoktrinieren – und selbst der suizidiert sich fürs verheißene Paradies.
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1220)
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Religiosität zeigt sich m.E. einfach darin, dass einer keine Angst vor dem Tod hat, nur vor dem Sterben.
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Solche Zuversicht resultiert aus dem Glauben an den Zustand des Totseins als schön, leidlos oder erträglich.
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Wissenschaftsgläubigkeit wirkt da ganz genauso, auch wenn sie sich die Bezeichnung Religion verbittet.
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1221)
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In unserer hedonistischen Gesellschaft sieht man Asketen gerne als unehrliche Füchse, die das ihnen Unerreichbare verächtlich machen.
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Nietzscheaner unterstellen diesen "schlecht Weggekommenen", dass sie den Luxus der Starken hinterhältigerweise zum Bösen erklären.
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Tatsächlich aber ist es die Kultur der Bescheidenheit, welche den heutigen Zeiten von Habsucht und Gier am meisten fehlt.
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(Bedächtige Genügsamkeit statt leistungsbesessener Konsumismus – ob der sterbende Planet rechtzeitig zur Vernunft kommt?)
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1222)
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Hundemenschen sind Hierarchisten, immer in Gesellschaft, umschaltend zwischen herrisch-schroff und unterwürfig-zerknirscht – wie die Hunde eben.
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Katzenmenschen mögen für andere weder den Herrn noch den Diener geben, sind eher eigenwillig-distanziert bis einzelgängerisch – wie die Katzen eben.
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Religiöser Kult ist auf jeden Fall mehr was für Hundemenschen – der Pfarrer kriecht gar ostentativ vor seinem Gott, während er seine Gemeinde anführt.
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1223)
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Wie kommt man nach volkstümlicher Ansicht in den Himmel?
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Nur durch Gemeinschaftlichkeit, nur mit sozialer Kompetenz.
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Glück im Winkel ist jenseits hierarchistischer Vorstellungskraft.
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1224)
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In jeglicher Gemeinschaft liegt das Glück bei den Offensiven, Extravertierten, Unsensiblen.
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Sie leben ihre Gelüste hemmungslos aus in der Überzeugung: "Das stört doch keinen."
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Quietistische Antithese: Jede Äußerung stört. Die Betroffenen leiden still oder in der Defensive.
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(Wer glaubt, nicht zu stören, hat eine Schwelle, unterhalb derer das Andere nicht zählt.)
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1225)
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Wer sich seine Leistungsunfähigkeit nicht ärztlich bestätigen lässt, gilt als leistungsunwillig.
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Vor der Bestätigung aber darf der Arzt am Leistungsunfähigen seine Heilkunst praktizieren.
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Einer der nicht arbeitet, soll der Gesellschaft wenigstens zur medizinischen Übung dienen.
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1226)
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"Sei du selbst!", empfiehlt man ihm überall.
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Also traut sich der Traurige das Traurigsein.
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"Nimm Antidepressiva!" sagt man ihm dann.
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1227)
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Was traditionell religiösen Menschen heute häufig unterstellt wird: Angst vor dem Ende des Lebens im Tod.
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Was modern materialistischen Menschen heute selten unterstellt wird: Angst vor einem Leben nach dem Tod.
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Mir schwant aber, dass der materialistische Fundamentalismus seinen Siegeszug v.a. dieser Angst verdankt.
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1228)
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Materialisten sind oft sehr unwirsch gegenüber den traditionell religiös Gebliebenen.
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Gut, soweit dies an ihrer eigenen, als verkrüppelnd erlebten religiösen Erziehung liegt.
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Schlecht, soweit dies an ihrer uneingestandenen Angst vor einem Leben nach dem Tod liegt.
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1229)
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Realismus nimmt einem zwar den Glauben an schöne Phantasiewelten, aber auch die Angst vor schlimmen.
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Die Lebensdynamik zwischen schönstmöglichem und schlimmstmöglichem Realen ist vergleichsweise klein.
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Und nochmal viel kleiner die Lebensdynamik zwischen dem schönsten und dem schlimmsten eigenen Erlebnis.
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(Insofern ist Realismus ganz entgegen seinem Ruf auch und gerade für die Angsthasen: Hölle ausgeschlossen.)
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1230)
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Wer Streit genüsslich provoziert, ist i.a. der fähigere Streiter. Und im seltenen Fall einer anfänglichen Niederlage der ausdauerndere bzw. rachsüchtigere.
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Moralische Filme machen gern Werbung für Zivilcourage – dort werden die bösen Streitsucher dann vom guten Ruhigen ein für allemal kaltgestellt.
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Aus dem echten Leben aber hält sich der im Bösen untrainierte Ruhige besser raus. Und setzt erst recht keine ebenfalls zurückhaltenden Kinder hinein.
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1231)
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Es gibt Dinge, an die woll(t)en wir glauben bis zuletzt: dass Gott, dass die eigenen Eltern, dass die eigenen Kinder keine egoistischen Teufel sind.
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Aber seit dem neunzehnten Jahrhundert gaben sich Ketzer an Religion und Familie die Klinke in die Hand, heute ist der böse Grundverdacht amtlich.
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Bleibt die Frage, wie lange es je dauert, bis das Individuum zu diesem Pudelkern vordringt. Wohl dem, der bis in seinen Tod naiv zu bleiben versteht?
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1232)
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Wer sich chronisch schlecht fühlt, der bekommt gesagt, die Ursache sei eine Krankheit oder im Elternhaus bzw. in der frühen Jugend zu suchen.
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Vielleicht zieht er zur Entlastung der Eltern noch die Schlussfolgerung, dass an diesen wiederum die Großeltern gesündigt haben und so fort.
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Aber dass die Welt von vornherein unheilbar im Argen liegt, diese Wahrheit Schopenhauers wurde schnell und wirksam wieder begraben.
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(Freudianer bzw. Nietzscheaner geben sich so atheistisch – tatsächlich haben sie u.a. die Eltern zur Rettung des guten Urgrundes geopfert.)
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1233)
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Früher haben mich die männlichen Chauvinisten genervt.
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Heute nerven mich zusätzlich die weiblichen Chauvinisten.
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Das nenn ich Fortschritt: wenn jeder Arschloch werden kann.
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1234)
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Erst wer in der Bereitschaft sterben kann, als was auch immer neu zu werden, meint es ernst mit der Gerechtigkeit.
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Wer nach bejahtem, freiwilligem Menschenleben reif für Himmel oder Nichts zu sein meint, hält sich für was Besseres.
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Nach verneintem, unfreiwilligem Leben allerdings wär eher die Welt uns was schuldig. Ist ihr aber sicher egal.
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1235)
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Zuerst sind alle schwach und leidend.
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Darüber werden viele böse und stark.
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Am Ende handeln wenige Starke gut.
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1236)
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Ein von vornherein und unbedingt zur Güte verpflichtetes Kind wird traurig.
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Ein von vornherein und unbedingt zur Wahrhaftigkeit verpflichtetes ebenfalls.
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Nur aus Bosheit und Täuschung erwächst die Kraft, gut und freudig zu handeln.
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(Aber die meisten bleiben machtlos und leidend oder böse und falsch. Das wenige aktive Gute in der Welt kommt von der luxuriösen Spitze der Stärksten, welche all das Leid der Schwächsten an der elenden Basis nicht im Entferntesten lohnt.)
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1237)
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Das wahrhaft konsequente Gute ist, sich von vornherein in Passivität bzw. Leiden zu üben.
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Die Macht des aktiv Guten erlangt nur einer, der zuerst lernt, andere bös zu übervorteilen.
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Auf die paar alten Gangsterbosse, welche mit Tränen in den Augen selbstgestiftete Kinderheime einweihen, sollte die leidende Welt auch noch verzichten.
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1238)
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Das passive Gute ist das primäre Gute, das aktive Gute ist das sekundäre Gute.
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Wer von vornherein darauf verzichtet, andere zu übervorteilen, bleibt ohnmächtig.
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Das aktive Gute, zu dem der Mensch imstande ist, fußt auf Ausbeutung des anderen.
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1239)
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Macht ist neutral, wird immer behauptet: man kann damit Gutes und Schlechtes bewirken.
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Aber wer nicht begabt ist, d.h. seine Macht nicht ausnahmsweise geschenkt bekommen hat, der hat sie sich üblicherweise erstritten, hat dafür andere beraubt.
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Somit gibt es i.a. zwei Arten, gut zu sein: am besten auf Macht von vornherein verzichten oder sie nach dem Raub wenigstens für Gutes verwenden.
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1240)
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Wer zurückhaltend und bescheiden ist, auf Macht verzichtet, wird ignoriert.
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Wer Macht an sich reißt, um sie dann für Gutes einzusetzen, wird gepriesen.
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Unsere Art ist so sehr letzteres, sie begreift ihre ethische Zweitklassigkeit nicht.
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1241)
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Quietismus heißt auch, am meisten Respekt dem zu zollen, der am unaufwändigsten zu leben vermag.
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In den imperialistischen Medien wiederholen sie gebetsmühlenartig, wer nicht kämpfe, habe bereits verloren.
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Tatsächlich aber richten die Kämpfer primär Unheil an, und sei es nur durch eine verheerende Energiebilanz.
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1242)
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Von meiner Seite weiterhin ein entsetztes, generelles Nein zum Leid!
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Mit diesem Nein fühle ich mich weder in der traditionellen, noch in der aufklärerischen, noch in der postmodernen Epoche der Philosophie besonders gut aufgehoben. Die Tradition befreundet sich mit dem Leid als Gottes Ratschluss, die Aufklärung als selbstgewählte Pflicht und die Postmoderne als unabdingbare dunkle Seite der Lebensfülle.
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Vielleicht ist mein generelles Nein zum Leid vorphilosophisch – noch vorphilosophischer als der Versuch, nur individuelles Leid zu minimieren bzw. in Kampf und Sieg auf andere abzuwälzen. So vorphilosophisch wie das Entsetzen des Neugeborenen, das mit jeder Faser auszudrücken scheint: in welche Hölle bin ich denn hier geraten!
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1243)
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Meine Philosophie des Neugeborenen: am Anfang ist das Leid! Nur dass ich reiferweise nicht schreie, sondern schreibe.
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Die Postmoderne geht in ihrer Retrobewegung bis zum Barbaren zurück, der gegen sein Leid und für seine Lust kämpft.
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Aber noch vor dem wild zum Handeln entschlossenen Barbaren ist das vom Weltleid einfach nur entsetzte Neugeborene.
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(Auch die Psychologie sollte noch vor das kämpferische Kind zurückgehen – zum Entsetzen der Entbindung, vor den Urschrei.)
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1244)
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Wennschon der Welt Herr werden, dann v.a. durch Denken bzw. Rechnen bzw. Theoretisieren statt durch Machen bzw. Bauen bzw. Praktizieren. Insofern bin ich Rationalist, im Gegensatz zu den heute wieder allerorten angesagten Empiristen.
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Aber Rationalität im Sinne von tätiger Unterjochung und Ausbeutung der Natur – auch wenn letztere in vorrationalen Zeiten ja uns beherrscht hat – will ich vermeiden, vielmehr Umsicht und Machtverzicht üben. Insofern doch kein Rationalismus, sondern Frankfurter Schule.
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Seltsam, wie man sogar oder gerade in der akribischen Philosophie keinen Terminus stehen lassen kann, ohne ihn mit länglichen Beifügungen abgrenzen zu müssen vom Gegenteiligen. Und selbst mit diesen Kommentaren kommt noch das meiste falsch an.
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1245)
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Auf Nietzsche müssen die Menschen im Dunstkreis seines pietistischen Elternhauses einen bigotten, hinterlistigen, falschen, sozusagen passiv-aggressiven Eindruck gemacht haben, verfemte und deshalb lebenslang unterdrückte Körperlichkeit "sublimierte" sich sicherlich zu derlei Charakterzügen.
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Zur heutigen Zeit wäre jedoch wieder mehr Zurückhaltung und Innerlichkeit wünschenswert, geübt von Kindheit an. Mag sein, in jungen Jahren frei auslebbare Emotionalität wird im Erwachsenenalter bisweilen zu besonderer Charakterstärke – und erst damit aktive, positive Gestaltung der Welt möglich.
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Aber ist die menschliche Tatkraft nicht v.a. destruktiv? Behutsamste Aktivität bis ehrfürchtige Passivität gegenüber dem im Wesentlichen unverstandenen Universum hätten eher Zukunft, daran gemahnen spätestens die Vorhersagen des Club of Rome über die ökologischen Auswirkungen der Industrialisierung.
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1246)
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Philosophie klingt mir zu freiwillig bzw. autonom, Religion zu verbindlich bzw. hörig.
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Körperliche Bewegung ist doch auch meistenteils weder Tanz noch Krankengymnastik.
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Der Mensch lebt wirklich nicht vom Brot allein, ich brauche seelische und geistige Entwicklung bzw. Halt bzw. Trost – ist für mich aber weder willkürlich gestaltbar noch demütig übernehmbar.
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1247)
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Zugleich gut und wahrhaftig sein ist allzu oft eine widersprüchliche Zielvorgabe.
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Ruhig lügen, Hauptsache in guter Absicht? Ruhig böse sein, Hauptsache ehrlich?
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Die Lösung der Postmoderne: ruhig böser Lügner sein, Hauptsache gutaussehend.
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1248)
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Manche Optimisten mögen wirklich verständnislos bleiben gegenüber den Pessimisten – jene sind die wenigen Glückspilze.
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Die meisten Optimisten aber ärgern sich über die Pessimisten, weil diese nicht wie sie gute Miene zum bösen Spiel machen.
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Denn mit dem Drohbild eines zornigen Schöpfergottes hat unsere Kultur den Menschen eingeschärft, Lebensfreude vorzutäuschen.
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1249)
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Alles könnte ewig schlimmer und noch schlimmer kommen – und davor habe ich wirklich nicht wenig Angst.
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Vom jenes annehmenden reinen Pessimisten unterscheidet mich der Glaube daran, es bleibe i.a. gleich schlimm.
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Dass mir auch im Tod nichts dauerhaft Schlimmeres bevorsteht, kann ich mir gerade noch plausibel machen – und tue es.
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(Letzteres ist meine Religion. Der Glaube an ewig gleiches Leid heißt schon Pessimismus – ist aber nicht der schlimmste.)
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1250)
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Ich glaube am ehesten an das ewig Gleiche bzw. ewig gleich Schlechte.
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Das heißt nicht, dass sich das Leben im Tod als ewiges Leid offenbart.
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Nur, dass das Leben im Tod weitergeht und sich langfristig gleich anfühlt.
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1251)
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Ich glaube, die meisten Lebewesen leiden die meiste Zeit des Lebens.
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Aktionismus ist die beliebteste Methode, diese Wahrheit zu verdrängen.
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Und die menschliche Lebensfreude? Hat fast immer was Gezwungenes.
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1252)
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Um nur gut zu sein, müsste man in der Tat allmächtig sein.
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Ansonsten ist das Böse nur durch Passivität zu vermeiden.
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Beides Illusion, abwechslungshalber aber wär letzteres dran.
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1253)
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Die Religionen behaupten listigerweise, man könne sich direkt vom Opfer zum guten Täter wandeln: Hilf und dir wird geholfen.
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Opfer mit dem Willen zum Guten bleiben jedoch in aller Regel Opfer, denn der praktikable nächste Schritt ist der zum bösen Täter.
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Gute Taten der Stützen unserer Gesellschaft sind in aller Regel Imagepflege oder späte Sentimentalität nach Ellenbogenkarrieren.
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1254)
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Den Nachkommen etwas hinterlassen?
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Bislang denkt man dabei noch zuerst an ein mit viel Schweiß der Natur tätig abgerungenes Kulturgut.
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Vielleicht sollte man inzwischen zuerst an ein mit viel Zurückhaltung in Ruhe gelassenes Naturgut denken.
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1255)
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Zu viel Technik verdirbt die Natur, zügeln wir uns!
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Verdirbt schon vorher zu viel Denken die Intuition?
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Kaum befreit von der Herrschaft, tut sie einem leid.
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(Weg von der Rationalität nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie? Also ich als Religionsopfer bin noch viel zu froh über die Denkauswege der Aufklärung, als dass ich gleich wieder mit der Retromode des Nichtdenkens gehen könnte.)
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1256)
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Erst Opfer, dann Räuber, zuletzt Gönner – das ist offenbar die uns vorgeschriebene Entwicklungsgeschichte.
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Vom Individuum über die Nation bis zur biologischen Gattung – zeig mir deren Erfolge, ich zeig dir deren Verbrechen.
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Meine Sympathie gehört nicht mehr den Guten, sondern den Lieben – denn vor dem Gutsein steht die Machtergreifung.
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1257)
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Das Bewusstsein sitzt laut Hirnforschung in der äußersten Hirnschicht.
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Bewusste Prozesse sind angeblich die Ausnahme: nur zum Leben ändern.
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Das meiste läuft unterbewusst, automatisch ab. Doch Denken korrigiert sich.
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1258)
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Eine Religion haben heißt: sich gehalten fühlen.
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Schopenhauer z.B. bietet gleich zweifachen religiösen Halt: erstens ist diese Welt schon die schlimmstmögliche, könnte als noch schlimmere gar nicht bestehen – Pessimismus im wörtlichsten Sinn; zweitens können wir aufhören zu wollen und so uns selbst erlösen.
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Meine Religion besteht darin, mich im Sein gehalten zu fühlen – es macht mich zwar wütend, dass ich mich nicht ins Nichts verabsentieren kann; aber es wirkt u.a. auch beruhigend auf mich, dass ich den Laden in seinem leidigen Wesen gut genug erkannt zu haben meine.
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1259)
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Nettsein – falls nicht vorgetäuscht – ist Luxus, den sich nur wenige leisten können oder wollen.
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Als Öko z.B. wälze ich etwas weniger von meinem Leid auf die Umwelt ab als ich abwälzen könnte. Reise kaum, kaufe und verbrauche weniger ausbeuterisch produzierte Waren. Als Abkömmling einer reichen Gesellschaft mute ich mir etwas Askese zu.
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Dieses Gutmenschentum bleibt jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer von uns kann schon mehr gutmachen als er anrichtet? Menschsein heißt bereits Bösesein. Und je reicher desto böser. Die Bösesten packen ein bisschen Gutsein als Luxus obendrauf.
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1260)
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Gutes ist bedingt durch Böses.
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Leistungsfähigkeit ist bedingt durch ungerechten Vorteil.
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Aber die Guten und Leistungsfähigen halten sich lieber für ihres Glückes Schmied.
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1261)
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Optimisten und Pessimisten halten es für ausschlaggebend, wie das Leben an sich zu bewerten sei: als gut oder schlecht. Vielleicht haben sie damit bei allem Widerspruch etwas Wesentliches gemein.
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Optimisten meinen, dass das Leben i.a. als gut zu bewerten sei. Und dass die grundsätzlich Andersmeinenden heucheln oder selbst an ihrem Unglück die Hauptschuld tragen oder eine seltene Ausnahme seien.
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Pessimisten meinen, dass das Leben i.a. als schlecht zu bewerten sei. Und dass die grundsätzlich Andersmeinenden heucheln oder für ihr Glück unlautere Vorteile beanspruchen oder eine seltene Ausnahme seien.
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1262)
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Wenn es wahr wäre...
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...dass das Leben endlich ist...
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...dann wäre das seine beste Eigenschaft.
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1263)
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Mein Versuch eines Beitrags zur Weltverbesserung: Machtverzicht.
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Mein Versuch eines Beitrags zur Weltvernichtung: Zeugungsverzicht.
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Weltverbesserung und Weltvernichtung: beides illusorisch, fürchte ich.
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1264)
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Die Kapitalisten wollen Gewinner sein, wollen es sich als elitäre Auswahl der Menschheit gutgehen lassen. Die Kommunisten wollen, dass es allen Menschen gleich gut geht. Mir genügt auch letzteres noch nicht. Ich will, dass es allen und allem – Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen – gut geht. Und das ist von vornherein unmöglich.
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Schon einsichtiger ist m.E. das Schopenhauersche Ideal: Nichtsein für alle und alles. Oder zumindest für mich selber, wenn es für alle nicht möglich ist bzw. die anderen diesen Wunsch nun mal nicht teilen. Nach meinem eigenen Nichts kann ich nämlich besseren Gewissens streben als nach meinem wohlständigen Vorteil.
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Bleibt die Frage nach der Vernichtungsmethode. An realen Suizid glaube ich nicht, individuell wie kollektiv – Neo-Schopenhauerianer Horstmann z.B. vertraut ja auf den atomaren Overkill. Ich bleib beim alten Schopenhauer mit seiner Willensverneinung, die aber wohl auch nicht wirklich nichtet. Echter Pessimismus: Das Leid währt ewig.
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1265)
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Weder total gut noch total schlimm.
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Weder null & nichts noch eins & ganz.
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Weder stets anders noch stets gleich.
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(Sowohl das Leben als auch der Tod.)
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1266)
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Den Skandal am Selbstmord sehe ich ganz woanders als die meisten. Würde ich in der Suizidprävention arbeiten, müssten sich die Kollegen sehr über meinen Ansatz wundern.
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Denn sich aus dem leidigen Leben in die endgültige Bewusstlosigkeit zu verabschieden, ohne andere Lebende mit hineinzureißen, dagegen wüsste ich kaum etwas einzuwenden.
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Vielmehr ist m.E. der von den Wissenschaften beförderte Todesrealismus zu hinterfragen. Er verspricht Leidlosigkeit im Tod und liefert damit das ausschlaggebende Suizidmotiv.
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1267)
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Echte Optimisten glauben, das eigene individuelle Leben sei und bleibe viel besser als nichts; echte Pessimisten glauben, das eigene individuelle Leben sei und bleibe viel schlechter als nichts.
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Gegenpolige Anschauungen, vergleichbar mit Himmel und Hölle: auch die liegen in ihrer Wertigkeit weit oberhalb bzw. unterhalb des Nichts, letzteres bezeichnet die von beiden ausgeschlossene Mitte.
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Pessimismus wird zwar gemeinhin gerne mit real drohendem Nichts assoziiert – aber erstens wäre das Nichts für echte Pessimisten die Erlösung schlechthin, und zweitens glauben sie nicht an eine solche.
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1268)
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Subjektiv ist mein Leben die Hölle insofern, als ich zumeist leide und das Gefühl habe, dass dieses Leid niemals endet.
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Objektiv ist mein Leben nicht die Hölle insofern, als es mir doch relativ gut geht bzw. den meisten Lebewesen schlechter.
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Subjektiv wie objektiv: die Hölle ist riesig, der Himmel winzig, das Nichts dazwischen wäre i.a. eine immense Verbesserung.
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1269)
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Wahrscheinlich sehen die meisten Menschen das Leben nicht weiß bzw. schwarz genug, um im engeren Sinn Optimisten bzw. Pessimisten genannt zu werden.
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Mittige Teilung des Kontinuums zwischen den Extremen aber macht alle zu -isten: Optimisten zögen das Sein dem Nichts vor, Pessimisten das Nichts dem Sein.
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Diese Definition ist – Vorstellbarkeit von Sein und Nichts vorausgesetzt – unabhängig vom Glauben an die Realisierbarkeit des Nichts bzw. vom Todesmodell.
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(Wie dem Nullpunkt, welcher willkürlich der positiven bzw. negativen Hälfte zugeordnet wird, geht es hier dem, welchem Sein oder Nichtsein haargenau egal ist.)
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1270)
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Wer das Nichts dem Sein vorzöge, begeht deshalb nicht unbedingt Selbstmord.
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Die einen glauben nicht an das Nichts im Tod, die anderen haben Schützlinge, für die sie dableiben, wieder andere fürchten den gewaltsamen Übergang vom Leben zum Tod.
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Sie alle bleiben am Leben, aber sie leben als Pessimisten unter Optimisten.
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(...um nicht zu sagen unter optimistischer Diktatur – und u.a. deshalb eher leise.)
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1271)
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Alles ist besser als nichts, tiefer runter als bis zum absoluten Nullpunkt geht es nicht – so sehen es "Positivisten". Nicht mal die Hölle wäre demnach etwas Negatives, nur relativ negativ verglichen zum Himmel.
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Umgekehrt sehen "Negativisten" das Nichts dann als die höchstmögliche Marke an: nach Epikur z.B. hat die Lust nichts Eigenständiges, Substantielles, sondern besteht nur in der Abwesenheit von Leid.
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Ich glaube an die gesamte Achse mit positivem und negativem Ast – allerdings gleicht das Leben einer Pyramide: schmale Spitze im Positiven, breite Basis im Negativen, d.h. es liegt schwerpunktmäßig im Argen.
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1272)
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Zufällige Wiedergeburt, engl. random reincarnation.
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Sagt in konkreter Kürze, woran ich abstrakt glaube.
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Gut zu allem sein ist erst zuletzt gut für einen selber.
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(So bleibt das Beste am Gutsein: die Selbstlosigkeit.)
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1273)
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Ob paradiesisches Jenseits, karmisch aufsteigende Reinkarnation oder vom leidlosen Nichts umrahmtes Gastspiel als Evolutionssieger – jede übliche Religion verspricht den Gläubigen die Wahrung ihres Vorteils.
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Also wurde kaum je eine ewige Kette zufälliger Wiedergeburten verkündet, denn die lässt sich nicht durch Wohlverhalten zur Wunschkarriere entwickeln, sondern erlaubt mal diese Existenz und mutet dann wieder jene zu.
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Aber auch solch unübliche Weltauffassung zeitigte wohl zweierlei Reaktion: die einen respektieren alles Dasein, so wie sie an dessen Stelle respektiert werden wollten, die anderen nutzen jede Überlegenheit aus.
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1274)
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Bewusstlosigkeit in Ohnmacht, Narkose oder Koma, gleichmütige Gefühlsleere der Ataraxie, glückliche Gefühlsleere des Nirvana, quälende Gefühlsleere der Depression – um die Null zwischen Himmelsglück und Höllenqual herum tummeln sich eine Menge Bewusstseinszustände.
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Ist einer davon unser Defaultzustand, also das stabile Gleichgewicht, dem alle Ausnahmezustände früher oder später wieder weichen müssen? Oder ist gar einer der extremen Zustände der defaultmäßige? Als Pessimist glaube ich an einen Defaultwert weit im Negativen.
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Keinesfalls aber kann mir ein lebensfrommer Optimist bzw. "Positivist" des Bewusstseins erzählen, alle bewussten Zustände lägen auf der allgemeinen Wunschskala weiter oben als die Bewusstlosigkeit – jeder, der sich für eine Operation narkotisieren lässt, votiert ja wohl dagegen.
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1275)
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Im anthropozentrisch verengten Blick unserer Tradition mag die Welt dadurch in Ordnung kommen, dass sie für die Menschen in Ordnung kommt.
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So mahnt dann Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" korrekterweise an, für die politische Befreiung das Private hintanzustellen.
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Für mich als panpsychistischen Pessimisten aber, der alle und alles leiden sieht, ist das Leben prinzipiell falsch – Glück gibts nur durch Raub und im Winkel.
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1276)
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Die Schuldgefühle der reichen Länder gegenüber den von ihnen ausgebeuteten armen Ländern halten sich sehr in Grenzen.
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"Die würden es umgekehrt mit uns genauso machen," ist ein oft gehörtes Argument.
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Selbst wenn, macht es das aber auch nicht richtiger.
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1277)
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Seit es Modelle der Hirnbotenstoffe und entsprechende Psychopharmaka gibt, achtet man noch weniger auf die naheliegenden Auslöser für negative Gefühle.
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Schon die Verbannung ihrer Gründe in die frühe Kindheit seitens der Psychoanalyse hat sehr geholfen bei der Verdrängung aktueller Missstände.
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Aber seit es jene Tabletten gibt, will erst recht keiner mehr hinschauen bzw. wahrhaben, wie böse wir einander gerade jetzt kränken.
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1278)
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Basislügen der optimistischen Gesellschaft: a) im Leben überwiegt die Freude den Kummer; b) im Tod endet das Leid.
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Wer das alltägliche "Wie geht's?" ernstlich mit "Schlecht!" statt mit "Gut!" beantwortet, macht sich unbeliebt.
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Wer meint, dass der Tod einen nicht erlöst, sogar das Leid evt. weiter verschlimmert, macht sich unmöglich.
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1279)
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Angeblich weiß man sein Glück ja erst zu schätzen, wenn es einen verlassen hat.
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Halte ich für dreist optimistische Beschönigung bzw. Verklärung der Vergangenheit.
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Dass es einem nun schlechter geht, heißt noch längst nicht, dass es einem vorher gut ging.
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1280)
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Je einfühlsamer einer ist, desto größer wird der Kreis, innerhalb dessen er keinem etwas antun will.
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Egoisten, Familienmenschen, Nationalisten und Christen verschonen nur die ihnen nächsten Menschen.
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Wer aber auch mit Tieren, Pflanzen und schließlich mit allem fühlt, muss ganz und gar tatenlos werden.
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1281)
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Asketisch leben wäre die nächste Jugendrevolution.
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Die Welt retten durch Verzicht auf den Technikluxus.
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Kommunizieren lässt sich das am besten per Internet.
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1282)
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Falls man im eigenen Tod sein nächstes Leben selber auswählen darf...
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...und es möglich ist, stattdessen als Nichtwähler endgültig zu verlöschen...
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...so wäre mein jetziges Leben der Schlusspunkt vor meinem Nichts.
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(Falls man aber ein Leben auswählen muss, wäre mein jetziges Leben meine erste Wahl bzw. Wiederwahl. Sofern man im Tod nicht von allem guten Geist verlassen nur dem Affekt gehört.)
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1283)
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Es ist leider ein fataler Widerspruch in sich, das eigene endgültige Nichts voranzutreiben.
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Delegiert man die Wache über die eigene Ruhe doch nur an ein unberechenbares System.
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Furchtbar: Selbstvernichtung verringert das bisschen eigene Seinshoheit noch weiter.
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1284)
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Das eigene Nichts ideell zu wünschen ist das sicherste.
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Das eigene Nichts reell voranzutreiben ist das gewagteste.
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Wenn ich mich umbringe, gebe ich mich "in Gottes Hand".
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(Und mich diesem System zu überlassen ist Wahnsinn.)
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1285)
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Meine Religion: nach dem Tod geht mein Leben leider weiter.
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Müsste ich glauben, dass es im Nichts endet: Suizidalität.
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Der Materialismus beschleunigt den Tod. Der Glaube an eine ewige Lebensschleife dagegen entschleunigt, macht bedächtiger, vernünftiger. Auch wenn heute die Materialisten meinen, die Vernunft gepachtet zu haben.
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1286)
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Das ist es schon.
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Leider schon das Eigentliche.
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Es kommt kein Paradies, kein Nichts.
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(Unreif, die Gegenwart als vorläufig abzutun.)
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1287)
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Lebenspessimismus...
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..plus Todesoptimismus...
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ist gleich Todessehnsucht.
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(Abhilfe: Todespessimismus.)
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1288)
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Suizidmotivation gibt es als körperliche, seelische oder geistige. Alles drei weit verbreitet, gesellschaftlich an der Tagesordnung.
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Als geistiges Suizidmotiv sehe ich den Todesoptimismus – die völlig übliche Überzeugung, dass im Tod alles Leid endet.
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Geistig entschlossener Suizid wird heute ignoranterweise dem seelisch affektiven bzw. körperlich reaktiven zugerechnet.
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(Pessimismus muss den Tod mit einschließen – Lebenspessimismus und Todesoptimismus sind eine tödliche Kombination.)
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1289)
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Eigenschmerz im Leib, Nächstenschmerz in der Seele und Weltschmerz im Geist – alle drei sollten gleichermaßen ernst genommen werden.
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Aber Weltschmerz wird heute belächelt, obwohl rationales Wahrhaben des Lebensprinzips allein schon hinreicht zur existentiellen Verzweiflung.
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Sogar die Philosophie wendet sich ab vom Denken des großen Ganzen, gibt den kollektiven Geist auf, kapriziert sich auf den einzelnen Leib.
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1290)
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Das Nichts und erst recht der Himmel wären mir lieber als mein Leben. Das Nichts nähme ich gleich, auch wenn es nicht allen zur Wahl stünde; den Himmel aber könnte ich dann vor meinem Gewissen nicht verantworten.
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Echtes Nichts: niemand, der ewig über mein Nichts wachen müsste bzw. dem ich meine Verschonung von der Wiedergeburt anvertrauen müsste. Echter Himmel: niemand, der für meinen Himmel in der Hölle schmoren müsste.
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Noch genauer genommen kann es sowieso kein echtes Nichts und keinen echten Himmel geben, denn diese müssten in Richtung Vergangenheit wie in Richtung Zukunft unendlich sein. Kommen sie erst, sind es nur noch halbe.
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1291)
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Weder ist dem Übeltäter zu wünschen, dass er im Tod straffrei bleibt, noch dass er für alle Zeit in der Hölle brennt.
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Aber droht ihm nur eine Vergeltung Zahn um Zahn oder auch um viele Zähne, reicht die Abschreckung nicht.
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Wie auch immer: Religion hantiert ungeniert mit den Extremen – ein Hammer für grobe Klötze, doch Kindern angetan.
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1292)
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Solange die Strafe für gewinnorientierte Übeltaten keine unendliche ist, kann man das Böse ja ruhig riskieren.
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Solange geistige Vernunft nur eine Möglichkeit der Lebensbewältigung ist, kann sie ja ruhig außen vor bleiben.
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Die postmoderne Befreiung von Religion und Rationalismus ist kurzfristig angenehm, aber langfristig unmöglich.
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(Doch letzteres kann dem areligiösen Materialisten egal sein, solange er fest an seine individuelle Vernichtung glaubt.)
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1293)
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Ob einer mit ewigem oder endlichem Leben rechnet, hat auf seine sonstigen Auffassungen einen kaum zu überschätzenden Einfluss.
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Aber dieser Glaube oder Unglaube wird heute kaum noch zur Sprache gebracht, selbst in philosophischen Diskussionen nicht.
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Halten die Zeitgenossen diesen Punkt für unzugänglich, unerheblich, selbstverständlich, oder ist ihnen ihre Grundeinstellung peinlich?
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1294)
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Wenn es die alten, religiösen Philosophen sind, denen es um Understanding geht, und wenn es die neuen, areligiösen Philosophen sind, denen es um Overstanding geht, dann bin ich – zum eigenen gelinden Entsetzen – eher den alten, religiösen zugetan.
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Die Unterstellung der Neuen, auch die Alten seien nur auf Macht aus, teile ich nicht. Gewinnertypen können sich nur schwer vorstellen, dass es anderen um die Einsicht selbst geht. Verstehertypen dagegen sehen leicht ein, dass ihr Anliegen die Ausnahme ist.
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Schon dem alten Sokrates wird nachgesagt, dass er nur kujonieren bzw. dominieren wollte. Auch die Postmoderne sieht im philosophischen Diskurs Machtinteressen am Werk. Ich glaube dennoch weiter daran, dass es guten Denkern ums Verstehen geht.
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1295)
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Die Postmodernen haben leider recht damit, dass religiöse bzw. aufklärerische Tradition nur so strotzt vor allzumenschlichem Dominanzgebaren.
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Als Pessimist kann ich sehen, wie der altruistischen Krankenschwester bzw. dem objektivistischen Wissenschaftler das Vorhaben realiter misslingt.
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Aber ich glaube schon, dass sie die Liebe bzw. dass er die Wahrheit idealiter im Blick behält – und das ist gut. Dem Machtwillen frönen dagegen ist schlecht.
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1296)
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Die Postmoderne setzte die Moderne fort, denn die Postmodernen machten mit der Moderne, was die Modernen mit der Tradition machten: dem Projekt seinen schlechten Kern nachweisen.
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Aber als Pessimist unterstelle ich den schlechten Kern generell.
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Aber Hinwendung zum Ideal – obwohl vergeblich – finde ich gut.
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1297)
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Gewusst warum ist Denkerwissen, gewusst wie nur Macherwissen.
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Schon bei den Grundrechenarten gehts los: Lösen nach Schema F.
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Von klein auf gewöhnt, verbringt man das ganze Leben entfremdet.
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(Auch die Universität macht jetzt mit: formalistische Punktesammelei.)
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1298)
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Im 19. Jahrhundert waren noch viele Physiker Subjektivisten.
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Im 20. Jahrhundert dann schon viele Psychologen Objektivisten.
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Der echte Psychologe bleibt Subjektivist, der echte Physiker Objektivist.
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(Und bleibt bei seinem Thema, der Modellierung von Ich bzw. Welt. Das Subjekt objektiv modellieren zu wollen ist Wahnsinn, ebenso umgekehrt.)
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1299)
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Ich bin Panpsychist, gefangen im Alles-sein-müssen.
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Nur ich sein oder nicht sein wäre zu wenig Wahrhaben.
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Aber Denken i.S.v. theoretische Teilhabe reicht erst mal.
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1300)
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Ich bin pessimistischer Rationalist.
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Rationalist, weil ich glaube, alle sollten den Schwerpunkt vom Handeln aufs Denken verlagern.
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Pessimistisch, weil ich nicht glaube, es kämen viele geniale Ideen dabei heraus. Nur Innehalten.
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(Zynisch gesagt: die Menschen können die Welt nur verbessern, indem sie weniger in die Hand nehmen.)
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1301)
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Nein zum Leben, nein zum Tod.
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Aber ein cooles, gemäßigtes Nein.
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Im Glauben, beides könnte schlimmer sein.
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1302)
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"Wenn du das Leben ablehnst, bring dich doch um!"
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Echte Pessimisten sagen aber Nein zu Leben und Tod.
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Wie auch echte Optimisten Ja sagen zu Leben und Tod.
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(Vgl. Freud, den Nietzscheaner: Lebens- und Todestrieb.)
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1303)
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Lebensekel und Todessehnsucht sind genauer betrachtet zwei unterschiedliche Motive für den Suizid.
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Ersterer hat das Leben im Blick, lässt einen eher blindlings bzw. rückwärts in den unreflektierten Tod stolpern.
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Letztere hat den Tod im Blick, lässt einen im unhinterfragten Vertrauen auf Leidbefreiung darauf zueilen.
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(Ein reiferes Bild vom Tod lässt einen dann weder rückwärts reinstolpern noch vorwärts hineilen.)
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1304)
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Echte Sozialwissenschaftler sind subjektive Idealisten.
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Echte Formalwissenschaftler sind objektive Idealisten.
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Echte Naturwissenschaftler sind Materialisten bzw. Realisten.
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(Im Moment jedoch fallen alle Richtung Materialismus um.)
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1305)
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Bewusstsein ist ein System mit der Empfindung als Eingangspfeil und dem Willen als Ausgangspfeil.
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Empfindung und Wille haben je wiederum eine helle und eine dunkle Seite.
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Meine pessimistische Größenschätzung: 1) leidige Empfindung, 2) böser Wille, 3) freudige Empfindung, 4) guter Wille.
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1306)
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Das Seelische, die persönliche Essenz ist das, was Familie, Freunde, Partner etc. üblicherweise voneinander wollen. In den zahllosen Romantikmedien wird nichts anderes künstlich zur Verfügung gestellt.
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Wer zu Seelenärzten und -therapeuten rennt, möchte seine übrige Umwelt evt. vor dem eigenen Seelenmüll schützen, indem er die Wildfremden dafür bezahlt, bei dessen diskreter Entsorgung zu helfen.
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Aber vielleicht wird der seelisch derart Gereinigte damit ja wesentlich uninteressanter für sein Umfeld, oder schlimmer, betrügt es sogar ums Private, welches an ihm gerade zu lieben gewesen wäre.
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1307)
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Die Schöpfung lässt sich schon daran falsifizieren, dass man seine Ohren nicht nach Belieben verschließen kann.
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Wo immer du dich niedergelassen hast, kann sich gleich nebenan ein Lauter hinpflanzen, dem deine Ruhe egal ist.
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Oder der deine stille Zone sogar sucht und schätzt, und zwar als Puffer zwischen sich und dem nächsten Lärmer.
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(Ebenso mit gut und böse: die Bösen alleine kämen nicht zurecht, Gott schuf die Guten als ihre Deppen. Danke.)
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1308)
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Meine Ohren hören auf alle und alles rundherum, dem Schall entkommt man nicht – das Gehör als Sinnesorgan der Abhängigkeit.
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Meine Augen schauen in die gewünschte Richtung oder sperren das Licht ganz aus – das Gesicht als Sinnesorgan der Unabhängigkeit.
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Vielleicht ermöglicht die Technik mal ein Gehör-Upgrade, das auch unabhängig ist. Aber daraus werden sich andere Nachteile ergeben.
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(Als Pessimist bezweifle ich eine wesentliche Verbesserung durch Lösung von Teilproblemen. Das Übel des Seins als solches bleibt.)
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1309)
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Besser oder gar nicht – so lautet das Versprechen heutiger Glaubensformen in Bezug auf den Tod.
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Zumindest ans Erreichte anknüpfen möchten die Menschen – bloß nicht auf ein tieferes Niveau sinken.
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Zur Not ginge Religion aber auch umgekehrt: halte dich ans Leben, nach dem Tod wirds schlimmer!
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1310)
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Der Jugendliche verzehrt sich nach der Freiheit des Erwachsenseins.
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Hat er sie aber erreicht, heißt es: nun beginnt der Ernst des Lebens.
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Und Jahrzehnte später endlich im Ruhestand: ihr Jungen habts gut.
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(Das Schöne liegt entweder vor dir oder hinter dir – so lügt Optimismus.)
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1311)
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Wie viel weniger Musik wohl gehört (und auch gemacht) würde, wenn Stille genauso leicht zu haben wäre?
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Selbstgewählte Musik in den Ohren ist oft Verdeckung, die machbarste Flucht vor allem anderen Schall.
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Wie schön wäre es, der Dschungel käme überein, Ruhe zu geben – aber von den Groben her bleibts laut.
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1312)
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Uns jungen Kirchgangverweigerern unterstellten die Kirchgänger von damals umstandslos Faulheit, unseren Atheismus taten sie als billige Ausrede ab.
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Auch den jungen Schulverweigerern geht es heute so – dass das Ende der Aufklärung im Sturm gegen die Schulpflicht gipfelt, will keiner wahrhaben.
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Die Universitäten wagen gar den Rückschritt vom Wahlfach- zum Pflichtfachstudium – so ist Autodidaktik (z.B. im Internet) erst recht die klügere Wahl.
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1313)
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Erst selbständig denken lernen und dann auch wirklich selbständig denken – das ist eigentlich die anzustrebende Entwicklung.
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Aber Frühentwickler scheitern wegen Autoritätsproblemen schon an der Schule und Spätentwickler erstarren als Professoren im Habitus der Väter.
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Tragisch: auf den Selbstmordforen der Teenager wird wesentlich authentischer gedacht als in den altehrwürdigen Akademien.
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(Wobei durch die altehrwürdigen Akademien ja heute ein frischer Wind bläst: Selberdenken wird nun auch offiziell gestrichen.)
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1314)
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Suizid muss, meine ich, eine größere Verlockung für die sein, welche sich niemals alternative bewusste Existenzen als Tier, Pflanze oder Ding ausmalen.
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Vegetarier sind sicher weniger selbstmordgefährdet, denke ich, weil sie stets noch unfreieren Formen von Bewusstsein eingedenk sind als der eigenen.
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Das buddhistische Gefühl, als Mensch eine selten unabhängige Position im leider unausweichlichen Bewusstsein zu bekleiden, ist im Westen kaum verbreitet.
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1315)
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Selbstmord – ist das Selbst wirklich mordbar?
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Die meisten meinen sich die Welt ohne sich selbst vorstellen zu können.
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Zu wenig bedenkend, dass sie sich diese dabei ja weiterhin selbst vorstellen.
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1316)
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Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe (Prediger 9,4)? Keine Ahnung.
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Aber fürs Erste lieber ein kranker Mensch sein als ein gesundes Legebatteriehuhn.
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Zieh die richtigen Vergleiche und du bist den ganzen Tag nurmehr am Jubeln.
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1317)
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Ich schau in mich, es geht mir schlecht. Traurig, ich zu sein.
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Ich schau um mich, es geht mir gut. Froh, nicht ihr zu sein.
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Käme es etwa auf die Einsicht an, Anderssein zuzulassen?
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1318)
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Je gestylter die Medien, desto enttäuschender die Realität.
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Die Homepage als Werbehinweis auf meine echte Person?
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Umgekehrt: die Homepage als mein besserer Stellvertreter.
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1319)
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Gradueller Panpsychismus? Je komplexer die materielle Struktur, desto ausgeprägter Empfindsamkeit bzw. Bewusstsein?
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Wenn ich überzeugt wäre davon, dass einfachere Strukturen weniger fühlen, würde ich die meinige brachial reduzieren.
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Aber ich bin mir ganz unsicher, ob z.B. Amorphes oder Kristallines wirklich viel weniger leidet oder vielleicht sogar viel mehr.
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1320)
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Ist die evolutionäre Differenzierung nicht v.a. durch Leidvermeidung motiviert?
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Sind ältere Formen des Daseins also die leidvolleren – Tier, Pflanze, Ding?
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Bedeutet unser Tod vielleicht ein Zurückgeworfenwerden ins größere Leid?
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1321)
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Absoluter Optimismus bzw. Pessimismus: das Sein ist besser bzw. schlechter als das Nichts.
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Relativer Optimismus bzw. Pessimismus: das Sein entwickelt sich zum Besseren bzw. Schlechteren hin.
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Ich bin absoluter und relativer Pessimist: das Sein ist schlecht und entwickelt sich zum Schlechteren hin.
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(Meine Religion besteht darin, am plötzlichen Fall in die Hölle zu zweifeln: es wird gemächlich schlechter.)
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1322)
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Grob gerundet kenne ich eigentlich nur Monotheisten, Materialisten und Buddhisten.
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Die einen freuen sich auf den Himmel, das Nichts oder eine bessere Wiedergeburt.
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Die anderen fürchten sich vor der Hölle, dem Nichts oder einer schlechteren Wiedergeburt.
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(Ich bin sozusagen ein dunkler Buddhist: Leben ist m.E. langsam zunehmendes Leiden.)
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1323)
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Verständlich wurde mir, dass der Mensch aus Angst vor dem Ungewissen im Tod widerwillig mit dem leidigen Leben vorlieb nimmt.
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Unverständlich bleibt mir, wie der Mensch erst das Leben als Geschenk preisen kann und dann auch noch den Tod als Erlösung.
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Lebens- und Todesverneinung halte ich für ehrliche Traurigkeit, Lebens- und Todesbejahung für gelogene Fröhlichkeit.
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1324)
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Wäre seelisch krank und geisteskrank nicht auseinanderzuhalten? Unter letzteres fiele z.B. unbeirrbares Festhalten an bzw. Handeln nach fragwürdigen Philosophien.
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Zur Geisteskrankheit wird sich m.E. noch die heute übliche materialistische Überzeugung auswachsen, sich selber und andere mit dem Tod erlösen zu können.
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Aber vielleicht ist ja auch mein Pessimismus eine Geisteskrankheit, ein denkerisches Hereinfallen auf die angeblich unabänderliche Schlechtigkeit der Welt.
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1325)
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Körperkrank bin ich sowieso, ständig erschöpft.
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Seelenkrank bin ich auch, sozial inkompetent.
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Geisteskrank ist vielleicht mein Pessimismus.
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1326)
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Aus Angst vor einem schlimmeren Leben nach dem Tod nimmt der Mensch mit dem schlimmen Leben vor dem Tod vorlieb.
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Das ist die grausame Wahrheit des Lebens, dichterisch formuliert im berühmten Monolog von Shakespeare's Hamlet.
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Für die i.a. klareren Ausdrucksformen von Philosophie und Wissenschaft ist diese Wahrheit wohl entschieden zu grausam.
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1327)
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Leiden vor dem Tod.
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Leiden im Tod.
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Leiden nach dem Tod.
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(Der echte Pessimist fürchtet alle drei.)
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1328)
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Leiden vor dem Tod fürchte ich aus Erfahrung.
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Auch Leiden im Tod, aus Nahtoderfahrung.
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Und vor Leiden nach dem Tod hab ich Angst.
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1329)
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Viele Christenhirten glauben selber längst schon an das Ende im Tod, verkünden ihren Christenschäfchen aber weiterhin die frohe Botschaft vom Leben nach dem Tod.
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Wenn ich in einer Runde dieser Hirten und Schafe erzähle, dass ich an ein Weiterleben glaube, mir jedoch das Nichts wünsche, sind die Hirten kurz brüskiert und werden dann spöttisch.
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Mein Atheismus ist einer, auf den sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Sie kennen nur die eine alte Front: den offenen Materialismus der anderen gegen ihren verheimlichten.
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1330)
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Eigentlich gibt es neben dem himmlischen und dem höllischen Nahtoderlebnis noch ein drittes: die absolute Bewusstlosigkeit.
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Religiöse Menschen sagen gerne, wer ohne jede Erinnerung vom klinischen Tod rekonvalesziert, hätte eben keine NDE gehabt.
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Aber ein aus tiefster Bewusstlosigkeit Erwachter ist sich seines Nichts im Tod oft so sicher wie die Religiösen ihres Weiterlebens.
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1331)
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Klingt naheliegend und ist bei vielen auch der Fall, dass sie nach einer himmlischen NDE sich auf den Tod freuen, nach einer höllischen NDE sich vor dem Tod fürchten oder nach einem Wiedererwachen aus tiefster Bewusstlosigkeit dem Tod gleichgültig gegenüberstehen.
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Möglich sind aber auch die anderen Kombinationen zwischen den genannten drei Typen von Nahtoderlebnissen und den daraufhin zum Tod eingenommenen Haltungen.
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Ich hatte eine himmlische NDE, habe seitdem jedoch große Angst vor dem Tod. Andere sind heilfroh über ihre Aussöhnung mit dem Tod nach einer höllischen NDE. Wieder andere macht das im Nahtod verheißene endgültige Nichts hoch glücklich bzw. tief unglücklich.
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(Wobei es vom Nichts genau genommen auch zwei Versionen gibt: bewusste Leere und Bewusstlosigkeit. Von jeder wiederum sind die einen begeistert, die anderen schockiert und wieder andere unbeeindruckt. Meine Liebe gehört der endgültigen Bewusstlosigkeit.)
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1332)
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"Eigentlich willst du doch leben!"
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Kommt drauf an, was ich eigentlich bin.
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Der Körper will, der Geist nicht.
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(Und ich identifiziere mich mit letzterem.)
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1333)
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All die selbsternannten Weltverschönerer hören ein paar Stufen unterhalb ihrer Position in der Hierarchie auf hinzuschauen.
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Was sie mit ihrem blinden Aktionismus denen antun, die jenseits ihres engen Sichtfeldes vegetieren, kümmert sie nicht.
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Ihre Lebenslüge ist die Win-Win-Situation. Der Quietist aber begreift: immer gewinnen wenige weniges und verlieren viele vieles.
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1334)
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Musik ist sicher viel schöner als Sprache.
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Aber dafür ist Sprache viel wichtiger.
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Und Geräusch viel grundsätzlicher.
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(Stille wäre sowieso das Beste.)
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1335)
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Ist Achtsamkeit wichtiger als Nachdenklichkeit?
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Im Straßenverkehr sicher, aber nicht im Leben.
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Fitnessraum-Daoisten missachten die Vernunft.
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1336)
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Mein Quietismus ist panpsychistisch motiviert.
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Ruhiger werden bedeutet weniger Leid zufügen.
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Der Rest maximiert die Tätlichkeit für das Glück.
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1337)
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Was wäre härter: wenn diese leidige Welt zufällig entstanden ist oder wenn sie absichtlich gemacht ist?
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Was wäre härter: wenn dieses leidige Leben irgendwann vorbei ist oder wenn es für die Ewigkeit ist?
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Die Materialisten sehen sich als Künder harter Wahrheiten – im Kern aber stehen sie allemal für die weichen.
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1338)
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Im besten Fall kann einer Diener, Herr, Solist.
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Im schlechtesten Fall kann einer nichts davon.
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Alle üben eifrig das zweite, ich gleich das dritte.
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1339)
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Ist Suizid mutig?
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Kommt darauf an, welche körperlichen und geistigen Erfahrungen sich einer davon erwartet.
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Für den mit Betäubung bis Erlösung Rechnenden ist er nicht mutig, für den mit Todesqual bis Hölle Rechnenden ist er tollkühn.
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1340)
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Für Selbstmord mit der Hölle drohen geht auch nach hinten los.
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Wie viele haben sich wohl schon im Zorn auf Gott umgebracht?
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Um eben das mit Fleiß zu tun, was er am strengsten verbietet?
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1341)
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Suizid verführt auch die zwischen Extremen Hin- und Herfallenden.
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Suizid könnte das Beste sein, Suizid könnte das Schlimmste sein.
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Je unsicherer einer ist, desto mehr reizt ihn das Zwiespältige.
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1342)
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Prüft das Leben evt. die Einsicht in seine eigene Unrechtmäßigkeit ab?
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Durchgefallen: wer eines natürlichen Todes stirbt, wird wiedergeboren.
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Bestanden: erst wer sich umbringt, erlangt die ewige Bewusstlosigkeit.
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1343)
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Christentum und Aufklärung sind ja so vorbei.
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Ihre besseren Hälften Altruismus und Rationalismus blieben fromme Wünsche.
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Wir waren und sind nur egoistische Empiristen.
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1344)
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Gott liebt sein Geschöpf. Das Geschöpf rebelliert.
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Für Gott ist alles gut, für sein Geschöpf alles arg.
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Und so identifiziert sich das Opfer mit dem Täter.
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1345)
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Biologische Verhaltensforschung sieht das kindliche Spiel als Vorbereitung auf den erwachsenen Ernstfall.
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Aber könnte nicht das kindliche Spiel die Hauptsache sein, und der erwachsene Ernstfall nur ein Nachklapp?
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Der Mensch ist ein Tier mit superlanger Kindheit – vielleicht ist das evolutionäre Ziel nur noch Kindheit bzw. Spiel?
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1346)
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Mancher wird seine quälenden Rückenschmerzen auf einen Schlag los, indem er sich vom Sofa erhebt und begeistert die Bewegung für sich entdeckt.
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Ebenso mag manch alteingesessener Atheist späte und umso dramatischere Heilung von seinem Weltschmerz durch religiöse Erweckung erfahren.
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Ist Religiosität – wie körperliche Bewegung – für uns vielleicht sogar elementare Notwendigkeit, oder ist man ohne sie eben nur wie ein Fisch ohne Fahrrad?
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(Areligiosität – wie Unmusikalität bis Amusie – als Behinderung, als tragisches Abgeschnittensein von einem oder gar dem zentralen Lebensnerv?)
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1347)
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Religionsunterricht ließ und lässt mich i.a. nur mit dem Kopf schütteln.
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Was Glaubensbekenntnisse ernsthaft bekräftigen, erscheint mir gaga.
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Aber evt. braucht ein völlig Unbegabter dann halt genialen Unterricht?
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1348)
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Schall – insbesondere Musik – steht in engem Zusammenhang zum Herrgott.
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Die einen fürchten seine Abwesenheit, die andern seine Unentrinnbarkeit.
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Wesentlicher Gegensatz: Erschaudern vor bzw. Sehnsucht nach der Stille.
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1349)
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Das Nichts als Todesmodell verdankt seine Popularität evt. der so lange währenden Entbehrung einer neutralen Möglichkeit.
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Gruselig kompromisslos, dieser alte Dualismus von Himmel und Hölle: maximale Belohnung oder Bestrafung, tertium non datur.
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Verdankten Himmel und Hölle ihre Popularität wiederum dem maximalen Abstand zum bis dahin alternativlosen Nichts im Tod?
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1350)
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Der Tod birgt ebensolchen Scheiß wie das Leben.
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Hilft nichts, sich großartig anderes zu erhoffen.
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Eher noch, großartig anderes zu befürchten.
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1351)
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Die Leute sagen Tod und meinen Sterben.
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So wird der Tod dann endgültig Tabuthema.
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Er soll halt das Nichts sein und damit basta.
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1352)
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Memento mori heißt heutzutage, rechtzeitig für die richtige Sterbebegleitung vorzusorgen.
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Seinen Willen den Ärzten in genauen und juristisch haltbaren Verfügungen kundzutun.
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Wünschenswerter scheint mir, mein Sterben ohne Gesellschaft auf die Reihe zu kriegen.
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1353)
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Glaub bloß nicht, in Elend, Sterben und Tod deine Ruhe haben zu dürfen.
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Viele Helfer wünschen sich genau solche Gesellschaft zum Beherrschen.
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Wenn es dir schlecht geht, kannst du dich vor guten Hirten nicht mehr retten.
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1354)
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Du bist traurig?
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Liegts am kranken Hirnstoffwechsel, an der früh gekränkten Seele?
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Wär halt tröstlicher als einzusehen: es liegt am kerngesunden Geist.
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1355)
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Die Erzieher werden immer manipulativer.
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Kein Glücksmoment verstreicht ungenutzt.
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Die Undisziplinierten verbleiben im Unglück.
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1356)
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Der Druck, ethisch verantwortlich zu leben, ist durch die monotheistische Todesvorstellung vom ewigen Himmellohn und ewiger Höllenstrafe viel zu hoch. Schlechteste These.
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Der Druck, ethisch verantwortlich zu leben, ist durch die realistische sprich materialistische Todesvorstellung vom bewusstlosen Nichts im Tod viel zu niedrig. Schlechteste Antithese.
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Beste populärreligiöse Synthese der beiden ist m.E. die Todesvorstellung östlicher Religionen von der Wiedergeburt, also vom unabwendbaren Erleben der Konsequenzen eigenen Handelns.
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1357)
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"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." (Jesus) – aber auch in der Kirche treiben die Egoisten die Altruisten vor sich her.
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"Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (Kant) – aber auch an der Universität treiben die Empiristen die Rationalisten vor sich her.
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Und als wär es nicht schlimm genug, dass in Herz und Kopf selber dieses Ungleichgewicht bleibt, wird auch noch beides vom Bauch überwogen.
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1358)
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Wann ist der Tod besser als das Leben? Wann gilt es, andere bzw. mich selber zu töten?
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Die Religion verbietet dem Menschen geradezu Werke, Worte und Gedanken zu dem Thema.
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Aber auch die Philosophie hält sich eher bedeckt, stürzt sich lieber auf weniger wichtige Fragen.
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1359)
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Optimisten glauben, man könne ja immer noch die Resettaste drücken.
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Pessimisten glauben, dass es keinen grundsätzlichen Neustart geben kann.
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Und richtige Pessimisten glauben, dass das Alte bleibt, niemals vorbeigeht.
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1360)
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Optimisten wie die Christen kultivieren die Vorfreude aufs ewige Paradies.
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Pessimistische Realisten wie Lütkehaus kultivieren die Vorfreude aufs endgültige Nichts.
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Als pessimistischer Idealist freut mich höchstens mal das Nicht-Mehr der vorigen Hölle oder das Noch-Nicht der nächsten.
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1361)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht (Parmenides).
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Ich lese das auch als Religion für Suizidgefährdete.
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Etwa: Glaub bloß nicht, dass du im Tod vergehst.
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1362)
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Die Hölle kommt.
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Aber es eilt nicht.
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So ist Quietismus.
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1363)
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Old-School-Suizidprävention geht ohne Tabletten und Psychotherapie.
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Der Traurige lebt für andere oder kultiviert seine Scheu vor dem Tod.
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Mir liegt letzteres näher: den naiven Glauben an Erlösung begraben.
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1364)
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Nachhaltiger Umweltschutz erfordert nicht zuletzt eine entsprechende Vorstellung vom eigenen Tod.
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Für die Monotheisten hat Gott die Erde nur als Vorhof zum Paradies erschaffen, den sich sein Lieblingsgeschöpf Mensch untertan machen darf. Für die Materialisten ist eh alles vergänglich.
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Wer sich hingegen höchstselbst im Rad irdischer Wiedergeburt mitdreht, muss besser auf diesen Planeten achten.
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1365)
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Vielleicht gibt es, wenn man die großen menschlichen Mehrheiten betrachtet, nur drei Epochen: die präreligiöse, die religiöse und die postreligiöse.
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Epochen wie Antike bzw. Moderne wären nur vergleichsweise kleine Übergangsphasen von präreligiös zu religiös bzw. religiös zu postreligiös.
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Partikulare Stämme verbinden sich zu riesigen Religionsgemeinschaften und zerfallen nach der Globalisierung wieder in partikulare Stämme.
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1366)
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Der Monotheist stellt sich ein Paradies vor, an dessen Eingang Gott die Guten von den Bösen trennt, um erstere mit Milch und Honig und Jungfrauen zu belohnen.
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Der Aufklärer hat schon andere Wünsche: etwa einen Ort, an dem der Lebensfilm mit alles erklärenden Untertiteln abläuft – die Auflösung des großen Warum eben.
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Was kommt nach Monotheismus und Aufklärung? Wie stellt sich der Nachaufklärer den Himmel vor? Als einzig irdisches Leben ohne all diese Phantasmen?
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1367)
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Präreligiös waren wir analog miteinander kommunizierende Tiere.
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Religiös waren wir denkend mit Gott kommunizierende Menschen.
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Postreligiös sind wir digital miteinander kommunizierende Tiere.
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1368)
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Nationalsozialistisches Gedankengut finde ich zutiefst verachtenswert.
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Nicht automatisch auch nationalsozialistisch denkende Menschen.
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Für mich sind sie fehlgeleitet, sie einfach zu ächten ist m.E. falsch.
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(O.k., wenn von ihnen Geächtete nicht mit ihnen reden. Andere sollten.)
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1369)
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Fast Living bewirkt paradoxerweise, dass die Leute ihren Reifeprozess hinauszögern.
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In meinem langsamen Leben dagegen beginnt die Altersruhe vergleichsweise früh.
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Meist glauben die Schnellen, im Tod Ruhe zu haben. Das nicht zu glauben entschleunigt.
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1370)
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Das Leben ist vor allem Vorspiel des Todes.
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Der Todesglaube bestimmt die Lebensweise.
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Sage mir, was du dir unter dem Tod vorstellst, und ich sage dir, wie du lebst.
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(Z.B. wen du wählst: auch die politische Landschaft unterteilt sich entsprechend in konservative Christen, progressive Materialisten, alternative Spirituelle und postmoderne Agnostiker.)
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1371)
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Im Fernsehn zeigen sie am liebsten die, denen es viel besser geht und die, denen es viel schlechter geht als uns Zuschauern.
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Um einerseits Ziele oder zumindest schöne Träume zu erzeugen, andererseits die Gewissheit, dass es uns relativ gut geht.
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Ob es uns Menschen aber gemessen am absoluten Nichts gut oder schlecht geht, wird niemals verhandelt. Höchst verdächtig.
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1372)
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Das monotheistische und das materialistische Todesmodell sind gleichermaßen extrem und unvernünftig.
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Die Verlockung bzw. Drohung mit Himmel, Hölle oder Nichts bagatellisiert das Irdische und ist damit ein Vernunftkiller.
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Schopenhauer hat als letzter großer der Vernunft zugetaner Philosoph mit dem buddhistischen Reinkarnationsglauben einen besseren Vorschlag gemacht.
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1373)
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So albern die Esoterik zumeist leider ist – es steckt die vernünftige Erkenntnis darin, sich als Mensch in die Natur reintegrieren zu wollen.
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Mit gutem Recht hat der Mensch sich von der gnadenlos quälenden Natur emanzipiert, aber er droht es endgültig zu übertreiben.
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Schon der Monotheismus war Größenwahn in Bezug auf die menschliche Gattung, inzwischen macht sich gar der Einzelne zum Gott.
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1374)
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Man stelle sich vor, der monotheistische und der materialistische Todesglaube würden durch den Wiedergeburtsglauben abgelöst.
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Dann würden Pessimisten wie ich z.B. an eine zufällige und damit höchstwahrscheinlich schlimmere Wiedergeburt glauben.
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Und die Optimisten würden an ihre stete Beförderung per moralisches Verdienst, per Gnade oder Ordnung der Natur o.a. glauben.
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1375)
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Viele Atheisten schütteln überheblich den Kopf über das Phantasma Gott.
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Und merken dabei gar nicht, dass sie dem Phantasma Nichts aufsitzen.
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Der Glaube an absolute Bewusstlosigkeit ist kaum reifer als der an Gott.
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(Das Ideal der absoluten Bewusstlosigkeit hingegen ist m.E. das reifste.)
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1376)
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Die meisten kommen mit dem Standardangebot traditionelle Religion bzw. materialistischer Realismus zurecht.
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Fast der ganze Rest kommt mit dem aktuellen Update Spiritualität bzw. skeptischer Naturalismus zurecht.
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Die wenigen, die mit allen vieren scheitern, müssen sich genauer mit Philosophie befassen.
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1377)
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Wer ist ein Philosoph?
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Im weiteren Sinne einer, der ausgiebig übers Allgemeine nachdenkt.
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Im engeren Sinne einer, dem die Entwicklung der Philosophie näher ist als die der Religion bzw. Wissenschaft.
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(Letztere Philosophen werden zumeist von ersteren Philosophen mit Religion bzw. Wissenschaft belämmert.)
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1378)
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Der Religöse versucht in praxi, mit Allem in Einklang zu sein.
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Der Philosoph stellt sich dem Ganzen denkend gegenüber.
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Und der Wissenschaftler forscht spezialisiert bzw. partikular.
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1379)
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Bewusstlosigkeit im Tod am wahrscheinlichsten? Haltlos.
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Wissenschaftlich Haltbares gibt es in dieser Hinsicht nicht.
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Wissenschaft wird überschätzt und überschätzt sich selbst.
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1380)
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Sich von Gott und der Welt ausgeschlossen zu fühlen ist der verschwiegene negative Anlass für Religion, Philosophie und Wissenschaft.
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Der Religiöse betet sich zurück in Gottes schönen Garten, der Philosoph nimmt die Welt als ein Rätsel und der Wissenschaftler als viele.
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Weniger Sensible drehen den Spieß um, beuten die schnöde Welt aus – doch längst vor ihrer aller Befriedigung hätten sie alles ruiniert.
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1381)
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Die Kirche lebt gut mit dem Widerspruch, Gottes Wille und Wege seien einerseits unergründlich, andererseits von ihr darzustellen bis durchzusetzen.
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Ebenso zaubert die Wissenschaft mit Agnostizismus und Realismus: über den Tod könne einerseits niemand etwas Verlässliches sagen, andererseits sei jede Annahme von Bewusstsein im Tod unhaltbarer Nonsens – womit faktisch behauptet wird, der Tod bedeute endgültige Bewusstlosigkeit.
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Am verwunderlichsten ist, wie all die Anhänger in ihrem Denken an einer solchen Spaltung festhalten können – doch sie tun es unerschütterlich.
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1382)
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Lieber Gott und Herrgott – geht das in eins?
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Oder lebt jeder Monotheist mindestens den Dyotheismus? Mit einem lieben Gott für den himmlischen Garten und einem Herrgott gegen den höllischen Dschungel?
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Muss Gott auf ewig gespalten bleiben und mit seiner harten Hälfte heimlich die Höllenzäune in Schuss halten für die ungetrübte Einheit seiner guten Schäfchen?
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1383)
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Sich zwischen gestrigem Monotheismus und heutigem Realismus entscheiden heißt immerhin zustimmen, dass der Böse für immer qualvoll in der Hölle brennt oder zusammen mit dem Guten leid- bzw. straffrei ausgeht.
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Seltsam und sicher höchst schädlich, dass es außer Spuren von esoterischem Rosarot und agnostischem Grau bis heute keine andere Glaubensfarbe bei den westlichen Zeitgenossen in die engere Wahl geschafft hat.
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Muss wohl daran liegen, dass die Menschen so wahnsinnig ungern über den Tod nachdenken. In Lebensdingen differenzieren sie die allerfeinsten Farbnuancen, in Todesdingen bleibt es beim brutalen Schwarzweiß.
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1384)
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Wer braucht eine Religion? Was ist eine Religion?
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Wer in seinem Leben primär Angst statt Aufgehobensein fühlt.
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Glauben können, dass das Sein oder das Nichts einen aufhebt.
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(Lässt sich das auch als Erwachsener noch lernen? Die meisten bevorzugen ein sich Festhalten an anderen Menschen, Therapeuten oder Medikamenten.)
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1385)
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Selbstmörder haben kein Vertrauen mehr ins Leben.
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Aber Selbstmörder haben noch Vertrauen in den Tod.
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Was macht der, dem beides abhanden gekommen ist?
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(Sucht hilfreiche Menschen, Substanzen oder Dogmen.)
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1386)
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Armut muss nicht unbedingt materieller Natur sein.
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Z.B. einer hat sehr viel Geld, aber sehr wenig Zeit.
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Oder kaum religiösen Halt, d.h. Angst vor dem Tod.
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(Ich meine Angst vor dem Tod, nicht vor dem Sterben. Anders gesagt: ich habe Angst vor einem Tod, der ewiges Leben bzw. Sterben ist.)
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1387)
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Wenn man von der nächsten Wiedergeburt nie sicher weiß...
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...dann heißt ewiges Leben auch ewiges Sterben.
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Na vielen Dank!?
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(Während des gerade andauernden leidvollen irdischen Lebens ist dem sehnsüchtig auf das Nichts wartenden Materialisten die Vorfreude genauso wenig zu nehmen wie dem sehnsüchtig auf den Himmel wartenden Monotheisten.)
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1388)
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Ich bin uneins mit der Welt.
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Wer lieb und vernünftig sein will und glaubt, die Welt sei im Kern lieb und vernünftig, der kann eins sein mit der Welt (positive Religiosität). Und auch wer böse und unvernünftig sein will und glaubt, die Welt sei im Kern böse und unvernünftig, kann eins sein mit der Welt (negative Religiosität).
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Echte Philosophen sind nur solche wie Schopenhauer: er sah die Irrationalität die Welt, wollte selber aber Rationalität und war deshalb weltverneinend eingestellt. Seit Nietzsche geht es eigentlich erneut um Religion, diesmal aber um negative: ums Einssein mit der irrationalen Welt, ums Bejahen des Chaos.
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1389)
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Zwei Arten von Einssein mit der Welt: zusammen mit der Welt in Ordnung bzw. Unordnung sein.
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Zwei Arten von Uneinssein mit der Welt: gegen die Weltordnung bzw. das Weltchaos aufbegehren.
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Die Welt wurde als irrational enttarnt – und nun wollen die Menschen eins werden mit der chaotischen Welt.
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1390)
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Die Biologie selbst des Mikrokosmos macht ihrem Betrachter noch eine Heidenangst: auch auf der Skale der Milben z.B. tobt ein Krieg Tier gegen Tier, ein Fresswerkzeug gruseliger als das andere.
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Ruhe und Harmonie strahlt wenigstens noch die Physik des Mikrokosmos aus: die Korpuskel wirken ganz zufrieden in ihren Bahnen, und die Superstrings erklingen gar als leise Sphärenmusik.
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Als Pessimist frage ich mich: könnte das Bewusstsein der Materie noch viel leidvoller sein als das der Lebewesen? Ist die feste Ordnung des Materiellen evt. die freiheitsberaubteste Seinsweise?
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(Vielleicht ist es überall wie bei uns Menschen: ob das Ritual quält oder beglückt, hängt vom Betrachter ab. Ist alles solange bewusst, bis es aus ganzer Seele höllisch gehasst oder himmlisch geliebt wird?)
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1391)
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Ob Friede oder Krieg der Vater aller Dinge ist, hängt seit der Neuzeit davon ab, welche Naturwissenschaft gerade die Deutungshoheit innehat.
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Kepler und Newton stehen noch für ein Weltbild von Harmonie und Ewigkeit, Darwin dann aber schon für eines von Kampf und Vergänglichkeit.
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Vielleicht kann ja die Chemie einst wieder zwischen Physik und Biologie vermitteln – die Nicht-Naturwissenschaften scheinen eh abgemeldet.
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1392)
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Positive Religiosität: sich identifizieren können mit der im Kern für lieb und vernünftig gehaltenen Welt; negative Religiosität: sich identifizieren können mit der im Kern für böse und unvernünftig gehaltenen Welt.
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Positive Areligiosität: sich nicht betroffen bzw. befreit fühlen von einer als negativ i.S.v. lebensfeindlich empfundenen Religiosität; negative Areligiosität: sich lebensuntüchtiger fühlen als die Religiösen aufgrund fehlender religiöser Erziehung oder Begabung.
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Und die negative Areligiosität ist noch steigerungfähig, wie bei mir: sich am Leben schwer gehindert, ja sich schwerbehindert fühlen durch Erziehung mit der Höllendrohung, die den Menschen seelisch unheilbar verkrüppelt.
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1393)
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Auch wenn das absolute Nichts die vernünftigste Lösung des Lebensleids wäre, so ist doch zuzugeben: ubiquitäre Lebensfreude ohne dafür auszubeutende Opfer – obwohl logisch undenkbar – wär die schönste Lösung.
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Der positiv Religöse hats am angenehmsten: schätzt das Diesseits, freut sich aufs Jenseits. Der Lebensfrohe mit realistischer Aussicht aufs leidlose Nichts hats schon schlechter; noch schlechter der Lebensmüde mit Nichtsaussicht.
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Aber erst unterhalb von Paradies- und Nichtsaussicht wirds richtig düster: der Lebensmüde mit Angst vor noch Schlimmerem im Tod ist weltanschaulich schwerstbehindert. Ecclesiogener Kollateralschaden.
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1394)
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Religion als Wiederanbindung an die Natur ist sinnvoll.
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Mit anderem Sein respektvoll statt despotisch umgehen.
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Monotheismus ist veralteter menschlicher Narzissmus.
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1395)
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Glaubt niemand daran, unweigerlich in der tiefsten Hölle zu landen?
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So eine Glaubensrichtung kriegt höchstens pathologische Namen.
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Gottesopfer gründen selber wohl keine Glaubensgemeinschaften.
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1396)
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Meine Überzeugung: als Seiender am Sein teilhaben ist alternativlos.
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Das Sein ist meist ein leidiges, und das ersehnte Nichts bleibt ideell.
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Würde erlangt man selbst, indem man allem anderen Achtung zollt.
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1397)
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Das Gegenteil von der Allversöhnungslehre fehlt.
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Eine Religion, die alle in die Hölle kommen lässt.
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Schwarze Zukunft lässt Gegenwart hell scheinen.
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(Relativ ähnlich: Carpe Diem befeuert vom Nichts.)
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1398)
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Gott schuldet uns viel, aber es ist ihm egal.
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Und am Schluss wird er auch noch wütend.
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Zum Trost bräuchte es traurige Religionen.
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1399)
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Versprechen von Leidfreiheit im Tod sind leer und lebensgefährlich.
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Töten, Nächste wie sich selbst, ist oft praktizierte Erlösungsreligion.
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Wer vom Tod nichts mehr anderes als vom Leben erwartet, hält inne.
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1400)
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Die Angst vor dem Tod ist eigentlich Angst vor dem Leben?
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Soll mir recht sein.
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Solang die vor dem Tod nicht kleiner wird als die vor dem Leben.
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1401)
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Suizidalität heißt oft nur, dass die Angst vor dem Leben viel größer geworden ist als die vor dem Tod.
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Wie kann das passieren? Weil Tradition und Moderne Leidfreiheit im Tod um die Wette behaupten.
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Eine Gegenbewegung, welche Erlösung als Wunschvorstellung enttarnt, ist jedoch nicht in Sicht.
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1402)
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Idealismus vs. Realismus – Überzeugung, dass wir alle dem Sein bzw. dem Nichts gehören.
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Einer der fundamentalsten Gegensätze, zu denen es das menschliche Denken gebracht hat.
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Eine der grundsätzlichsten Veränderungen, von der einen zur anderen Fraktion zu wechseln.
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(Selten, dass sich ein Idealist wünscht, die Realisten hätten recht – bei mir aber der Fall.)
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1403)
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Realistische Pessimisten rechnen mit einem schlimmen Ende.
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Idealistische Pessimisten rechnen mit einer schlimmen Ewigkeit.
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Relativ zu den idealistischen sind die realistischen optimistisch.
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(Die Frage, ob man im Tod wohl Ruhe findet, beantwortet Schopenhauer mal mit Ja, mal mit Nein. Sein Ja hat sich als wesentlich publikumswirksamer erwiesen, aber nur sein Nein ist wirklich pessimistisch.)
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1404)
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Die drei wichtigsten philosophischen Dyaden für mich: Optimismus – Pessimismus; Individualismus – Kollektivismus; Realismus – Idealismus.
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Zu gerne könnte ich das Leben bejahen, von anderen unabhängig werden und dann ins Nichts eingehen oder gar in Ewigkeit als ich selbst glücklich sein.
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Aber ich lehne das Leben grundsätzlich ab und glaube nicht an die Möglichkeit echter Abnabelung von der Gemeinschaft, sondern an ewige Gefangenschaft.
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1405)
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Unabhängigkeit ist eine Illusion, dem Philosophen bleibt nur Einsicht in die Unabänderlichkeit.
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Soweit bin ich ausnahmsweise einverstanden mit Hegel.
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Aber jene Einsicht führt bei mir zu Schopenhauerscher Resignation statt zu Hegelschen Tätlichkeiten.
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1406)
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Als Pessimist befürchte ich nun mal...
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...ein schlechtes Leben vor dem Tod...
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...und ein noch schlechteres danach...
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1407)
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Was ist Religion?
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Was ist Wissenschaft?
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Musst du die Philosophie fragen.
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1408)
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Die meisten Leute glauben partout an ihren Himmel oder ihr Nichts, aber nicht an ihre Hölle.
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Die meisten Leute sehen das Leben partout als Wunder oder Zufall, aber nicht als Unfall.
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Nur die Pessimisten gestehen sich ein: das Leben ist unerhörtes Pech, wenn nicht Folter.
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1409)
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Leben nach dem Tod? Ist ja nur Religion, oder?
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Kein Leben nach dem Tod? Ist genauso Religion!
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Aber letztere Annahme gilt als wissenschaftlicher.
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1410)
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Was ist Bewusstsein?
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Gibt es verschiedene Grade von Bewusstsein?
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Gibt es gar ein Allbewusstsein und ein Nullbewusstsein?
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(Mein Hauptmotiv für all diese Fragen ist meine ewige Nichtssehnsucht.)
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1411)
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Wenn es im Grunde zwei Menschentypen gibt, aktiv und passiv i.S.v. dominant und rezessiv, so vielleicht auch zwei Typen von Religion.
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Die Religion der Willigen zieht dann vorwärts in Richtung Allbewusstsein, die Religion der Unwilligen zurück in Richtung Nullbewusstsein.
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Nichtssehnsucht als eine Art von Atheismus anzusehen wäre also schon richtig – falsch wäre nur die Unterstellung von Areligiosität.
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1412)
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Wer meint, dass es mehr Freud als Leid gibt, wird das Bewusstsein insgesamt eher bejahen und nach Allbewusstsein streben.
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Wer meint, dass es mehr Leid als Freud gibt, wird das Bewusstsein insgesamt eher verneinen und nach Nullbewusstsein streben.
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Schließlich mag es noch die Ausnahmen geben, welche trotz überwiegenden Leids bejahen bzw. trotz überwiegender Freude verneinen.
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(Nicht zu vergessen die, welche das alles im Gleichgewicht sehen und sowohl bejahen als auch verneinen oder weder noch.)
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1413)
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Ruhe braucht man, um dem Leben andächtig bis nachdenklich ins Gesicht zu sehen, damit man sich stattdessen nicht überarbeitet.
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Das Ora steht vor dem Labora, damit man sich nicht durch unablässiges Schaffen davon ablenkt, dem Tod ins Auge zu schauen.
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Der Workaholic auf dem Weg zum Burnout flieht vor einer Wahrheit, welche aber zugegebenermaßen fast ebenso irre macht.
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1414)
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Der Erfolg empirischer Naturwissenschaften setzt die Machtergreifung über den zu untersuchenden "Gegenstand" voraus.
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Die Verlagerung von der Physik zur Biologie bedeutet, dass statt "toter" Materie nun v.a. lebende Tiere in der Laborhölle leiden.
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Der nächste Schritt ist klar: die Welt der Menschen wird aufgespalten in den Untersucherhimmel und die Untersuchtenhölle.
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1415)
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Für Nietzscheaner ist immer nur Morgenröte, Neubeginn, Ars Vivendi.
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Von Abendgräue, Ausklang, Ars Moriendi will da niemand was wissen.
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Doch seht genau hin, ihr Jungen: Jungbleiben ist ja sowas von peinlich.
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1416)
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Dem Tod begegnen heißt nach meiner Nahtoderfahrung leider: das Bewusstsein für die eigene Erlösungsbedürftigkeit verlieren.
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Verständlich, dass die buddhistischen Mönche sich dem Nirvana erst mal per Meditation annähern statt gleich Suizid zu begehen.
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Ob man so viel Gefasstbleiben in Todesnähe einüben kann, dass es auch noch im Sterben gelingt, das Nichts zum Hauptziel zu haben?
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1417)
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Ich bin mir nicht sicher genug, statt Himmel nur Nichts zu wollen.
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Und wem das Zweitbeste nicht gut genug ist, der verdient es nicht.
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No risk, no fun, no pain – das wärs doch! Aber nur für den Weisen.
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1418)
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Die Unruhigen wollen immer nur aufwärts und dann schnell tot umfallen.
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Die Ruhigen wissen: das Leben geht nach der Hälfte eher wieder abwärts.
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Und am coolsten ist es, das ganze Leben als Weg in den Tod zu begreifen.
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1419)
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Sich in ärmere Menschen hineinversetzen, in Tiere, Pflanzen, Dinge.
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In der Ahnung, dass man im Tod wieder ins Einfachere zurück muss.
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Vielleicht gilt es beizeiten zu lernen, schwindelfrei hinabzuschauen.
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1420)
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Es gibt grob gesagt drei Schwierigkeitsgrade auf dem Sterbeparcours.
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Abschied in Erwartung von Besserem, Vergleichbarem, Schlimmerem.
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War mein Aufwachsen mit der Höllendrohung evt. doch für etwas gut?
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1421)
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Genauer besehen wirkt Lebensfreude meist gewollt i.S.v. aufgesetzt.
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Darunter liegt große Angst, vor dem Leben genauso wie vor dem Tod.
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Demaskiert wird evt. der Einzelne, aber das schlimme Ganze ist tabu.
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1422)
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Sich sorgen um alles oder nichts – wo liegt die vernünftige Mitte?
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Eine Schlüsselrolle spielt m.E. der Tod – wer sich keinerlei Sorgen mehr darum macht, was im Tod aus ihm werden könnte, für den sind alle Sorgen des Lebens nur noch vorläufige. Wenn die Naturalisten ihre Vorstellung von der endgültigen Bewusstlosigkeit im Tod durchsetzen, lockt bzw. droht dann nicht völlige Sorglosigkeit nach dem Motto: geht eh vorbei!?
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Mir zumindest würde es so ergehen: erst meine ernsthafte Sorge um die Seinsweise im Tod bewirkt meine ernsthafte Sorge um die Seinsweise im Leben.
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(Mag durchaus sein, dass ich erst ohne Todesgedanken das Leben als Eigentliches kennenlernen könnte – da fehlt mir der Vergleich. Aber in der Beobachtung, dass die Naturalisten sorgloser mit dem Leben umgehen, irre ich mich glaube ich nicht.)
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1423)
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Mein Leben ist m.E. schlechter als nichts.
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Leben i.a. ist m.E. schlechter als meines.
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Mein Tod wird m.E. so wie das Leben i.a.
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1424)
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Wer sich seines Nichts im Tod sicher ist, kann sowohl echt egoistisch als auch echt altruistisch leben – das steht ihm frei.
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Glaubt einer aber an ewige Vergeltung seines Verhaltens im Jenseits, ist ihm freier Egoismus wie Altruismus unmöglich.
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Wer noch im mindesten bei Trost ist, muss dann einfach Gutmensch werden – Schlechtmensch bleiben wäre Wahnsinn.
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1425)
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Wer sich vormachen kann, ein guter Mensch zu sein, bleibt halt Monotheist.
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Wer sich seine unabänderliche Schlechtigkeit eingesteht, wird halt Realist.
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Wer auch damit nicht hinkommt, muss eine weniger wohlfeile Position finden.
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1426)
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Eltern halten sich verglichen mit Kinderlosen für die besseren Menschen.
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Dabei nimmt ihre Rücksicht gegenüber der Allgemeinheit tendenziell ab.
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Übers Kind gebeugt geht ihnen alle Welt wortwörtlich am Arsch vorbei.
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1427)
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Als Kind fröhlich-egoistischer Christ; als Jugendlicher dann der Sündenfall vom traurig-altruistischen Christen zum fröhlich-egoistischen Realisten; und als Erwachsener schließlich traurig-altruistischer Realist.
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Diese in unserer Kultur recht übliche Laufbahn klappt aber nur für diejenigen mit einem im Grunde eher sonnigen Gemüt – für die übrigen wird der Suizid in jenem vierten Stadium eine allzu verlockende Alternative.
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Als pessimistischer Idealist steht es mir im Gegensatz zum Christen frei, Gutes oder Schlechtes zu tun, da ich vom Jenseits keine Vergeltung erwarte. Und im Gegensatz zum Realisten winkt mir kein Todesnichts.
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1428)
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Wer an das Nichts im Tod glaubt und ein Leben schlechter als nichts hat, wird dieses Leben so lange riskieren, bis es besser als nichts ist.
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Wer an das Nichts in Tod glaubt und ein Leben besser als nichts hat, mag durchaus Güte zeigen, d.h. für andere auf Vorteile verzichten.
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Weil das Leben der meisten aber schlechter als nichts ist, bewirkt der grassierende Nichtsglaube tollkühne Kämpfe um ein besseres Leben.
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(Wogegen ich weniger hätte, wenn das Nichts im Tod sicher wäre. Da es aber nur ein Glaube ist, handeln seine Missionare unverantwortlich.)
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1429)
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Das Nichts ist ein modernes Märchen.
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Unser Leid hört auch im Tod nicht auf.
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Wär einfach zu schön um wahr zu sein.
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1430)
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Pessimismus: Es wird immer schlimmer.
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Quietismus: Aber so langsam wie möglich.
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Moralismus: Leide nicht nur für dich selbst.
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1431)
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In puncto Hölle gibts nichts Endgültiges.
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Sonst würde es ja nicht mehr schlimmer.
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Hölle ist, wenns immer schlimmer wird.
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(Der Pessimismus-Superlativ ist paradox.)
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1432)
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Gottesmärchen: Glück ist ewig.
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Atheistentröster: Nichts ist ewig.
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Pessimistendrama: Leid ist ewig.
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1433)
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Tolerant gegen alles außer Intoleranz!?
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Aber wer darf rein in die Gesellschaft?!
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Bei Tierverwertung steht es schon patt.
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1434)
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Den definitiven Pessimismus kann keiner konkretisieren.
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Weil auch das Schlimmste noch Geschmackssache ist.
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Z.B. die Hölle des Immerselben vs. des Immeranderen.
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1435)
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Vielleicht besteht die Kunst des Lebens darin, auf den Geschmack zu kommen.
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Als Masochist gar Angst zu kriegen, die nächste Erlösung könnte die letzte sein.
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Dann versichert der Tod: auch größte Lebenskünstler könnten noch scheitern.
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1436)
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Der pessimistische Realist, welcher das Leben für schlechter als nichts hält und an das Nichts im Tod glaubt, gehört früher oder später dem Suizid.
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Meist versucht er verzweifelt, sich zum optimistischen Realisten zu bekehren, also das Leben besser als nichts zu finden. Doch es ginge auch anders.
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Als pessimistischer Idealist halte ich das Leben zwar für schlechter als nichts, aber das Nichts im Tod für ein Ideal, dem mich Suizid nicht näher brächte.
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(Pessimistischen Realisten kommt es nicht in den Sinn, den Glauben ans Nichts im Tod aufzugeben, sie halten es für unumstößliche Gewissheit.)
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1437)
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Wie ist es, tot zu sein? Auf diesem Gebiet gibt es nur Glauben, kein Wissen.
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Es steht uns gewissermaßen frei, eine glaubwürdige Überzeugung zu finden.
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Aber an Verbesserung im Tod zu glauben und sich umzubringen ist tollkühn.
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1438)
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Beneidenswert scheint mir der pessimistische Realist, der sich auf das Nichts im fernen natürlichen Tod freuen kann.
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Bedauernswert dagegen scheint mir der pessimistische Realist, der sich auf das Nichts im nahen Suizid stürzen muss.
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Als pessimistischer Idealist ohne Vorfreude auf den Tod und ohne den Drang zum Suizid fühl ich mich da etwa in der Mitte.
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1439)
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Monotheisten halten sich für was Besseres in alle Ewigkeit, für Gottes Schöpfungskrone.
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Realisten sind fast ebenso hochmütig, geben nur ein einziges Gastspiel an der Evolutionsspitze.
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Ich halte mich zwar momentan auch für was Besseres, aber den Tod für einen großen Mittler.
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(Falls der Tod wirklich mittelt, werden wir m.E. nach dem Tod wieder mehr leiden.)
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1440)
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Realisten sehen die Bewusstlosigkeit im Tod als Lebensbedrohung oder als Lebenserlösung an, je nachdem, ob sie das Leben noch optimistisch oder schon pessimistisch bewerten.
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Hegen kaum Zweifel an ihren Grundfesten von der im Wesentlichen leeren Raumzeit und der leblosen Materie darin, aus der alles Leben wird und in die alles Leben vergeht.
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Zu kontern, dieses Märchen vom neutralen Stoff im Nichts leiste der Tollkühnheit gegenüber dem Tod sowie der Ausbeutung des Planeten bösen Vorschub, wirkt sehr sonderlich.
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1441)
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Gradueller Panpsychismus mal umgekehrt...
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Man stelle sich vor: Festkörper sein ist empfindungsmäßig die Hölle, Pflanze sein schon weniger unangenehm, Tier sein noch weniger, Mensch sein bislang am himmlischsten.
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Und mit dem Tod stürzt jeder wieder in die Hölle...
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(Von so einer Philosophie hört man nirgends. Weil in unserer aktivistischen Welt alles so lange als empfindungslos gilt, wie es nach unseren Maßstäben passiv bleibt. Weil wir ein flehentliches Nein erst zu erhören gewillt sind, wo es sich unüberhörbar artikulieren kann.)
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1442)
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Ich definiere mich über mein Gedachtes.
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Über mein Gesagtes schon weniger.
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Über mein Getanes am wenigsten.
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(Schon eher über mein Unterlassenes.)
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1443)
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Traurig leben.
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Ohne Todessehnsucht.
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Angekommen.
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1444)
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Glaube oder Unglaube, guter Gott oder kein Gott, Summe über alles positiv oder null – der Streit darum kommt mir vor wie ein Ablenkungsmanöver.
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Damit keiner bei all dem Theater an den dritten Fall denkt: böser Gott, Summe über alles negativ – denn erst das wäre die eigentliche Katastrophe.
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Die Pascalsche Wette auf den guten Gott kann nämlich doch verlieren – indem ein böser Gott die Guten in die Hölle und die Bösen in den Himmel schickt.
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1445)
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Realismus, objektiver Idealismus und subjektiver Idealismus kennzeichnen eine, wenn nicht gar die philosophische Grundentscheidung.
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Ob alles im Wesentlichen Dinglichkeit, Wirklichkeit oder Vorstellung sei.
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Ich meine: unwillkürliche Empfindung. (Was ist das – subjektiver Realismus?)
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1446)
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Dem Leben zugrunde liegt die unwillkürlich-passive Leidempfindung.
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Alles folgende ist Reaktion, mag sie noch so selbständig-aktiv wirken.
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Mit ihr das Leben zu echter Freude umzudrehen gelingt den wenigsten.
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1447)
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Leben ist erst Leiden und dann die dagegen unternommene Notwehr.
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Aber fast alle Notwehr ist kurzsichtig und macht alles nur schlimmer.
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Spricht sich aber nicht herum, weil die Aktiven die Botschaft übertönen.
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1448)
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Etwas hinterlassen, damit wir nicht umsonst gelebt haben?
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Diese Ansicht stammt aus einer Zeit, als es noch galt, der Natur Kultur abzuringen.
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Heute sollten wir im Gegenteil möglichst spurlos leben, statt noch mehr unserer natürlichen Lebensbedingungen zu zerstören.
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(Stolz werden auf Konsumverzicht statt auf Kulturschöpfung wäre angezeigt – aber seit die Menschheit an das Nichts im Tod glaubt, stirbt sie lieber als auf die Asketen zu hören.)
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1449)
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Die Menschen teilen sich für mich in drei Gruppen, nach ihrer Annahme einer Verbesserung, Neutralisierung oder Verschlechterung ihrer Situation im Tod.
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Ich wünschte mir Neutralisierung, rechne aber mit Verschlechterung.
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Und treffe nirgends auf Kollegen.
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1450)
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Das mögliche Nichts im Tod zieht Pessimisten an, stößt Optimisten ab.
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Das mögliche Unbekannte zieht Optimisten an, schreckt Pessimisten ab.
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Die Gesellschaft lanciert den Nichtsglauben, um die Optimisten zu halten.
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1451)
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Typische Monotheisten: bezeichnen sich selbst als lebensbejahend; disziplinieren sich im irdischen Leben mit dogmatisch vorgegebener Moral; werden von den Atheisten als lebensverneinend bezeichnet; meinen, das Beste komme erst noch, als jenseitiger Lohn.
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Typische Atheisten: bezeichnen sich selbst als lebenbejahend; streben ohne oder mit eigener Moral nach dem Besten für sich und die Ihren im Hier und Jetzt; werden von den Monotheisten als unmoralisch bezeichnet; meinen, das Leben ende im bewusstlosen Todesnichts.
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Jede der beiden Gruppen schlägt Abweichler gern der jeweils anderen zu, ich halte mich aber für weder noch: bezeichne mich selbst als lebenverneinend; stehe für eine weniger speziesistische und mehr quietistische Moral; meine, im Tod gehe es leidvoll weiter.
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1452)
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Ewiges Leiden ohne Erlösung.
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Pessimismus ohne Suizidalität.
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Brauchst nicht glücklich werden.
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1453)
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Goodbye suizidaler Realismus.
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Tieftraurig ohne Todesneigung.
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Mit dem Nichts als Ideal leben.
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1454)
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Prunksucht ist was für Neureiche – man stellt sein Heim heute nicht mehr voll, erzielt mehr Wirkung mit edlem Minimalismus.
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Aber zeig mir den Erfolgsmenschen, der keinen eng gedrängten Terminplan hat – mit Zeitknappheit lässt sich sogar prahlen.
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Die meisten Formen von Reichtum sind den Menschen noch gar nicht bewusst, sind noch nicht mal fernes Ziel im Kopf.
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1455)
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Eine Wohnumgebung, die für Auge, Ohr, Geruchs- und Tastsinn i.d.R. einigermaßen neutral i.S.v. störungsfrei bleibt – wer hat die heute noch?
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Bei Wohnungsbesichtigungen kommt alles Mögliche zur Sprache – außer unerwünschter Dauerreizung durch nachbarschaftlichen Aktionismus.
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Stroboskob-Leuchtreklamen gegenüber von deinem Fenster, Surroundsound-Heimkino hinter deiner Schlafzimmerwand, diskrete Abluftklappen für Fleischbratereien neben deinem Balkon bis hin zu Großmaschinen, die deine ganze Wohnung zum Vibrieren bringen – aber die Maklerin erzählt dir was vom schönen Farbenspiel deiner Badezimmerkacheln.
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1456)
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Wir alle kommen aus dem Sozialen.
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Problemfälle flüchten sich ins Sprachliche.
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Und aussichtslose Fälle bis ins Mathematische.
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(Fühl mal als Autist, du müsstest ins Soziale zurück.)
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1457)
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Als Pessimist erwarte ich keinen Sieg des Guten oder auch nur Gerechtigkeit, glaube nicht an Himmelslohn, Höllenstrafe, Karma usf.
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Das ewige Leben verläuft m.E. leider so wie vom endlichen Leben her zu vermuten – keine Gegenwelt bzw. andere Seite im Tod.
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Echt moralische Menschen wählen das Gute eh aus Abneigung gegen das Böse, nicht weil sie auf langfristige Vorteile spekulieren.
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1458)
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Die Feuerprobe echter Moral ist m.E. die Annahme eines ewigen Lebens, in dem es nur so zugeht wie im uns bereits bekannten.
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Nicht bestanden ist sie dann, wenn einer daraufhin den Willen zur Macht entwickelt, um immer Hammer, nie Amboss zu sein.
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Bestanden dann, wenn einer dennoch die Sanftmut wählt, ohne sich von einer wie auch immer gearteten Gegenwelt Lohn zu erhoffen.
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1459)
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Wenn du sagst, du seist lebensverneinend, dann denken gleich alle, du hättest Todessehnsucht.
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Wenn du sagst, du seist auch todesverneinend, dann denken gleich alle, du hättest nen Knall.
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Doch das Nichts zu wollen ist in dieser Welt ebenso naheliegend wie an seiner Erreichbarkeit zu zweifeln.
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1460)
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Für mich heißt Quietismus: selber in Ruhe sein und andere(s) in Ruhe lassen.
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Aufhören, uns die Erde untertan zu machen.
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Aufhören.
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1461)
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Band 5
1462) bis 1826)
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1462)
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Mein Schwarzgekleidetsein soll Lebensverneinung und Traurigkeit ausdrücken.
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Es stört mich, dass Schwarz auch für Todessehnsucht und Bosheit steht.
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Aber vielen Traurigen, besonders den jüngeren, ist diese Mehrdeutigkeit gar nicht so unrecht – unbewusst oder bewusst kommt den oft schüchternen bis wehrlosen Traurigen eine einschüchternde Wirkung ihrer schwarzen Kluft auf andere durchaus gelegen. Von der allgegenwärtigen postmodernen Ironie ganz zu schweigen.
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1463)
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Don't break bad, better stay sad.
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Pursuit of happiness ist oft böse.
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Therapie macht Opfer zu Tätern.
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1464)
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Das Schönste am Christentum ist m.E. sein sanftmütiges Lebensideal.
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Das Schönste am Naturalismus ist m.E. sein bewusstloses Todesideal.
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Trotzdem kapriziert sich ersteres auf den Tod, letzterer auf das Leben.
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1465)
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Dark Lifestyle hat drei Flavours.
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Die Entscheidung fällt mir leicht.
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Besser traurig als böse oder tot.
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1466)
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Liebe weder deinen Nächsten noch dich selbst.
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Hasse weder deinen Nächsten noch dich selbst.
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Das scheint mir die richtige Mitte, alles in Ruhe.
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1467)
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Tradition: Finde die Balance zwischen Eigennutz und Wohltätigkeit.
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Moderne: Finde die Balance zwischen Handeln und Denken.
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Postmoderne: Finde so weit wie nötig zurück zum eigennützigen Handeln.
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1468)
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Frage zwischen Schopenhauer und Nietzsche.
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Wie viel Glücksstreben ist moralisch vertretbar?
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Darf ich egoistisch sein bis zur Lebensbejahung?
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(Und ja, Glück und Moral widersprechen sich.)
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1469)
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In Zeiten des Leids habe ich zum Trost das Nichts als theoretische Orientierung, als für mich gesichertes Wissen, was idealiter sein sollte.
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Darüber hinaus gibt es die, deren Leid durchdrungen wird von der Vorfreude realistischer Erwartung, im Tod kehre endgültige Bewusstlosigkeit ein.
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Und schließlich diejenigen, welche in ihrem Leid ganz praktisch Hand an sich legen.
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(Das Leid der Tiere vor diesen drei Stufen des Nichts ist noch ein unmittelbares.)
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1470)
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Echte Optimisten sagen Ja zum Leben und zum Tod.
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Echte Pessimisten sagen Nein zum Leben und zum Tod.
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So bleibt beiden nichts als beizeiten leben und sterben.
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1471)
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Dunkles Denken à la Schopenhauer sitzt zwischen allen Stühlen.
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Davor hat man noch hell gedacht, danach wieder dunkel gefühlt.
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Vernünftig sein wollen gegen jede Chance bleibt meine Methode.
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(Sogar meine Gründe am Leben zu bleiben sind v.a. vernünftige.)
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1472)
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Wir wissen nicht, was nach dem Tod kommt.
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Um uns ist noch größeres Leid als das eigene.
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Also bleiben wir am Leben – zähneknirschend.
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1473)
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Gott bzw. das Leben fragt dich immer und immer wieder: bist du nun bereit, dich bzw. dein Lebensleid zu verleugnen?
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Je schlechter es dir geht, desto eher bist du es.
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Die Finalen reißen als Erste die Mundwinkel hoch, wenn der Chefarzt reinkommt und fröhlich fragt, wie es uns heute geht.
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(Die jammernden Kinder sind nicht schon verwöhnt, sondern noch ehrlich. Erfolg der Erziehung: geheuchelter Frohsinn.)
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1474)
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Atheist bin ich aus moralischen Gründen.
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Gegen einen Gott, der absichtlich diese leidige Welt geschaffen hat, muss man was haben.
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Außerdem spekuliert echte Güte nicht auf das eigene Seelenheil im göttlichen Paradies.
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1475)
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Wer sagt das Wesentlichste über diese Welt?
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Die Religion nicht, die Naturwissenschaft nicht.
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Für mich erst und immer noch die Philosophie.
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1476)
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Pessimismus heißt, davon auszugehen, dass das Leid ewig währt.
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Wer Erlösung in Aussicht stellt, ist vom Pessimismus abgekommen.
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Passiert jedem Pessimisten mal, siehe Schopenhauer bis Horstmann.
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1477)
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Wahrnehmen, Denken, Handeln – mein Schwerpunkt liegt noch im Denken.
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Sinnesfrohe und Aktionisten wissen schon, warum sie das Denken meiden.
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Die Aufklärung führte in die Depression und jetzt wollen alle nur noch retro.
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1478)
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Weiter innerlich leben – vor der Natur in die Klausur fliehen.
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Oder wieder äußerlich leben – heroisches Ja bzw. Trotzdem.
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Wie auch immer – das Sein behält etwas zutiefst Vergebliches.
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1479)
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Pessimismus könnte durchaus ein menschliches Naturell sein.
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Und alle von den Optimisten verordnete Therapie diskriminierend.
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Vergleichbar mit dem Heilen von Weiblichkeit durch Vermännlichung.
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1480)
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Als pessimistischer Softie meine ich...
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...dass besser alle so hätten sein wollen...
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...wie die Frauen früher mal sein wollten.
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1481)
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Schopenhauer ist Opfer-Philosophie.
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Nietzsche ist Täter-Philosophie.
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Nietzsche hat gewonnen.
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(Leider.)
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1482)
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Als Pessimisten, der die Welt verneint, halten mich die Optimisten für krank.
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Dafür halte ich die Optimisten, die die Welt bejahen, für unsensibel bis böse.
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Dass mein Pessimismus einst vor dem Arzt in die Knie geht, erscheint aber auch mir viel wahrscheinlicher als dass optimistische Ruchlosigkeit einst vor dem Richter steht.
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1483)
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Die einen brauchen das Zusammensein als Regel und das Alleinsein als Ausnahme; bei den anderen ist es eben umgekehrt.
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Weil erstere scheinbar in der großen Mehrheit sind – "der Mensch ist ein soziales Wesen" – gelten letztere tendentiell als krank.
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Aber das geht noch – schlimmer ist, von dieser Möglichkeit des Andersseins und damit vom eigenen Anderssein erst gar nichts zu erfahren.
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1484)
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Mit Kindern zusammen zu sein bedeutet einerseits, sich in ihre Kinderwelt ziehen zu lassen, andererseits, sie in die eigene Erwachsenenwelt zu ziehen.
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Ich fühle mich bei beidem unwohl.
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Heißt das, ich mag keine Kinder?
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(Wer auf eine schöne Kindheit oder Erwachsenenzeit oder gar auf beides zurückblicken kann, hat da leicht reden. Oder hat sich ans Lügen gewöhnt.)
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1485)
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"Die Öffentlichkeit rätselt über die Motive des Amokläufers..."
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...und ich verstehe nicht, was daran so schwer zu verstehen ist.
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Pessimismus plus Materialismus als weltanschauliche Grundlage, charakterliche Entschlossenheit zur Aktion mit großer Signalwirkung, evt. aktuelle persönliche Kränkung.
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(Vorstellbar, dass so einer nach seiner Tat das wohltuende Gefühl hat, die Welt dem zur endgültigen Leidbefreiung notwendigen kollektiven Selbstmord ein Stück näher gebracht zu haben.)
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1486)
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Den Nihilismus gibts von realistischer und idealistischer Art.
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Selbstmord, Amoklauf etc. sind nihilistische Anfängerfehler.
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Die Kehre hat erreicht, wer das Nichts als Inneres erkennt.
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1487)
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"Zuerst entstand die anorganische Materie, dann die organische, dann das Leben, dann das Bewusstsein..."
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Diese Theorie gilt heute als Wissen, als Gewissheit – und wird in der Schule gelehrt wie eine Religion.
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Kein Wunder, wenn Leidende auf die Idee verfallen, dass man o.g. Reihenfolge besser umkehren sollte.
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1488)
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Amokläufer und Attentäter – streng unterschieden von Justiz wie Presse.
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Erstere sind Einzelgänger, letztere religös und/oder politisch organisiert.
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So meinen die Leute, ersteren sei spontan die Sicherung durchgebrannt.
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(Ist nicht auch der realistische Nihilismus religöser bzw. politischer Plan?)
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1489)
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Goethes Mephisto ist realistischer Nihilist – den Monolog vom "Geist, der stets verneint" haben sich viele nihilistische Schwarzkutten zum Motto erkoren.
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Schopenhauer erkennt darin das Prinzip der äußeren, realen Welt schlechthin wieder, dem er seinen inneren, idealistischen Nihilismus entgegensetzt.
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Es gilt schon zuerst, sich einzugestehen, dass die Welt eine Hölle ist – dann aber, sich von ihr abzuwenden, sich eine innere "feuerfeste Hütte" zu bauen.
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1490)
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Die Errungenschaft der Vollnarkose als Indiz für die endgültige Bewusstlosigkeit im Tod?
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Nicht viel schlüssiger als gute und schlechte Drogentrips als Indiz für Himmel und Hölle.
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Meinem pessimistischen Subjektivismus sind das alles nur Ausnahmen vom regelmäßigen Leid.
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1491)
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Meine wesentliche philosophische Erkenntnis: Sein ist Grund, Nichts nur Figur – auch wenn der naive Realismus das Gegenteil nahelegt.
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Dem Lebensbejaher kann die Bekehrung zum Idealismus eine große Erleichterung sein; mir als Lebensverneiner eher im Gegenteil.
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Subjektivismus ist übrigens nicht etwa rückwärtsgewandt, war er doch – mit kleinen historischen Ausnahmen – nie Mainstream.
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1492)
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Monismus als Realismus: alles ist Körper.
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Monismus als objektiver Idealismus: alles ist Geist.
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Monismus als subjektiver Idealismus: alles ist Seele bzw. Bewusstsein.
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(Meine Position ist der generelle Subjektivismus: primär ist Bewusstsein kollektiv.)
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1493)
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Man flieht vor der Hitze der Gefühle.
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Die meisten zur kühlen Materie.
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Ich zu den kühlen Ideen.
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(Realismus wie objektiver Idealismus heißt für mich, nicht wahrhaben zu wollen, dass der subjektive Idealismus die trefflichste Weltanschauung ist.)
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1494)
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Selbstmord fällt leicht, wenn man sich Totsein als ein seelisch subjektives, himmlisches Sein bzw. als ein körperlich oder geistig objektives, gefühlsneutrales Sein vorstellt.
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Mir fiele Selbstmord schwer, denn wir sind m.E. primär arme Seelen, und müssen fürchten, im Tod noch ärmere zu sein.
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Die christliche Höllendrohung hat mich im Kern erwischt!?
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1495)
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Was fühlt, denkt, tut man im Tod?
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Eigentlich ist nur ersteres wichtig.
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Gefühlsneutrales Sein wäre egal!?
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1496)
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Philosophie des Geistes? Ich stehe beim Psychomonismus mit Eigenschaftspluralismus.
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"Objektiv" ideelle wie materielle Eigenschaften als scheinbar gefühllose Ränder der Weltseele.
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Meine Sehnsucht: das Gegenteil. Tot nur noch Geist oder gar nur noch Materie sein, das wärs!
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1497)
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Desillusionierende Erlösung: die angstvolle Seele als Kern akzeptieren.
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Wahrhaben können, dass sie am objektiven Körper und Geist Halt sucht.
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Und dass dieser Halt nur temporär ist – im Tod stürzt sie ins Ungewisse.
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1498)
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Allverdammnis scheint mir plausibler als Allversöhnung.
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Wie ein Herrgott wahrhaftiger wirkt als ein lieber Gott.
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Trotzdem glaubt keiner, dass alle in die Hölle kommen.
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(Missionierenden Christen die Allverdammnis predigen!)
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1499)
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Christen heute lieben den Schöpfer des Himmels und der Erde.
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Und sind auf die atheistischen Einwände längst gut vorbereitet.
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Auf den Schöpfer der Hölle angesprochen reagieren sie einsilbig.
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(Wird die Flucht vor diesem zu jenem eingestanden? Verarbeitet?)
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1500)
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Der Naturalist sagt, es gebe nichts Übernatürliches, alles sei Natur – und damit alle Weltanschauung naturwissenschaftlich zu fassen.
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Aber wenn man sich naturwissenschaftliche Modelle von Bewusstsein, Moral, Schöngeistigem betrachtet, muten diese doch eher absurd an.
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Naturalisten mögen einwenden, dass die Ausweitung naturwissenschaftlicher Methodik auf schier alles halt noch in den Kinderschuhen stecke.
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(Ich halte den objektivistischen Vorstoß zur Erklärung bzw. Abschaffung des Subjektiven für einen Kategorienfehler, wenn nicht für Größenwahn.)
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1501)
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Alles ist subjektiv.
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Auch der Grund für die objektivistische Gegenposition.
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Das Leid macht die Menschen irre – im ach so nüchternen Licht der heutigen Wissenschaft betrachtet sei das Bewusstsein marginal bis nicht existent.
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1502)
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Gibt es wesentliche Aussagen über die Welt? Und wenn ja, welche Methodik führt zu diesen hin?
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Ich meine: die philosophische Dialektik, denkendes Aufspannen und Bewerten von Gegensätzen.
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Die "wissenschaftlicheren" Methoden sind überschätzt – wo sie funktionieren, ist die Welt unwesentlich.
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1503)
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Im Wesentlichen sind wir doch arme Seelen.
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Viele hoffen, im Leben, spätestens aber im Tod, ihr Seelisches hin zum gefühlsneutralen Körperlichen oder Geistigen überwinden zu können.
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Vergebens, fürchte ich, wir sind arme Seelen.
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1504)
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Die in der Gesellschaft kursierenden Todesvorstellungen sind körperlich, seelisch oder geistig.
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Als Toter ist man demnach nur noch verwesender Körper, gestimmte Seele oder reiner Geist.
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Trotz aller materialistischen und idealistischen Einflüsse – ich bin "Psychist" geblieben, arme Seele.
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1505)
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Körper und Geist sind m.E. zu Recht Widersacher der Seele.
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Aber sie haben nur im Leben eine gewisse Chance.
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Spätestens im Tod obsiegt dann wieder sie!?
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1506)
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Meine zwei Todesgleichgewichte:
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Erstens: Im Tod geht es m.E. mit Gleichem i.S.v. zum Leben Vergleichbarem weiter – zwar fände ich Nichts oder gar Paradies besser, aber völlig Anderes oder gar Hölle schlimmer.
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Zweitens: Von den vier Gegensätzen im Tod liegen je zwei zu meinen Ungunsten bzw. Gunsten – ich rechne mit zunehmendem Leid, hätte aber lieber abnehmendes; ich rechne mit abnehmendem Verstand, hätte aber lieber zunehmenden; ich rechne mit selbstähnlicher Fortsetzung und die ist mir auch lieber als andersartige; was im Tod ist, bleibt im Leben ungewiss und das finde ich auch besser so.
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1507)
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Meine zwei Todesparadoxien:
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Erstens: Im Tod wartet das Unbekannte – und das Unbekannte beinhaltet das Bekannte. Nicht etwa unwahrscheinlich, dass es hinter dem blickdichten Vorhang genauso aussieht wie davor.
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Zweitens: Um das Leid hundertprozentig sicher zu beenden, d.h. das Bewusstsein endgültig auf Null zu verengen, wäre jede Möglichkeit zu kontrollieren, d.h. das Bewusstsein auf Eins zu erweitern.
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1508)
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Theorie des Totseins.
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Vordenken: Was kommt nach dem Sterben?
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Früher erhoffte man sich ewiges Glück bzw. fürchtete ewiges Leid und nannte sich religiös. Heute rechnet man unbeirrbar mit dem Ende des Glücks bzw. Leids und nennt sich realistisch.
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1509)
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Todesvorstellungen sind meist mit einem -ismus wie Materialismus, Idealismus etc. verbunden, mit einer Reduktion auf das vermeintlich Zugrundeliegende.
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Man erwartet sich die Erfüllung des eigenen -ismus, indem die verwirrende Vielfalt des Lebens schlussendlich der -istischen Einheit des Todes weicht.
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Materialisten bzw. Idealisten glauben an den neutralen Stoff bzw. die neutrale Form, ich als pessimistischer Psychist glaube an das Leid als Weltwesenskern.
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1510)
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Der Wille ist ja doch nur Reaktion auf das Leid.
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Macht es kurzfristig leichter, langfristig schlimmer.
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Schöpfungsverzicht mit Gott als warnendem Beispiel.
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1511)
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Materialismus und Idealismus halten die Sprache fest im Griff.
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Das Fundamentalste sei die Realität bzw. die Wirklichkeit, also tote Dinge bzw. aktiver Geist.
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Für mich ist das Fundamentalste aber passives Bewusstsein.
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(Schwierig zu erklären, wenn man eigentlich zuerst die Sprache korrigieren müsste.)
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1512)
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Materialismus und objektiver Idealismus sind die beiden leidlosen Seinsränder, zu denen sich die Gepeinigten flüchten.
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Bewusstlosigkeit bis körperliche Emotionalität am einen Rand, neutrale Form bis geistige Schöpfermacht am anderen.
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Seinsmitte ist aber nunmal das bewusste Ausgeliefertsein – Erlösungsphantasie, den Rand als das Zentrum zu wähnen.
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(Siehe z.B. die Gnosis: fatal sei die Verbindung von Materie und Geist, die arme Seele befreie sich durch beider Trennung.)
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1513)
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Ich bin eine Seele, die sich eine innere geistige Lebenswelt baut.
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Halte die alte Ratio in mir hoch, wirke dadurch evt. logozentrisch.
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Aber ich hänge nicht dem Glauben an die Ratio als Weltprinzip an.
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(Vgl. Freud: der größte Seelenkundler war überzeugter Materialist.)
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1514)
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Im Tod gehts mit Körper und Geist dahin...
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...aber das Seelische, so fürchte ich, bleibt.
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Teilhabe an der Weltseele – nicht loszuwerden.
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1515)
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Omnia mea mecum porto – der Bauarbeiter am eigenen Denkpalast trägt diesen seinen wertvollsten Besitz immer bei sich.
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Und das ist auch dringend nötig, muss er ihn doch dauernd Richtung Ruhe forttragen, weil Lärm der anderen den Bau stört.
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Auch körperlich und seelisch bedingte Probleme hindern am dauerhaften Raufbeamen ins Geistige, und im Tod bleibt eh nur die Seele.
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1516)
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Elektrophilosoph:
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ersinnt Begriffe für die Welt...
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...und googelt bzw. postet sie dann.
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1517)
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Der Mittelweg...
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...zwischen ausbeuterischer Industrialisierung und Zurück-zur-Natur...
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...ist die rationalistische Wissenschaft: Denken, nur notfalls Handeln.
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(Rationalisten sind die wissenschaftlichen Asketen, Empiristen die wissenschaftlichen Hedonisten.)
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1518)
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Anthropozentrismus und Logozentrismus – noch Oldschool-Philosophie.
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Biozentrismus, Pathozentrismus, Physiozentrismus – schon Ökobewegung.
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Und Psychozentrismus hat sich gar die Tourismusbranche (!) gesichert.
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(Trotzdem, ich nenn mich mal jenseits von Steiners Weltanschauungen psychistisch und jenseits von Plogs Urlaubertypen psychozentristisch.)
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1519)
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-ismen sind die Ergebnisse der philosophischen Suche nach Einheit in der Vielfalt.
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Ich bekenne mich dazu, diese Suche und ihre Begriffe nach wie vor für sinnvoll zu halten.
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Aber es ist klar, dass wir in postphilosophischen Zeiten leben: -ismus ist sowas von out.
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1520)
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Ist nur das Materielle, das Seelische, das Geistige eigenständig?
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Ich bin Monist, aber ein untypischer – ich tippe auf das Seelische.
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Allein schon deshalb, weil das m.E. der Worst Case schlechthin ist.
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1521)
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Das Recht auf endgültiges Nichtsein...
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...müsste für jeden und jedes gelten...
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...ohne damit verbundene Pflichten.
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1522)
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Lebewesen verbringen ihre Zeit meist mit Handlungen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu kriegen.
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Der Mensch kann es schaffen, stattdessen mehr sein Denken i.S.v. Als-Ob-Handeln anzustrengen.
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Man muss das erst lernen, die meisten haben das nie, und oft geht es im Alter wieder verloren.
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1523)
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Panpsychismus i.S.v. alles ist beseelt ist mir zu schwach formuliert.
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Panpsychismus i.S.v. alles ist Seele macht den Kern schon klarer.
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Die Qualia sind kein Randphänomen, sie machen unser Wesen aus.
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1524)
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Panlogismus scheint mir im Gegensatz zum Panpsychismus übertrieben.
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Ich spreche keinem Sein das Bewusstsein ab, die Vernunft im Wesentlichen schon.
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Umgekehrt ist m.E. ja sogar des Menschen Vernunft nur schwach ausgeprägt.
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(Dennoch ist sie unser höchstes Gut und gegen jede Chance zu befördern.)
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1525)
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Gibt es Seele ohne Körper, Seele ohne Geist?
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Könnt ich mir vielleicht als Extreme vorstellen.
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Regel: Körper und Geist als Ränder der Seele.
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1526)
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Während meines zweiten Nahtoderlebnisses hatte ich weder Körper noch Geist mehr zur Verfügung.
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Deshalb gehe ich weltanschaulich davon aus, dass sich der Mensch im Tod auf seine Seele reduziert.
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Im Aufwachsen entwickeln wir körperliche und geistige Fertigkeit, im Alter bzw. Tod verlieren wir sie wieder.
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1527)
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Der Freitod soll Unabhängigkeit schaffen von einem als zu einschränkend erlebten Körper oder Geist.
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Mir aber scheint, Körper und Geist ermöglichen im mittleren Lebensalter die Flucht vor der Seele.
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Ich rate jedem vom Suizid ab, der mit seinem Körper oder Geist noch was Eigenes zustande bringt.
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(Bevor er im Tod von der Weltseele absorbiert und als einzelner Anfänger wieder abgesondert wird.)
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1528)
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Zu neunzig Prozent sehe ich Gott als einen Herrgott, dem ich abgeneigt bin.
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Zu zehn Prozent sehe ich Gott als einen lieben Gott, dem ich zugeneigt bin.
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Zu hundert Prozent sehe ich Gott als ein persistentes Relikt aus der Kindheit.
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(Ein weiter Atheismusbegriff trifft auf mich m.E. zu. Der enge Atheismusbegriff moderner Materialisten ist selber kindisch, ohne dass die es merken.)
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1529)
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Mein Pessimismus kommt daher, dass ich das bzw. mein Leben mit dem bewusstlosen Nichts vergleiche und letzteres vorzöge.
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Die Wertschätzung meines Lebens kommt daher, dass ich statt mit dem Nichts im Tod mit einer weiteren Verschlechterung rechne.
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Es kommt eben auf die Wahl des Bezugspunktes an: theoretisch das Nichts, praktisch die mittlere Qualität allen mitgefühlten Seins.
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1530)
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Pessimistische Materialisten meinen, das Leid im Leben überwiege die Freude bei weitem und das Leid habe im Tod ein Ende.
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Wenn sie dazu auch noch Tatmenschen statt Wortmenschen sind, liegt es nahe, mit dem Töten als Erlösungswerk zu beginnen.
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Der m.E. falsche Materialismus ist heute schon gesellschaftlich etabliert, das Töten wird nur vom m.E. falschen Optimismus verhindert.
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1531)
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Amoklauf gedeiht m.E. auf einer materialistischen und pessimistischen Weltsicht.
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Den Glauben an das Nichts im Tod verstehen und teilen bereits sehr viele Menschen.
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Die negative Wertung des Lebens verstehen und teilen sie angeblich nie und nimmer.
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(Ist letztere so unverständlich oder ist die mediale Ratlosigkeit bei Amokläufen gespielt?)
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1532)
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Wenn einer sich durch Selbsttötung vom Leid des Lebens erlösen will, sagen ihm die anderen Materialisten gerne, er mache es sich zu leicht.
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Wenn einer aber selber im Leid des Lebens ausharrt, um andere daraus zu erlösen, indem er sie tötet, ist die Empörung noch viel größer.
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Der Materialismus verpflichtet gewisserweise zum Optimismus – wenn nicht zum ehrlichen, dann zum gelogenen. Ein schlechter Trend.
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1533)
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Als pessimistischer Idealist treffe ich regelmäßig auf optimistische Materialisten – in meinem Bekanntenkreis m.E. die Mehrheit.
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Mein Bekenntnis zum Pessimismus als primäres Bestimmtsein des Lebens durch Leid lässt sie längst nicht so ungläubig dreinschauen wie mein Bekenntnis zum Idealismus als Annahme des im Tod fortgesetzten Bewusstseins. Umgekehrt lässt mich ihr Bekenntnis zum Materialismus als Annahme endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod längst nicht so ungläubig dreinschauen wie ihr Bekenntnis zum Optimismus als primäres Bestimmtsein des Lebens durch Freude.
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Vielleicht weiß intuitiv jeder: pessimistischer Materialismus wäre am naheliegendsten, führt jedoch zum kollektiven Selbstmord.
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1534)
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Ein Bewusstsein wie z.B. meines ganz sicher auf immer zu vernichten...
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...also dafür zu sorgen, dass kein Fünklein davon jemals wiederkehrt...
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...kommt mir auch nicht machbarer vor als es auf immer zu erhalten...
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(...solange wir übers Woher und Wohin des Bewusstseins nichts wissen.)
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1535)
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Der Glaube, dass das Leid im Tod endet, ist völlig unbegründet.
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Trotzdem sind Religiöse und Realisten in dieser Annahme einig.
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Die Vorstellung ihrer ewigen Hölle ist den Menschen die fernste.
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1536)
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Ein Unendliches kann nur theoretisch ein Ganzes sein.
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Schon mathematische Konzepte wie z.B. die Menge der natürlichen Zahlen gewöhnen uns ans Paradox-religiöse.
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Wenn ich an die ewige zufällige Wiedergeburt glaube, ist diese erst nach einer Ewigkeit gerecht, die nie erreicht wird.
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(Oder reicht eine halbe Ewigkeit? Gibt es mich schon immer, müsste mir rein zufällig schon heute alles recht sein.)
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1537)
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Die Aussicht auf das Nichts im Tod ist dem lebensfrohen Materialisten die Hölle.
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Die Aussicht auf das Nichts im Tod ist dem lebensleiden Materialisten der Himmel.
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Beide sind religiös auf das Nichts im Tod als Jenseits fixiert, ohne es zu bemerken.
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1538)
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Am Ende sind wir nur arme Seelen.
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Diese Selbsterkenntnis stammt aus meinen Nahtoderfahrungen.
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Der zuvor besessene Reichtum an Körper und Geist ist dann perdu.
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1539)
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Sofern Psychologie überhaupt noch Seelenlehre ist, bleibt ihre wichtigste Methode die Introspektion.
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Lange Zeit haben die Objektivisten auch mich drausgebracht mit ihrem Desavouieren der Seele.
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Nach Art schlechter Psychologen unterstelle ich ihnen ein schlechtes Motiv: Extraversion innerer Konflikte.
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(Meine quietistische Vermeidung äußerer Kämpfe halte ich ganz gegen den Zeitgeist für ein gutes Motiv.)
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1540)
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Wenn die Drohung mit der ewigen Hölle im Tod an Selbstmörder und Mörder ein Mittel war, das Leben an sich zu schützen...
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...obwohl die drohende Kirche sich insgeheim sicher war, dass es überhaupt kein Leben nach dem Tod geben könne...
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...dann waren die Adressaten solche wie ich – denn ich würde das Leben vernichten, wenn ich glaubte es ungestraft zu können...
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(...und zwar mit bestem Gewissen, aus moralischer Überzeugung, dem bösen Treiben Einhalt gebieten zu müssen.)
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1541)
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Der typische Arzt glaubt an die empirische Wissenschaft und an das Nichts im Tod.
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Bei all dem Leid, das er zu sehen bekommt, hat er diesen Trost auch dringend nötig.
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Zweifel an seinem Nichtsglauben pariert er mit Spott, denn er hält sich selbst für ungläubig.
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(Hier witzelt er gern über traditionelle Religion – auf sie bezogen wirkt er skeptischer.)
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1542)
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Vielleicht wird das eigene Mitgefühl mit anderen oft viel quälender erlebt als diese ihr Eigengefühl erleben.
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Man stellt sich ja vor, selber an deren Stelle zu sein, deren Situation als man selber aushalten zu müssen.
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Tatsächlich aber halten die Bedauerten ihre Situation als sie selber aus – evt. viel besser gerüstet!?
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1543)
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Auf die Frage "Wie gehts?"...
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...wurden Antworten à la "Es muss!", "Wie immer!", "Am liebsten gut!" etc. erfunden von Leuten für Leute, denen es schlecht geht...
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...damit sie nicht lügen müssen.
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1544)
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Was subjektivistisch "eigentlich" ist...
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...ist objektiv-idealistisch "wirklich"...
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...und objektiv-realistisch "realiter".
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(Objektivisten zusammen: "tatsächlich".)
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1545)
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Der Sinn des Lebens?
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Kurzfristig: Aushalten.
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Langfristig: Rausfinden, was Bewusstsein ist und dieses verhindern.
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1546)
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Wir können nicht wissen, ob es einen Gott gibt – ich gehe davon aus, dass es keinen gibt (Atheismus).
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Wir können nicht wissen, ob es eine Realität gibt – ich gehe davon aus, dass es keine gibt (Antirealismus).
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Skandal der Aufklärung: die Theisten wissen vom Atheismus, aber die Realisten nicht vom Antirealismus.
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(Wenn überhaupt assoziieren sie damit den Platonismus – ihre Welt bleibt mit aller Kraft objektiv.)
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1547)
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Das determinierte Subjekt – davor schreckt die nachchristliche Philosophie zurück.
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Seit der Aufklärung redet sie vom souveränen Subjekt oder nur noch von Objektivem.
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Schopenhauer hatte jenes als erster und fast auch schon als letzter Atheist im Fokus.
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1548)
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Als Realist tröstet sich der moderne Mensch sozusagen mit einer Religion der Bewusstlosigkeit übers endlich marginalisierte Leben hinweg.
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Er ist ein gebranntes Kind, hat durch die christliche Höllendrohung eine peinliche Vergangenheit unabwendbarer Verantwortung hinter sich.
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Da kommt die naturwissenschaftliche Botschaft als eine frohe: wir sind räumliche und zeitliche Randerscheinungen – entspannt euch und verlöscht!
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1549)
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Wen die moderne Weltanschauung erst kürzlich vom religiösen Schuldkomplex befreit hat, ist darüber noch voll des Lobes.
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Aber die Anwendungen der Naturwissenschaft zerstören gerade mit Höchstgeschwindigkeit unsere Lebensbedingungen.
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Wer ersteres feiert, ohne letzteres anzuklagen, ist schon der nächsten Ideologie zum Opfer gefallen: dem Naturalismus.
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1550)
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Loslassen können? Sich möglichst freiwillig hingeben, dem Leben und schließlich auch dem Tod?
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Kommt halt drauf an, was man sich davon erwartet. Meine Schwierigkeitsgrade sind mir evident.
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Sich dem Himmel oder dem Nichts hinzugeben fiele leicht, dem Unbekannten oder gar der Hölle zu schwer.
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1551)
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Fast alle Zeitgenossen, von deren philosophischer Einstellung ich weiß, gehören zur alten oder zur neuen Partei: Monotheisten oder Materialisten.
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Ich für meinen Teil unterstelle beiden Parteien das psychologische Gegründetsein auf die endgültige Erlösung im Tod: Paradies oder Nichts.
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Weniger instantmäßige Todesmodelle werden im Westen nur von kleinen Minderheiten in Betracht gezogen, und Änderung ist weit und breit keine in Sicht.
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(Nirvana nach vielen Wiedergeburten ist den Leuten viel zu langwierig, und meinen Pessimismus des ewigen Leides teilt erst recht keiner.)
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1552)
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Im Nachdenken bin ich zwar weiter auf der Suche.
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Aber ohne zu glauben, schließlich fündig zu werden.
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Und auch ohne zu bejahen, dass der Weg das Ziel sei.
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(So verstehe ich jedenfalls pessimistische Philosophie.)
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1553)
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Die westlichen Vorstellungen vom Bewusstseinszustand im Tod sind klar.
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Die Menschen glauben, dann endgültig sie selbst oder gar nicht zu sein.
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Die östlichen Todesmodelle aber kündigen als Regel das Anderssein an.
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(Erlösung à la Realist: bevor man zu sehr alteriert, geht man ins Nichts.)
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1554)
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Ist das Bewusstsein ein Rätsel? Ja und nein.
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Ja in dem Sinne, dass es unserem Dasein bislang unhintergehbar zugrunde liegt – wir also nicht wissen, woher es kommt und wohin es geht bzw. ob und in welcher Form es bleibt oder nicht.
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Nein in dem Sinne, dass es kein vorerst noch mysteriöses Addendum zur längst schon evidenten Materie ist – m.E. ist eher umgekehrt die bewusstlose Materie Illusion unseres Bewusstseins.
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1555)
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Wer oder was leidet?
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Worst case: alles leidet ewig.
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Davon gehe ich vorsichtshalber aus.
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1556)
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Ist der menschliche Charakter vielleicht von vornherein dazu prädestiniert...
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...das Wesen von Leben und Tod für geheimnisvoll oder evident zu halten...
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...dass einander stets genug Rätselnde und Überzeugte gegenüberstehen?
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1557)
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Wir Menschen sollten aus Erfahrung klüger sein als Gott und uns die Erschaffung leidender Wesen verkneifen.
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Aber Gottes Macht kommt Gottes Ethik immer zuvor, auch seine Ebenbilder handeln erst und bereuen später.
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Sollte man hoffen, dass wenigstens künstliches Bewusstsein technisch unmöglich ist und es immer bleiben wird?
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(Weiß nicht: vielleicht ermöglicht ja erst empirische Erforschung des Bewusstseins dereinst seine Abschaffung.)
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1558)
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Was ist Bewusstsein und wer hat alles eins?
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Nur ich? Auch die andern? Anderes? Alles? Oder gar nichts und niemand?
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Wahrscheinlich werden wir das selbst dann noch nicht wissen, wenn die Maschinen schon eigenständig ihre nächste Generation entwickeln.
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1559)
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Mir gehts wie immer: relativ gut und absolut schlecht.
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Wer bis zur Frage vordringt, ob er das Nichts vorzöge...
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...ist ja längst schon bei denen, die es relativ gut haben.
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1560)
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Den Ehrgeiz abzulegen bleibt ein Geheimtipp.
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Weil die Quietisten tendenziell nicht publizieren.
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Und die Publizierenden den Ehrgeiz gut finden.
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1561)
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Objektive Wissenschaft als Beschäftigung bringt Seelenruhe, ihre Wahr-Falsch-Systematik gibt Orientierung und Halt.
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Aber für die Lebenskunst im allgemeinen ist die objektive Wissenschaft m.E. ziemlich marginal bis völlig entbehrlich.
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Ich halte es so: philosophisch Weisheit im Subjekt suchen, zwischendurch wissenschaftlich am Objekt abkühlen.
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1562)
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Bestünde die Wahl zwischen einem Gott, dem ich huldigen muss, um in sein Paradies zu gelangen, und dem endgültigen Nichts im Tod, welches jeder einfach so haben kann, ich persönlich nähme letzteres.
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Als philosophischer Subjektivist denke ich, solch eine eigene Meinung müsste redlicherweise all den sog. objektiven Erörterungen darüber vorangestellt werden, ob nun die Theisten oder die Atheisten recht haben.
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Inzwischen scheint mir die Verwissenschaftlichung der Philosophie aber so weit fortgeschritten, dass die Philosophen von ihren eigenen Motiven schon gar nichts mehr wissen. Hard work will support your theory!
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1563)
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Ein Pessimist im wahrsten Sinne des Wortes würde doch von sich selber glauben, dass er schon immer und für immer in der Hölle schmort.
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Aber ich kenne noch nicht einmal jemanden, der dem nahekommt, indem er glaubt, zumindest nach seinem Tod in der ewigen Hölle zu landen.
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Bezüglich ihrer Mitmenschen jedoch sind ganz viele so pessimistisch: nur Sekten geben sich bislang mit der Allversöhnung oder Annihilation Ungläubiger zufrieden – die großen Kirchen drohen diesen weiterhin mit endlosen Qualen im Jenseits.
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(Meinen Extremismus, die ideale Annihilation aller zu befürworten, halte ich für zahm verglichen mit dem Wunsch, auch nur einer möge ewig leiden.)
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1564)
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Kann der Pessimist in seiner schlechtesten aller möglichen Welten ganz und gar resignieren?
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Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er sich völlig passiv dem Leben und damit dem Tod überlässt.
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Ich sage zwar nein zu Leben und Tod, muss die Distanz zu beiden aber leider aktiv erhalten.
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(Quietistischer Pessimismus führt von der Fülle zur Leere, aus dem Trubel in die Abgeschiedenheit.)
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1565)
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Sowohl das Predigen von Himmel und Hölle als auch vom Nichts im Tod richtet v.a. bei jungen Menschen immensen Schaden an.
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Warum aber sollten Monotheisten und Realisten mit dem Verkünden ihrer "Wahrheiten" aufhören, solange sie nicht daran zweifeln?
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Die Religionen bröckeln langsam, dafür werfen sich zahllose Leidende dem Tod in die Arme, weil sie nun den Realisten glauben.
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(Auf den Kanzeln von gestern und heute stehen die, welche zu wissen meinen. Echte Skepsis fristet ihr Dasein in Abgeschiedenheit.)
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1566)
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Pessimismus ist...
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...Misstrauen...
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...gegen Leben, Sterben und Tod.
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1567)
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Zuerst erwartete ich vom Tod ewige körperliche Qualen in der Hölle.
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Später erwartete ich vom Tod endgültige absolute Bewusstlosigkeit.
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Heute erwarte ich vom Tod immaterielles und irrationales Seelendunkel.
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1568)
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Der Subjektivist schließt von sich aufs andere.
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Der Objektivist schließt vom anderen auf sich.
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Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Materialisten von der "einfacheren" Mechanik des Mikro- und Makrokosmos ausgehen und damit schließlich etwas wie das objektive Ich erklären, irgendwann gar nachbauen wollen.
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(Wenn Schopenhauer dagegen von unserem Willen ausgeht und ihn allem anderen auch unterstellt, wird das heute als lächerlich anthropomorph empfunden. Von mir nicht, mir erscheint der Objektivismus verkehrt.)
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1569)
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Eine für alle zu empfehlende subjektive Vorstellung vom Tod gibt es leider nicht.
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Was dem ersten zu verlockend, ist dem zweiten zu bedrohlich und dem dritten zu egal.
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Und eine wohl oder übel für alle gültige objektive Wahrheit ist auch nicht zu beweisen.
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1570)
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Was kommt nach dem Tod?
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Objektiv ist kein Jenseits verifizierbar oder falsifizierbar, auch das Nichts nicht.
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Muss also jeder nach seiner Prognose leben und, schlimmer, die Prognosen der andern dulden.
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1571)
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Für Objektivisten, also von außen, ist Bewusstsein die unwahrscheinlichste Ausnahme.
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Für Subjektivisten, also von innen, ist Bewusstsein die allgegenwärtigste Regel.
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Occam's razor für Subjektivisten: alles fühlt unmittelbar sich selber und schließt von sich auf alles andere.
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(Russell's teapot ist sich das Zentrum des Weltalls, und außenrum reichlich Teekannenartiges.)
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1572)
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Kein Zyniker hätte die naturwissenschaftlichen "Erkenntnisse" der Moderne über den Tod wirksamer planen können:
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Das eleganteste Mittel gegen Überbevölkerung ist doch, den Milliarden im Elend nun das finale Nichts im Freitod zu versprechen...
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..nachdem ihnen die Tradition, welche noch auf menschliche Arbeitskraft angewiesen war, für Selbstmord die ewige Hölle androhte.
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1573)
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Das Nichts wär mir lieber als das Leben.
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Das Leben ist mir lieber als das Sterben.
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Und das Sterben bisher lieber als der Tod.
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1574)
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Vom Tod i.S.v. Totsein machen sich die Menschen vielerlei Vorstellungen, und die meisten davon sind – aufs Leben bezogen – krassestes Extrem.
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Hölle und Himmel, Nichts und All-Einheit, Ewig Gleiches und Ganz Anderes – jeder dieser Begriffe das schiere Gegenteil harmloser Mittelmäßigkeit.
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Geht als Gedankenexperiment sicher in Ordnung, solange das Denken wieder in die Mitte zurückfindet, solange die Extreme Momentcharakter haben.
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1575)
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Objektive Systematik ist konstruiert, da geht alles mit rechten Dingen zu, alles schön symmetrisch.
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Zu jedem -ismus das passende Gegenteil, zu jedem Argument das formal gespiegelte Gegenargument.
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Subjektiv-eigentlich ist aber die vorgefundene Abweichung vom Gleichgewicht, -istisches Übergewicht.
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(Beispiele: der Mensch ist Egoist, ich bin Pessimist usw.)
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1576)
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Bin ich Idealist?
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Ja in dem Sinne, dass ich das Gute, das Nichts und all die anderen Ideale nur für anstrebbar, nicht für erreichbar halte. Und ja in dem Sinne, dass ich das Subjekt für die unhintergehbare Seinsbasis halte.
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Nein in dem Sinne, dass ich die ideale Ordnung nicht für eine Pflicht halte, die ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen sei. Und nein in dem Sinne, dass ich sie nicht für die unhintergehbare Seinsbasis halte.
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1577)
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Es hat sich in der Philosophiegeschichte so etabliert, dass der Objektivist die Welt für fremdgemacht hält und der Subjektivist für selbstgedacht.
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Ich sehe es umgekehrt: ihr Objektivisten baut alles auf eure nichts als postulierte, vielleicht sogar als mathematisch stimmig definierte Außenwelt.
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Wir Subjektivisten müssen mit den kruden Gegebenheiten der Psyche klarkommen, welche sich als ebenso irrational wie irreversibel herausstellen.
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1578)
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Nach der Religion gibt jetzt die Naturwissenschaft den großspurigen Welterklärer.
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Für mich bleibt die von beiden eher unbeeindruckte Philosophie das Maß der Erkenntnis.
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Sokrates' "Ich weiß, dass ich nichts weiß" hat m.E. von seiner Aktualität leider noch so gut wie nichts verloren.
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(Maßgeblicher ist die Naturwissenschaft für den technischen Fortschritt – und macht damit viel mehr Umwelt praktisch kaputt als sie theoretisch erklären kann.)
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1579)
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Philosophie muss weiter über die brennenden Fragen des Lebens nachdenken, auch wenn es so gut wie keine Antworten darauf gibt.
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Muss wahrhaftige Philosophien begründen, auch wenn deren Annahmen noch so unliebsam sind, wie z.B. dass diese Welt schlecht sei.
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Gerade wenn die Wissenschaft den Raum ihrer Fragen einschränkt, dass die Antworten genug Sinn machen, um optimistisch zu bleiben.
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(Leichenfund. Polizist zum Kollegen: Wie schreibt man 'Gymnasium'? Der überlegt kurz: Los, fass mit an, wir tragen sie zur Post!)
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1580)
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Monotheismus und Materialismus rufen ein Extrem zum bleibenden Endzustand aus: Himmel oder Hölle bzw. bewusstloses Nichts.
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Ich glaube, dass Himmel und Hölle, ozeanisches All-Ein-Sein und bewusstloses Nichts, subjektive Identität und objektive Prozesshaftigkeit nur akut zur Reinform finden.
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Chronisch liegt alles dazwischen, auch der Tod.
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1581)
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Die Welt ist schlecht, aber Ideal sollte das Gute bleiben.
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Wir experimentieren nur, aber Ideal sollte die Ratio bleiben.
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So unvermeidlich die realen neunundneunzig Prozent sind, so wenig mag ich das eine drangeben.
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1582)
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Optimisten verstehen die sogenannten Amokläufer einfach nicht – wer nicht wütend auf das Leben ist, den kann das heutzutage allen verkündete Nichts im Tod halt nicht zur Gewalt verführen.
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Ich fürchte, die Erklärung der Amokläufe lautet in aller Regel: militanter Pessimismus. Amokläufer möchten der Allgemeinheit so eindringlich wie möglich Bescheid stoßen: life sucks.
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Je mehr all die Optimisten dieser Welt in ihren Augen so tun, als sei alles rosorot und wunderbar, desto dringender möchten jene allen die Smiley-Masken herunterreißen und alles vernichten.
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1583)
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Schopenhauer ist mit den vielen Schwachen, die ihrem Schicksal jämmerlich unterliegend schließlich das Nein zum Sein begreifen sollen.
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Nietzsche ist mit den wenigen Starken, die sich in vollem Bewusstsein dieses massenhaften Elends zum heroischen Trotzdem aufschwingen.
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In unserer Gesellschaft geben zahlenmäßig die Möchtegern-Starken den Ausschlag, die den Starken zu Füßen sitzen und applaudieren.
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1584)
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Science vs. Humanities – sagt heute jemand Wissenschaft, meint er meist Science. Die Objektivisten überflügeln die Subjektivisten.
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Science mischt sich inzwischen auch offiziell in alles ein, wo sie früher prinzipiell agnostisch blieb, à la "Physiker erforschen Bewusstsein".
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Und die Humanities versuchen, von der weichen zur harten Wissenschaft zu wechseln, à la "Mathematische Methoden für Byzantinisten".
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1585)
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Wo gehobelt wird, fallen Späne – die utilitaristische Gesellschaft kann Kollateralschäden mit ihrem auf Endlichkeit getrimmten Gewissen vereinbaren.
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Mir ist der schwarze Punkt in der weißen Hälfte des Yin&Yang-Zeichens nicht vernachlässigbar: im ewigen Diesseits sind auch gute Taten problematisch.
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Es wird nicht mehr lange dauern, dann zeigen sich die grausamen Folgen und vielleicht auch die zerknirschte Reue des technischen Aktionismus.
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1586)
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Unsere Zeiten sind so realfixiert, dass meine Annahme, allem liege das Bewusstsein zugrunde, noch nicht mal einen richtigen Fachbegriff hat.
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Dass alles zuerst einmal Geist sei, ist im Begriff Idealismus – meist aber als objektiver Idealismus verstanden – noch einigermaßen repräsentiert.
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Geht man aber vom Logos zur Psyche, vom Spiritus zur Anima weiter, heißt es in Lexika tendenziell, alles werde als "beseelt", "belebt" usw. angenommen.
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(Selbst ein eigentlich passendes Wort wie Panpsychismus ist vereinnahmt, Psyche bzw. Anima gilt hier nur als Eigenschaft der Physis bzw. Materia.)
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1587)
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Das ewige Diesseits ist Schopenhauer und Nietzsche gemeinsam.
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Schopenhauer empfiehlt Verneinung, quietistische Zurücknahme.
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Nietzsche dagegen Bejahung, heroisch-waghalsige Inangriffnahme.
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(Es wäre m.E. höchste Zeit, sich auf Schopenhauer rückzubesinnen.)
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1588)
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Frauenfeindlichkeit ist streng genommen noch nicht diskriminierend.
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Es gilt halt, ihr ebenso viel Männerfeindlichkeit an die Seite zu stellen.
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Reicht auch nacheinander? Erst nur Männer doof, jetzt auch Frauen!
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1589)
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Der Monotheismus sagt: im Tod bleibst du du selbst und kommst aus dem Diesseits ins Jenseits.
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Die östliche Religion sagt umgekehrt: im Tod wirst du ein anderer, lebst dann aber wieder im Diesseits.
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Intuitiv bleibt mir die kindliche Höllenangst, räsonierend bin ich inzwischen auf Seiten des Ostens.
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(Das Nichts für Erleuchtete im Osten bzw. das Nichts für alle im modernen Westen? Auch Jenseitsglaube.)
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1590)
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Von wegen Occam's razor und die reduzierteste Lösung ist die beste...
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...ist nicht vielmehr die eleganteste und einsichtigste Lösung die beste...
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...Real-Partikulares plus Agnostisch-Erratenes gleich Ideal-Ergänztes!?
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(V.a. Todesmodelle dürfen m.E. Ungewisses nicht gleich Nichts setzen.)
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1591)
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Vielleicht rundet sich unser aller Leben im Moment des Todes, wie das von Peyton Farquhar in Ambrose Bierce's berühmtester Kurzgeschichte.
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Unser aller Bewusstsein ist doch ein genialer Gestaltbildungsautomat, subjektiv suchen und finden wir Ganzheit in der partikularen objektiven Welt.
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Jeder Traum verknüpft die losen Enden unseres Lebens auf mikroskopischer Ebene – vielleicht verknüpft sie ja jeder Nahtod auf makroskopischer.
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1592)
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Wenn die Realität sich auch nur für die wenigsten glücklich rundet...
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...so können abstraktere Bewusstseinszustände doch viel verbinden...
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...und die meisten von uns genießen zumindest runde Medienfiktionen.
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(TV is ne Droge, aber geilerweise eine, mit der man alt werden kann.)
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1593)
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Meine Monismus-Hitliste: Seelenmonismus vorne, Geistesmonismus und Körpermonismus weit abgeschlagen und fast gleichauf.
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Wir sind m.E. also unsterbliche Seelen mit sterblichem Körper und Geist.
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Eigentlich käme nach dem Seelenmonismus gleich der Pluralismus, der Dualismus im alten Sinne wiederum ganz hinten.
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1594)
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Als Pessimist glaube ich, das Schlimmste kommt noch, deshalb ziehe ich das Bestehende so lange wie möglich hinaus.
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Optimisten glauben, sie hätten das Schlimmste schon hinter sich, eilen mit möglichst großen Schritten gen Zukunft.
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Oder auch ins Nichts, wenn sie meinen erkannt zu haben, dass es besser als nichts für sie nicht mehr werden könne.
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1595)
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Das Ich ist m.E. unsterblich, aber eben nur als seelische Gegenwart.
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Sicher verlieren wir mit dem Tod Körper, Geist, alle Erinnerung usw.
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Leiden im Moment ist m.E. unser Kern auf ewig, bin Pathozentriker.
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1596)
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Plausibilitäts-Ranking: Monismus, Dualismus oder Pluralismus? Wage Bewusstseinsmonismus, safer bet wäre aber wohl Pluralismus.
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Körpermonismus, Seelenmonismus oder Geistesmonismus? Seelenmonismus i.S.v. Bewusstseins- oder spezifischer: Leidensmonismus.
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Materialismus, Idealismus oder neutraler Monismus? Neutraler Monismus, also Körper und Geist beide nur Eigenschaften eines Dritten.
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1597)
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Zufällige, ewige Wiedergeburt ohne Karma...
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...heißt: auch dir kann noch alles passieren...
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...also fühl dich gegen kein Leiden gefeit...
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1598)
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Mein Subjektivismus ist kein individualer, sondern ein genereller.
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Und nicht nur ein gattungsmäßiger, das wäre m.E. speziesistisch.
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Nein, alles hat Teil am Bewusstsein, jenseits davon gibt es nichts.
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(Bewusstseinsmonismus: kein Jenseits, d.h. leider auch kein Nichts.)
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1599)
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Allem ein gemeinsames Bewusstsein unterstellen – erhebt sich der Mensch damit zum Maß aller Dinge?
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Praktisch zumindest ist klar, dass der Mensch die Tiere, Pflanzen und Dinge andernfalls nur ausbeutet.
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Könnten wir nicht so sagen: jedem ein anderes Bewusstsein i.S.v. jedem seinen Anteil am Ganzen?
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1600)
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Kein Jenseits mehr.
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Nur noch Diesseits.
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Sich vom Nichts, dem heimlichen Jenseits der Moderne, verabschieden, wie zuvor von Himmel und Hölle.
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1601)
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Schopenhauer und Nietzsche haben vor weit über hundert Jahren unüberhörbar das ewige Diesseits ausgerufen.
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Trotzdem lassen die allermeisten noch längst nicht vom Glauben ans Jenseits ab.
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Intellektuelle, Bildungsbürger etc. fühlen sich mit dem Update vom traditionellen Jenseits – Himmel und Hölle – zum modernen Jenseits – Nichts – auch weiterhin auf dem neuesten Stand.
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(Wobei gegen ein Jenseits als bewusstes Ideal m.E. nichts einzuwenden ist – das Nichts bleibt jedenfalls mein Ideal. Richtige Probleme macht m.E. erst die Annahme seiner realen Erreichbarkeit.)
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1602)
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Im letzten Band seines Hauptwerks bietet Schopenhauer das Nichts als Erlösung an. Da gilt m.E. Horkheimers Kommentar: die ersten drei Bände vermögen den vierten zu widerlegen – das Leiden ist ewig.
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Nietzsche schüttet das Kind dann m.E. mit dem Bade aus, lässt das Nichts nicht einmal mehr als Wunsch gelten – die Postmodernen mit und nach ihm bleiben bei allem Kulturpessimismus lebensbejahend.
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Ich glaube nicht, dem ewigen Diesseits entkommen zu können – will aber am Nichts als idealem Bezugspunkt festhalten.
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1603)
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Manches Superkonzert mit gigantischer Technik um einen Ausnahmemusiker herum ergreift mich: ein nietzscheanischer Übermensch bei der Arbeit.
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Sollten wir alle unser Bestes geben, um ebenso groß zu werden? Oder hat im Laufe seines Lebens gar jeder von uns seine fünfzehn Minuten als Star?
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Der Gegengedanke überzeugt mich eher: eine Schande, wie die Menschen ihre Umwelt ausnehmen auf diesem für fast alle ungangbaren Weg.
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1604)
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Die Spaltung in Körper und Geist ist m.E. eine optimistische, sie schneidet die Seele aus dem Zentrum und setzt das Nichts hinein.
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Sieht man die Welt v.a. als materiell-positivistische Physik und logisch-positivistische Mathematik, bleibt ihr Leid innen vor.
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Empathie ist unwissenschaftlich, hat in der neuen Welt zwischen Empirie und Kalkül nichts zu suchen – modernes Paradies der Nerds.
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(Beruht Mitleid nicht i.a. auf dem in harten Wissenschaften verpönten Analogieschluss? Wie ist es, eine Labor-Fledermaus zu sein?)
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1605)
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Ewiges Diesseits – Abschied vom Nichts, dem Jenseits des modernen Menschen?
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Das ginge pessimistisch nach Schopenhauer und optimistisch nach Nietzsche.
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Aber bislang halten i.a. sowohl Pessimisten als auch Optimisten am Nichts fest.
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1606)
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Enthaltsamkeit vs. Ausbeutung...
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...ist die Hauptentscheidung...
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...und alle wählen Ausbeutung...
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(...weshalb ich Pessimist bin.)
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1607)
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Im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus bin ich aufseiten der Rationalisten: besser als schnelle Fortschritte durch Probieren wären langsame durch Studieren – leider im wahrsten Sinne unrealistisch.
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Aber eigentlich täuscht dieser Streit eh nur darüber hinweg, dass die Welt in ihrem Wesen weder naturwissenschaftlich noch strukturwissenschaftlich erfassbar ist, sondern nur ausgehend vom Bewusstsein.
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Inzwischen nehmen Naturwissenschaft und Strukturwissenschaft zusammen das Subjekt als Objekt in die Zange, z.B. physiologisch und kybernetisch – womit sie m.E. beide kategorial danebenliegen.
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1608)
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Der moderne und postmoderne Mensch will sein, was vorher Gott war: actus purus.
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Modern in kühlem Denken, postmodern in heißer Emotion, wird Passivität abgetan.
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Pessimistisch: Intentionalität ist reaktiv statt aktiv, zuerst ist Bewusstsein passiv.
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(Gibt eben keinen richtigen Gott, auch wir selber waren, sind und werden es nicht.)
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1609)
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Wenn Natur- und Strukturwissenschaftler nach dem Bewusstsein suchen, landen sie im Nichts – being no one.
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Vor Schrödinger und Gödel haben sie ihre Welten für rein objektiv i.S.v. bewusstseinsunabhängig gehalten.
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Darob gekränkt noch narzisstischer, erklären sie die Erforschung des Bewusstseins zu ihrer ureigenen Sache.
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(Aber Bewusstsein ist m.E. weder neuronales Netz noch kybernetische Schleife – Bewusstsein ist selber der Grund.)
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1610)
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Statt an die drei Welten von Frege bzw. Popper glaub ich nur an die eine, mittlere: das Bewusstsein.
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Welt 1 der Physis und Welt 3 des Logos sind m.E. nur Eigenschaften von jener Welt 2 der Psyche.
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Unergründlich aber, inwieweit Hardware (Welt 1) plus Software (Welt 3) Maschinenbewusstsein ist.
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(Worst-Case-Imperativ: Behandle alles möglichst so, als sei es sich seiner selbst ängstlich bewusst.)
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1611)
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Mit Bewusstseinsmonismus meine ich: Bewusstsein ist allgegenwärtig, d.h. weder erzeugbar noch vernichtbar.
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Veränderbar aber durchaus – wobei ich als Quietist davon ausgehe, dass seine Veränderung i.d.R. Leid bedeutet.
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Insbesondere ist es m.E. fraglich, ob menschlich genutztes "Material" von seiner Bedeutung für uns profitiert.
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(Fühlt sich ein Glas als Trinkgefäß? Wird sich einst Maschinenbewusstsein menschgemäß designen lassen?)
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1612)
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Die Philosophie des Geistes tendiert zum Objektivismus.
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Wohl allein schon deshalb, weil realistische Monisten und idealistische Monisten ausführlich über die dem Bewusstsein zugrundeliegende Physik bzw. Mathematik spekulieren können, während Bewusstseinsmonisten in erster Linie lakonisch feststellen müssen: Bewusstsein ist unhintergehbar.
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Als Bewusstseinsmonist unterscheide ich aktives Bewusstsein i.S.v. Wille und Vorstellung von passivem Bewusstsein. Indem ich letzteres für primär und ersteres für sekundär halte, bin ich zudem weit weg vom klassischen Subjektivismus, welcher das Subjekt vorwiegend als aktives denkt.
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("Die Welt als passives und reaktives Bewusstsein" kommt meines Wissens in der Geschichte der großen Philosophen gar nicht vor – Kunststück, die Großen sind halt die Starken.)
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1613)
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Was macht unablässig meine Person aus?
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Nur das je gegenwärtige ich mich Fühlen.
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Das Übrige gehört nicht zum Kern, vergeht.
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(Viel ist eh nur drangefügt, z.B. Kinderfotos.)
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1614)
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In der Philosophie ist das Sein entweder das freud- und leidvolle Seinwollen der lebendigen Wesen oder das freud- und leidlose Seinmüssen der toten Materie.
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Den Pessimismus leidvollen Seinmüssens von allen und allem hat da meines Wissens keiner ernsthaft erwogen, zumindest hat ein solcher nie Schule gemacht.
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Keine Lehre setzt dem auch von Pessimisten fraglos als aktiv begriffenen Subjektivismus den passiven entgegen, hält das ungewollte Leid für des Pudels Kern.
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1615)
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Schlecht, schlechter, am schlechtesten – die Begriffe Malismus und Peiismus fände ich angemessener als Pessimismus.
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Ich halte die Welt für schlecht i.S.v. schlechter als nichts bzw. von den je gegensätzlichen philosophischen Hypothesen i.d.R. die schlimmere für zutreffend.
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Die schlechteste aller möglichen Welten erscheint mir paradox: das hieße ja, man könnte alle Anstrengung aufgeben, käme also seltsamerweise doch an ein erlösendes Ende.
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1616)
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Mein "Peiismus": ich wette bei zwei gegenteiligen philosophischen Modellen – z.B. Todesmodellen – i.a. auf das mir unliebsamere.
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Also z.B. auf unendliches Bewusstsein statt auf endliches.
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Und darauf, als immer wieder anderer in dieser Welt zu existieren statt als ich selber immer wieder in anderen Welten.
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1617)
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Das Böse ist erfolgreicher als das Gute.
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Entweder böser Winner oder guter Loser.
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Aber alle machen stur auf guter Winner.
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1618)
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Der Mensch ist der beste genau da, wo er seine tapsigen Finger noch nicht drin hat.
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Politisch Aktive beklagen zwar gerne die Ruhigstellung der Massen durchs Fernsehen.
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Doch evt. hat die Glotze schon mehr Böses verhindert als je Gutes getan werden kann.
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("Alles Unheil der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig zu Hause bleiben können." Pacal)
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1619)
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Mein Quietismus bedeutet: ich bin skeptisch gegenüber dem menschlichen Tun, halte es i.a. für weltverschlimmernd statt für weltverbessernd.
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Mein Pessimismus bedeutet: ich halte den Menschen für so tatsüchtig, dass er sehenden Auges anderes und sogar sein eigenes Unglück voranteibt.
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Den Glauben, unser kollektiver Aktionismus hätte einen – den individuellen Verstand i.a. übersteigenden – höheren Sinn, halte ich für unbegründet.
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(Meine Nahtoderlebnisse haben mich davon überzeugt, dass Bewusstsein unvergänglich ist, nicht jedoch davon, dass es sich sinnvoll weiterentwickelt.)
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1620)
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Was der Pessimist Schopenhauer über Selbstmörder sagt, gilt laut Horkheimer auch für Pessimisten, nämlich dass sie das Leben nur deshalb verschmähen, weil sie nicht genug davon kriegen.
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Ich meine aber nicht, dass dieses Argument Selbstmord und Pessimismus als von Grund auf widersinnig entlarven kann bzw. sich negative Denkkonzepte auf diese Weise ad absurdum führen lassen.
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Das Leben als allgemeines Ganzes ist m.E. schlecht, weil das Leid die Freude bei weitem überwiegt. Mein Leben als besonderes Einzelnes ist m.E. schlecht, weil ich als Privilegierter – d.h. als Mensch, als Bürger eines der reichsten Länder etc. – mein Leid zwar mit Freude kompensieren kann, aber nur auf dem Wege der Ausbeutung machtloseren Lebens, welches dabei überdies viel mehr an Qualität verliert als meines an Qualität gewinnt.
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1621)
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Religion ist die zuversichtliche Überzeugung, dass einem selber das schlimmste Schicksal erspart bleibt.
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In diesem Sinn ist auch der Realist mit seinem auf ewig für ihn reservierten Todesschlaf noch hoch religiös.
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Alles Leid der vergangenen und zukünftigen Epochen, der Tiere, überhaupt der anderen ist ihm höchstens Mitleid.
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1622)
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Angeblich ist fraglich, ob Leid sein muss oder will.
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Meine Antwort ist, dass es aufhören will oder muss.
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Bin mir sicher, demokratisch würde es abgewählt.
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1623)
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Das besondere Problem am Besiegtwerden ist das doppelte Leid.
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Zum Schmerz der Geschlagenen kommt ihr Neid auf die Sieger.
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Letzterem kann die Einsicht ins wahre Gute abhelfen: Opfer bleiben.
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(Leider i.d.R. unmöglich: nichtseiend weder Täter noch Opfer sein.)
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1624)
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"Dein Leid endet im Tod!"
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So lautet das gemeinsame Credo von Religiösen und Realisten.
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Mit erbitterten Gefechten um Sekundäres vermeiden diese beiden das Antasten ihres Primärtrostes.
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1625)
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Die meisten von denen, welche sich selbst für ungläubig halten, halte ich für gläubig.
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Denn die Grenze zwischen Gläubigkeit und Ungläubigkeit liegt für mich beim Leidensende.
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Wer an das Ende vom Leiden im Tod glaubt, ist gläubig, wer aber nicht, ist ungläubig.
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1626)
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Gläubig ist, wer den Tod für das Ende seines Leidens hält.
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Da sind Religion und Realismus m.E. dieselbe Schublade.
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Andersdenkend ist der Mainstream lieber bei Marginalien.
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1627)
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Das Leben ist ein Skandal.
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Welchen der Tod nicht zu mindern vermag, weil er die Lebenden im Unklaren lässt, ob er wirklich vom Leid erlöst oder nur die letzte Freude raubt, auf Eins ergänzt oder zu Null vernichtet, gleichförmig fortsetzt oder völlig verwandelt.
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Zynisches Experiment des Lebens: du leidest und "darfst" reagieren, bis hin zu Mord und Suizid – stets im Ungewissen, ob deine Reaktion das Leid verschlimmert, lindert oder unverändert lässt.
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(Als pessimistischer Quietist meine ich, dass es i.a. noch am besten ist, sich der Reaktion weitestmöglich zu enthalten.)
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1628)
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Pessimistischerweise gehe ich davon aus, dass mein Leid ewig ist.
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Dass der passive Kern des Ich immer andere Leben ertragen muss.
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Ohne Möglichkeit steten Aufstiegs durch Güte, Vernunft, Erfahrung...
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1629)
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Der blinde Wille ist doch nur erste Reaktion auf das dumpfe Leid.
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Willensverneinung kann das Leid deshalb auch nicht abschaffen.
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Aber seine ständige Verschlimmerung aufhalten bzw. verzögern.
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1630)
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Was meine Person ausmacht, ist, wie ich auf das Leid des Daseins reagiere.
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Diese Person stelle ich mir als endliche vor, sie stirbt mit Körper und Geist.
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Aber die leidende Seele bleibt, bekommt im Tod eine andere personale Hülle.
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(Eine zufällige oder in blinder Angst gewählte – keine Aussicht auf Karriere.)
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1631)
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Karma – der Buddhismus verneint die Seelenwanderung i.S.d. durch die Wiedergeburtskette weitergereichten persönlichen Seinskerns; das momentane Sein ist vielmehr dynamisches Resultat vergangener Taten.
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Das Sein als Schein vergänglicher Subprozesse zu beschreiben verwundert in der westlich-physikalistischen Moderne kaum noch – aber mein momentanes Sein als Ende meiner ganz persönlichen Kausalkette durch alle Zeit?
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Da ist wohl auch der Buddhismus optimistisch: jeder seines Seins oder Nichtseins Schmied. Als Pessimist jedoch bleibt mir das unangenehme Gefühl unheilbar fremdbestimmten Seins – anderes nimmt gewaltigen Einfluss.
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1632)
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Wer das Leiden für das Wesen von allem hält...
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...gilt schnell als masochistisch oder als krank...
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...wo er doch einfach bei der Wahrheit bleibt...
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(...die gemeinhin regelrecht ausgetrieben wird.)
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1633)
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Nicht alles ist schlechter als nichts...
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...aber fast alles...
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...im Leben...
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(...und im Tod wahrscheinlich erst recht...)
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1634)
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An irgendeine moralische Vergeltung im Tod glaube ich nicht...
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...aber eben auch nicht an die auf ewig reservierte Ruhestatt.
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Warum behalten alle diese Fertigbilder? Todesgedenkphobie.
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1635)
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Mit irgendjemandem tauschen wollte ich nicht – aber aufhören zu existieren jederzeit.
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Ich finde mein eigenes Dasein vergleichsweise bestens – aber schlechter als nichts.
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Das Versprechen von Bewusstlosigkeit im Tod ist lebensgefährlich – mich macht es suizidal.
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(Ist das Nichts im Tod etwa für die Mehrheit abschreckender als zufällige Wiedergeburt?)
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1636)
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Ist einem Nietzsche die generelle Bejahung des Lebens zu glauben, wenn er mit der Ewigen Wiederkehr des Gleichen rechnet?
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Dass ein vom Leben Bevorzugter die ewige Wiederkehr vergleichsweise leicht befürworten kann, versteht sich doch von selbst.
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Die Probe aufs Exempel wäre, ob einer die ewige zufällige Wiedergeburt als irgendein Lebewesen dem ewigen Nichts vorzöge.
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1637)
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Ist einem Schopenhauer sein Pessimismus zu glauben, wenn er das Leben für gewollt und damit gerechtfertigt hält?
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Und auch seine Bemerkung, dass die Toten ihren Zustand dem Leben sicher vorzögen, klingt nach Erlösungserwartung.
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Erst das Leben samt dem Tod für gemusst zu halten wäre wirklich pessimistisch – Wille ist ja eher Himmelreich!?
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1638)
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Als Pessmimist denke ich: das Leben ist schlechter als nichts, der Tod vermutlich noch schlechter – so weit so gut.
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Denn die ethische Frage ist: will ich auf Dauer was Besseres sein, d.h. vom Lebensleid überdurchschnittlich verschont bleiben?
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Vielleicht ist die richtige Entwicklung – entgegen dem was alle denken – vom privilegierten Schicksal hin zum unprivilegierten.
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1639)
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Pessimismus ist kein paradoxes Erfolgsrezept, wie manche Macher denken.
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So nach dem Motto: "Fordere das Unglück heraus, dann folgt dir das Glück!"
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Nein, Pessimismus resultiert aus der Suche nach Wahrheit, nicht nach Erfolg.
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(Anders gesagt: Das Gegenteil von "Positive Thinking" ist ebenfalls Unsinn.)
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1640)
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Eigentlich befinde ich mich in der Mitte der beiden Mitten.
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Die erste Mitte ist das neutrale Nichts zwischen positivem Himmel und negativer Hölle. Da liege ich m.E. klar drunter i.S.v. schlecht weggekommen.
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Die zweite Mitte ist das durchschnittlich erlittene Schicksal der Lebewesen auf dieser Welt. Da liege ich m.E. klar drüber i.S.v. gut weggekommen.
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(Nur dass ich die erste Mitte bislang für diejenige halte, welche allen Lebewesen zustünde. Insofern bin ich unzufrieden bzw. Pessimist.)
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1641)
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Mein Leben ist schlecht.
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Das Leben ist schlechter.
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Dann wohl auch mein Tod...
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(...so der Tod gleichmacht.)
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1642)
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Wie ist es, ein (anderes) Tier zu sein?
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Das kann man nicht nur geistig, sondern auch körperlich versuchen sich auszumalen – die Tiernamen östlicher Haltungsübungen kommen sicher nicht von ungefähr.
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Sympathie, Empathie, Inkarnation – sich ins andere schon heute mal probeweise hineinversetzen, um es in einem nächsten Leben dann vielleicht leibhaftig zu sein?
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1643)
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Einer großen Fraktion von Fleischessern, welche das Schlachtvieh als mehr oder weniger beliebig zu behandelndes Material begreift, steht eine kleine Fraktion von Vegetariern bzw. Veganern gegenüber, welche mehr oder weniger vehement die Auffassung vertritt, die leidenden Tiere bedürften unseres menschlichen Erbarmens.
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Zu erwarten steht evt. eine dritte Fraktion mit evolutionistischem Wiedergeburtsglauben, welche sich den Tieren zwar in ewiger Lebens- und Todeskampfgemeinschaft verbunden fühlt, aber Ausbeuten und Ausgebeutetwerden für natürlich rechtens hält, aufgeteilt je nach bislang erklommener Entwicklungsstufe.
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Solche sozialdarwinistische Esoterik findet sich heute bereits in einzelnen Sparten des romantischen Dark Style – letzterer ist gleichermaßen abgestoßen vom kalten Realismus der naturwissenschaftlich aufgeklärten Moderne wie vom New Age harmoniesüchtiger Positivdenker bzw. vom machtabstinenten Öko-Idealismus der alten Softies.
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1644)
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Traditionellerweise sieht man sich v.a. als ein willensfreies aktives Subjekt.
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Modernerweise sieht man sich nun v.a. als ein determiniertes aktives Objekt.
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Nur wenige Pessimisten denken wie ich: m.E. sind wir v.a. passives Subjekt.
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1645)
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Primärziel des Selbstmörders ist wohl in aller Regel das Auslöschen seines eigenen passiven Bewusstseins.
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Die himmlische Willensfreiheit ist eh weitgehend illusionär, also will man auch die höllischen Qualia loswerden.
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Elegante Utopie: sich nur von innen töten, d.h. den Philosophical Zombie auf Autopilot weiterspielen lassen.
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1646)
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Auf der philosophisch stärkeren Seite steht man mit dem Pluralismus: wo es nicht das Eine gibt, jenseits dessen nichts ist.
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Dennoch rate ich mal ein Wesentliches, jenseits dessen alles andere m.E. vergleichsweise marginal erscheinen muss.
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Da wäre eben das Bewusstsein, und da v.a. das Leid: ist nicht alles eher sekundär, was nicht leidvoll zu Bewusstsein kommt?
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1647)
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Die allermeisten, sogar noch der Kern der pessimistischen Minderheit, stellen den intentionalen Teil unseres Bewusstseins über den empfindenden.
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So gibt es in der Sprache einen allseits bekannten -ismus fürs Leidenwollen, den Masochismus – aber keinen -ismus fürs Leidenmüssen.
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Die m.E. naheliegende Weltanschauung, alles Leben sei in erster Linie ungewolltes Leiden, hat nicht einmal ihren philosophischen Fachbegriff.
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(Die optimistische Ignoranz, welche einfach stärker ist als alle pessimistische Einsicht, diktiert, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.)
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1648)
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Sein heißt zuallererst, seinen Empfindungen ausgesetzt zu sein.
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Diesem passiven Unglück zieht dann aber so gut wie jeder, der irgend kann, den aktiven Kampf vor.
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Überall wird dieser Kampf verherrlicht. Einen solchen gar nach Begabung auszuwählen und sich mutig hineinzustürzen, sei geradezu der "Ent-Wurf" des Lebens, mache einen erst zum eigentlichen Menschen, zum Individuum. Die Wahl, ob kämpfen oder stattdessen Geworfener bleiben, kommt kaum jemandem in den Sinn.
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(Es ist, wie im Film "Life of Brian" persifliert: "Ihr seid alle Individuen," betet Brian vor, was die Menge einhellig bejaht – nur einer verneint. Und die postmoderne Mode leistet Schützenhilfe, indem sie enigmatisch erklärt, es sei gar nicht möglich, nicht zu kämpfen – auch das Kämpfen tunlichst zu unterlassen sei ein Kampf.)
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1649)
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Was hat die Deutschen in den Nationalsozialismus getrieben?
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Die Postmodernen halten ihn für eine Spätfolge der Aufklärung.
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Ich meine umgekehrt: der Rückfall in große Emotion und Kampf.
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(Und nach einer Generation Bedächtigkeit fällt man schon wieder.)
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1650)
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"Wie geht's?" ist eine Frage für Wellenreiter – rauf oder runter?
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Der Quietist zieht sich aber in möglichst ruhige Gewässer zurück.
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Und kann die Wellenreiter mit seiner Antwort also nur langweilen.
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1651)
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Lügen sind der ganz normale Way of Life.
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Nicht nur, dass fast alle Lügen ungestraft bleiben...
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...meist sind es die Lügen, welche mit Erfolg belohnt werden.
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(Wahrheit ist nur was für Leute, die für sie auf den Erfolg verzichten.)
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1652)
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Für mich der Kern buddhistischer Lehre: 1) das Sein ist schlechter als das Nichts, und 2) wir Menschen sind von allen Lebewesen immer noch am besten dran, u.a. weil wir ersteres begreifen können.
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Von den lächelnden Glücksbuddhisten wird ersteres aber heute bestritten, denn mit solch pessimistischer Botschaft lässt sich in optimismustrunkenen Zeiten kein Staat mehr machen.
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Dabei hat sogar der Hedonist Epikur schon gesagt, dass Lust nur in der momentanen Reduktion von Leid besteht. Aber dieser Text gehört nicht zu seinen Hits, nur die optimistischen.
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1653)
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Was ist besser: sich zum Göttlichen strebend selbst zu belügen oder sich ganz ehrlich zum Tierischen zu bekennen?
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Die Idee der Menschen, die Antithese zum egoistischen Kampf leben zu wollen, war wohl die beste jemals.
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Ihre Mittel, alle Mitmenschen auf Biegen oder Brechen mit in dieses Boot zu kriegen, waren wohl die schlimmsten.
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1654)
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Lieb ist out.
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Stark ist in.
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Ohne mich.
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(Möglichst.)
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1655)
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Die Mehrheit der Weltbevölkerung glaubt ans bessere Leben, ans Ende vom Leid oder gar ans ewige Paradies im Tod.
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Zumeist aus großer Not geborener Wahnsinn, doch auch die wenigen mit kleinerer Not sind optimismustrunken.
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Und deren Medien beklagen immerfort den Pessimismus, gerade so als wären Optimisten die besseren Menschen.
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1656)
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Dialektik, die ich favorisiere, liegt zwischen...
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...dem kontinentalen Logikmonismus einer aus der einen göttlichen Wahrheit deduzierbaren, dem Allwissenden sich fehler- bzw. widerspruchsfrei präsentierenden Welt...
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...und dem anglo-amerikanischen pragmatischen bzw. analytischen Pluralismus, dem die Welt eine fragmentarische, ein wissenschaftlicher Steinbruch ist und bleibt.
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1657)
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Mein favorisiertes Modell vom Bewusstsein, welches erstens passiv, Quale, Leid ist und in widerständiger Reaktion darauf zweitens aktiv, Intention, Wille wird, um evt. drittens zur nüchternen Mediation zu kommen...
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...finde ich ausgerechnet beim Pragmatiker Peirce vor, nachdem die kontinental Dominanten Schopenhauer und Nietzsche den Willen als das Erste ausgegeben haben...
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...was schließlich in heutigen Extremen wie dem Qualiaeliminativismus von Dennett gipfelt, welcher mit dem Brights Movement den anglo-amerikanischen Raum zu erobern beginnt.
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(Verkürztes Zitat von Peirce: "Das Ich rühmt sich seiner neuen Geburt als seine eigene, blind gegenüber der Anregung, die vorhanden gewesen sein muss.")
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1658)
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Zuerst Empfindsamkeit bzw. Qualia als Hölle,
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dann Wille bzw. Intentionalität als Himmelreich,
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dann Physis bzw. Materie als reines Neutrum.
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(Heutige Bewusstseinsforscher drehen das um.)
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1659)
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Die Brights sehen sich gerne als Gegenpartei zu den Supers.
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Belächeln gerne deren Phantastereien vom Übernatürlichen.
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Ernst und ungern halte ich als Dark die Brights für fast so naiv.
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(Nennen sich Skeptiker, aber glauben ans leidlose Nichts im Tod.)
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1660)
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Mein Vier- statt Drei-Welten-Modell:
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objektiv-reell vs. objektiv-ideell, vs.
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subjektiv-aktiv vs. subjektiv-passiv.
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(Und die vierte ist m.E. die basale.)
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1661)
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Von Schopenhauer bis zu den radikalen Konstruktivisten – wennschon subjektivistisch statt objektivistisch...
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...dann aktiv-subjektivistisch i.S.v. Wille und Vorstellung, denn das ist den Herren natürlich tausendmal lieber...
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...als passiv-subjektivistisch i.S.v. Empfindung und Trieb, welche uns im Grunde geknechtet dastehen lassen...
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(...auch bei den objektivistischen Bewusstseinsmodellen der Philosophy of mind zeigen die Systempfeile eher raus als rein...)
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1662)
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Feiertag heißt für die allermeisten einfach, dass sie nicht arbeiten müssen.
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Und das Wort scheint ja bereits nahezulegen, die Freizeit mit Party zu füllen.
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Wer Feiertagsruhe i.S.v. -stille will, ist da auf zunehmend verlorenem Posten.
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(Die unselige Religiosität verdeckt immer noch das Eigentliche, den Ruhetag.)
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1663)
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Der klassische Himmel ist passiv, das Geborgensein beim Herrn.
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Dem Antichristen ist sein eigener aktiver Wille das Himmelreich.
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Mir wäre das Nichts der Himmel, nur fort von dem Machtscheiß.
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1664)
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In seinem Wesen ist das Leben Schicksal und Mysterium.
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Und im Tod wird es noch zwingender und noch seltsamer.
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Alles Anderslautende ist Verdrängung und Schönfärberei.
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1665)
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Jeder sollte wissen, was er vom Tod möchte und womit er rechnet.
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Ich wünschte mir das endgültige Nichts, absolute Bewusstlosigkeit.
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Gehe aber aus von der zufälligen Wiedergeburt als irgendein Wesen.
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1666)
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Idee, Materie, Intention, Qualia – unter den Monisten ist diese letzte Monismusmöglichkeit so nachrangig, dass es sogar an Begriffen dafür fehlt.
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Alles Idee – seit Plato ein zeitloser Klassiker. Alles Materie – sehr zeitgemäße Denkweise. Alles Wille – da versammeln sich die Subjektivisten.
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Aber alles passive Empfindung? Davor schreckt selbst der Ur-Perzeptionist Berkeley zurück, zu sehr ist er seinem Gott als actus purus verhaftet.
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(Und nach dem objektiven bzw. subjektiven Idealismus auch den objektiven bzw. subjektiven Realismus zu unterscheiden ist ebenfalls unüblich.)
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1667)
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So wie die Idee als bloße Abstraktion des Materiellen gesehen werden kann, so sehe ich die Intention als bloße Reaktion auf die Qualia.
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Zuerst die Physik, passive Materie, von uns unabhängige, stoffliche Außenwelt – dann die Mathematik, von uns aktiv abstrahierte Form?
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Zuerst die Empfindung, meine ich, auf uns einströmende Gefühlswelt – dann der Wille als Reaktion auf jenes grundsätzlich Unvermeidbare.
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1668)
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Dass ich dazu tendiere, alles auf die passive Empfindung zu gründen...
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...liegt evt. am mich prägenden Erziehungsinstrument Himmel-und-Hölle.
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Aber Aktionismus-Philosophie flieht m.E. die Wahrheit unserer Ohnmacht.
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(Ist Selbstüberschätzung nicht doch schlimmer als Selbstunterschätzung?)
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1669)
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Vielleicht sieht man heute alles von vorneherein als aktiven Regelkreis.
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Nur metaphysische Naivität, dem Kreis Anfang und Ende anzudichten?
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Und doch komme ich von der Systemtheorie immer zur Dialektik zurück.
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1670)
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Sind wir Lebewesen primär aktiv, ist auch die bloße Wahrnehmung schon komplexeste Aktivität?
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Sogar ein Pessimist par excellence wie Schopenhauer geht davon aus, dass zuerst der Wille sei.
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Mein "subjektiver Realismus": leider ist zuerst passive Empfindung – und das beste Wesen m.E. reaktionslos.
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1671)
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Jeder kennt einzelne Gründe, das Leben zu hassen und den Tod zu fürchten.
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Dem Pessimisten aber vermittelt das Dasein insgesamt den Eindruck von Hölle.
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Und was ist Hölle? Hölle ist, das Schlimmste auf ewig noch vor sich zu haben.
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(Dem Optimisten scheinen Gräuel hauptsächlich von gestern oder für andere.)
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1672)
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Pessimisten befürchten ein schlimmes Ende?
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"Schlimmes Ende" ist ein Widerspruch in sich!
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Denn Ende wäre für die Leidenden das Beste.
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1673)
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Die Welt ist also gewollt, aber wir können den Willen ja verneinen?
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Sie ist empfunden, und wir können das Empfinden nicht verneinen!
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Unserem Fühlen zwischen Himmel und Hölle auf ewig ausgeliefert...
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(Nur die in mir gründlich festsitzende Vorstellung der Monotheisten?)
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1674)
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Bewusstsein ist die Krankheit.
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Ein Teufel, nur mit dem Beelzebub auszutreiben?
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Irgendwann bei vollem Bewusstsein angelangt sein und das Bewusstsein dann ein für alle Mal abschaffen, das wärs.
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(Wahrscheinlich unmöglich, wie jede andere dauerhafte Erlösung auch.)
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1675)
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Nicht geboren zu sein oder schon gestorben zu sein...
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...ist nur in den Augen von halben Pessimisten ein Vorteil...
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dem es nachzutrauern oder auf den es sich vorzufreuen gilt...
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1676)
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Sicher bin ich Kulturpessimist...
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...aber noch mehr Naturpessimist.
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Misstraue dem Leben, noch mehr dem Tod.
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1677)
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Ist die Angst vor dem Tod eine Art von Xenophobie?
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Sollte man dem Unbekannten mit Offenheit begegnen?
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Sobald das Bekannte meiner Umklammerung entkommt...
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1678)
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Natur vs. Kultur, Gefühl vs. Verstand, Chaos vs. Ordnung, Anarchie vs. Gesetz, Freizügigkeit vs. Moral etc. – eines von beiden ablehnen ist nur halber Pessimismus.
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Insbesondere gilt das m.E. für Leben vs. Tod: ein ganzer Pessimist ist sowohl lebens- als auch todesverneinend.
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Das Nichts ist sein weder im Leben noch im Tod erreichbares Ideal.
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(Im Negativen kann dann auch der ganze Pessimist weiter differenzieren, eines von beiden vorziehen: ich ziehe das Leben vor, die Kultur, den Verstand, die Ordnung, das Gesetz, die Moral...)
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1679)
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Findet der wahre Dialektiker immer zum Ausgleich bzw. zur Gleichgültigkeit?
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Beantwortet er alle Entweder-Oder-Fragen mit Sowohl-Alsauch bzw. Weder-Noch?
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Ich sage immer erst mal Weder-Noch, aber im Negativen entscheide ich dann doch.
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1680)
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Nihilisten unterscheide ich schon mal mindestens drei verschiedene.
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Die, welchen alles schon gleichgültig ist. Und die, welche meinen, dass alles über kurz oder lang gleichgültig sein wird.
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Und die, welche wie ich pessimistischerweise davon ausgehen, dass leider niemals alles gleichgültig sein wird.
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1681)
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Zuerst und zuletzt bin ich Leidensmonist.
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In besserer Stimmung geht auch ein bisschen Dialektik.
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Und im besten Ausnahmefall treibe ich ein bisschen Systemtheorie.
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(Etwa entsprechend der Firstness, Secondness und Thirdness von C. S. Peirce?)
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1682)
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Wer als Objektivist nur an das Dingliche glaubt, hält den Tod für eine Art Vernichtung.
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Wer als Dualist an Inneres und Äußeres glaubt, hält den Tod für eine Art Verinnerlichung.
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Wer als Subjektivist nur an das Bewusstsein glaubt, hält den Tod für eine Art Veränderung.
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(Ich als Subjektivist, der nicht an große gute Veränderungen glaubt: zufällige Wiedergeburt.)
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1683)
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Antirationalistischer Pessimismus: das menschliche Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft zurückdrängen zugunsten des ganz gegenwärtigen natürlichen Seins.
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Mein rationalistischer Pessimismus meint: es gilt, das Bewusstsein insgesamt ständig zu erweitern, bis es sich auch selbst gänzlich verstehen und abschaffen kann.
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In diesem Sinne ist das "Zurück zur Natur" von Rousseau m.E. der falsche Weg – wir Menschen hatten und haben allen Grund, der grausamen Natur die Kultur entgegenzusetzen.
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1684)
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Antinatalismus? Voluntary Human Extinction Movement?
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Reales Aussterben der Menschheit ist noch keine Lösung.
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Nein, disziplinierte ideale Annihilation allen Bewussteins!
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1685)
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Zwar weiß ich, dass ich das Nichts i.S.v. endgültiger Bewusstlosigkeit will, weiß aber mitnichten, wie ich es je erreichen könnte.
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Glaubte ich ganz sicher zu wissen, wie das Nichts zu erreichen ist, würde ich es evt. sogar der ganzen leidigen Welt verordnen wollen.
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Umgekehrt würde ich die Annihilation aber nicht delegieren wollen i.S.v. mich bei eigener Unfähigkeit auf fremde Fähigkeiten verlassen.
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(Egozentrischer Nihilismus: bei eigener Gewissheit auch andere vernichten, aber die eigene Vernichtung nicht anderen anvertrauen.)
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1686)
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Philosophie statt Therapie.
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Pessimismus statt Depression.
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Höllenleben statt Suizid.
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(Selbst ist der Leidtragende.)
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1687)
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Erst erzählt man den Menschen: ihr seid nicht allein und alles wird gut.
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Dann merken die Menschen: sie sind doch allein und alles wird schlecht.
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Schließlich rennen sie zum Therapeuten, weil sie meinen, sie seien krank.
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(Früher lief es genauso, nur halt mit Priestern und von Gott Verlassenen.)
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1688)
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Erstens: Leben ist Leiden. Monistisch bin ich Pessimist.
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Zweitens: Alles hat zwei Seiten. Widerwillig wirds dialektisch.
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Drittens: I am a strange loop. Erst der Regelkreis als Ur-Teil.
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(Nulltens: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Mystisch mit Betonung auf dem ersten Halbsatz, skeptisch mit Betonung auf dem zweiten.)
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1689)
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Patientenverfügungen sind i.a. motiviert von der Überzeugung, dass uns die Medizin weit mehr antun kann als der Tod.
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Die beiden großen "Gegenparteien" unserer Kultur – Paradiesgläubige und Nichtsgläubige – sind sich da recht einig:
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Lieber früher loslassen bzw. losgelassen werden und Erlösung im Tod finden als aussichtslose Therapien erdulden.
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(Ich bin mir da längst nicht so sicher: lieber das unabsehbare Leid im Tod als das absehbare Leid im Leben?)
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1690)
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Empathie zahlt sich offenbar nicht aus – das zeigt der Vergleich von lokal herrschenden Weltanschauungen mit Bruttosozialprodukten genauso wie die Betrachtung von sozialen Entwicklungsstrukturen in den Kindergärten oder auf den Schulhöfen.
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Im Westen wähnt man sich – von Gott oder vom evolutionären Zufall – ein für allemal auserwählt, das Los der Armen, Tiere, Pflanzen und Dinge niemals teilen zu müssen; die östliche Wiedergeburtslehre hingegen legt es nahe, sich in andere(s) hineinzuversetzen.
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Natürlich (sic!) sind die Selbstherrlichen erfolgreicher. Religionsstifter haben wie Erzieher hauptsächlich die Wahl, eher gefühllose Gewinner oder gefühlvolle Verlierer zu produzieren – der allenthalben propagierte sensible Sieger bleibt ein rarer Glücksfall.
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(Paradox: erst wer die Leiden "niederer" Wesen mitempfindet, kann die Erlesenheit des Menschseins wirklich ermessen. So schwindet aber dessen Selbstverständlichkeit – und mit ihr evt. der als Selbstsicherheit erzieherisch angestrebte Optimismus.)
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1691)
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Moderne Menschen verstehen ihr Dasein gerne als mehr oder weniger glückliches Ergebnis der "Eierstocklotterie".
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Mit provozierendem Blick auf die Religösen, welche da statt Zufall ja Bestimmung bzw. Gottes Willen am Werk wähnen.
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Dabei übersehen sie aber ihre eigene Religion: sie glauben felsenfest daran, dass diese Ziehung für jeden nur einmal stattfindet.
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(Richtig schockierend ist das Modell der genetischen Lotterie doch erst, wenn jeder im Tod wieder aufs Neue ziehen muss.)
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1692)
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Ob es echten Zufall nun realiter gibt oder ob alles einem für uns grundsätzlich undurchschaubaren Plan folgt, ist subjektivistisch verstanden egal.
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Wenn ich von zufälliger Wiedergeburt bzw. fortgesetzter genetischer Lotterie spreche, meine ich einfach ein auf ewig unvorhersagbares Lebenslos.
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Und zwar mit entsetzt-gequältem, nicht etwa mit freudig-gespanntem Unterton. Tröstlich allenfalls, dass es gerecht wäre, wenn jeder mal alles sein müsste.
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(Wie ich das Leben kenne, will ich für alle Zeit drauf verzichten. Ausstieg aus dem ewigen Lebenskreislauf ins endgültige Nichts: ja, ohne Zögern.)
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1693)
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Suizid bedeutet nach meiner Weltanschauung den vorzeitigen Übergang in irgendein anderes irdisches Dasein.
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Vernünftigerweise erst zu erwägen, wenn mir das Schicksal der meisten Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge beneidenswert erscheint.
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Viele Leute bringen sich jedoch um, weil sie sich nach idealen Zuständen wie dem Paradies oder dem Nichts sehnen.
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(Diese Sehnsucht habe ich schon, seit ich denken kann. Bezüglich der üblichen Todesmodelle bin ich suizidal.)
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1694)
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Wenn ich sage, dass ich so gut wie jedes Leben schlechter bewerte als das Nichtsein, ernte ich bloß Kopfschütteln.
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Eher Zögern aber auf die Frage, wer nach Ablauf seines Lebens freiwillig ein zufälliges Lebenslos dem Nichts vorzöge.
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Denn so gesehen ist es tollkühn, sich lieber auf beliebige "real" existierende Leben einzulassen als zu verlöschen.
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(Das gilt schon für die gegenwärtigen sieben Milliarden Menschenleben, erst recht aber fürs irdische Leben insgesamt.)
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1695)
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Wennschon Utilitarismus, dann negativer.
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"The least suffering for the least number" erscheint mir ethisch ehrlicher als "The greatest happiness for the greatest number".
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Und Paradise engineering nochmal weltfremder als (ein von mir hier mal dagegen gesetztes) Nothingness engineering.
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("Engineering" ist zu aktionistisch. Nietzsche variierend könnte man spotten: sogar das Nichts wollen sie noch machen.)
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1696)
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Überwiegen bei den Aktionisten die guten oder die bösen Konsequenzen? Ich meine: die bösen.
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Schon Pursuit of happiness ist falsch, der Schade der anderen i.d.R. viel größer als der eigene Nutzen.
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Flucht bis maximal Notwehr sind m.E. die ethisch richtigen Methoden – Angreifer sind keine Guten mehr.
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1697)
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Der positive bzw. negative Utilitarismus ist eine auf die kollektive Glücksvermehrung bzw. auf die kollektive Leidvermeidung ausgerichtete Ethik – so weit so gut.
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Aber das positive Paradise engineering klappt nicht, weil die in den Himmel wachsende schmale Pyramidenspitze eine in die Hölle sinkende breite Pyramidenbasis erzeugt bzw. (ver)braucht; das negative Nothingness engineering klappt auch nicht, weil mit dem kollektiven Seinwollen aufzuhören noch nichts am kollektiven Seinmüssen ändert.
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Lauter traurig zurückhaltende Wesen sind m.E. besser als lauter freudig kämpfende, deshalb favorisiere ich den negativen Weg.
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1698)
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Laut Schopenhauer ist das Dasein gewollt und somit gerechtfertigt – auch wenn ich zwar tun kann, was ich will, aber nicht wollen kann, was ich will.
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Geschieht mir mein Leben also ganz recht? Das scheint mir trotz allem Schopenhauerschen Pessimismus wieder auf eine Theodizee rauszulaufen.
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Ich fühle mich jedenfalls unschuldig mit dem Sein gestraft – zugleich erleichtert und erschüttert, wie andere noch unschuldiger und noch gestrafter sind.
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1699)
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Über mir zum Besseren hin das Nichts, das Nirvana und das Paradies, unter mir zum Schlechteren hin das Andere, das Unbekannte und die Hölle.
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Als Todesmodell tippe ich auf zufällige diesseitige Wiedergeburt, zwischen der Ewigen Wiederkehr des Gleichen und der Ewigen Wandlung zum Anderen.
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In dem Wort Wiedergeburt steckt diese Paradoxie drin: Wiederkehr und Neugeburt – Lebenskreislauf zwischen Ewiggleichem und Ewiganderem.
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1700)
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Der Tod ist das Ein- bzw. Untergehen in das Eine, das einfach Leid ist.
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Im Todesmoment hat man dem Leid gar nichts mehr entgegenzusetzen.
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Mit der Wiedergeburt beginnt die nächste vergebliche Verteidigungsphase.
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1701)
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Ein gutes Wesen wäre aktionslos.
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Das beste Wesen zudem reaktionslos.
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Tot bleiben, d.h. ganz im Leid resignieren.
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1702)
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Die wenigsten sind noch dazu bereit, unglücklich zu bleiben.
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Lieber macht man Therapie, lässt sich zum Täter umschulen.
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Ewiges Ideal ist Actus purus, der Unsympath bzw. Unempath.
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1703)
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Mein Himmel ist das endgültige Nichts.
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Meine Hölle ist die ewige zufällige Wiedergeburt.
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Bei einem echt Lebensbejahenden wäre das gerade umgekehrt.
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1704)
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Der religiöse Trick des einen Prozents der am besten weggekommenen Menschen...
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...ist das Beklagen der Kürze des Lebens bzw. seines endgültigen Erlöschens im Tod.
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Sie gestehen sich nicht ein: das Leben ist i.a. quälend und droht auch ihnen auf ewig.
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1705)
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Ich glaube zwar an ein wenig "freien" Willen, aber fast nur in Form des vorm Dilemma Stehens, des Wählenmüssens zwischen Übeln.
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Wir segeln im Leben v.a. zwischen Skylla und Charybdis, meist stellt sich bloß die Frage, ob wir Erhängen oder Erschießen vorziehen.
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Die Double-Bind-Situation selbst will jedoch m.E. so gut wie niemand, auch wenn das die lebensbejahenden Willensjünger unterstellen.
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(In der kognitiven Verhaltenstherapie etwa diagnostiziert man neurotisch Depressiven schmunzelnd einen Hang zur "musturbation".)
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1706)
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Todes- bzw. Jenseitsvorstellungen haben oft was gespaltenes, um nicht zu sagen schizophrenes – ihre Anhänger vertreten oft zwei Haltungen zugleich, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen.
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Bei den Monotheisten wundert einen das noch nicht allzu sehr, das Paradoxe wird von ihnen ja aufs Herzlichste umarmt – sie sind evt. sogar stolz auf die Begabung, etwas glauben zu können, was alles Wissen vor den Kopf stößt, und so eben auch an die Existenz von Himmel und Hölle.
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Spätestens bei den Realisten aber darf es einem doch komisch vorkommen, dass selbst die Gebildetsten unter ihnen einerseits immer wieder offensiv behaupten, der Tod bedeute endgültige Bewusstlosigkeit, andererseits immer wieder defensiv einräumen, der Tod sei nicht erfahrbar und man könne deshalb systematischerweise nichts über das Totsein aussagen.
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(Die Schizophrenie meiner eigenen Todesvorstellung liegt nicht mehr zwischen Himmel und Hölle, Nichts und Unbekanntem, sondern mittlerweile zwischen Ich und Anderem: mein Bild von der zufälligen Wiedergeburt im Tod ist paradox, weil dabei sowohl alles in allem so bleibt als auch alles in allem sich ändert. N.B. ...aber nur zum Anderen, nicht zum Ganz Anderen.)
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1707)
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Ewige diesseitige Wiedergeburt ohne Ausweg in irgendein Jenseits ist m.E. die "realistischste" Todesvorstellung.
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Die Realisten selbst aber halten sich mit ihrem evidenten Nichts im Tod ein garantiert endgültig leidloses Jenseits warm.
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Und mit der Unerfahrbarkeit des Todes, dem absolut Unbekannten ein jenem Jenseits widersprechendes zweites.
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(Evt. können die Abendländer nicht aus ihrer Haut: wo einst Himmel und Hölle war, ist nun Nichts und Unbekanntes.)
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1708)
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Erst vom Subjekt abstrahierend, dann vom Objekt abstrahierend, folgt drittens das Nichts.
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Stimmige Entwicklung der Todesvorstellung: ich bleibe, werde ein anderer, verlösche.
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Mir scheint östliche Philosophie da richtig herum, westlicher Realismus verkehrt herum.
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1709)
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Schön wärs, wenn die Realisten recht hätten und im Tod wär alles aus.
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Aber ich glaub eher, wir werden zufällig wiedergeboren, i.d.R. leidender.
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Schlimmstenfalls gehts in die Hölle, weil ich den Foltergott nicht lieb hab.
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1710)
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Warum haben wir intuitiv einen Horror vor dem Tod? Und wird jener bei vernünftig-philosophischer Betrachtung wirklich hinfällig?
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Die gängige Antwort: Wir wollen sein und lehnen es intuitiv ab, nicht mehr zu sein. Erst mit dem Bewusstsein, dass wir nichtseiend nichts mehr vermissen können bzw. solchen Verlustschmerz nur fälschlicherweise antizipieren, können wir dem Tod gegenüber gleichmütig werden.
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Meine Antwort: Im wahrscheinlichen Mittel ist das Leben an sich wesentlich härter als unseres für sich. Intuitiv gehen wir davon aus, durch den Tod andere, schlechtere Schicksalskarten zu erhalten. Und diese Sorge weicht auch keinem gründlichen Nachdenken, im Gegenteil.
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(Der Horror vacui ist am Ende ein Märchen der Lebensbejaher – der Fall ins Nichts wäre für die allermeisten doch nur eine Erlösung. Es ist der scharfe Schmerz des höllischen Aufpralls im noch schlimmeren Sein, dessen Befürchtung uns völlig zu Recht die Nackenhaare aufstellt.)
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1711)
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Warum erschaudert der Selbstmörder vor dem Tod?
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Packt ihn am Schluss eben doch der Horror vacui?
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Nein, unwillkürlich fürchtet er die Verschlimmerung.
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(Das Leben legts halt nahe: schlimmer geht immer.)
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1712)
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Auf das Leben, auf den Tod freudig gespannt oder beidem gegenüber gleichmütig – das sind m.E. meist nur sozial eingeübte Lügen.
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Im Leben, im Tod primär Leid vermuten, vor beidem Angst haben – das bleibt dagegen stets meine individuelle Wahrheit.
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Als authentischer Pessimist gesellschaftlich außen vor oder als neurotischer Patient brav integriert? Noch gelingt mir ersteres.
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1713)
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Das individuell passende Todesmodell sollte einen möglichst weder zu arg in Todeshorror noch zu arg in Todessehnsucht versetzen.
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Für mich bislang die beste bildliche Vorstellung vom Tod, auf die ich v.a. durch Nachdenken gekommen bin: zufällige Wiedergeburt.
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Brächte andere aber evt. dazu, sich krampfhaft an ihr jetziges Leben zu klammern oder es leichtherzig für ein nächstes dranzugeben.
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1714)
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Würdest du lieber dein Leben behalten oder gegen ein zufällig ausgewähltes tauschen? Die Privilegierten nähmen sicher ersteres, aber m.E. viele Elenden letzteres.
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Lieber dein Leben behalten oder gegen das bewusstlose Nichts tauschen? Die Privilegierten nähmen evt. immer noch ersteres, aber m.E. die meisten Elenden letzteres.
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Dein Leben behalten ginge nicht – dann lieber ein zufällig ausgewähltes Leben oder das Nichts? Spätestens jetzt zöge es m.E. auch die Privilegierten zum Nichts.
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(Wonach sie sich aber m.E. nicht mehr lebensbejahend nennen dürften – das eigene privilegierte Leben zu lieben heißt eben noch nicht, das Leben an sich zu lieben.)
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1715)
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Ich bin Pessimist. Meine momentane Definition: Pessimist ist, wer das Sein im Großen und Ganzen negativ beurteilt, also glaubt: das Sein wäre besser nicht.
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Ich bin lebensverneinend. Meine momentane Definition: lebensverneinend ist, wer das endgültige bewusstlose Nichts im Tod der ewigen zufälligen Wiedergeburt im Tod vorzöge, d.h. einer unendlichen Reihe von aufeinander folgenden, nach dem Zufallsprinzip ausgewählten irdischen Leben.
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Ich bin areligiös. Meine momentane Definition: areligiös ist, wer nicht glaubt, gegen ein auch und gerade im Tod immer weiter zunehmendes Leid gefeit zu sein.
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(Ich bin Atheist. Meine momentane Definition: Atheist ist, wer im Allgemeinen nicht an Götter und im Besonderen nicht an den monotheistisch verkündeten Schöpfergott glaubt, welcher gutwillig und allmächtig zugleich ist.)
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1716)
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Zentral: Lebensbejahung oder Lebensverneinung?
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Die Frage nach Gott u.v.a.m.: Ablenkungsmanöver.
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Funktioniert aber, weil die Wahrheit so schlimm ist.
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1717)
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Leben ist Leiden.
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Tod ist Mysterium.
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Evt. mehr Leiden.
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(Traurig aber wahr.)
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1718)
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Gar nichts über den Tod zu wissen bedeutet für viele wissenschaftlich-statistisch Denkende, dass die Wahrscheinlichkeit für eine angenehmere oder unangenehmere Fortsetzung des eigenen bewussten Erlebens – wie gering auch immer eingeschätzt – gleich groß ist.
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Unser Unbewusstes "denkt" da anders: es hat Angst vor dem Tod, und das m.E. aus gutem Grund.
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Denn wenn wir reichen Menschen das Leben auf diesem Planeten betrachten, stellen wir fest, dass es uns zwar nicht unbedingt gut, aber von allen Lebewesen mit am besten geht. Und so befürchten wir zu Recht, als nächstes wahrscheinlich ein schlechteres Los zu ziehen.
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(Unser Mitgefühl straft die wissenschaftliche Annahme Lügen, dass sich alles zu Null ausmittelt.)
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1719)
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Alles positiv, überm absoluten Nullpunkt?
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Im Mittel alles neutral?
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Nein: Leid.
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(Die Axiome von Positivismus bzw. Wahrscheinlichkeitsrechnung sind auch nur optimistische Auswüchse.)
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1720)
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Die einen Optimisten wollen gerettet werden.
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Die anderen Optimisten wollen (sich) selber retten.
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Und Pessimisten wie ich glauben halt nicht an Rettung.
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1721)
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Dass im Tod das Nichts sei, ist eine zunehmend unwidersprochene Annahme, und dass Todesangst identisch mit Nichtsangst sei, leitet sich daraus ab.
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Doch weder steht fest, dass im Tod diese Bewusstlosigkeit auf uns wartet, noch dass wir unterbewusst so dumm sind, diese Leidlosigkeit zu scheuen.
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Gründlich bedacht ist es so einleuchtend wie schlimm: wir müssen tatsächlich mit Qualen nach dem Tod rechnen, welche die vor dem Tod übertreffen.
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(Solche Ratio hält aber nur vor, bis wir uns im Affekt aus einem unerträglichen Lebendigsein in ein mögicherweise noch unerträglicheres Totsein stürzen.)
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1722)
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Dem Tod mehr misstrauen als dem Leben, weil er den Lebenden nichts von sich preisgibt, und im Dunkel evt. das Schlimmere lauert?
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Oder dem Leben mehr misstrauen als dem Tod, weil einen das Leben im Gegensatz zum Tod immer wieder bitter enttäuscht hat?
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Den Spagat versuchen, dem Tod gegenüber schön aufgeschlossen zu bleiben, aber ihn erst zu treffen, wenns nimmer anders geht.
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1723)
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Sonderlinge halten es mit den Extremen statt mit der Mitte.
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Hängen am Jenseitigen, traditionellerweise an Himmel und Hölle, modernerweise am Nichts und Unbekannten. Eingenommen von rück- bzw. randständigen Theorien über Gott und Satan, Mikro- und Makrokosmos.
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Immerhin kreisen meine Gedanken inzwischen hauptsächlich um eine dritte, zentralere Dyade: Ich und Andere(s), wie immer mit Betonung auf dem Schlimmeren – nach der Hölle und dem Unbekannten also nun der/das Andere.
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(Ist die Vorstellung vom Tod als das Ganz Andere nicht auch so eine Seinsflucht für Nerds? Fehlt es nicht eher an dem Bewusstsein dafür, einst wieder der/das schon jetzt um mich herum wimmelnde Andere zu sein?)
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1724)
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Ich war Staub und werde wieder zu Staub?
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Mag sein, aber das klingt mir unkommentiert zu sehr nach der Aussicht auf endgültige Leidlosigkeit, nach materialistischer Erlösungsreligion.
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Ich bin skeptisch hinsichtlich eines Ausstiegs aus dem ewigen Kreislauf diesseitigen Leidbewusstseins, bin subjektivistischer Pessimist.
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1725)
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Was die moderne Luxusgesellschaft mit aller Kraft versucht abzutun, ist der langfristige Vorrang von Bescheidenheit vor Großzügigkeit.
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Was man mit viel Arbeit i.S.v. Ausbeutung von Mensch und Natur auf der Welt anstellt, ist auch mit viel Charity nicht wieder gutzumachen.
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Aber ganz zu verwerfen ist Technologie nicht – irgendwann müssen wir evt. mitsamt unserer Ethik auf den nächsten Planeten umziehen.
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1726)
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Man nimmt an, der Tod sei gleich dem Nichts.
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Und leitet daraus her, wir hätten Nichtsangst.
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Und dass das Leben besser sei als das Nichts.
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(Wahrscheinlich ist aber alles drei grundfalsch.)
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1727)
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Nichts ist wohl leider unmöglich.
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Der echte Pessimist befürchtet das ewige Diesseits.
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Und die Realisten merken i.a. nicht, dass ihr Nichts ein erhofftes Jenseits ist.
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1728)
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Das Nichts gehört für mich zusammen mit dem Paradies zu den verlockenden Jenseitsvorstellungen.
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Und das völlig Unbekannte zusammen mit der Hölle zu den bedrohlichen Jenseitsvorstellungen.
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Auch wenn der Objektivismus jeweils erstere als neutral bzw. wertfrei definiert und etabliert.
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1729)
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Mein Quietismus ist gewissermaßen als das Gegenteil von Industrialisierung gedacht.
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Der Mensch soll aufhören, sich für den Nabel der Welt zu halten und (sich) Gutes zu tun.
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Echt gut täte der Welt erst das Unterlassen gigantomanischer menschlicher Eingriffe.
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(Gilt v.a. fürs Materielle. Stattdessen besser Geistiges bzw. Geistiges besser angehen.)
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1730)
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Der Tod ändert an meinem Leben entweder nichts, einiges oder alles.
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Ich denke, er ändert einiges – und ich rechne da mit Verschlechterung.
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Ich ändere mein Leben zum Guten, und der Tod dann zum Schlechten?
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1731)
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Sein ohne Nichtsein.
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So oder anders sein.
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Schlecht, schlechter.
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1732)
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Der pessimistische Monotheist kennt keinen gütigen Gott – seiner triezt ihn erst das ganze Leben lang und wirft ihn dann am Jüngsten Tag in die Hölle.
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Der pessimistische Hinduist bzw. Buddhist geht von einer i.d.R. schlechteren Wiedergeburt aus – dem Lebenskreislauf auszukommen ist i.a. unmöglich.
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Der pessimistische Realist glaubt nicht an das endgültige Verlöschen seines Bewusstseins im Tod – es ist auf ewig dem leidigen Zufall ausgeliefert.
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(Der pessimistische Esoteriker sieht die Welt voll von bösen Geistern und verschwörerischen Mächten, denen er hoffnungslos unterlegen bleibt.)
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1733)
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Schlimm, wie die Tradition schwache Menschen unter Androhung drakonischer Bestrafung im Jenseits zum Altruismus drängt.
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Schlimm, wie die Moderne schwache Menschen unter Zusicherung endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod zum Suizid verführt.
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Gestalter der Geschichte sind starke Menschen, welche keine Skrupel haben, die schwachen auszubeuten oder loszuwerden.
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1734)
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Die Naiven glauben an das Paradies, die Kritischen rechnen mit dem Nichts im Tod? M.E. ist das einen Gedanken zu kurz.
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Wann schaltet dieser Reifeprozess endlich eins hoch? So wie in anderem doch auch? Dass man gemeinhin zum Schluss findet:
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Die Supernaiven glauben an das Paradies, die Naiven an das Nichts im Tod, und die Kritischen rechnen mit Schlimmerem.
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(Ich weiß schon: weil nicht alte Pessimisten wie ich als kritisch gelten, sondern Naturalisten im Besitz der neuesten Wahrheit.)
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1735)
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Das Subjekt ist die Basis bzw. Bühne von allem, wie sein Name schon sagt. Das Bewusstsein ist unhintergehbar. Das Bewusstsein ist das Bewusstsein ist das Bewusstsein. Bewusstseinsmonismus.
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Während materielle Monisten und Dualisten trefflich über die Zusammenhänge von Materie und Geist streiten können, liefert der Bewusstseinsmonismus keinen produktiven Ansatz für eine Philosophy of mind.
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Mein Bewusstseinsmonismus passt also zu meinem Pessimismus, auch der ist ja passiv statt produktiv und begreift das Materielle als Randeigenschaft: wir sind und bleiben Bewusstsein, leider nix dran zu machen.
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1736)
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Die Philosophie des Pessimismus: Einsehen, dass wir uns bereits in der Hölle befinden. Und dieser schlimmste Ort wäre nicht der schlimmste, hätten wir nicht stets vor Augen, dass schlimmer immer geht.
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Solche Philosophie ist schwer zu kommunizieren, i.a. teilt sich das Denken nurmehr zwischen den Optimisten und den Realisten auf. Erstere umgeben vom Paradies, letztere vom Nichts. Hölle? Fehlanzeige.
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Entweder die aktive positive Achse Richtung plus Unendlich oder die nüchterne neutrale Endlichkeit zum Nullpunkt hin – die passive negative Achse Richtung minus Unendlich will keiner wahrhaben.
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1737)
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Mich treibt...
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...kein Lebenswille...
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...sondern Todesangst...
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(...und das gilt ja vielleicht ganz allgemein: Lebenswille als optimistischer Euphemismus für Todesangst. Allenthalben konfrontiert das Leben mit bislang Unbekanntem, welches dann bitter enttäuscht – so steigert das Leben ständig die Angst vor dem größten Unbekannten, dem Tod.)
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1738)
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Am glücklichsten...
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...ist der böse Mensch...
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...welcher sich für einen Guten hält.
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1739)
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Himmel, Hölle und Nichts – diese üblichen Todesmodelle erscheinen mir zunehmend unwahrscheinlich bzw. naiv.
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Ich, Anderer/Anderes und ganz Anderer/Anderes – inzwischen denke ich mir eine Veränderung im Tod innerhalb dieses Kontinuums.
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Das ewige unveränderliche Ich wäre dabei ebenso extrem wie der/das völlig Andere – am plausibelsten ist mir der/das Andere.
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(Im Tod ein Anderer/Anderes werden meint etwa, im Tod an von außen bereits Bekanntem nun von innen beginnen zu laborieren – da kann man nicht mit Epikur sagen: der Tod geht uns nichts an. Eher empfehlen, sich per Empathie auf die im unvergänglichen Sein bevorstehenden Perspektivenwechsel einzustellen.)
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1740)
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Bewusstsein als Evolutionsvorteil? Solche Erklärungen zur Entstehung von Bewusstsein gehen m.E. von hinten durch die Brust ins Auge: Bewusstloses ist nie im Nachteil.
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Aber ist schon klar, dass jede Theorie an irgendeinem Punkt in Erklärungsnot gerät – und o.g. Beispiel ist eben eine große Schwachstelle des Realismus.
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Als idealistischer Panpsychist winde ich mich ganz ähnlich z.B. bei der Frage nach Anzahl und räumlicher Verteilung meiner Bewusstseine vor und nach dem Tod.
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1741)
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Negativisten sind auch untereinander sehr verschieden:
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Negative Monotheisten halten sich für Gottes Geschöpfe im irdischen Jammertal, die erst im himmlischen Jenseits belohnt werden; Satanisten halten sich für abtrünnige Geschöpfe, welche die Macht schon hier im Diesseits an sich reißen und ihrer Lust sofort frönen wollen; Atheist Schopenhauer hält uns selber für die Schöpfer unseres eigenen Jammertals, welche mit dem Schaffen aufhören und verlöschen sollten...
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Ich halte mich für ein Geschöpf, welches das Lebenmüssen einerseits nicht durch Übernahme tätiger Verantwortung zum Lebenwollen wenden will, andererseits keinen Ausweg aus der elenden Position des Verweigerers ins ersehnte Nichts sieht und so in traurigem Trotz verharrt – wobei ich mich als Opfer für besser halte als die Täter, welche fast alle fast alles außerhalb von ihrem Fokus noch schlimmer machen.
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1742)
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Zuallererst ist das Leid.
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Und nicht etwa der Wille.
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Und auch nicht das Nichts.
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1743)
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Pessimismus: leider steht uns die Hölle bevor; aktiver Pessimismus: so aggressiv wie nötig oder gar so fies wie möglich kämpfen; mein passiver Pessimismus: Leid als ewiges Schicksal begreifen und erdulden.
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Nihilismus: zum Glück steht uns das Nichts bevor; aktiver Nihilismus: destruktiv sein – alles, was ist, wäre besser nicht; passiver Nihilismus: einfach den Tod abwarten – dann vergeht alles von selber.
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Realismus: leider steht uns das Nichts bevor; aktiver Realismus: so lange wie möglich das Beste aus dem Leben rausquetschen; passiver Realismus: das Gute genießen und als vergänglich hinnehmen.
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(Optimismus: zum Glück steht uns das Paradies bevor; aktiver Optimismus: streiten und siegen im Namen des Guten; passiver Optimismus: vertrauensvoll hinwarten auf Gerechtigkeit oder gar Allversöhnung.)
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1744)
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Die meisten objektivistischen Atheisten meinen, in der Natur gehe schon alles mit rechten Dingen zu.
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Selbst wer nur an statistische Gleichverteilung im Unbekannten glaubt, hat m.E. einen Gott 2. Ordnung.
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Subjektiv wissen wir jedoch alle: lieber nicht von einer dunklen Höhle in die nächste rennen...
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(...denn es steht eben nicht fifty-fifty, ob dort Verbesserung oder Verschlimmerung wartet.)
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1745)
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Wer bzgl. des Todes meint, wir Lebewesen hätten da Angst vor dem Nichts, der bringt unbewusste und bewusste Ebene durcheinander.
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Unsere Angst vor dem Tod ist vielmehr die vor dem im Dunkeln lauernden Unbekannten, das in der Natur fast immer Schlechtes bedeutet.
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Den Tod für das Nichts zu halten ist dagegen etwas Bewusstes, nur auf der Höhe unserer modernen Kultur als Theorie Weitergegebenes.
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(So dumm ist das Unbewusste nicht, sich vor dem Nichts zu ängstigen. Eher ist das Bewusste dumm, den Tod für das Nichts zu halten.)
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1746)
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Wenn der Tod das schlechthin Unbekannte ist...
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...steht es dann etwa fünfzig-fünfzig, ob wir im Tod...
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...bewusstlos oder bei Bewusstsein, glücklich oder unglücklich sind?
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(Auch an solch unparteiischen Zufall glauben hat m.E. etwas Religiöses.)
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1747)
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Warum denn ein trauriges Leben weiterleben?
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Erstens, weil man fürs Glück Arschloch werden müsste.
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Zweitens, weil an die Erlösung im Tod nur Naive glauben können.
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1748)
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Wer wirklich gut sein wollte, wäre bald tot.
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So böse sein, wie man muss, um zu überleben.
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Nicht so böse, wie man müsste, um gern zu leben.
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1749)
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Ruhig traurig sein, sei es auch verpönt...
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...denn das Leben ist eigentlich schlimm...
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...und der Tod ist wahrscheinlich schlimmer...
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1750)
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Keine Frage – die alte Höllendrohung gegen alle Lebensunfrommen hat unzählige Seelen verkrüppelt.
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Aber was bewirkt das Versprechen des neuen Jenseits, d.h. des endgültig leidlosen Nichts für alle Toten?
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Zuerst Suizid der depressivsten und Amoklauf der aggressivsten Individuen in den reichsten Ländern...
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(...und zuletzt epidemieartige Kollektivsuizide und -morde der letzten Konvertiten in den ärmsten Ländern?)
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1751)
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Atheismus ist doch tröstlicher...
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...als vom leidigen Zustand der Welt...
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...aufs Motiv eines Schöpfers zu schließen...
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1752)
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Mathematisches Idealisieren hin und physikalisches Reduzieren her...
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...so marginalisiert die Moderne unser eigentlich psychisches Wesen.
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Insbesondere den Tod fasst sie in formale und materielle Kategorien.
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(Schwer zuzugeben, aber sogar Himmel und Hölle trafen da mittiger...)
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1753)
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Atheist?
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Ja schon, aber metaphysischer Atheist, nicht materialistischer Atheist.
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Denn ebenso wie ein erfundenes höchstes liebendes Wesen ist eine erfundene von unserem Bewusstsein unabhängige Dinglichkeit nur Ignoranz gegenüber dem Leid.
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1754)
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Dass ich mein Leben für weit schlechter als nichts halte, und fast alle anderen Leben für weit schlechter als meins...
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...lässt mich fürchten, dass uns mit dem Wechsel der vorherrschenden Religion vom Monotheismus zum Materialismus...
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...langsam aber sicher eine kollektive Mord- und Selbstmordwelle ungekannten Ausmaßes bevorsteht.
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(Aber vielleicht irre ich mich, und mein Leben ist doch besser als nichts, oder das der anderen ist doch besser als meins, oder es lässt gar alte Gewohnheit die Menschen ihr miserables Leben bis zum natürlichen bzw. medizinisch immer weiter hinausgezögerten Ende ertragen und noch mehr miserables Leben in die Welt setzen – trotz des neuen Glaubens an das Nichts vor dem Leben und nach dem Tod.)
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1755)
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Wenn Gott das Nichts abgeschafft hat, sollten wir es "tunlichst" wiederherstellen.
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Wäre einfach nur unsere unwillkürliche Reaktion auf seine willkürliche Aktion.
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Als Leidender zu reagieren ist m.E. viel legitimer denn als Liebender zu agieren.
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1756)
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Mephisto und die andern Nihilisten haben in ihrer destruktiven Wonne übersehen, dass es nicht die körperliche Welt (Welt 1) ist, die es zu vernichten gilt.
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Wäre ihr Mitleid mit der Kreatur echt gewesen, hätten sie eingesehen: es ist die seelische Welt (Welt 2), deren Ende ein jeder herbeisehnt, der das Leid kennt.
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Die körperliche und auch die geistige Welt (Welt 3) könnten ebenso gut intakt bleiben – ohne fühlendes Bewusstsein würde sich ja niemand mehr daran stören.
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(Nietzsche aber wuchtet das bei Schopenhauer bereits subjektive Nichts wieder ins Objektive zurück: der echte Nihilist tue das Nichts, statt es nur zu denken.)
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1757)
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Warum zwar selber möglichst lange weiterleben, aber keine Kinder wollen? Widerspricht sich das nicht?
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Nicht, wenn man selber ganz anders denkt und glaubt und lebt als die Gesellschaft um einen herum.
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Würde mir mein Kind sehr ähnlich, wollte es selbst im Fall großen Leids trotzdem leben, aus Todesangst.
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(Materialistisch indoktriniert aber würde es mir seine Zeugung bzw. unsere Lebensweise nur übelnehmen.)
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1758)
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Früher wurden die Kinder religiös indoktriniert...
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...heute werden sie realistisch indoktriniert...
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...ich würde sie philosophisch indoktrinieren...
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(...so ich mich nicht mehr raushalten könnte...)
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1759)
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Optimisten glauben, die Summe über alles sei positiv.
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Realisten glauben, die Summe über alles sei null.
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Pessimisten glauben, die Summe über alles sei negativ.
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1760)
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Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?
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Auch ein echter Pessimist wird man nur von klein auf.
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Zwecklos, Erwachsenen die Lebensmisere zu erklären.
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(Dem Optimisten ist die Liebe lieber als die Wahrheit.)
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1761)
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Sinn des Lebens?
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Streng genommen braucht der Pessimist keinen.
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Er bleibt möglichst am Leben, weil es im Tod noch schlimmer kommen könnte.
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1762)
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Fühlen wir uns als Menschen, Erdenbürger etc. zu Recht elitär?
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Ob nun Priester zu Orgelmusik mit erhobener Stimme dem uns vor allem anderen bevorzugenden Schöpfer huldigen oder Astronomen zu Synthesizerklängen mit gesenkter Stimme über die einmalig günstige Position unserer Erde im Universum räsonieren – dürfen bzw. müssen wir Gott danken bzw. froh sein über solch unglaublichen Zufall?
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Und wer sich nun stattdessen umbringt – will der etwa die Elite dieser Elite werden, versteigt der sich zu dem wahnhaften Anspruch, auch noch den allerletzten Nachteil loszuwerden? Bei gegebener Auserwähltheit wäre das gegenteilige Suizidmotiv plausibler: sich mit dem üblichen Schöpfungsmüll bzw. Sternenstaub gemein machen, zurücktreten.
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(Dem ging's zu gut – sagt man das nicht vom Suizidenten aus guten Verhältnissen?)
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1763)
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Evangelium 1: wir sind auserwählte Seelen, bald wird alles auf ewig gut.
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Evangelium 2: wir sind begünstigte Körper, und dann wird alles zu nichts.
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Dysangelium: wir sind nur immer weiter zunehmendes Leidbewusstsein.
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1764)
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Mag sein, man bringt sich um, wenn das Leben zu schlimm wird.
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Aber man sage sich nicht: dann ist es gut, oder: dann ist es vorbei.
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Sondern ohne falsche Hoffnungen: ab hier lieber das Fragezeichen.
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1765)
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Alt werden ist nichts für Feiglinge?
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Kommt ganz aufs Todesmodell an.
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Für Höllengläubige ist es das wohl.
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(Auch ich bin am feige alt werden.)
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1766)
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Dauerhaft bewusstlos sein...
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...gibts m.E. ebenso wenig wie...
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...dauerhaft bei Bewusstsein sein...
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(...Tod ist auch nur Unterbrechung...)
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1767)
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Wer mit Zangen ins Leben geholten und gehaltenen Kindern...
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...beibringt, dass der Tod das süße, auf ewig leidlose Nichts sei...
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...darf sich doch über Schulamokläufe nicht ernsthaft wundern...
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(Angesichts des Nichts wäre der Tod zu lieben statt das Leben.)
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1768)
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Mord bzw. Mitnahmesuizid gilt als der extremstmögliche Übergriff...
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...Kinder in die Welt zu setzen hält man für gerechtfertigt bis geboten.
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Falls jedes individuelle Leben einmalig und endlich ist, bleibt Lust und Leid aber höchst ungerecht verteilt – wer also ein gutes Los zieht, lässt gewissermaßen die, welche ein schlechtes ziehen, die Zeche zahlen.
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(Heutzutage wird angeblich alles ausdiskutiert – diese Übergriffigkeit der sich munter vermehrenden Lebensbejaher aber bleibt selbstverständlich, verständnisloses Entsetzen über Einhalt gebietende Todesjünger die Regel.)
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1769)
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Leben nach dem Tod darf m.E. insbesondere Kindern gegenüber...
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...weder dogmatisch-religiös behauptet...
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...noch dogmatisch-realistisch ausgeschlossen werden...
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(...sondern sollte undogmatisch-philosophisch in der Schwebe bleiben...)
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1770)
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Für leidende Menschen ist es m.E. sehr wichtig zu lernen...
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...das eigene Leben nicht mit dem Paradies oder dem Nichtsein...
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...sondern mit der großen Mehrzahl aller anderen Leben zu vergleichen...
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(Random Reincarnation als dritte Religion nach Monotheismus und Materialismus?)
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1771)
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Tiere haben nur das Sein, in dem es für sie auf und ab geht.
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"Lebenswille" i.S.v. Seinsbejahung? Optimistische Projektion.
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Tiere meiden Leiden, und auch Sterben ist für sie nur Leiden.
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(Angst vor dem Nichts? Absurde Konstruktion der Menschen.)
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1772)
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Interessanter als zu räsonieren, ob es Gott gibt oder nicht, finde ich es, die unterschiedlichen Götter der Monotheisten zu vergleichen.
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Zum Beispiel die drei Versionen allversöhnender Gott, vernichtender bzw. annihilierender Gott und in die Hölle verdammender Gott.
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Es ist traurig, aber bestätigt meinen Pessimismus: die allermeisten Monotheisten glauben nicht, dass Gott allversöhnt oder annihiliert.
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("Unter mir in den Himmel oder ohne mich in die Hölle" – wenn Gott nicht wenigstens auch das Dritte, das Nichts anbietet, ist er m.E. böse.)
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1773)
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Selbstmörder, die mit dem endgültigen Nichts im Tod rechnen...
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...verlassen sich dabei gleichsam auf einen barmherzigen Gott...
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...der ihr Nichtsein ganz selbstlos auf ewig behütet und bewacht...
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(...so kommt es zumindest eternalistisch Geprägten wie mir vor...)
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1774)
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Keep smiling? Es herrscht die nahezu einhellige Meinung, dass bessergestellte Menschen gefälligst nicht zu jammern haben.
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Die mit mehr Glück in ihrem Leben sollen so tun, als ginge es ihnen gut – um derentwillen mit weniger Glück in ihrem Leben.
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Aber die Welt ist nun mal schlecht. Authentischerweise würden so gut wie alle Mundwinkel nach unten zeigen. Keep weeping!
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1775)
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Ewigkeit ist die Religion derer, die das Leben lieben.
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Endlichkeit ist die Religion derer, die das Leben hassen.
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Die meisten Menschen glauben, was sie sich wünschen.
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1776)
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Als pessimistisch Geprägter rechne ich nach meinem jetzigen Leben mit einem schlechteren, z.B. per zufällige Wiedergeburt.
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Das war und ist für mich der Grund, mein jetziges Leben weiterleben zu wollen, obwohl ich überhaupt nicht gerne lebe.
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Der mittlerweile realistisch indoktrinierte Nachwuchs aber nimmt sich das Leben, wenn er es für schlechter als nichts hält.
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1777)
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Bewusstsein heißt für mich zuerst (seelisches) Sein...
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...noch nicht (geistiges) Denken oder (körperliches) Wahrnehmen.
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Cogito ergo sum bzw. Esse est percipi sind also noch nicht der Kern.
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(Und dieses primäre seelische Sein halte ich für leider unhintergehbar.)
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1778)
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Wiedergeburt klingt paradox: ich als ein anderer.
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Aber ich bin ich, ein anderer ist ein anderer, oder?
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Auch für weniger mystisch veranlagte Leute, denen wie mir die Coincidentia oppositorum ein Graus ist, wird die Wiedergeburt zumindest denkbar, wenn man zwischen einem bleibenden Kern des seelischen (Bewusst-)Seins und einer sich verändernden Peripherie des persönlichen (Selbst-)Seins unterscheidet.
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1779)
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Sein oder Nichtsein? Nichtsein, da bin ich mir sicher: mein Sein endlich loswerden.
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Aber die Frage stellt sich in praxi ja gar nicht. Denn das Sein ist, das Nichts ist nicht.
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Bleibt nur: Sosein oder Anderssein? Und da ist es umgekehrt: mein Sein noch nicht loslassen.
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1780)
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Es gibt objektivistische "Monotheisten", die schon längst nicht mehr an die reale Existenz ihres Schöpfers glauben, aber weiterhin am gesellschaftlich installierten Gottesideal festhalten.
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Ich bin subjektivistischer "Nihilist", der die Hoffnung auf eine gesicherte Alternative zum bewussten Sein längst aufgegeben hat, sich aber weiterhin am Ideal des bewusstlosen Nichts orientiert.
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Dieses Hängenbleiben an der größtenteils überwundenen Weltanschauung "eine Stufe zuvor" ist Sentimentalität bis Konservatismus, Zögerlichkeit bis Skeptizismus, Angst bis Pessimismus.
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1781)
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Mens sana in corpore sano?
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Also ich fürchte ja, Körper und Geist sind nur vergängliche Anhängsel...
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...der auf ewig leidenden Seele.
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(Nicht etwa als Aufstockung vom Dualismus zum Trialismus gemeint, vielmehr als Behauptung eines Seelen- i.S.v. Bewusstseinsmonismus.)
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1782)
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Wohin stirbst du?
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Stirbst du ins paradiesische oder ins höllische Jenseits, in ein besseres oder in ein schlechteres Diesseits, ins bewusstlose Nichts oder in die allbewusste Einheit, ins ewig Gleiche oder ins endlich Andere – erscheint dir jedes oder keines der Vorgenannten plausibel, oder stirbst du erst gar nicht?
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Also ich gehe zur Zeit davon aus, dass ich in ein schlechteres Diesseits sterbe.
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(N.B. Bei Suizidenten ignoriert die materialistische Wissenschaft deren subjektive Heilserwartungen an den Tod; obwohl oder gerade weil man selber eine davon – das bewusstlose Nichts – in der Welt verbreitet, zieht man nur objektive Fehlfunktionen des Lebens in Betracht.)
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1783)
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Na gut, könnt schon sein, dass ich depressiv bin.
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Aber Psychotherapie ist mir zu nietzscheanisch.
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Und Psychopharmaka sind mir zu objektivistisch.
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(Meine Krankheit muss sich wohl selber heilen.)
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1784)
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Der Idealist Schopenhauer ist m.E. das winzige – um nicht zu sagen nichtige – Zentrum der abendländischen Philosophie. Dem christlichen und aufklärerischen Ja setzt er das buddhistische Nein entgegen...
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...und Nietzsche samt allen Postmodernen versuchen seither, dieses Nein wieder ins Ja retro zu drehen; m.E. ohne Chance, da unser Leid auch mit aller aufgebotenen Ironie nicht zur Erfindung eines Lügners wird...
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...sondern die erste Wahrheit bleibt, wovon aber nicht einmal Schopenhauers spärliches Gefolge – Mainländer, Horstmann, Lütkehaus – etwas wissen will: realistisch bekehrt versichern alle, das Leid ende im Tod...
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1785)
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Realismus und Materialismus bestehen in der Behauptung, die Welt sei von vornherein Ding bzw. Materie plus x...
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...wobei auch jegliches x auf heute noch nicht nachvollzogene Weise real bzw. materiell zusammengesetzt sei...
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...und damit auch Leidbewusstsein als komplexes Konglomerat schließlich wieder in einfaches Neutrales zerfalle...
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(Warum merkt keiner, dass das Erlösungsreligion ist? Weil der Gedanke ans ewige Leid das Denken lähmt.)
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1786)
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Lebensverneinung – ein Begriff, den ich bisher v.a. mit Schopenhauers Philosophie im Sinn recht gerne verwendet habe – kommt immer missverständlicher rüber.
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Denn "das Leben wäre besser nicht" (ein Satz, dem ich zustimme) und "der Tod ist besser als das Leben" (ein Satz, dem ich nicht zustimme) klingen für Realisten gleich.
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Je realistischer die gesellschaftsübliche Weltanschauung, je synonymer also Tod und Nichtsein, desto genauer müssen Andersdenkende wie ich ihre Worte wählen.
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1787)
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Die Erinnerung an meine Nahtoderlebnisse macht mich – in den eher seelisch-spekulativen als geistig-disziplinierten Momenten – zu einer Art pessimistischem Buddhisten.
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Den Tod sehe ich dann als eine Phase fast völliger Ohn-Macht (sic!) bei vollem Bewusstsein... N.B. Klingt erst mal paradox, aber ganz gegenwärtig stellt sich das Bewusstsein im Tod als primär passiv bzw. reaktiv heraus, wo es der Naive im Leben zuvor – seine Ohnmacht möglichst ignorierend – doch für primär aktiv gehalten hat.
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...währenddessen man – in ängstlich-affektiver Reaktion unfähig zu zeitlichem und räumlichem Weitblick – einfach irgendwie und somit i.a. leidender reinkarniert.
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(Optimistische Buddhisten versuchen durch meditative Praxis zu lernen, ihre – zudem karmisch wohlgeregelte statt hektisch-zufällig ablaufende – Reinkarnation in dieser Bardophase zu verhindern.)
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1788)
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Der Gesellschaft etwas zurückgeben?
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Die einen arbeiten und kriegen Kinder.
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Andere randalieren oder laufen Amok.
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(Meint die Gesellschaft es denn gut mit uns Individuen? Und ist gut gemeint gut genug? Konsequentialistisch gesehen zählt Kollateralschaden genauso.)
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1789)
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Ob ich mich für einen guten Menschen halte?
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Weder für einen guten noch für einen schlechten.
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Frondienstverweigerung und Herrschaftsenthaltung.
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1790)
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Stets die zwei gegenteiligen -ismen samt typischen Argumenten dafür finden...
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...und sich möglichst für einen von beiden entscheiden bzw. dahin tendieren...
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...ist mir nach wie vor der beste Wegweiser durch diese verwirrende Welt...
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1791)
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Wer oder was bin ich...
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...und wer oder was von meinem Leben wird wer oder was in meinem Tod?
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Hauptfrage: Endet mein Leiden im Tod?
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(Die beiden Weltanschauungsparteien, die ihren Anhängern das in Form von Paradies bzw. Nichts versprechen, bleiben führend.)
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1792)
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Die Monotheisten wollen endlich nicht mehr mitleiden müssen.
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Anders lässt sich ihr Vorhaben einer endgültigen Aufteilung der Lebensgemeinschaft in Himmel und Hölle kaum deuten.
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Die in der Hölle leiden weiter, die im Himmel leiden nicht mehr mit.
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(Mein Glaube an die zufällige Wiedergeburt verneint diese Flucht.)
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1793)
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Ich glaube weder an Gott noch ans Jenseits.
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Aber auch nicht ans Ende im Tod, da zu schön um wahr zu sein.
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Zur Zeit glaub ich an zufällige Wiedergeburt im ewigen, in aller Regel miserablen Diesseits.
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1794)
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Pessimistischer Wiedergeburtsglaube ja....
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...aber optimistischer Karmaglaube nein...
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...weil letzterer annimmt, jeder sei für sein Schicksal selbst verantwortlich bzw. niedrigere Wiedergeburt sei vermeidbar.
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1795)
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Früher glaubten wir, die Erde sei eine Scheibe, und der Tod sei das ewige Paradies.
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Heute "wissen" wir gar, die Erde ist eine Kugel, und der Tod ist die ewige Ruhe.
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Die Hoffnung stirbt zuletzt? Ich fürchte, wir entsterben ihr nicht, sondern werden enttäuscht.
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1796)
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Zufällige Wiedergeburt ist die Vorstellung von immer wieder nur endlicher Kontingenz in alle Ewigkeit.
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Und damit das Gegenteil von Himmel und Hölle als ewig währender Konsequenz aus einmalig Endlichem.
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Seit meiner christlichen Indoktrination denke ich v.a. todwärts, doch auch möglichst fort vom Prophezeiten.
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1797)
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1. Alles wird gut: Allerlösung.
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2. Alles geht vorbei: Allvernichtung.
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3. Alles bleibt miserabel: Allverdammnis.
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(Wir pessimistischen 3er sind die wenigsten.)
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1798)
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Zufällige Wiedergeburt werte ich nur als Glück im Unglück, genauer gesagt als eine Gerechtigkeit 2. Ordnung in der Ungerechtigkeit 1. Ordnung.
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Ungerechtigkeit 1. Ordnung, überhaupt dasein zu müssen. Und Gerechtigkeit 2. Ordnung, immer wieder blind ein anderes Dasein zugelost zu kriegen.
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Jedenfalls ist zufällige Wiedergeburt in unserer Welt m.E. viel ungerechter als das Nichts für alle. Näher an der Allverdammnis als an der Allvernichtung.
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(Aber doch besser als Allverdammnis, weil ein kleiner Prozentsatz ein recht schönes Dasein hat? Hm, gerade das könnte der Höllentreibstoff sein...)
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1799)
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Monismus ist praktisch immer übertrieben, denn auch das Gegenteil trifft immer ein wenig zu; aber Dualismus ist i.a. viel untertriebener.
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Im wesentlichen reicht es mir daher, von zwei Gegenteilen das viel zutreffendere zu wählen und mich zum entsprechenden -isten zu erklären.
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Mein Pessimismus z.B. ist ein Opfermonismus – frei agierende Täter sind extrem selten. Passiv sein, höchstens Reagieren ist die Regel.
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1800)
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Nach der christlichen Religion kam bei mir der naturalistische Realismus, nach etwas mystisch-holistischem New Age etwas skeptisch-partikularistische Postmoderne. Soweit meine weltanschauliche Zeit im Mainstream. Schon damals mit jeweils pessimistischem Schlag, aber die negativen Versionen der vier genannten Richtungen sind zumindest noch allgemein bekannt, sozusagen Abweichlerei für Anfänger.
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Ich meine, es war Schopenhauer, evt. trug auch der Zeitgeist von The Matrix dazu bei – jedenfalls kam bei mir dann der subjektive Idealismus, dessen Ausformulierungen von Berkeley bis zu den radikalen Konstruktivisten mich aber noch in der Spur des "aktiven Subjektivismus" hielten. Die subjektivistische Minderheit der Philosophen, seltsamerweise auch die Pessimisten, begreifen das Subjekt alle als primär aktives.
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Inzwischen habe ich aber in die Minderheit der Minderheit gewechselt, nenne mich "passiver Subjektivist" oder auch "subjektiver Realist", soll bedeuten: Bewusstseinsmonist mit Betonung auf den Qualia statt auf der Intentionalität. Subjekt also im wörtlichen Sinne von unterworfen, von Opfer. Dem seelischen Fühlen ausgesetzt, ohne Ende; z.B. durch zufällige Wiedergeburt i.S.v. wieder und wieder anders Geworfensein.
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1801)
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Im Tod ein freudigeres oder leidigeres Sein (bis hin zu Himmel und Hölle).
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Im Tod ein kleineres oder größeres Sein (bis hin zum Nichtsein und Gottsein).
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Im Tod Selbst- oder Anders-Sein (bis hin zum Ganz Einen und Ganz Anderen).
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(Den Tod ignorieren, bestreiten oder sich an eine von o.g. Prognosen halten.)
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1802)
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Was ist üblich? Thanatophilie, Thanatophobie? Beides oder keines davon?
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Himmelserwartung macht thanatophil, Höllenerwartung macht thanatophob.
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Erwartung des Nichts und auch des Ganz Anderen kann je beides machen.
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1803)
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Mein Dasein ist schlechter als nichts, doch es ist über dem Durchschnitt.
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Kaum ein Dasein ist besser als nichts, die Hälfte unter dem Durchschnitt.
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So wäre das Nichts im Tod zwar höchst ungerecht, mehr Gerechtigkeit z.B. durch zufällige Wiedergeburt aber zum Fürchten.
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1804)
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Wer sich umbringen will...
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...ist zwar Lebenspessimist...
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...aber noch mehr Todesoptimist.
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1805)
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Ich glaube, im Tod ein anderer zu werden...
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...aber eben kein ganz und gar anderer.
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Vgl. vormals unzugängliche Natur!
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1806)
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Religiös: Zum Glück ist das Schlechte endlich und das Gute ewig.
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Realistisch: Zum Glück ist das Schlechte endlich.
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Pessimistisch: Leider ist das Schlechte ewig.
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1807)
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Die Pessimisten des 20. Jahrhunderts wie z.B. Adorno hatten ihr stärkstes Argument in den Gräueln des Dritten Reichs.
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Aber evt. ist alles noch viel schlimmer, denn selbst eine harmonische Menschheit quält unweigerlich den Rest der Welt.
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Und kann dabei evt. gar keine Ahnung haben, welches Leid sie diesem Rest wirklich zufügt – ja, auch Pflanzen, auch Dingen!
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(Wie einig nur alle darin sind, dass das Leid zur "niederen Kreatur" hin abnimmt – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.)
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1808)
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Antirealismus, eliminativer Phänomenalismus, Bewusstseinsmonismus...
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...zum Glück bin ich alt genug, diese Mindermeinung offen vertreten bzw. danach leben zu können.
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Aber wer gesellschaftlich dazugehören will bzw. muss, hats ohne Bekenntnis zu unser aller materieller Verfasstheit recht schwer.
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1809)
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Schon das Nichts im Tod wär der Himmel: ein für allemal im bewusstlosen Jenseits verbleiben dürfen.
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Schon die Gerechtigkeit im Tod wär die Hölle: jedes mögliche Los im bewussten Diesseits ziehen müssen.
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Sich nach diesem Leben das Nichts zu wünschen ist also Hybris, sich Gerechtigkeit wünschen ist Wahnsinn.
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1810)
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Das Nichts wär so ein prima Jenseits.
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Aber fürchtentlich gibts kein Jenseits.
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Das Diesseits ist eine ewige Quälerei.
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1811)
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Man redet über den Tod als Vorgang.
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Man redet über den Tod als Ereignis.
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Aber nicht über den Tod als Zustand.
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(Also ich fänd ja den am wichtigsten.)
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1812)
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Was verändert der Tod an mir?
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Mein innerstes Ich kommt in einen anderen Körper – z.B. Wiedergeburt im Diesseits als Tier – oder in eine andere Außenwelt – z.B. als arme Seele im höllischen Jenseits. Oder mein altes Ich verschwindet ganz, und ich muss auch im Innersten ein anderer werden.
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Selbst dann bleibt der eigene Tod zumindest noch pluralistisch-partikular denkbar: Ich als multiple Persönlichkeit mit vielen Teilen und Eigenschaften, die an je verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten entstehen und vergehen – Ich in ewiger und totaler Wandlung.
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1813)
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Was kann mir wohl noch alles passieren, wenn ich tot bin?
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Nicht jeder Mensch verträgt jede überlieferte Todestheorie.
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Evt. ist die eigene Überzeugung v.a. Flucht vor den fremden.
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1814)
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Das Gegenteil von Platos immer klüger gewähltem neuen Lebenslos...
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...ist das blind gezogene alte, schon von den Ahnen hilflos erduldete.
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Das muss man sich mal vorstellen. Runter vom hohen Ross der Väter...
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(...oder eben auch zurück bzw. hinab unter deren Knute, je nachdem.)
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1815)
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Um den Todeszustand weder zu sehr zu fürchten noch zu sehr zu ersehnen...
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...muss man sich die für einen passende Todestheorie evt. selber aussuchen...
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...oder sich sogar seine eigene ausdenken dürfen – die eine für alle gibts nicht.
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1816)
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Die das Leben für ein Gut halten, halten sich oft auch noch zugute, den Tod als endgültiges Ende des Ichs akzeptieren zu können...
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...und belächeln alle, die immer noch nicht modern genug seien, Epikurs Feststellung zu teilen, der Tod ginge uns nichts an.
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Sie bedenken nicht: für uns, die wir das Leben für ein Übel halten, ist es der schwerere Weg, vom unendlichen Leben auszugehen.
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1817)
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Wenn ich Nikolaus von Kues' Idee mal ernst nehme, dass sich in der Ewigkeit jeder genau im Zentrum befindet...
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...dann bedeutet mein individualistischer, intuitiv für mich gewählter Glaube an ewige, zufällige Wiedergeburt...
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...dass jeder die eine Hälfte aller Seinsmöglichkeiten schon hinter sich hat und die andere Hälfte noch vor sich...
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(Das ist gerecht, überhaupt nicht elitär-fortschrittsgläubig, und auch das Nichtsein kann einen riesigen Anteil haben: fast aller Raum bzw. alle Zeit ist bzw. sind wir nichts, nur leider nützt uns das nichts, weil wir davon eben nichts mitkriegen.)
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1818)
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Nach meiner Theorie läuft jedes Leben vergleichsweise deterministisch ab...
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...und dafür wird man im Tod dann vergleichsweise zufällig ein anderer...
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...und ganz zeitgeistgemäß ist somit der freie Wille weit abgeschlagen.
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1819)
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Dass Leben hauptsächlich Leiden ist, schließe ich daraus, dass es mir kaum mal gut geht, aber mir kaum mal das Leben eines andern besser vorkommt.
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Da ich ansonsten eher an den Zufall als an einen Deus Malignus glaube, fragt sich: woher diese einseitige Statistik, dieser negative Mittelwert des Seins?
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Anscheinend rauscht nur der Mikrokosmos richtig, schon im Mesokosmos ist die Annahme von gleichmäßigem Zufall nur noch ein dicker Kategorienfehler.
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1820)
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Die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und Heiliger Geist steht m.E. auch für eine Hierarchie, welche sich besonders im Kirchenpersonal widerspiegelt.
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Wo es nicht dominieren kann, fügt es sich ebenso lustvoll in Schuldigkeit bis Zerknirschung – und weit hinter diesem Sado-Maso kommt endlich die Klausur.
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Ich mags umgekehrt: erst mal halte ich mich möglichst raus – Machtverzicht und Dienstverzicht. Dann erst helfen. Herrschaft nur als letzter Ausweg.
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1821)
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Ganze Pessimisten glauben an...
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...ein unerwünschtes Leben...
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...vor und nach dem Tod...
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1822)
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Nach mystischem Zauber bzw. wissenschaftlicher Methode...
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...und deren Vermählung im postmodernen "Anything goes"...
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...kommt evt. das "Weder-Noch" des resignativen Quietismus...
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(...wo man die Heiler jeder Couleur nach Möglichkeit meidet.)
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1823)
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Der vorgestellte Todeszustand ist (zumindest mein) maßgeblicher Lebensrahmen.
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Ein Riesenunterschied, ob man religiös auf Himmel bzw. Hölle, mystisch auf Einheit bzw. Leerheit, modern auf Nichts bzw. Unbekanntes oder subjektivistisch auf Gleiches bzw. Anderes hinlebt, äh hinstirbt.
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Ich sehe den Tod inzwischen als Übergang zur nächsten – wiederum nur endlich andauernden – anderen Existenz, wie sie mittels Empathie für die Umgebung in all ihren Facetten schon jetzt näherungsweise vorstellbar ist. Zufällige Wiedergeburt also, Perspektivwechsel im Diesseits, evt. sogar i.S.v. Rollentausch: nicht nur einen beliebigen bzw. missliebigen anderen von innen, sondern gewissermaßen auch mich von außen erleben müssen.
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1824)
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Die evt. areligiös gemeinte Todesanzeige in der SZ vom 24.7.13 "Ich bin nicht mehr"...
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...müsste m.E. ganz anders lauten, wollte sie denn wirklich areligös sein:
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"Jetzt, da ich dies schreibe, weiß ich nicht, was mit mir ist, wenn du dies liest"...
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1825)
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"Schlafen kannst du, wenn du tot bist?"
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Ich sehe mein Leben eher als die Ruhe...
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...vor dem Sturm im Tod – Pessimist eben.
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1826)
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Zufällige Wiedergeburt: das Modell lenkt die Erwartung an den Tod...
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...weg vom alt-ganzheitlichen "immer mehr Teilhabe an der Weltseele"...
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...hin zum neu-partikularen "immer andere Teilhabe an der Weltseele"...
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Band 6
ab 1827)
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1827)
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Modelle des Todeszustands...
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...angeordnet nach Wünschbarkeit aus meiner Sicht: Himmel, Bewusstlosigkeit, Nichts-Bewusstsein, Ich, Anderer, All-Bewusstsein, Unbekanntes, Hölle.
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...angeordnet nach Wahrscheinlichkeit aus meiner Sicht: Anderer, Ich, Unbekanntes, Bewusstlosigkeit, Nichts-Bewusstsein, All-Bewusstsein, Hölle, Himmel.
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(Himmel&Hölle heißt: was mir zu Bewusstsein kommt, ist nur angenehm bzw. nur unangenehm; All-Bewusstsein heißt: alle Bewusstseine werden (m)eines; Nichts-Bewusstsein heißt: leeres Bewusstsein bzw. bewusstes Nichts; Bewusstlosigkeit heißt: bewusstloses Nichts; Unbekanntes heißt: unmöglich mit bisherigem Bewusstsein abschätzbar; Ich heißt: mein Bewusstsein ist nach dem Tod ähnlich wie vor dem Tod; Anderer heißt: im Tod immer wieder ein anderer oder anderes werden, wie man ihn oder es im Leben evt. schon von außen kannte – statt des parallelen All-Bewusstseins also ein serielles All-Bewusstsein.)
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1828)
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Eine lebensverneinende Pessimistenkollegin sagte mal zu mir, dass ihr die Wissenschaft zumindest für den Tod genau das verspreche, was sie sich eh am meisten wünsche, nämlich die endgültige Bewusstlosigkeit.
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Aber ist diese Übereinstimmung wirklich Zufall? Wenn man schaut, was die Gesellschaft von ihren Mitgliedern will – siehe z.B. Stellenanzeigen – findet sich genau eines niemals: lebensverneinender Pessimismus.
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Und zahllose Pessimisten, in früheren Zeiten von der für Selbstmörder ausgesprochenen Höllendrohung am Leben erhalten, entsorgen sich heute bereitwillig selbst – günstig für die Leistungsgesellschaft!?
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(Verschwörungstheorie: die moderne Gesellschaft lehrt, es sei wissenschaftlich erwiesen, der Tod bedeute unwiderrufliche Auslöschung des Selbst – um Pessimisten in den Tod und Optimisten zur Eile zu treiben.)
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1829)
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Mystik ist subjektivierte Religion, statt Schaf in Gottes Herde ist der Mystiker selber das Universum.
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Postmoderne ist subjektivierte Moderne, statt prädizierbarer Naturprozess ist der Postmoderne Autopoiet.
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Ich kann mich weder passivem Realismus noch aktivem Idealismus anschließen, bin passiver Subjektivist.
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1830)
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Als ich noch Christ war, hatte ich in erster Linie Angst vor der Hölle, seit ich modern denke, befürchte ich irgendeine Zufallsscheiße.
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Aber so gut wie alle andern Christen sind sich des freudvollen Himmels sicher, die Modernen des leidlosen Nichts. Woher dieser Optimismus?
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Wie auch immer, die Mehrheit überzeugt mich nicht. Religion und Wissenschaft wissen m.E. kaum etwas, unsere Zukunft bleibt dunkel.
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(Stelle eigene Vermutungen an zum plausibelsten Szenario im Tod, z.Zt. zufällige Wiedergeburt im Diesseits als anderer/anderes.)
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1831)
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Mein passiver Subjektivismus ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil vom radikalen Konstruktivismus...
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...denn letzterer setzt zwar auf die aktive Autopoiesis, aber eben doch aufs Gehirn als deren reale Basis...
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...während ich mit ersterem vom materiellen Wesen weg bin, aber ein passives Erlebenmüssen annehme.
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1832)
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Objektiv und gemusst, oder subjektiv und gewollt?
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Ich meine aber, die Welt ist subjektiv und gemusst.
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Weder gibts ne tote Außenwelt noch ist der Wille frei.
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(Nur andere Innenwelten, alle zwingend wie meine.)
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1833)
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Meine Ichs von innen fühlen...
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...und die Ichs anderer von außen mitfühlen...
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...und unbekannte Ichs ganz anderer ängstlich vermuten...
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(...mehr Möglichkeiten bietet mein passiver Subjektivismus nicht an.)
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1834)
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Viele Realisten sind noch religiös, behalten ihren Gott im Hinterkopf.
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Viele Skeptiker sind noch realistisch, vertrauen auf ihr Ende im Tod.
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Ich bleibe auch als Subjektivist skeptisch, Objektivismus könnt sein.
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1835)
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Partikularer Subjektivismus: Bewusstsein ist ubiquitär, aber nur als je defizitäre Teilhabe an der Welt.
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Weder gibt es ein All- und Einsein noch ein Null- und Nichtsein – nur leidig Unvollständiges dazwischen.
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Der heute übliche Materialismus aber sieht Bewusstsein als ausnahmsweise aus Bewusstlosem hervorgehend.
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(Mir Pessimisten ist das Nichts bewusstlose Besonderheit, das Bewusstsein unendlich schwer loszuwerden.)
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1836)
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Realismus von lat. res, die Sache, das Ding...
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...ist der feste bis unbeirrbare Glaube an den Grundzustand der Bewusstlosigkeit...
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...sowohl von allem, was der Realist guten Gewissens ausbeutet, als auch des eigenen Selbst vor und nach dem Leben.
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1837)
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Über- und Unterpersonen – ich könnte mir vorstellen, dass ich aus vielen Unterpersonen bestehe und Teil einer oder vieler Überpersonen bin.
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Aber eine ultimativ kleinste, völlig bewusstlose Person bzw. eine ultimativ größte, völlig bewusste Person eher nicht, höchstens zeitlich begrenzt.
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Zusammen mit meinem Glauben an die zufällige, ewige Wiedergeburt würde das dann heißen: jeder ist evt. auch mal nicht bzw. ist evt. auch mal Gott.
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1838)
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Meine Welt besteht nur aus Subjekten, die an ihr teilhaben. Altmodisch gesagt aus Seelen, ich bin subjektiver Idealist bzw. Subjektivist.
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Heutzutage besteht die Welt aber angeblich nur aus Körpern, aus Objekten im Nichts. Die Menschen sind Realisten bzw. Objektivisten.
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Oder sie sind noch altmodischer als ich und glauben an Gott als den Geist bzw. das Überwesen schlechthin, sind objektive Idealisten.
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(Ich meine, dass die Welt als tote Fitzelchen überdifferenziert beschrieben wird, und als Ausdruck der einen Riesenidee überintegriert.)
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1839)
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Misstraue dem Leben...
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...doch mehr noch dem Tod!
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Echte Pessimisten bringen sich nicht um.
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1840)
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Als Subjektivist bestreite ich Objektives, d.h. unabhängig von den Subjekten Existierendes.
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Aber ich bin kein Solipsist, sonst könnte ich einfach alles zum Ich rechnen bzw. mir aneignen.
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So partikular die Subjekte, so verschieden ihre Wahrnehmung – m.E. gibt es intersubjektiv Gültiges.
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(Z.B. will alles und jedes unversehrt bleiben, in Ruhe gelassen werden. Ich nenne das Quietismus.)
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1841)
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Pessimismus: die Welt lässt nur die Wahl zwischen...
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...dem schlimmen Zustand Leben und...
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...dem wahrscheinlich noch schlimmeren Zustand Tod...
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(...mit dem Nichts als nicht gegebenem Dritten.)
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1842)
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Obwohl der offizielle Kanon diese Unterscheidung nicht vorsieht, würde ich als Subjektivist...
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...mich eher als subjektiven Realisten denn als subjektiven Idealisten bezeichnen wollen...
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... weil ich meine, dass die Subjekte sich und die anderen eher als gegeben vorfinden denn sich selbst konstituieren...
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(...und es auch besser dabei belassen sollten, da sie – sich v.a. aktiv wähnend – alles stetig verschlimmern...)
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1843)
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Mal angenommen die Realisten haben recht, dann bin ich die Ausnahme der Ausnahme.
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Denn nur sehr wenig Materie hat Bewusstsein, und sehr wenig Bewusste sind depressiv.
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Ich jedoch schließe von mir auf alles und sage: es gibt nur Subjekte, und v.a. leiden sie.
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(Der realistische Ausweg ist sonnenklar: erst antidepressive Therapie, dann Suizid.)
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1844)
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Eine pessimistische Annahme, die mich mein Leben schätzen lässt:
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Im Leben darf ich noch ich bleiben, im Tod muss ich ein anderer werden.
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Denn Himmel, Nichts und Ich rangieren über Anderes, Unbekanntes und Hölle.
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1845)
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Mein Lebensgrund ist Todesangst – und zwar keine Angst vor dem Nichts, sondern ganz im Gegenteil vor dem weiteren Sein.
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Es fasziniert mich, wenn Leute partout weiterleben wollen, trotz eines angeblich festen Glaubens an das endgültige Nichts im Tod.
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Denn dann müssten sie ihr Leben ja für sich selber oder zumindest für andere als überwiegend angenehm bzw. sinnvoll empfinden.
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(Ist der moderne Nichtsglaube nur aufgesetzt? Die leidende Kreatur klammert sich auch weiterhin ans letzte bisschen Leben.)
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1846)
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Let's talk about death, baby...
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...let's talk about you and me...
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...let's talk about all the good things and the bad things that may be...
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1847)
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Zufällige Wiedergeburt – mit am gelungensten an diesem meinem momentanen Todeszustandsmodell scheint mir, dass...
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...es die Todesvorstellung aus den üblichen Extremen rausholt: Himmel, Hölle, Nichts, All-Einheit, Ganz Anderes – sie alle verkünden...
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...anders als die zufällige Wiedergeburt das Ende jeglicher Normalität. Doch schlimmerweise bleibt wohl auch im Tod alles normal...
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(Apropos Tod und Extrem: Adler sieht die Motivation junger Selbstmörder im dialektischen Umschlag von Minderwertigkeitsgefühl in Großmannssucht.)
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1848)
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Wie um Himmels willen ich darauf komme, dass im Tod die nächste von zahllosen zufälligen Wiedergeburten auf mich wartet?
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Zum einen haben mir Nahtoderfahrungen den Eindruck vermittelt, dass im Tod Körper und Geist gehen, die Seele leider bleibt.
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Zum anderen traue ich mich, mit meinem Alltagsverstand etwas für mich selber Plausibles zu raten und mich daran zu halten.
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(Von religiöser Offenbarung, meditativer Erfahrung, naturalistischem "Wissen" und skeptischer Distanz bin ich abgekommen.)
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1849)
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Find ich gut, dass der Tod in künstlerischen Kreisen thematisiert wird...
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...wenngleich er auch dort weniger als beängstigendes Fragezeichen...
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...denn als evidenter Schlusspunkt gilt, der das Leben v.a. aphrodisiert...
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1850)
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Wie viel Bewusstseinserweiterung ist wünschenswert?
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Den Optimisten ist das All-Bewusstsein sozusagen der Himmel für Fortgeschrittene, in der Unio Mystica wird der Weise eins mit Gott.
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Für mich als Pessimisten dagegen rangiert die Vorstellung, mir sei gar alles bewusst, nur knapp über der Hölle und dem unvorstellbaren Ganz Anderen.
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(Allerdings strebe ich nach dem sicheren Nichtsein – und für dessen Verwirklichung bräuchte es evt. die Bewusstmachung von allem. Nicht zu verwechseln mit der Behauptung der Erleuchteten, Alles und Nichts seien in Wahrheit ein- und dasselbe.)
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1851)
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Wenn ich holistischen Subjektivismus mal die z.B. im Hinduismus vertretene Ansicht nenne, dass Ich und Welt eins sind...
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...dann nenne ich partikularen Subjektivismus meine Ansicht, dass die Welt ausschließlich aus Teilbewusstseinen besteht...
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...und jedes Teilbewusstsein wieder aus Teilbewusstseinen usf. – alle ohne Aussicht auf Ganzheit, in alle Ewigkeit...
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(...wobei ich als Pessimist mir eh recht sicher bin, dass All-Bewusstsein vielmehr die Hölle wäre als der Himmel...)
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1852)
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Ich bin Subjektivist bzw. Bewusstseinsmonist...
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...aber partikularistisch statt holistisch, pluralistisch statt solipsistisch, passivistisch statt aktivistisch...
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...d.h. Teilbewusstseine statt Allbewusstsein, ich und andere statt nur ich, stimmungsvoll statt absichtsvoll...
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1853)
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Wenn ich loslasse, drifte ich ab zum Anderen, verkomme gar zum bösen Berserker.
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Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es evt. kurzzeitig bis zur bewussten Ruhe.
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Ideal wäre erst die ewige bewusstlose Ruhe – dazu bräuchte es aber einen Gott, der sich für mich anstrengt, sie mir zu sichern.
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(Unter mir das niedere Andere, über mir das bewusste Nichts i.S.v. Nirvana – eigentlich bin ich ein moderner Buddhist, ohne Karmaglaube halt.)
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1854)
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Die zwei großen Lügen: "Das Leben ist schön" und "Der Tod ist endgültige Bewusstlosigkeit".
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Die zwei großen Wahrheiten: "Das Leben ist hässlich" und "Der Tod ist unbekanntes Terrain".
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Wer die erste Lüge durchschaut und die zweite nicht, ist leider besonders suizidgefährdet...
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(...was auch dem Kollektiv passieren kann – evt. sind wir Menschen die nächsten Lemminge.)
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1855)
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Warum wird das Leben schöngelogen? Warum ist es so üblich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
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Eltern belügen ihre Kinder, weil die Kinder viele Jahre lang sorgsam vom Ernst des Lebens abgschirmt werden müssen, wenn sie keinen Schaden nehmen sollen. Kinder belügen ihre Eltern, weil sie spüren, wie sehr das Glück der Eltern vom Glück oder vermeintlichen Glück ihrer Kinder abhängt.
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Die Bessergestellten belügen die Schlechtergestellten, weil diese ihrer Hoffnung und ihrer Vorbilder nicht beraubt werden sollen. Die Schlechtergestellten belügen die Bessergestellten, weil jene sich ihres Unglücks schämen und nicht als Miesmacher gemieden werden wollen.
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1856)
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Es ist naiv, keine Angst vor dem Tod zu haben. Auch wenn Priester, Philosophen, Ärzte, Pfleger, Therapeuten etc. vom Gegenteil gemeinhin noch so überzeugt sind.
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Ich habe viel mehr Angst vor dem Tod als Angst vor dem Sterben, viel mehr Angst vor dem Sterben als Angst vor dem Leben – und schon genug Angst vor dem Leben.
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Und mir graut vor all den selbsternannten Todeskennern und -tröstern, die mir diese meine Angst werden ausreden wollen, wenn ich ihnen schließlich in die Hände falle.
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1857)
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Die starken und gesunden Kinder hoffen auf ein Weiterleben nach dem Tod.
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Als schwache und kranke Greise hoffen sie dann mal genau das Gegenteil.
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So stehen sich Religion und Realismus in der Gesellschaft stets gegenüber.
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(Ein schlechteres Afterlife traut man sich heute nicht mal mehr zu fürchten.)
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1858)
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Erfreulich, wenn eine Theorie ihren i.a. sowieso unvermeidlichen wunden Punkt der Widersprüchlichkeit in sich, ihren auch bei guter Denkarchitektur benötigten Schlussstein gleich durch ihren Namen preisgibt, statt ihn abzustreiten bzw. zu verstecken.
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Der heute in der Philosophie des Geistes oft vertretene antireduktionistische Materialismus beispielsweise – man fragt sich gleich: wie kann der Geist dort bitte materielle Eigenschaft sein, wenn er sich prinzipiell nicht aufs Materielle reduzieren lässt? Die sog. starken Emergentisten – der Geist taucht ohne Vorstadien völlig wesensfremd aus der Materie auf – wollen dennoch zusammen mit den schwachen Emergentisten, die von einer zukünftigen Reduzierbarkeit ausgehen, zu den Monisten gehören.
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Oder mein passivistischer Subjektivismus – besteht das Wesentliche des Subjekts nicht darin, dass es als Geistiges bzw. Seelisches aktiv und freien Willens statt passiv und determiniert ist? Nein, bei mir ist es v.a. letzteres. Trotzdem bin ich Antirealist, glaube nicht an eine vom Subjekt unabhängig existierende Außenwelt. Nenne mich Bewusstseinsmonist, während die starken Emergentisten m.E. Dualisten sind, ihre tote Erstwelt ein das unhintergehbare Bewusstsein hintertreibender Mythos.
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1859)
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Der Realismus – von lat. res, das Ding – ist eine als ihr glattes Gegenteil verkannte Illusion und des Depressiven Tod.
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Wer sich ständig mit einem ganz gefühllosen Ding vergleichen muss, wird über kurz oder lang anfangen, es zu beneiden.
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Und das passiert gerade uns Menschen, die wir verglichen mit allen anderen Lebewesen fast überall im Vorteil sind.
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1860)
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Gibt es – verglichen mit dem bewusstlosen Nichtsein – ein nicht wünschenswertes Leben? Ist es nicht gar die bittere irdische Regel?
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Wer das zugibt, muss auch zugeben, dass der Realismus mit dem Nichts im Tod einen nicht weniger als religiös zu nennenden Charakter hat.
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Was dem Enkel die himmlische Wolke, auf der Oma bald wohnt, ist der Oma die realistische Bewusstlosigkeit, die sie bald erlöst.
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1861)
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Schlimm: geht es in Ordnung, jemand Jungen, der ein (noch) wünscheswertes Leben hat, mit dem Objektivismus i.S.v. endgültigem Nichtsein im Tod zu bedrohen?
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Schlimmer: geht es in Ordnung, jemand Alten, der kein wünschenswertes Leben (mehr) hat, mit dem Subjektivismus i.S.v. ewigem Diesseits ohne Tod zu bedrohen?
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Falls der Realismus irgendwann wieder abdankt, gibt es vielleicht eine doppelt betroffene Generation: in der Jugend mit dem Ende und im Alter mit der Ewigkeit bedroht.
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1862)
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Die um einen Neugeborenen Herumstehenden wollen ihn davon überzeugen, dass es schön wird hier.
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Die um einen Sterbenden Herumstehenden wollen ihn davon überzeugen, dass es schön wird dort.
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Beide Situationen sind v.a. beklemmend – und zwischendurch ist es leider auch nicht viel besser.
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1863)
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Es ist allgemein bekannt: nach einem Unfall, Trauma, Schlaganfall etc. ist oft nichts mehr wie vorher.
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Aber auch nach einer profunden NDE – nur sagt einem das i.d.R. keiner, man muss selber drauf kommen.
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In gewisser Weise zu vergleichen mit wieder Geborenwerden: alles anders, fremd, beängstigend.
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(Erster Lebensrahmen ist, was man sich unter dem Tod vorstellt. Ohne NDE bleibt jener i.a. unverändert.)
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1864)
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Den Übergang vom Nichts zum Sein und zurück gibt es m.E. nicht, weder unwillkürlich noch willkürlich.
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Auch nicht beim objektivierten Bewusstsein; an Emergenz und Submergenz glaube ich so wenig wie an Gott und Satan.
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Ansonsten wäre ich für Selbstvernichtung des Kollektivs, gegen Schöpfung und Vernichtung anderer Individuen.
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1865)
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Nichts über etwas zu wissen – soll das etwa heißen, alle Ja-oder-Nein-Fragen stehen fünfzig-fünfzig?
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Zu sagen, es stehe für einen echten Skeptiker fünfzig-fünfzig, ob das Leben im Tod endet oder nicht...
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...ist m.E. wie zu sagen, es stehe fünfzig-fünfzig, ob ein namentlich Unbekannter Paul heißt oder nicht.
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1866)
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Wie schaut die gesellschaftlich gängige Vorstellung vom Todeszustand aus, im vorigen Jahrhundert und in diesem?
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Im Monotheismus sollte gegenüber vom Paradies die Hölle liegen, im Naturalismus gegenüber vom Nichts das Unbekannte.
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Doch zunehmend wurde die Hölle nur noch für die je anderen warmgehalten, und heute wird das Unbekannte marginalisiert.
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(Insbesondere die Presse erstattet einhellig Bericht über die wissenschaftliche Aufklärung vermeintlich letzter Rätsel.)
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1867)
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Für die heute führenden Realisten liegt allem in der Welt das Körperliche zugrunde, für die opponierenden Spiritualisten das Geistige.
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Für mich als Panpsychisten, Bewusstseinsmonisten, Psychomonisten, Seelenmonisten, Welt-2-Monisten das Seelische.
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Statt mich runter zum Ding bzw. rauf zum Gott zu flüchten, identifiziere ich mich – ungern – mit der anima bzw. dem Animalischen.
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(Körper und Geist sind meiner ewigen Seele die vergänglichen Werkzeuge zur Herstellung der leider vergänglichen Seelenruhe.)
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1868)
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Der Körper und der Geist weiser Männer geht an die Nachkommen, in Form konservierter Leichen und kultureller Werke.
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Die Seele, so unterstellt meine pessimistische Philosophie, werden sie im Tod nicht an uns los, die bleibt ihnen selber erhalten.
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Zahllose Reinkarnationen später entwickelt sie vielleicht sogar wieder Geist, um vorübergehend Ruhe in der Weisheit zu finden?
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1869)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht – zumindest würde einem das unbewusste Nichts nicht bewusst. Und nur das ewige unbewusste Nichts wäre das wahre Nichts, das absolute Nichts, ansonsten isses halt nur Nirvana.
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Zwischen den zufälligen Wiedergeburten als je anderes Bewusstsein, an die ich momentan glaube, könnte sogar "objektiv" viel bewusstlose Zeit vergehen – subjektiv aber nicht, subjektiv exisistiert man ununterbrochen.
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Anders gesagt: solange das bewusstlose Nichts nicht endgültig ist, macht es nur Pausen in die leidige Existenz, von denen man nichts mitkriegt. Schon am nächtlichen Tiefschlaf fehlt ja die Genugtuung, gerade nicht da zu sein.
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1870)
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Eigentlich gibts m.E. nur mich und die anderen Tiere – wenn ich mich als partikularen Seelenmonisten bezeichne, dann meine ich mit Seele die anima animalis, nicht die amima rationalis oder den animus spiritualis.
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Sowohl die bewusstlosen Dinge des Realismus als auch der ewige Geist des Idealismus sind theoretische Abstraktionen, die m.E. nicht eigentlich existieren.
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Ich bin zwar ein Fan des Rationalismus i.S.v. Denken statt Handeln zwecks Leidvermeidung, aber im Tod vermute ich weder Abstieg zur Materie noch Aufstieg zum Geist – nur Transformation in ein anderes Tier.
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1871)
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Keine Angst vor einem schlechteren Leben nach dem Tod? Weil der Mensch ein für allemal das bessere Los gezogen hat?
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Materialismus und Spiritualismus haben in scheinbarem Widerstreit gemeinsam den Animalismus auf Eis gelegt.
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Die einen sehen dem Nichts, die anderen dem All-Einen entgegen. Dem Schicksal der Tiere fühlen sich beide enthoben.
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1872)
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Descartes' Dualismus spaltete die Welt in eine materielle und eine denkende Substanz, um dann die Tiere recht umstandslos den Sachen beizuordnen und die Menschen dem Gott.
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Auch der Streit um den wahren Monismus wird zwischen Materialisten und Spiritualisten ausgetragen; doch diese Monismen sind beide künstlich, ruhige Häfen am Rande der wilden See(le).
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Im Stadium des Anim(al)ismus hingegen wussten wir noch: wir alle sind und bleiben Tiere; heute ist dieser ursprüngliche Monismus dem Menschen anscheinend nicht mehr zuzumuten.
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1873)
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Die Theoretiker der Endlichkeit haben u.a. das Problem, dass alles ja auch mal angefangen haben muss.
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Und so wirds entgegen ihrer eigentlichen Absicht der Entmystifizierung dann doch recht wunderlich.
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Die Materie entsteht mit dem Urknall, und auch das Bewusstsein emergiert plötzlich, vorbedingungslos, irreduzibel.
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(Meinem Psychomonismus stellt sich dieses Problem nicht; Bewusstsein war und bleibt einfach immer – leider.)
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1874)
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Philosophische Begriffe auf die Endung -ismus stehen für Ist- und für Sollzustände.
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Die Welt ist alles andere als vernünftig – insofern bin ich Irrationalist – und sollte doch vernünftig sein – insofern bin ich Rationalist.
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Philosophische Begriffe können nie für sich alleine stehen, sie sind und bleiben kommentarbedürftig. Ist aber evt. Absicht.
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1875)
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Bezüglich Materie und Geist bin ich Eigenschaftsdualist, zugrundeliegende Substanz dieser beiden endlichen Werkzeuge ist m.E. die ewige Seele – ich bin Seelenmonist.
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Begründen muss ich diese Haltung wohl u.a. mit meinen als wesentlich empfundenen Nahtoderfahrungen, während derer das Physische und Logische wie weggeblasen waren.
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Und selber Miserabilist, unterstelle ich den anderen, die Materie oder Geist oder beide als zugrundeliegende Substanz annehmen, dass v.a. deren Leidneutralität sie anzieht.
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(Dürfte ebenso auf die neutralen Monisten zutreffen, wenn sie die Substanz mit den Eigenschaften Materie und Geist ins Unerkennbare bzw. Unerfahrbare legen.)
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1876)
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Der Trick am Streit zwischen Materialisten und Spiritualisten ist, dass die Erlösung auf jeden Fall stattfindet – denn ob wir im Tod zur Materie oder zum Geist zurückkehren, beidenfalls hat unser irdisches Leiden sein Ende.
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Für Materialismus wie Spiritualismus ist das leidende Bewusstsein ein Unfall, nur durch Kontamination mit dem jeweiligen Gegenteil entstanden – ein irregulärer Zustand, der in absehbarer Zeit wieder bereinigt wird.
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Sogar die Seelenlehre selber wurde von diesem unseligen Dualismus gründlich in der Mitte gespalten – kein psychologisches Paradigma, das sich Geist und Materie als leidfremde Abstraktionen des Seelischen abzutun traut.
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(Denkerisch auf die Materie-Geist-Dichotomie abonniert, bildet der heutige eliminative Materialismus einfach das Gegenstück zum alten Gnostizismus: der Weg zur Wahrheit sei die Elimination aller immateriellen Fiktion.)
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1877)
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Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, hat schon Aristoteles gesagt.
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Noch vor wenigen Jahrzehnten, als die Gestaltpsychologen und Systemtheoretiker diesen Gedanken aufgriffen, schnaubten die Objektivisten, er sei unwissenschaftlich.
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Erst nachdem ihn die Physikalisten Supervenienz, Emergenz, Fulguration etc. tauften, darf er sich anscheinend auch in den "echten" Wissenschaften blicken lassen.
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1878)
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Es gibt nicht nur keinen Gott, dem wir Anfang und Ende vertrauensvoll überlassen könnten...
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...es gibt auch kein Nichts, aus dem alles gekommen ist und in das alles wieder verschwinden wird...
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...sondern nur die eine ewige Natur, welche als alternativlos anzusehen m.E. der einzig echte Monismus ist.
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(Wir können uns der Natur zwar ausnahmsweise entfremden bzw. uns von ihr emanzipieren, aber sie holt uns wieder ein. Falls es im Dschungel des ewigen Diesseits überhaupt eine wesentliche Wahl gibt, dann die zwischen böser Machtausübung und gutem Machtverzicht.)
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1879)
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Dass wir als Seiende ins Nichts gehalten seien, dass unsere existentielle Angst die vor dem Nichts sei usf., halte ich für romantische Entfremdung von der Natur, wie vorher schon die religiöse eine war.
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Das Animalische in uns kennt nämlich gar kein Nichts bzw. hat dieses noch gar nicht erfunden, unterscheidet nur eigenes und anderes Sein – Angst ist immer die vor Verschlimmerung, nie vor Vernichtung.
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Und die Beruhigung von Epikur ist so gesehen doppelt falsch: Erstens haben wir allgemein gar keine Angst vor dem Nichts, zweitens ist speziell die Angst vor dem Tod gar keine Angst vor dem Nichts.
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1880)
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Psychoanalyse ist für mich gewissermaßen die wesentliche Philosophie.
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Programmatisch jedenfalls trifft jene m.E. den Kern des Wissenswerten.
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Leider waren Freud & Co. halt Nietzscheaner, keine Schopenhauerianer.
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1881)
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Nichts, Ding, Pflanze, Tier, Mensch, Gott, All-Einheit.
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Nach dem Ebenbild-Gottes-Paradigma hat uns nun das Maschinenparadigma im Griff, zentral wär jedoch m.E. das Tierparadigma.
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Pflanzen und Menschen würden sich zunehmend als animalisch entpuppen, Dinge und Götter als Illusionen wie Nichts und All-Einheit.
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1882)
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Moral ist m.E. eine Erfindung wider die Natur...
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...i.S.v. einem freien Willen entstammend...
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...welcher aber winzige Ausnahme bleibt.
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1883)
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Zwar glaube ich, Epikur widersprechend, auch an die positive Qualia-Achse...
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...also dass Freude über die Abwesenheit von Leid hinaus steigerbar ist...
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...moralische Priorität jedoch muss das Aufhören allgemeinen Leids haben.
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1884)
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Es gibt nur mich und die anderen, keine tote Materie und kein Nichts.
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Wir sind partikulare und plurale Subjekte, ohne Ganzheit und Einheit.
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Das Ich bleibt nicht identisch – v.a. im Tod werden wir zufällig andere.
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1885)
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Im Tod...
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...wird Mitleid zu Leid...
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...und Leid zu Mitleid...
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1886)
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Gewinnt Himmel oder Hölle? Leider gewinnt Hölle.
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Triumphiert also das Nichts über das Sein? Nein, leider triumphiert das Sein.
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Heißt das wenigstens, dass ich ich bleiben kann? Nein, leider muss ich immer wieder irgendein anderer werden.
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(So sieht jedenfalls meine pessimistische Spekulation aus.)
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1887)
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Traditionelle Demut: Für das Glück sorgt am Ende Gott, wenn es ihm gefällt.
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Aufklärerische Tugend: Für das Glück müssen wir gemeinsam selber sorgen.
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Postmoderne Kontingenz: Sorge dich um dich selbst, mal gelingt auch was.
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(Meine Individualmeinung: Maßvolle Notwehr steht mir zu, Glück ist unmoralische Übertreibung.)
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1888)
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Im Tod muss man nicht nur das Materielle, sondern m.E. leider auch das Intellektuelle loslassen.
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Auch wer sich im Leben in die körperliche bzw. geistige Welt zurückgezogen hat, muss in die seelische zurück.
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Träume, Räusche, Nahtoderlebnisse etc. wahrnehmen bzw. ernstnehmen ist somit Vorbereitung auf den Tod.
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(Rational mag ich mich und affektiv nicht, sehe dem Tod also trotz meines Lebenshasses traurig entgegen.)
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1889)
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Binäre Philosophie: in ausreichend großer Anzahl getroffen führen auch Schwarz/Weiß-Entscheidungen zu einer fein differenzierten Weltanschauung.
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Wie für die detailreichste Repräsentation jedes Bildes oder Klanges ein simpler Bitstream genügt, solange nur dessen Datenrate hoch genug ausfallen darf.
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Pessimist nicht Optimist, Idealist nicht Realist, Subjektivist nicht Objektivist, Passivist nicht Aktivist, Eternalist nicht Presentist, Partikularist nicht Holist usf.
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(Das Schwierigste ist, bei immer mehr Entscheidungen das Gesamtbild konsistent zu halten – mindestens für die eigene Wahrnehmung konsistent.)
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1890)
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Leid, Alter und Krankheit fordern dich bzw. deine Selbstgewissheit heraus, exponieren dich mit immer weniger Würde.
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Irreversibel wirds mit dem Tod, er fordert dein Selbst dann fast ganz zurück, zwingt dich, ein anderer zu werden.
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Optimismus ist die Weigerung, nach dem schlimmen Würdeverlust den noch schlimmeren Selbstverlust zu erwarten.
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(Aber hinter dem Bitteren liegt eben nicht das Paradies oder das Nichts, sondern folgerichtig das noch Bitterere.)
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1891)
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Würde ist Übereinstimmung von Selbst und akzeptablem Selbstbild.
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Würdeverlust das Zurückbleiben des Selbst hinter diesem Selbstbild.
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Wer sich zum Affen macht, übt sich ins letztlich eh Unvermeidliche ein.
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1892)
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Gibt es das Nichts?
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Temporär und partikular schon.
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Das absolute und endgültige aber nicht – schön wärs.
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1893)
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Die Moderne wollte stets die Vergangenheit diskriminieren, hat sich hochnäsig für zu Recht fortschrittlich gehalten.
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Postmoderne ist aber oft nur Antithese um der Antithese willen – und wenns dadurch nur wieder neokonservativ wird.
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Schlimmer: in der Postmoderne wird alles ironisch, kriegt alles absichtlich einen doppelten Boden – da mach ich nicht mit.
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(Echtes Verarbeiten der Vergangenheit heißt Aufs-Wesentliche-Reduzieren und Behalten statt Wegwerfen.)
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1894)
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Geist und Materie sind in erster Linie leider nur leidneutrale, abstrakte Theoriegebilde, etwa wie Paradies und Nichts.
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Geist bzw. Materie als Seinsgrundlage anzunehmen ist m.E. ein verlockender Denkfehler auf der Flucht vor dem Leid.
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Gute Philosophie klärt, was eigentlich ist und evt. bleibt, nämlich Seele, und was stattdessen sein und bleiben sollte, nämlich Nichts.
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1895)
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Das unwürdige Dasein, wie schon in Shakespeare's berühmtem Hamlet-Monolog beklagt, ist eines...
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...in dem man alltäglicher Demütigung hilflos ausgeliefert ist und trotzdem weiter am Leben hängt...
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...weil es im Tod entgegen allen wohlfeilen Erlösungsversprechen eben doch noch schlimmer kommen könnte.
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(Und so ein Dasein bleibt entgegen allen optimistischen Beschönigungen der penetrante Normalfall.)
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1896)
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Mein partikulares Leben vor dem Tod...
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...nutze ich v.a. zum gedanklichen Vorfühlen...
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...in ein zufälliges anderes partikulares Leben nach dem Tod.
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(Ich glaube nicht, dass ein Leben im Tod ganz endet oder sich gar rundet.)
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1897)
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Wie ist es, tot zu sein? Keines der gängigen Bilder taugt allen gleich gut.
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Was zu wenig oder zu sehr schreckt bzw. lockt, ist individuell verschieden.
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Selber weitersuchen, bis man seine plausible, moderate Vorstellung findet.
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(Fragen zum Tod stellenden Kindern Raum lassen für ihre eigenen Bilder.)
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1898)
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Des Menschen Aktionismus ist sein Verderben.
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Es geht viel weniger darum, endlich was zu tun.
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Viel mehr darum, auf ewig keinem was zu tun.
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1899)
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Ein Pessimist ist, wer das Leid, das Dunkle, das Negative bei weitem überwiegen sieht.
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Sein Glas ist nicht halb leer statt halb voll, wie die Leute gern sagen, sondern fast leer.
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Ob er nun aufs Paradies wartend das Leben verflucht oder auf die Hölle wartend den Tod.
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1900)
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Der Pessimist kann wahrhaben: schon im Sein steckt der Wurm, nicht erst in den Seienden.
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Aber heutiger Psychologismus nach Nietzsche sucht das Dunkle zuallererst im Individuum.
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Dieser latente Optimismus ist ein Rückfall hinter Schopenhauer, als Toter ist Gott rehabilitiert.
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1901)
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Die Höllendrohung gilt heute als Skandal. Aber vielleicht war es ja eher fürsorglich als grausam, den vom Leben geplagten Menschen von einer noch schlimmeren Unterwelt zu erzählen, um sie vom Selbstmord abzuhalten?
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Vielleicht müsste es als dazu komplementärer Skandal angesehen werden, den vom Leben geplagten Menschen vom Nichts im Tod zu erzählen und sie damit zum Selbstmord zu verführen – hat sich Epikur das gut überlegt?
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Der evt. schon damals, sicherlich aber heute bestehende Unterschied zwischen den beiden Philosophien ist, dass die Hölle bzw. Unterwelt mehr nach einem Produkt patriarchalischer Phantasie riecht als das Nichts. Echt?
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1902)
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Böse römische Imperialisten, arme Christen.
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Böse christliche Kirchen, arme Freigeister.
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Böse Old White Males, arme Minderheiten.
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(Pessimisten wissen: das Leben war schon immer miserabel, aber laut Optimisten haben immer nur die Bösen eins vorher Schuld.)
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1903)
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Das Glücklichsein ist v.a. eine gesellschaftliche Konvention.
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Je konventioneller eine Gesellschaft, desto höher der Prozentanteil der Menschen, welche sich laut Umfragen als glücklich bezeichnen.
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Es braucht den Konventionslosen, der offen sagt, dass der Kaiser nackt ist. Den Pessimisten, der offen sagt, dass der Mensch i.a. unglücklich ist.
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(Der ruchlose Optimismus, welcher den Menschen einredet, dass sie i.a. glücklich seien, macht sie wütend auf naheliegende Sündenböcke. Dann erheben sie sich gegen den jeweils letzten kulturellen Fortschritt, wollen zurück zur Natur, zurück zum totalitären Staat etc. Mit pessimistischer Grundeinstellung wären sie froher über Verbesserungen, auch wenn diese allesamt das Glas noch längst nicht halb voll machen.)
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1904)
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Der Mensch sollte zuvorderst nach dem Guten streben, dann nach dem Wahren, zuletzt nach dem Schönen.
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Tatsächlich aber strebt er zuvorderst nach dem Schönen, dann nach dem Wahren, zuletzt nach dem Guten.
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Eine weitere ganz grundsätzliche Bestätigung für das Zutreffen der pessimistischen Beurteilung unserer Welt.
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(Die moralischen Optimisten haben lange für das Primat des Guten gekämpft; die aufklärerischen Optimisten schon weniger lange für das Primat des Wahren; jetzt ist dekadenter Optimismus angesagt: das Primat des Schönen nimmt alles im Sturm. Und dann?)
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1905)
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Glück...
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...ist die Pause...
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...zwischen zwei Katastrophen...
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1906)
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Uni-versum?
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Ich meine auch, einmal würde reichen bzw. wäre schon einmal zuviel.
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Glaube es aber nicht.
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1907)
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Was den Tod angeht, gibt es im Wesentlichen vier Meinungen; die erste: Der Tod ist nicht das Ende – zum Glück; die zweite: Der Tod ist das Ende – leider; die dritte: Der Tod ist das Ende – zum Glück; die vierte: Der Tod ist nicht das Ende – leider.
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Die ersten beiden liegen heute Kopf an Kopf innerhalb der lebensbejahenden Mehrheit; die dritte ist bislang konkurrenzlos innerhalb der lebensverneinenden Minderheit, thematisiert in der nihilistischen Literatur, auf Selbstmordforen im Internet u.a.
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Die vierte Meinung aber ist sogar seitens der Lebensverneiner noch ein Tabu, wird allenfalls augenzwinkernd in Form von Horror Fiction verhandelt. Wer ernsthaft von diesem Worst Case ausgeht, findet in der Gesellschaft bislang keinen Rückhalt.
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1) bis 1907)
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Band 1
1) bis 365)
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1)
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Quietist bin ich im wörtlichsten Sinn, also Ruhesuchender oder sogar Ruhesüchtiger.
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Auf diesem Weg stellen sich Fragen, existentielle wie "Bringt der Tod wirklich die ewige Ruhe?" und alltägliche wie "Gibt es wirksamen Schutz gegen nachbarlichen Lärm?".
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Ich versuche, Antworten darauf zu finden – oder auch nur, mir die Unruhe von der Seele zu schreiben.
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2)
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Was ist der Ruhe am abträglichsten? Ich glaube, eine philosophische Grundeinstellung, die das Leben als einmalige Frist begreift.
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Genau dieses eindringliche Bild jedoch vermitteln als populärste weltanschauliche Gegenspieler sowohl die christliche Religion als auch der naturwissenschaftliche Materialismus. Entsprechend aktionistisch ist deren beider Anhängerschaft.
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Seelenruhe kann aber erst dann einkehren, wenn kein ominöses Außerhalb des Lebens mehr drohend oder lockend vor der Tür steht. Wenn als unbegrenzt angenommen wird, was wir als einziges kennen: lebendige Gegenwart bzw. Bewusstsein.
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3)
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Dass ich das Leben für einen immerwährenden Kreislauf ohne Alternativen wie Jenseits bzw. Nichtsein halte, entspringt nicht etwa einer lebensbejahenden Wunschvorstellung oder dem Nichtwahrhabenwollen meines endgültigen Todes.
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Ganz im Gegenteil bin ich zutiefst lebensverneinend eingestellt und würde mich wahrscheinlich sogleich umbringen, gelangte ich zu der Überzeugung, auf diese Weise meine endgültige Bewusstlosigkeit herbeizwingen zu können.
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Im Geiste von Shakespeare's Hamlet und Büchners Danton gesprochen: das Nichtsein wäre dem Sein in jedem Fall vorzuziehen. Aber ersteres ist wohl nur die leidfreie Jenseitsillusion einer Erlösungsreligion namens Materialismus.
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4)
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Nahtoderfahrungen haben mir auf eindrucksvollste Weise den Unterschied zwischen Ohnmacht und Bewusstlosigkeit gezeigt – zwei Begriffe, die der Realismus umstandslos gleichsetzt.
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Tiefste Ohnmacht bei höchstem Bewusstsein habe ich erfahren. Seitdem halte ich das Nichts im Tod für einen Wunschtraum, in den sich die Realisten hineingesteigert haben – als Ersatz für das noch unglaubwürdigere christliche Paradies.
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Wenn mir Gliedmaßen vom Rumpf abgetrennt würden, litte ich zunehmend. Wenn mir hingegen der Kopf abgetrennt würde, sollte damit plötzlich alles Leid endgültig vorüber sein? Das erscheint mir im Nachhinein doch recht weit hergeholt.
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5)
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Wer nicht mehr an das leidlose Nichtsein im Sinne endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod glaubt, muss sich mit weniger absoluten Formen der Ruhe zufriedengeben.
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Zentral ist mir da das Ritual. Vom Geist gesetzte und diszipliniert eingehaltene Gewohnheiten entspannen den Körper und nehmen der Seele die Angst.
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Körper plus Seele gleichen einem Hund, den Herrchen Geist nicht loswerden kann und der artgerecht zu halten ist, damit er nicht noch mehr Schwierigkeiten macht.
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6)
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Leute sind laut. Zwecklos, ihnen das Leisesein nahebringen zu wollen. "Seid doch bitte leiser!" zu ihnen sagen, das ist wie zu Großgewachsenen "Seid doch bitte kleiner!" sagen.
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Apropos groß: Große reden lauter, und Kleine bemühen sich, lauter zu reden, um neben den Großen nicht unterzugehen.
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Sogar telefonieren tun die Leute, als ob sie einem weiter weg Stehenden etwas zurufen müssten. Dabei haben sie das Ohr des anderen doch quasi direkt vor ihrem Mund.
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7)
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Man – und frau erst recht – hat im Ausnahmezustand der Fußball-WM 2006 die neue deutsche Lautstärke entdeckt und sie mit in den Alltag hinübergenommen.
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Befreiend, nach Jahrzehnten verschämten Ruhehaltens endlich wieder die "eigene" Fahne schwenken und johlen zu können, wie die Nachbarländer auch?
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Mag sein. Aber ach so vieles, was tief in uns drinsteckt, sollten wir besser dort belassen – auch und gerade wider die Mehrheit.
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8)
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Kinofilme und Fernsehserien zeigen sie uns in einem fort: lakonische Frauen mit sexuellem Heißhunger, redefreudige Männer mit sozialem Feingefühl.
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Um das Interesse der Zuschauer wachzuhalten, werden die realistischen Geschlechterrollen einfach vertauscht. Sie spielt seinen Part, er ihren – das ist das ganze Geheimnis.
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Wer dahintergestiegen ist, dessen Unruhe, realiter immer an die falschen Partner zu geraten, legt sich schnell und nachhaltig. Die in den Filmen sind falsch.
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9)
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Als Kind war ich leider Christ. Die Schöpfung, das Jüngste Gericht, Himmel und Hölle waren selbstverständlicher Teil meiner Lebenswirklichkeit. Vor allem von der Höllendrohung habe ich mich nie mehr erholt. Die Hölle macht ihre Gläubigen schon auf Erden zu seelischen Krüppeln.
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In der Schule traten an die Stelle der biblischen Geschichten dann naturwissenschaftliche Modelle, welche mir heute als erkenntnistheoretische Behauptungen zwar ebenfalls mehr als zweifelhaft erscheinen, aber damals geradezu erlösend wirkten. Gemessen an der christlichen Lehre ein wahrer Segen.
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Doch schon für sich und als ethisch begründete Weltanschauung genommen ist das Christentum skandalös. Ein herrischer Gott schafft mit voller Absicht das leidlose Nichts ab, für seine leidvolle Welt – und schickt schließlich alle ins ewige Feuer, die ihn dafür nicht lieben! Wer das begreift und glaubt, dem bleibt nur der Wahnsinn.
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10)
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Materialisten glauben oft auf eine nicht anders als religiös zu nennende Weise. Sind sich völlig sicher, es gäbe eine seitens der Naturwissenschaft in der Hauptsache verstandene Entwicklung vom physikalischen Urknall über die biologische Evolution bis hin zur geistigen Kultur.
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Und das, obwohl die theoretischen Erklärungen der ausschlaggebenden Übergänge zwischen Nichts, Materie, Leben und Bewusstsein weiterhin fehlen bzw. genauso willkürlich bis mysteriös anmuten wie die ansonsten doch so entrüstet abgelehnten religiösen Bilder – von experimentellen Nachweisen ganz zu schweigen.
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Ich meine, Materialisten haben meist eine eher emotionale Entscheidung getroffen zwischen Tradition und Moderne, welche ewiges Leben unter Gott bzw. endliches Leben ohne Gott versprechen. Auch ich ziehe letzeres vor, glaube aber nicht daran. Nichtsein mit einer hässlichen, aber winzigen Unterbrechung namens Leben – das klingt zu schön, um wahr zu sein.
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11)
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Kritische Distanz wahre ich sowohl gegenüber der christlichen Tradition als auch gegenüber der realistischen Moderne. Überzeugen mich evt. deren kleine Geschwister, die esoterische Mystik bzw. die subjektivistische Postmoderne?
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Nein. Denn auch diese beiden geben sich betont lebensfroh. Obwohl sie sich in vielerlei Hinsicht auf die Lebensverneiner Buddha bzw. Schopenhauer berufen, halten sie es, wenn es ans Eingemachte geht, dann doch mit den Lebensbejahern Jesus bzw. Nietzsche.
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Für mich die wahrhaftigste Lebensphilosophie: Ablehnung des Lebens bei gleichzeitiger Annahme seiner Alternativlosigkeit. Nur das ist Pessimismus und Skepsis in letzter Konsequenz – was auch immer sich heutzutage sonst noch diese Namen gibt.
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12)
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Das Leben als Kontinuum ohne Anfang und Ende anzusehen fällt nicht zuletzt deshalb schwer, weil sowohl das Christentum als auch der Realismus so machtvoll verkünden, was mit dem Tod angeblich bevorsteht.
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Wir sind gewöhnt, an ein Jenseits oder an ein Nichtsein im Tod zu glauben, weil uns das permanent vorgebetet wird. Tatsächlich aber gibt es über unsere individuelle wie kollektive fernere Vergangenheit und Zukunft keinerlei verlässliche Information.
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Wer aus einem Fenster blickt, denkt sich den gerade sichtbaren Ausschnitt der Welt nach allen Seiten hin ähnlich fortgesetzt. Paranoid, um die Ecke gänzlich Anderes oder absolutes Nichts zu vermuten. Genau das aber ist es, was in Bezug auf ihr Leben die allermeisten tun.
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13)
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Quietist sein, damit meine ich: ein Ruhiger unter Ruhigen sein wollen oder alleine in Ruhe sein wollen. Wenn es um mich herum ruhig wird, dann werde ich auch ruhig. Dann sind die ruhige Umgebung und ich eins.
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Ruhe scheint den meisten Menschen aber nicht geheuer – oder nur ein Hintergrund, vor dem man sich umso wirkungsvoller produzieren kann. So wie eine weiße Wand Schmierereien anzieht, so ist die Stille ein Magnet für Lärm.
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Ruhe geben können bzw. sich Ruhe nehmen können – darauf kommt es dem Quietisten an. Der Aktionist aber ist entweder ein Lauter unter Lauten oder er macht alleine Krach. Wenn er ja einmal Ruhe gibt, dann hat sein Umfeld allen Grund zur Sorge.
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14)
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Den Ruhesucher sehe ich als Gegenfigur zum Glückssucher.
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Aber ist Ruhe nicht nur eine spezielle Art von Glück? Nein. Den Gegensatz, auf welchen ich hinauswill, zeigt folgender Lackmustest: Die Vorstellung des Nichts als endgültige Abwesenheit von Freud und Leid ist dem Ruhesucher höchst angenehm, dem Glückssucher höchst unangenehm.
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Tatsächlich haben die Glückssucher die Ruhe auf dem Gewissen – sofern sie eines haben. Denn die aktive Glückssuche schlägt immer höhere Wellen, mit schmalen Gipfeln des Vorteils und breiten Tälern des Nachteils. Die Ruhesuche will das Gegenteil, ist gegen den Glücksaktionismus aber so gut wie machtlos.
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15)
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Wenn ich nicht mehr an ein Nichtsein oder etwas anderes jenseits des Lebens glauben kann – bin ich dann schon ein Anhänger der Wiedergeburtslehre?
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Im konkreten Sinn eher nein – wenn mit Wiedergeburtslehre ein spezielles Schema gemeint ist, nach dem man in einer Hierarchie von Lebewesen durch Seelenwanderung auf- oder absteigt.
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Im abstrakten Sinn eher ja – wenn mit Wiedergeburtslehre gemeint ist, dass das Leben im allgemeinen, also wie wir es alle kennen, ein geschlossener Kreislauf ist, aus dem es kein Entrinnen gibt.
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16)
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Das Nichts, nach meiner Ansicht niemals gewesener und niemals erreichbarer quietistischer Idealzustand, ist im Christentum der von Gott ein für allemal abgeschaffte Urzustand.
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Die beiden christlichen Endzustände Himmel und Hölle sind davon so weit wie nur irgend möglich entfernt. Stehen sie vielleicht symbolisch für den christlichen Horror vor dem Nichts?
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Die Welt läuft eher vor dem Nichts davon als darauf zu, ich muss es leider zugeben. Aber den Rest der Ewigkeit in einem der beiden Nichts-fernsten Extremzustände absitzen? Das erscheint mir dann doch wieder arg weltfremd.
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17)
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In unserer Gesellschaft gibt es wenige, die ihren nur allzu berechtigten Hass auf das Leben offen aussprechen. Aber es gibt viele, die ihn mit aller Kraft unterdrücken und schon ganz krank davon sind.
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In unserer Gesellschaft gilt es als moralische Verpflichtung, für sein Leben dankbar zu sein. Obwohl es gerade moralische Überlegungen sind, welche den Lebensbejaher zur Lebensverneinung bringen.
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In unserer Gesellschaft begehen viele Realisten Selbstmord und viele Religiöse suchen den Tod in einer sich aufopfernden Lebensweise. Vielleicht würde es jedoch fürs Erste schon genügen, dem Lebenshass verbalen Ausdruck zu geben.
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18)
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Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? Ich meine, wir sind primär eine aktive Gesellschaft von Machern und tendieren zur Antwort Henne.
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Zu den hilflosen Opfern suchen wir stets die verantwortlichen Täter oder eine höhere Gewalt. Aber was, wenn das Leid zuerst da war, und jegliche Tat nur verzweifelte Reaktion ist?
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Ich sehe alle Lebewesen als Opfer. Mag sein, dass viele irgendwann absichtlich zu Tätern werden. Aber doch nur in unschuldiger Wut auf ein grausames Leben, das war und ist und sein wird, ohne Grund und ohne Ziel.
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19)
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Schopenhauers Pessimismus hat sich bewahrheitet: Nietzsche war der schlimmste philosophische Nachfolger, der sich denken lässt.
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Sein heroischer Optimismus steht auf den Fahnen des neuen Jahrtausends, Lebensfülle vom höchsten Glück bis zum tiefsten Unglück ist angesagt – alles, nur keine Ruhe.
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Als Quietist mit möglichst bescheidenen Höhen und Tiefen meine ich aber weiterhin: die besten Momente im meinem bisherigen Leben waren die in Vollnarkose.
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20)
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Wenn Bewusstlosigkeit das quietistische Ideal ist, warum dann nicht einfach Suizidversuche oder zumindest Drogen en masse?
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Nach meiner Erfahrung ist jegliches Sichverschließen vor der Wahrnehmung der Wirklichkeit nur ein zu horrenden Zinsen aufgenommener Kredit.
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Auf Dauer gibt es keine Alternative zum bewussten Leben. Je realitätsferner der Rausch, desto realitätsnäher der Kater.
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21)
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Die moderne Skeptikerbewegung weiß um die prinzipielle Unwissenheit bzw. Unbeweisbarkeit hinsichtlich der wesentlichen philosophischen Problemstellungen. Dennoch setzt sie in allen Fragen des Lebens voll auf die Naturwissenschaft, welche sie im Kern für nüchtern und objektiv hält.
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Auf den Tod bezogen sagen die Skeptics: Wir wissen nicht, ob danach noch etwas kommt oder nicht – und ihr wisst es auch nicht! Stimmt. Aber die Menschen machen sich nun einmal Vorstellungen von dem, worüber sie nichts wissen können. Auch die Skeptiker.
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Es gilt als skeptisch, zu glauben, mit dem Tod sei alles aus. Dabei lehnt sich der Materialismus mit seinen Modellen des Bewusstseins wirklich sehr weit aus seinem Fenster. Und es ist übel, wenn die Naturwissenschaft mit solchen Behauptungen auf eher fachfremdem Gebiet Anhänger wirbt.
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22)
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Wir sind eine positivistische Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes: negativer als null kann es in unserer Vorstellung kaum werden.
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Wer an ein Paradies im Tod glaubt, ist Optimist; wer an das Nichts im Tod glaubt, ist angeblich schon Pessimist. An eine Hölle im Tod glaubt keiner – zumindest nicht für sich selbst.
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Ich glaube an die ähnliche Fortsetzung des Lebens im Tod. Und halte alle bis auf meinesgleichen (und die Höllengläubigen) für Optimisten.
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23)
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Wer sagt, dass es ihm im Himmel nicht gefallen würde bzw. in der Hölle gefallen würde, hat wohl nicht verstanden, dass diese religiösen Begriffe eben dadurch definiert sind, dass es im Himmel jedem und in der Hölle keinem gefällt.
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Die beiden gemeinhin als areligiös angesehenen Todesvorstellungen, das Nichts und das Ungewisse, sind aber tatsächlich für den Optimisten abstoßend bzw. anziehend, für den Pessimisten dagegen anziehend bzw. abstoßend.
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Noch komplizierter ist es mit meinem Modell der ähnlichen Fortsetzung des Lebens im Tod – für mich als Pessimisten ist es traurig und beruhigend zugleich. Könnte ich stattdessen an das Nichts im Tod glauben, wäre ich heute froh und morgen tot – und übermorgen?
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24)
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Sollte es nicht möglich sein, das Leben zu genießen? Erst recht, wenn es nicht als endich, sondern als ewig anzunehmen ist?
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An der Oberfläche vielleicht: indem man laut wird, sich in den Vorteil setzt, Macht ausübt. Aber wer in die Tiefe geht, kann nur traurig werden und bleiben.
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Ruhig bleiben heißt auf Macht verzichten. In der Ruhe liegt nicht etwa die Kraft, ebensowenig wie der Klügere nachgibt. Aber der ruhige Mensch ist ethisch der bessere.
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25)
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Der Hund, das Kind, der clevere Erwachsene in uns ist gerne laut. Stellt sich am liebsten dorthin, wo seine Stimme mächtig widerhallt, und bellt los. Wer nicht genug Stimme hat, geht in den Baumarkt und kauft sich Werkzeug zum Krachmachen.
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Wir sind eine pluralistisch-tolerante Gesellschaft – die Ruhigen dürfen ruhig sein und die Lauten dürfen laut sein. Ich liege und denke, mein Nachbar steht und hämmert – jedem das Seine, oder?
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Diese Asymmetrie zwischen laut und leise ist unheilbar. Die Welt ist schlecht. Das einzige Zugeständnis der Lauten an diese traurige Tatsache ist selbstironisches Lachen. Wenn das die Leisen nicht versöhnt, haben die eben keinen Humor, ja ja.
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26)
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Die moderne Psychotherapie geht zurück auf Freud, Freud auf Nietzsche.
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Wer das Leben ablehnt, ist für die Psychotherapeuten krank, depressiv.
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Ich meine, wer das Leben ablehnt, hat etwas verstanden, was die anderen nicht verstehen – oder nicht wahrhaben wollen.
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27)
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Die moderne Skepsis baut auf Physik.
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Wer kein materialistisches Weltbild hat, ist für die Skeptics ein Crank, ein Spinner.
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Ich meine, wer die materialistischen Modelle des Bewusstseins anzweifelt, hat etwas verstanden, was die anderen nicht verstehen – oder nicht wahrhaben wollen.
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28)
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Lebensverneinung treibt religiöse Menschen in den Wahnsinn und ins Martyrium.
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Lebensverneinung treibt realistische Menschen in den Suizid und in den Amok.
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Lebensverneinung ist am ungefährlichsten, wenn man nicht mehr an die Veränderung im Tod glaubt.
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29)
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Die Leute sagen, das Leben sei ein Kampf – Fressen und Gefressenwerden. Und dann lachen sie. Warum nur?
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Freude am Kämpfen finde ich verwerflich, Freude am Siegen verwerflicher, Schadenfreude gegenüber dem Besiegten am verwerflichsten. Sogar der Galgenhumor des Verlierers ist noch Huldigung des Prinzips: Überheblichkeit gegen sich selbst, Abspaltung eines Sieger-Ichs.
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Ein echter Kampf sollte nur stattfinden, wenn er wirklich unvermeidbar ist. Sieger wie Verlierer sollten den andern und sich selbst würdigen, indem sie dabei ernst bleiben.
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30)
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Während ich einerseits den echten Kampf und seine beschönigten Formen wie den Wettbewerb ablehne, bin ich andererseits einverstanden damit, die Kampflust des Tieres bzw. des Barbaren in uns auf virtueller Ebene abzufeiern.
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Schon Aristoteles aus dem antiken Athen beschreibt die kathartische Wirkung der im Theatron aufgeführten Tragödien, das Miterleben der Spielhandlung bzw. die Identifikation mit ihren Figuren als Möglichkeit der ungefährlichen Ableitung seelischer Affekte.
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Wer mediale Gewaltdarstellung und Computerspiele zu den Hauptverantwortlichen u.a. für jugendlichen Amoklauf erklärt, sollte einmal darüber nachdenken, wozu allein das moderne Versprechen endgültiger Leidfreiheit im Tod langfristig noch führen könnte.
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31)
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Der heute zunehmende Materialismus ist keine gute Philosophie für Menschen, deren Leben verglichen mit dem leidlosen Nichts schlecht abschneidet. Und diese Bilanz dürfte weltweit die traurige Regel sein. Was sollte leidende Materialisten von Mord, Euthanasie und Suizid abhalten, privat oder auch in großem Stil?
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Im antiken Griechenland glaubten die Menschen an eine Verschlechterung ihrer Situation im Tod. Der Hades war eine dunkle und freudlose Stätte, die fast keinem Toten erspart blieb. Denn um von den Göttern ins Elysion vorgelassen zu werden, musste man schon eine im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte Persönlichkeit sein.
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Die Philosophen der Antike steuerten dem allgemeinen Todespessimismus mit optimistischeren Modellen entgegen. Vielleicht wäre es heute ja an der Zeit, dass die Philosophen den allgemein sehr hohen Erlösungserwartungen an den Tod mit pessimistischeren Modellen begegnen.
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Philosophischer Gleichmut gegenüber dem Tod heißt, ihn weder zu ersehnen noch zu fürchten. Im alltäglichen Leben lässt sich das vielleicht am einfachsten verwirklichen, indem man weder von einer Verbesserung noch von einer Verschlechterung der eigenen Situation im Tod ausgeht.
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Was aber, wenn ein Mensch durch Alter oder Krankheit Höllenqualen leidet? Darf er nicht einmal vom Tod Linderung erhoffen? Muss er sich selbst ihn noch als dauerndes Dahinsiechen, als ewige Fäulnis vorstellen? Soll es somit auch keinen Freitod und keine Sterbehilfe geben?
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Ich meine schon, dass der Tod aktiv gewählt werden darf. Aber die momentane Lebenssituation sollte dann eben nicht gegen ein Paradies, das Nichts oder eine erneuernde Wiedergeburt abgewogen werden, sondern gegen das allgemeine, das durchschnittliche Los aller Lebewesen. Welches zweifellos ein schlechtes ist.
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Wenn im Tod weder die Bestrafung für ein schlechtes Leben droht, noch die Belohnung für ein gutes Leben lockt, dann steht es einem eher frei, das Gute zu tun bzw. das Schlechte zu lassen. Das Gute um seiner selbst willen ist eh das einzig wirklich Gute.
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Das Gewissen als Sammelbüchse für Plus- und Minuspunkte, gewogen an den Pforten zum Jenseits bzw. zum nächsten Leben, um ein Urteil über Beförderung oder Degradierung zu erhalten – dieses Bild kann nur einer Krämerseele Ansporn sein, deren Vorteilsstreben ihre gute Absicht Lügen straft.
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Ich stelle mir einfach ein ewig währendes Leben vor, in dem ich jeden Tag die Wahl habe, mit schlechtem Gewissen meinen Vorteil zu suchen oder mit gutem Gewissen darauf zu verzichten. Ein vorteilhaftes Leben mit gutem Gewissen ist in unserer schlechten Welt wohl nur wenigen Begabten möglich.
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"Wir wissen eh nicht, was ein Anderer fühlt – Mensch, Tier, Pflanze oder Ding!", sagt der Ausbeuter und macht sich alles untertan. Noch nicht abgestumpftes Mitgefühl jedoch hat eine große Reichweite: selbst Steine können herzerweichend knirschen.
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"Opfer wollten Opfer sein, sonst wären sie Täter geworden!", so ein weiteres Argument des Aktionisten. Aber meist konnten Opfer keine Täter werden. Und wenn doch: vielleicht wollten sie ja, wie ich, weder Täter noch Opfer sein.
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In unserer schlechten Welt ist das Glück nur die schmale Pyramidenspitze, getragen von der breiten Basis aus Leid. Aktivität macht diese Pyramide in alle Richtungen größer. Ruhe geben ist die bessere Wahl.
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Die materialistische Weltanschauung, so argwöhne ich, ist motiviert durch den Neid der am Leben Leidenden auf die vermutete Bewusstlosigkeit der Dinge.
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Und die vermutete Bewusstlosigkeit wiederum ist motiviert durch den Wunsch, die Dinge ohne schlechtes Gewissen benutzen bzw. beschädigen zu können.
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Der Materialismus bemüht sich, die Anschauung der Welt von allen Gefühlen zu befreien. Mit vorfreudigem Blick auf die von ihm verheißene endgültige Gefühllosigkeit im Tod.
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Totenstille ist leider sehr selten. Und sogar für Ruheliebhaber zu still. In einem schalltoten Raum, dessen Wände jeden Laut schlucken, kommt unwillkürlich Beklommenheit auf – das Tier in uns kriegt Angst. Während sich der Geist an der Stille erfreut, wird der Körper unruhig.
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Praktikable Ruhe ist nicht völlige Stille, sondern gleichmäßiges Geräusch ohne störende Schwankungen bzw. Informationen. Etwa das Rauschen fließenden Wassers oder strömenden Regens. Es lullt ein und kann leisere Störschalle völlig verdecken.
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In akustisch aufdringlicher Umgebung stecke ich mir Stöpsel in die Ohren und beschalle mich zudem mit weißem Rauschen. Beim Zugfahren verwende ich inzwischen sogar Im-Ohr-Kopfhörer mit Gehörschutzkapseln darüber. So hasse ich meine lauten Mitreisenden weniger.
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Ruhesuche – ist nicht bereits der Begriff ein Widerspruch in sich? Schon, aber durch bloße Passivität stellt sich keine Gemütsruhe ein. Gar nichts tun hieße, alles einstecken zu müssen, was auf einen hereinprasselt. Das wäre schnell so anstrengend, dass der Passive nicht mehr an sich halten könnte, ausfällig würde. Amokläufer haben zu viel erduldet.
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Besser als Aushalten ist Davonlaufen. Die Flucht halte ich ungeachtet ihres schlechten Rufs für das quietistische Mittel der Wahl. Ein wacher Geist sucht kontinuierlich nach den wenigen Nischen, wo die Gesellschaft das Individuum noch in Ruhe lässt. Wohl dem, der sein Heil im Rückzug findet, bevor er sich verteidigen oder gar angreifen muss.
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Die sogenannte Befriedung ist nämlich selbst ein kriegerischer Akt. Wer der Unruhe um der Ruhe willen gewaltsam begegnet, stellt sich mit den Aufrührern auf eine Stufe. Wer sich nicht wehrt, lebt doch nicht verkehrt – wenn er die Zurückgezogenheit dem Kampf mit einer Urgewalt vorzieht, gegen die sich aus prinzipiellen Gründen nichts ausrichten lässt.
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Ruhe nimmt anderen nichts weg. Eigenes Glück ohne Unglück anderer dagegen ist fast unmöglich. Das himmlische Vergnügen einer Bergtour beispielsweise richtet unter derben Schuhsohlen eine Hölle aus halb zertretenen Kleintieren an. Und für die "verdiente" Stärkung der hungrigen Wanderer erleidet das Schlachtvieh lebenslange Folter.
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Was wir beschönigend Arbeit, gar Wertschöpfung nennen, ist meist nur gewaltsame Umverteilung – Vorteil für uns, Nachteil für andere. Die Summe ist nicht positiv oder null, sondern negativ: Nutznießer freuen sich weniger als Ausgenutzte leiden. Die Bürger der westlichen Welt stehen unbequem auf dem Gipfel eines Berges aus Menschen ärmerer Länder.
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Denker sind harmloser als Macher. Mit einem guten Buch reglos auf dem Bett zu liegen erscheint mir moralisch korrekter. Und nach einem guten Gespräch sind gar alle Beteiligten reicher als zuvor. Je mehr dagegen der Aktionist physisch in Bewegung setzt, desto mehr bezweifle ich sein vorgebliches moralisches Verdienst.
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Denker suchen die Ruhe im Alleinsein, Macher die Action in Gesellschaft. Woran liegt das?
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"Ihr seid doch nicht alleine hier!" sagt man mit vorwurfsvollem Unterton zu Kindern, die es allzu bunt treiben. Sie merken nicht, dass sie sich rücksichtslos gegen andere verhalten, oder finden gerade das aufregend, weil es sie ihnen scheinbar näher bringt.
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Macher sind wie diese Kinder, wie Gott bei der Schöpfung: kämpfen trotzig gegen ihre innere Einsamkeit, hobeln hektisch drauflos, blind für die fallenden Späne. Denker dagegen sind selbst in ruhiger Abgeschiedenheit noch verbundener mit der Welt als ihnen lieb sein kann, weil sie deren Leid begreifen und permanent mitfühlen.
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Ich fühle mich nicht als Geschöpf, weder Gottes noch meiner Eltern noch meiner selbst. Sonst müsste ich ihnen böse sein, mich geschaffen zu haben.
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Ich bin schon, solange ich denken kann. Mein Körper will dieses Leben, mein Geist nicht. Ich halte zu meinem Geist, dem Unterlegenen von beiden.
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Wer nicht mehr leben will, kann versuchen, sich zu erschlagen. Das Wort Selbstmord trifft es: freiwillig geht kein Körper. Und wenn er geht, was kommt dann?
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Ich glaube, dass es nach dem Tod im Wesentlichen so weitergeht wie zuvor bzw. dass es leider nur das Leben gibt.
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Ich will aber das absolute Nichts im Tod, denn es wäre Gleichheit pur. Niemand hat jemals mehr oder weniger verdient als Nichtsein.
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Ich weiß aber, dass mein Schicksal im Tod ein völlig ungewisses ist. Was fälschlicherweise nahelegt, der Tod müsse das ganz Andere sein.
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(Ich kann aber nicht ganz umhin zu fürchten bzw. zu hoffen, dass im Tod eine Verschlimmerung bzw. Verbesserung eintritt.)
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Wissen im Grunde nicht alle, dass sie am Leben vornehmlich leiden und dass der Tod ein ungewisses Schicksal bedeutet?
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Die Lebensfrohen verdrängen es mit aller Macht, übertönen es mit geschäftiger Unruhe und lautem Humor. Vielen mag es sogar gelingen, sich selbst zu täuschen.
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So weit, so klar – fraglich noch, warum manche es diesen mit Gewalt Glücklichen nicht nachtun wollen, selbst wenn sie es könnten. Was ist besser: tief traurig oder oberflächlich fröhlich?
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Die Wut aufs leidvolle Leben demoliert zuerst Spielzeug und Schulklos, zerstört zuletzt Wolkenkratzer und Nationen – aber in formelhaften offiziellen Verlautbarungen bleiben die Motive stets rätselhaft, die Friedlicheren voll Abscheu und Unverständnis.
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Wir wurden erzogen, vom Schönen wortreich zu künden und vom Hässlichen betroffen zu schweigen. Je kultivierter der Mensch, desto betonierter sein auswendiges Grinsen und sein inwendiges Grimmen. Optimismus lügt sich die Welt systematisch schön.
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Ich warte auf den ersten Medienbericht, der Mitgefühl und Verständnis für ein Attentat auf das Leben gesteht. In kleinen Häppchen runtergeschlucktes Lebensleid kommt in großen Schwällen wieder hoch – diese Wahrheit zugeben zu können wäre ein Anfang.
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Die Anzahl der unangenehmen Erfahrungen dürfte in fast jedem Leben die der angenehmen weit übersteigen.
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Pessimisten unterscheiden sich von Optimisten nur durch ihre Bereitschaft zur unverblümten Schlussfolgerung: Die Welt ist schlecht.
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Zeitgenössischer Optimismus versucht, das zu verhindern, indem er Verallgemeinerungen allgemein tabuisiert. Die Welt bleibt schlecht.
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Vernünftige Menschen, die ihr Leben lieben, seinem Ende traurig aber gefasst entgegensehen und nicht an ein Leben nach dem Tod glauben – sie machen mich bisweilen unsicher, ob ich mich für klüger halten darf als sie.
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Aufgeklärte Menschen ohne Traumata und Nahtoderfahrungen nehmen quasi automatisch diese "gesunde" Entwicklung. Aber ist das generelle Leiden am Leben und der Zweifel an seinem Ende deshalb als "kranker" Sonderfall abzutun?
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Jene Minderheit der Gesunden, vielleicht sogar Glücklichen, kann meine negative Gesamtbewertung des Lebens nicht verhindern. Dem unbestechlichen Geist genügt eigentlich schon ein einziges Unrecht, um das Nichtsein dem Sein vorzuziehen.
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Gerechtigkeit wäre immer noch schlechter als Nichts. Das Leid würde nur gleichmäßig verteilt oder mit Freude aufgewogen. Streben nach Gerechtigkeit akzeptiert Herrschaft, solange die Bilanzen stimmen.
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Wer sich durch Freude mit dem Leid versöhnen lässt, ist käuflich. Wie überhaupt die Versprechungen von Gott und der Welt für Krämerseelen gemacht sind, die sich ihre Nachteile lieber durch Vorteile vergelten lassen als sich beidem zu verweigern.
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Ewiges Hin und Her ist den Händlern dieser Welt ein Selbstzweck. Ohne Stolz schaukelt es sich leichter auf den Wellen des mächtigen Schicksals, heulend hinab und jauchzend wieder hinauf. Weniger wäre mehr, Nichts wäre am meisten.
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Gegen das Christentum wird typischerweise mit dem Atheismus argumentiert – der aber gar nicht den direkten Gegenpol bildet, sondern eher abseits davon steht.
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Warum nicht einen Gegengott an die Wand malen, der Skrupellosigkeit belohnt und Gutmütigkeit bestraft? Ließen sich Welt und Mensch nicht viel besser als Machwerk bzw. Ebenbild dieses bösen Gottes erklären?
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Dass Gott mächtig und gut sei, passt ebensowenig zusammen wie dass der Mensch mächtig und gut sei. Wo der Mensch am meisten Macht ausübt, richtet er am meisten Unheil an. Am besten ist der Mensch, wo er sich im Machtverzicht übt.
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Quietismus bedeutet mir die Einsicht, dass ich ein angenehmes Leben nicht verlangen kann, nicht erbitten soll, aber auch nicht verdienen muss – nicht einmal geschenkt bekommen will.
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Mein intuitiv gefühltes aber leider nicht einklagbares Recht ist es, kein unangenehmes Leben ertragen zu müssen.
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Es besteht für mich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Positiven und der Negation des Negativen: mein Quietismus verzichtet auf alle Freiheit, besteht aber auf jeder Unabhängigkeit.
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Wer ist religiös? Ich meine, religiös ist, wer bewusstes Vertrauen in eine bestimmte Weltanschauung setzt und in existentiellen Nöten seelischen Trost daraus zu schöpfen vermag.
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Religiös somit auch, wer nach Art der Realisten dem Tod die endgültige Erlösung von allem Leid zutraut. Vielleicht ist es sogar der Inbegriff von Religion, die letzte Rettung im Tod zu platzieren.
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Meine vergleichsweise fragile und traurige Religion besteht darin, das Leben für einen ewigen Kreislauf ohne Ausweg zu halten. Wer gut hinsieht, ahnt das Schlimmste also schon.
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(Ohne Religion ist für mich nur, wer entweder nicht darüber nachdenkt, worauf er grundsätzlich vertraut, oder in ständiger Furcht lebt, gleich in den Abgrund der Hölle zu fallen.)
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Gläubige sind verwundbarer als "Ungläubige". Stellen Behauptungen auf, die Widerspruch, wenn nicht Hohn herausfordern. Realisten wirken überlegen mit ihrem Unglauben bezüglich eines Lebens nach dem Tod – positiv gewendet aber klingt ihr Glaube an eine von uns unabhängige Außenwelt, von der unsere Innenwelt abhängen soll, eher mysteriös.
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Ich formuliere auch lieber negativ: Ich glaube nicht an das Ende des Leidens im Tod. Mit der positiven Behauptung eines ewigen Lebenskreislaufs lehne ich mich nach meinem Gefühl schon viel zu weit aus dem Fenster. Außerdem fragt dann jeder gleich, wie das gehen solle: Wiedergeburt? Falls ja: als was? usw.
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Gewagte Antwort: Unser inneres Lebensgefühl aus Leid und Angst mit dem Puderzucker von Freude und Neugier darüber ist universal. Wie sich das Leben körperlich manifestiert, ist vergleichsweise egal. Wer vor allem wissen will, welche äußeren Formen es noch annehmen wird, flüchtet sich ins unwichtige Spezielle, statt sich dem wichtigen Allgemeinen zuzuwenden.
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Traditionell gelten die Materialisten mit ihrer Vorstellung vom endlichen Leben als "ungläubig", die Spiritualisten mit ihrer vom unendlichen Leben als "gläubig".
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Aber jemand wie ich, der das Leben hasst, findet die Zukunftsaussichten des Materialismus wesentlich tröstlicher als die des Spiritualismus.
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Ich habe durch Nahtoderfahrungen meinen Glauben an das Ende verloren und werde als gläubig belächelt, wenn ich davon erzähle – doppelte Strafe.
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Viele Menschen wollen ein ewiges Leben und glauben auch an ein ewiges Leben.
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Viele Menschen wollen ein ewiges Leben, glauben aber nicht an ein ewiges Leben.
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Viele Menschen wollen kein ewiges Leben und glauben auch nicht an ein ewiges Leben.
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(Wenige Menschen wollen kein ewiges Leben, glauben aber an ein ewiges Leben.)
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Ende des letzten Jahrhunderts halfen wir sanften Softie-Männer freiwillig zu den Frauen – für eine weiblichere Welt.
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Anfang dieses Jahrhunderts dienen wir den Macho-Frauen unfreiwillig als Punching-Ball – für eine männlichere Welt.
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Die Revolution frisst ihre Kinder.
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Lebenskünstler. Auf einem Grashalm kauend den Blick übers unberührte Land schweifen lassen, ruhig und bedürfnislos. Ein intellektuelles Schwätzchen, ein vegetarisches Mahl – wem nimmt einfacher und reiner Lebensgenuss denn bitteschön etwas weg?
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Solche Gedanken kommen der Upper Middle Class in den Ferien, sind die Früchte einer berufsmäßigen Ausbeutung der Erde, eines funktionierenden HighTech-Gesundheitssystems und einer kraftstoffaufwendigen Reise raus in die Natur.
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Selbst wenn das Simple Life dem Einzelnen in Ausnahmen ethisch korrekt gelingen mag – die sture Masse ist mit Riesenschritten unterwegs zum immer höheren Verbrauch. Frieden bleibt Kurzurlaub vom Krieg.
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Neugeborene sind am ehrlichsten, schreien ihr Lebensleid stundenlang aus sich heraus. Die Umstehenden reagieren mit festgeschraubtem Lächeln. Taub für den Weltschmerz in seiner ursprünglichsten Form, unterstellen sie stets nur Hunger und Müdigkeit.
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Heranwachsende, die weiterhin keine gute Miene zum bösen Spiel machen, "wissen eben nicht, was sie wollen". Zu wissen, was sie nicht wollen – leiden nämlich – nützt ihnen nichts. Zuckerbrot und Peitsche forcieren frohe Momente, die fotografiert und in Alben geklebt unsere glückliche Kindheit beweisen.
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Große, die ihr Leben immer noch als Zumutung statt als Geschenk empfinden, schimpft man undankbar, verhöhnt sie als Jammerlappen und Weicheier. Wer gar nicht mitlügen will oder kann, gilt als krank, muss zum Psychiater. Wenn auch die Drogen nicht mehr helfen, bleibt nur noch Isolation und Selbstmord.
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Die wichtigsten Fragen des Lebens sind entweder out oder waren nie in. Wann ist der Tod dem Leben vorzuziehen? Sollte man Kinder in diese Welt setzen? Handytarife und Beautytipps stoßen auf ungleich mehr Interesse.
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Neben dem Leichtsinn gibt es hierfür aber auch einen verzeihlicheren Grund: Antwortversuche auf so existentielle Fragen haben in ihrer mangelhaften Begründbarkeit etwas Empörendes, können nur willkürliche Meinungen sein.
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Ich meine trotzdem. Der Tod ist dem Leben vorzuziehen, wenn man beginnt, alles Leben um sich herum zu beneiden. Und Kinder sollte nur in die Welt setzen, wer das Leben aus guten Gründen lieben und diese auch weitergeben kann.
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Wer Ruhe will, entwächst damit nicht nur seiner Kindheit, sondern auch den meisten Erwachsenen. Diese kommen dem Quietisten vor wie lärmende Gören, die endlich rund um die Uhr aufbleiben dürfen.
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Optimisten meinen oft, man solle sich den kindlichen Ungestüm erhalten, aber das Klagen übers Leben verkneifen. So hat auch mein ungefilterter Pessimismus für andere etwas ärgerlich Unreifes.
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Quietisten zwingen den anderen ihre Art aber nicht auf. Laute tun genau dies, vor denen gibt es kein Entkommen. Wir Leisen dagegen stören nicht, und auch dunkle Homepages braucht keiner zu lesen, der das nicht möchte.
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Das Leben ist nicht gewollt, sondern gemusst. Zumindest vom Geist, mit dem ich mich mehr identifiziere als mit dem Körper. Das Gerede von der geistigen Liebe zum Leben ist aus der Not geborene Pseudotugend.
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Unser drängendes Dasein als Tiere lässt uns kaum eine Wahl. Dem Geist bleibt nur ausnahmsweise der ethisch motivierte Verzicht auf das Ergreifen eines Vorteils, der anderen zum Nachteil gereicht hätte.
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Wir können unser Lebensschiff auf den Wellen des Schicksals ein klein wenig zwischen unethischer Lebensfülle oder ethischer Lebensleere hin- und hersteuern, das ist schon alles. Erstere ist Freiheit, letztere Unabhängigkeit.
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Ganz in seinem Element sein – kann das jeder?
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Ich glaube nicht.
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Begabte Künstler sind die seltene Ausnahme.
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Ruhige Zurückhaltung ist am Aussterben.
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Softies können spätestens bei den eigenen Kindern Freude und Stolz nicht verhehlen, wenn diese mit lautem Durchsetzungsvermögen der Grausamkeit anderer Kinder weniger ausgeliefert sind als jene es selber waren.
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Sanftmut können sich nur noch die leisten, denen man deutlich ansieht, dass sie auch anders können.
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Laut oder leise, optimistisch oder pessimistisch – eher Veranlagung als Wahlmöglichkeit.
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Persönlich aussagekräftiger fast, was davon man sich zu sein wünscht.
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Ich bin leise und pessimistisch – und will es sein, weil die Leisen und die Pessimisten rechthaben.
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Grob unterscheide ich drei Gruppen der Weltbevölkerung, die an Himmel und Hölle, an das Nichtsein und an die Wiedergeburt im Tod glauben.
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Die dritte ist die kleinste und beträgt sich am anständigsten – weshalb sie realiter ausgerottet wird. Siehe China vs. Tibet.
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Wer im Tod eine echte Alternative zum Leben sieht, geht mit dem Leben schändlich um. So einfach wie wahr.
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Das wichtigste Heilmittel des Arztes ist seine Autorität, und auch damit kommt er gegen die meisten Krankheiten nicht an.
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Aber für sich selbst schöpfen Ärzte Kraft daraus, ihre Patienten anzuleiten. Kaum jemand hat soviel Gewalt über ansonsten mündige Erwachsene.
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In der Psychotherapie lenkt keine Technologie von diesem Machtprinzip ab. Heilung heißt unabhängig werden vom Coach. Aber wie süchtig sind diese Herren nach Herrschaft?
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Den Lautsprecher sehe bzw. höre ich als Quietist mit sehr gemischten Gefühlen.
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Sicher haben die technischen Kommunikationsmedien viel zu unserer geistigen Kultur beigetragen. Aber dem Hitler im Großen wie auch dem Musiker im Kleinen gab und gibt der Lautsprecher definitiv zu viel Macht.
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Der beste Lautsprecher ist noch der geschlossene Kopfhörer, weil er andere nicht stört.
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Akustische Macht ist viel zu groß: eine Quelle erzeugt Schwingungen, die sich in – zumindest für den Quietisten – allzu schwach gedämpften Wellen ausbreiten, und die jeder Empfänger im weiten Umkreis wohl oder übel mitmachen muss.
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So sind und bleiben wir mit unseren Nachbarn über die dem Auge nichtige Luft nahezu untrennbar verbunden. Gegen jemanden, der dieses Medium in bester Absicht oder unbekümmert oder böswillig anregt, ist fast kein Kraut gewachsen.
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Oh könnte man doch die Ohren ausrichten und verschließen wie die Augen! Spätestens über unser Gehör sind wir der Umwelt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gehorsam kommt von Hören. Und wer nicht hören will, muss fühlen.
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Die Aufklärung favorisiert schon mit ihrem Namen die visuelle Welt. Das Optische ist viel freiwilliger als das Akustische, das Licht drängt sich viel weniger auf als der Schall.
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Ein gesunder Blick ist gerichtet wie ein Pfeil, kann anschauen, was er will, und absehen, wovon er will. Und Bände sprechen – wer schielt, bekommt seinen Silberblick als kommunikative Behinderung zu spüren.
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Blindheit soll ja weniger behindern als Taubheit, wegen der sozialen Funktion auditiver Kommunikation. Dennoch, müsste ich wählen, sollte mir Hören und nicht Sehen vergehen.
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Der Wunsch nach dem Nichtsein gilt in unserer realistischen Gesellschaft automatisch als krankhaft, wird mit Depression und Suizidalität gleichgesetzt.
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Der als höchst sinnvoll aber unerfüllbar erachtete Wunsch nach dem Nichtsein – für diesen Seelenzustand muss man Begriffe und Vertreter schon mit der Lupe suchen.
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Seine Namenlosigkeit ist mit das Schlimmste an solchem Anderssein. Erst wer ein gängiges Wort vorzuweisen hat für das, was mit ihm los ist, kann aufatmen.
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"Wie geht es dir?". Mir geht es schlecht.
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Aber mir geht es besser als den allermeisten.
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Am besten wäre, niemandem ginge es wie auch immer.
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"Du kannst es schaffen, wenn du nur willst!" – so muten uns Optimisten Unmögliches zu. Bürden Verantwortung auf, unter der wir umsonst leiden. Sprechen alle der Unterlassung oder des Ungenügens schuldig, wo fast alle nur Zuschauer oder Verschlimmerer sein können.
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Wir verstehen die Welt so gut wie gar nicht. Können wir uns etwa aussuchen, wozu wir fähig sind, wen wir lieben, was wir hassen? Nein. Das Allermeiste geschieht einfach mit uns, ob wir wollen oder nicht. Ist ein zufälliger Erfolg die tausend Fehlschläge wert?
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Der Optimist meint, wir vergäben uns ja nichts, indem wir freudig, wenn auch am Ende vergeblich, an unsere Kompetenz glaubten; wir könnten auch überoptimistisch nur gewinnen. Falsch. Wer einlenkt, wo er nichts ausrichten kann, schadet sich und anderen weniger.
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Gleichstellung kann – wenn überhaupt – nur Realität werden, indem wir Wert darauf legen. Unser Instinkt ist nämlich Hierarchist, sieht entweder zum anderen auf oder auf ihn herab.
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Schon bei der ersten Begegnung zweier Menschen entscheidet er im Sekundenbruchteil, wer führt. Freiwilligen Verzicht auf die dominante Rolle wertet er als devot.
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Das Motto der vom Kopf zum Bauch hinabgewanderten Frauenbewegung: "Bis jetzt lag ich unten, ab jetzt lieg ich oben!". Auf Augenhöhe würden sich die meisten langweilen.
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"Wie geht es dir?". Mir geht es schlecht.
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Aber ich würde mit keinem tauschen wollen.
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Denn ich glaube nicht, dass es den anderen wirklich gut geht, obwohl bzw. gerade weil sie es ständig beteuern.
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Die Tiere im Zoo sind den Kindern genauso ausgeliefert wie die Kinder ihren Eltern. Deshalb ist der Zoobesuch am Wochenende bei Familien so beliebt.
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Welche Freude, diese Tiere zu streicheln, zu füttern, herumzukommandieren! Ohne die selber unfreiwillig erduldete Herrschaft derart nach unten weitergeben zu können, ginge die Kinderseele wohl ein.
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Ist ein Gott glaubwürdig, der sich einen Zoo anschaffen wollte, ohne selbst aus einem Zoo zu stammen? Von Ewigkeit zu Ewigkeit scheint leider plausibler als jeglicher Anfang und jegliches Ende.
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"Kinder wollen ihre Grenzen erfahren!" – neokonservative Pädagogik setzt der Gängelung unserer Kleinsten ihre zynische Krone auf.
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Und der Panther im Käfig läuft verzweifelt bis apathisch am Gitter entlang, weil er sich ohne Gitter langweilen würde, hm?
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Freiheit ist per definitionem grenzenlos. Im Käfig gibt es keine Freiheit. Echte Freiheit endet nicht, wo des anderen Freiheit beginnt – entweder unfrei oder frei auf Kosten des anderen.
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Zur Freiheit ermutigte Kinder werden glückliche Despoten, für ihren Gehorsam geschätzte Kinder werden unglückliche Duckmäuser oder Rebellen – und unwillkommene Kinder werden suizidal oder laufen Amok.
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Was also? Dionysisch, christlich oder modern? Alle drei Wege machen mir ein ungutes Gefühl.
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Doch ich fürchte, gar keine Kinder sind auch kein Ausweg. Es gibt keinen.
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Schüler lernen Integralrechnen, das gehört zur Allgemeinbildung. Doch nur ein winziger Prozentsatz von ihnen wird je ein wirkliches Problem haben, das nur mithilfe der Integralrechnung zu lösen ist.
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Nicht einmal die Mathelehrer selber stehen gelegentlich vor Problemen, wo sie dieses Werkzeug gebrauchen könnten. Und schließlich finden gar die Mathematiker aus der reinen Theorie heraus neue mathematische Methoden.
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So sehr ich Geistesmensch bin: da gehört der Unterricht vom Kopf auf die Füße gestellt. Erst wer den Integralen im Zuge sinnvoller Projektarbeit begegnet, wird ihre Berechnung als befriedigend und nicht als quälend empfinden.
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Lifelong Learning ist zynischer Unsinn, jedenfalls in beruflicher Hinsicht.
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Sinnvollerweise gibt es Lehrjahre, Meisterjahre und den Lebensabend.
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Lifelong Learning nimmt uns die beiden letzteren und verkauft das auch noch als coolen Lifestyle.
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Wem geht es gut? Dem, der lieber ist als nicht ist.
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Materialismus als Weltreligion kann erst funktionieren, wenn es den allermeisten gut geht.
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Wir stammen schon deshalb aus Zeiten mit einem bedrohlicheren Jenseits, weil der Materialismus mit seinem leidlosen Nichtsein im Tod uns alle in den Selbstmord getrieben hätte.
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Wem geht es subjektiv gut? Dem, der lieber ist als nicht ist.
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Wem geht es objektiv gut? Dem, dessen Lebensschicksal unterdurchschnittlich unangenehm ist.
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Letzteres schafft immerhin die Hälfte. Ersteres schafft fast keiner, der schon bzw. noch bei Verstand ist.
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Grinsen heißt, sich im Vorteil zu wähnen. In Interviews grinst, wer auf seine Vorteilnahme angesprochen wird, wo sie nicht zu ahnden ist. Ertappter Schlingel – zwei lustige Wörter, oder?
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Bedenkenlose suchen Vorteile und freuen sich über alle, derer sie nur habhaft werden können. Lachen ist das Zeichen bedenkenlosen Siegens, ist immer Überheblichkeit.
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Lachen ist Lachen über jemanden – und sei es die eigene Person bzw. ein davon abgespaltenes Verlierer-Ich. Beim Lachen mit jemandem ist der verlierende Dritte nie weit. Der gute Mensch könnte gar nicht mehr lachen.
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Die Spaßgeneration trainiert das Johlen, die Klatschgeräusche ihrer High Fives signalisieren chronifizierten Triumph.
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Dale Carnegie sagt: Wer lange genug so tut, als sei er glücklich, wird es tatsächlich. Wenn das stimmt, sind wir auf dem besten Weg.
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Wahrscheinlicher jedoch, dass die Glücklichtuer ihren aufgestauten Frust schließlich an denen auslassen, die nicht mittun.
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Hält sich der Quietist für etwas Besseres?
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Ich denke, überheblich ist der Aktionist. Die von seinem Tun Betroffenen müssen reagieren: Mitmachen oder Protestieren oder Weglaufen oder Aushalten.
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Wer auf Aktionismus verzichtet, ist für mein Empfinden der bessere Mensch – keiner, der sich über andere erhebt, sondern einer, der eben das nicht will.
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Gut, dass es beides gibt – Ruhige und Laute?
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Für die Lauten ja, für die Ruhigen nein.
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Jedem das Seine – aber laut kann eben nicht bei sich bleiben.
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Die Sprachfindung eines Volkes erspürt feinste Unterschiede, heißt es. Doch sie zeigt auch gröbste Undifferenziertheit, etwa wenn in der besprochenen Welt nicht sein kann, was nicht sein darf.
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"Gut", ein sehr häufiges Adjektiv, bezeichnet sowohl ethischen Anspruch als auch pragmatischen Vorteil. Obwohl sich beides in aller Regel ausschließt. Wie Leisesein (gut1) und Lautsein (gut2).
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Soll die dreiste Gleichsetzung suggerieren, ein guter Mensch zu sein mache zum Gewinner? Dieser Wink mit dem Zaunpfahl ist vielleicht gut gemeint, aber so lügt uns die eigene Sprache mitten ins Gesicht.
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Ruhestörung – ein Kavaliersdelikt. Wer achtet schon auf Mittags-, Nacht- und Feiertagsruhe. Zimmerlautstärke wahren? Die Forderung mutet spießig an, wenn nicht faschistoid. Let's get loud! Je fetter der Sound, desto größer der Spaß. Wozu haben wir Freizeit, wenn nicht zum Gasgeben, Heimwerken, Partymachen etc.?
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Fernsehidole – allesamt von der lauten Truppe, ob Fiction oder Reality. Ihren dröhnenden Auftritt umrahmt jedoch eine seltsam realitätsferne Stille, dank Studiodisziplin und Richtmikrofon. Dieser lautlose Hintergrund bzw. die dort verbleibenden Statisten aber sind nur den allerwenigsten Vorbild.
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Lärmschutzverordnungen – zahnlose Papiertiger. Schallquellen so aufzudrehen, dass sie stören, ist leicht; dB(A)-Richtwerte zu verfehlen ist schwer. Strengere Messgrößen und Grenzwerte Fehlanzeige. Sonst dürften z.B. keine Flugzeuge mehr über unsere Dächer fliegen – und unsere Helden müssen doch ihre Flieger kriegen...
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Lärm wird gern als unvermeidliches Abfallprodukt notwendiger Maßnahmen gerechtfertigt. Der Lebensraum des Aktionisten ist aber prinzipiell "under construction".
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Da liegt der Verdacht nahe, dass die meisten Arbeiten umgekehrt nur Vorwand für lautes Auftreten sind. Wie viel Befriedigung ließe lautloses Werkzeug den Fleißigen noch übrig?
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Selbstgemachter Lärm ist gesund. Lauter als die anderen zu sein verlängert das Leben. Dem rüstigen Neunziger sieht man sogar seinen unverhohlenen Kommandoton nach.
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86)
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Wäre ich gerne nicht? Ja. Wäre ich gerne jemand anders? Nein. Warum wäre ich nicht gerne jemand, der gerne ist?
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Weil ich Nichtseinwollen für intelligent und ethisch richtig halte. Selbst wenn es keinen verstandenen Weg zum Nichtsein gibt.
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Wer gerne ist, dem unterstelle ich Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder Schadenfreude gegenüber seinen Opfern.
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87)
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Nichtseinwollen heißt, weder Täter noch Opfer sein zu wollen, weder Freude noch Trauer empfinden zu wollen.
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Wer das Nichtsein "positivistisch" als absoluten Nullpunkt i.S.v. unterste Grenze ansetzt, dem entgeht diese Symmetrie.
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Wer Opfer zu sein immer noch besser findet als nicht zu sein, ist stärker als ich bzw. hat noch nicht wirklich gelitten.
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88)
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Wählen heißt noch nicht, einen positiven Willen zu haben. Wer das kleinere Übel wählt, weil es nur Übel gibt, stimmt diesem Übel deshalb noch lange nicht zu.
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Es ist zynisch, einem Opfer, das sich nicht wehrt, Einverständnis zu unterstellen. Und wenn es sich dann wehrt, zu sagen, zum Streiten gehörten immer zwei.
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Selbst den Nichtseinwollenden unterstellen die Lebensbejaher noch den Willen zum Nichts. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
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89)
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Das Nichtsein liegt genau mittig zwischen höchstem Himmel und tiefster Hölle – und damit für die allermeisten Lebewesen unerreichbar hoch.
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Nur eine kleine Spitze der Lebenspyramide reicht in den oberen Halbraum dieses Koordinatensystems, nur für diese ist das Sein dem Nichts vorzuziehen.
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Und wo ist ein völlig unbekanntes Schicksal zu positionieren? Als Pessimist meine ich: unterhalb des Lebens. Sonst wäre ich vielleicht schon tot.
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90)
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Wie gut könnte der Mensch aus freien Stücken werden? Auf welche Vorteile könnte er verzichten? Und auf welche müsste er darüber hinaus noch verzichten, damit es auf der Welt einigermaßen gerecht zuginge?
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Der Vergleich unseres westlichen Lebensstandards mit dem weltweiten Durchschnitt zeigt: es bedürfte schier weltmeisterlicher Askese, nicht zu nehmen, was uns nicht zusteht.
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Gegen diese traurige Wahrheit hilft nur fröhliche Ignoranz. Zu bewundern bei den Reichen, z.B. auf Charity-Veranstaltungen im Fernsehn: Publicity plus gutes Gewissen für wenige Promille ihrer astronomischen Gehälter.
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Warum nicht rigoros trennen zwischen einer rücksichtslosen virtuellen und einer rücksichtsvollen realen Welt? Sollte doch pädagogisch einfach zu vermitteln sein.
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Warum Regeln auch dort, wo niemand Schaden nehmen kann? Gespielte bzw. computeranimierte Darstellung jedweder verbotenen Handlung sollte legal sein.
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Im Als-Ob-Modus nach Belieben auf- und wieder abgeregt, könnte sich der Mensch realiter umso gesitteter verhalten. Anstatt ernsthaft entrüstet auf exzessives Spiel zu zeigen und realen Frevel mit Humor zu verharmlosen.
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Ich wollte nicht mit jemandem tauschen, der sich besser fühlt als ich, weil mir Wahrheit wichtiger ist als Glück.
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Ich fühle mich zwar schlecht, aber ich halte dieses Gefühl für wahrhaftig. Andere sehen nicht in den Spiegel, um naiv und fröhlich bleiben zu können.
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Mir graust es davor, dass Menschen glücklich sind, weil sie die Wahrheit über ihr Leben als Monster nicht wahrhaben wollen.
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Mitleid ist out.
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Sowohl den extremen Subjektivisten als auch den extremen Objektivisten können die Gefühle der anderen gestohlen bleiben. Denn für erstere gibt es nur die eigenen Gefühle, für letztere gibt es gar keine.
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Als gemäßigter Subjektivist ist für mich zwar nur das Empfundene wirklich, jedoch eben auch das der anderen. Traurig, aber wahr: bekennendes Mitleid desavouiert der Zeitgeist, indem er ihm Überheblichkeit nachsagt.
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Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind. Und geben damit den schwarzen Peter eines unlösbaren Lebensdilemmas an sie weiter.
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Denn einerseits werden die Kinder dazu erzogen, ehrlich zu sein. Andererseits aber werden sie ausgeschimpft, wenn sie andauernd maulen.
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Wie also auf das hassenswerte Leben reagieren? Eine richtige Reaktion gibt es nicht. Und auch Erwachsenwerden hilft da eher wenig.
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Was wird mit mir im Tod? Ich weiß es nicht. Trotzdem finde ich es immer wieder verwunderlich, wie wenig über diese Frage nachgedacht wird. Ich selbst habe viel darüber nachgedacht und wage es, hier meine momentanen Top Five zu präsentieren:
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Am wahrscheinlichsten kommt mir vor, dass sich im Tod nichts Wesentliches ändert: im Grunde bleibt Leben also immer Leben, egal wo oder als wer bzw. was. An zweiter Stelle steht das ganz Andere, ein mit dem bisherigen Dasein völlig unvergleichlicher Zustand. Drittens dann das Nichtsein.
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Platz vier und fünf erscheinen mir dagegen bereits ziemlich konstruiert. Da wäre viertens die Hölle als dem Leben vergleichbarer, aber als maximal leidvoll empfundener Zustand. Und fünftens der Himmel als maximal freudvoller Zustand. Verrückt? Mag sein, aber wenigstens mal konkret.
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Mit Volldampf zur ewigen Ruhe – was riskiert der Selbstmörder?
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Da wäre zuerst einmal, dass es realiter misslingt. Ist nicht leicht, sich umzubringen: der Körper will leben und kämpft bis zum letzten Atemzug.
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Im Tod selbst könnte dann nach meiner Hitliste 1) wieder nur das Leben stehen, 2) ein ganz anderer, äußerst gewöhnungsbedürftiger Zustand eintreten, 3) das Dasein enden oder 4) Hölle und 5) Himmel warten. Bis auf 3) und 5) traurige Aussichten. Selbstmord wäre demnach eher etwas für wagemutige Optimisten.
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Hirnphysiologen haben die alte philosophische Debatte über freien Willen und Schuldfähigkeit wieder auf die gesellschaftliche Tagesordnung gehoben. Gut so. Aber sind die Argumente der Wissenschaft glaubwürdig? Bestätigt sie nicht nur fortwährend ihre eigenen deterministischen Voraussetzungen?
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Hirnphysiologen mit ihren Hirnaktivitätsbildern kommen mir vor, als versuchten sie herauszufinden, was ein hochkomplexer Computer tut, indem sie an verschiedenen Stellen seine Betriebstemperatur messen. Sind sie seinem Wesen damit wirklich näher als jemand, der ihn "nur" anwendet? Ich bezweifle es.
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Sollte das juristische Dilemma nicht pluralistisch angegangen werden? Könnte man es nicht dem Delinquenten überlassen, ob er unter Annahme eines freien Willens für sein Verbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder unter Annahme eines Hirndefekts als medizinischer Patient angesehen wird?
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"Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!" – die Regel scheint mir mit Bedacht negativ formuliert. "Hilf, und dir wird geholfen!" – unruhigem Moralismus ist Zurückhaltung nicht genug, er kehrt die Gebote eifrig ins Positive.
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Und so drängen die Aktionisten ihren Nächsten ungefragt auf, was sie selber schätzen. Angefangen bei der Zeugung des Lebens über sonstige "Geschenke" bis hin zu all den Bemerkungen, die gutmeinende Plauderer gerne von anderen über sich selber hören würden.
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Anschließend ärgern sich die Freigiebigen, dass ihnen ihr Tun zu wenig vergolten wird, sehnen sich nach jenseitigem Lohn – und die freigiebig Bedachten ärgern sich über ihr Leben, ihre übrigen Geschenke und all die fehlgegangenen Kommentare.
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Besser als nichts – das muss man erst mal schaffen.
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Götter, Evolution, Urknall etc. liegen mit ihren Produkten zumeist weit darunter.
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Von uns Menschen gar nicht zu reden.
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100)
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Christen und Realisten teilen sich den Spruch: "Ich habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben."
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Ohne falsche Sicherheiten müsste es aber erst mal heißen: "Ich fürchte mich vor dem Sterben und habe Angst vor dem Tod."
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Nach dieser Selbsterkenntnis hilft gegen bekanntes Leiden die richtige Medizin, gegen unbekanntes Leiden die richtige Religion – jeweils ein wenig.
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Ruheräume und Ruhezeiten – wer auf das Einhalten solcher gesundheitsnotwendigen Vorkehrungen besteht, befindet sich in einer ungesunden Defensivposition. Denn der Ruhe Einklagende gilt als intolerant und landet in unserer postmodernen Gesellschaft auf der falschen Seite.
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Waren es damals während der kirchlichen Herrschaft Ruhestörer bzw. Unruhestifter, welche in Ungnade fielen ohne die in heiligen Räumen und zu heiligen Zeiten gebotene Zurückhaltung, so sind es heute umgekehrt Ruhebewahrer, welche mit ihren Forderungen Zorn und Spott ernten.
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Wohl dem, der in einer pluralistischen Bildungslandschaft auf der lauten Seite steht. Multikulti bedeutet, dass entspannte Ethnologen sich Urgefühle herbeitrommeln, während nebenan Mathematiker Spannungskopfschmerzen bekommen beim Versuch, trotzdem weiterzudenken.
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102)
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Mit dem Lärmen erst dann aufzuhören oder nur zu pausieren, wenn sich die Leute darüber beschweren – das ist wie seine Rechnungen erst zu bezahlen, wenn die Mahnungen kommen.
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Wer sich so an seine Pflichten erinnern lässt, verletzt erst mal Grenzen zu seinem Vorteil. Wenn er nicht sogar damit durchkommt, weil die anderen ihre Grenzen nicht verteidigen.
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Bedauern und Entschuldigungen spart sich der Ermahnte auch gerne. "No regrets, they don't work!" singt er frohgemut und lebt um vieles leichter als die, denen er auf die Zehen tritt.
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In seiner kindlichen Betriebsamkeit hält der Mensch erst inne, wenn er von der oberflächlichen Frage "Wie?" zur tiefen Frage "Warum?" gelangt.
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Die erwachsene Ruhe beängstigt ihn jedoch gemeinhin so sehr, dass er vom ominösen Know-why schnell wieder zum üblichen Know-how zurückkehrt.
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Wer aber die zögerliche Besonnenheit des "Warum?" schätzen lernt, dem werden die anderen mit ihrem vorwärtspreschenden "Wie?" zur alltäglichen Hölle.
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Lautstärke ist Macht, Stille ist Ohnmacht.
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In den Medien tobt der "loudness war": bei gegebener objektiver Signalamplitude will jede Tondarbietung ihre Konkurrenz durch größere subjektiv empfundene Lautheit in den Schatten stellen. Die technischen Mittel reichen von billigster Übersteuerung bis zum aufwändigsten "loudness maximizing".
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Am lautesten ist die Werbung. Und nicht wer schweigt, stimmt zu, sondern wer kauft.
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105)
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Seit Jahrzehnten bahnt sich mühsam die akustische Erkenntnis ihren Weg, dass insbesondere Altersschwerhörige beim Fernsehen etc. aufgedrehte Höhen und weggedrehte Bässe brauchen. Das hilft auch den geplagten Nachbarn, weil es die Bässe sind, die durch Wände gehen.
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Bässe verdecken Höhen mit zunehmender Gesamtlautstärke immer mehr. Im basslastigen Fernsehton – so weit aufgedreht, dass auch seine leiseren Zeitabschnitte die Hörschwelle des geschädigten Gehörs übersteigen – sind die v.a. für mühelose Sprachverständlichkeit wichtigen Höhen maskiert.
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Aber vielleicht hindert auch der Wille zur Macht diesen Groschen Einsicht am Fallen. Lieber mit unverständlichem warmem Gewummer in die kalte Welt hinaustönen als sich mit brillantem Kopfhörerklang abschotten von einer Gesellschaft, welche die Alten eh schon ausschließt, wo sie kann.
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Ein Partner, kein Partner, viele Partner – welche Lebensform ist die ruhigste?
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Die Mönche auf Ruhesuche verpartnern sich mit einem inneren höheren Wesen.
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Ich schau mir Liebesfilme an, um mich seelisch aufzuwärmen und mir gleichzeitig in Erinnerung zu rufen, dass die entflammte Liebe nichts für Ruhesuchende ist.
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Den flüchtigen Momenten der Liebenden, in denen beide das Gleiche wollen, stehen zähe Ewigkeiten gegenüber, in denen sie Verschiedenes wollen.
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Theoretisch besteht die Kunst der Liebe darin, dass nicht der eine seinen Willen auf Kosten des anderen durchsetzt. Wer kennt ein Paar, dem das gelingt?
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Praktisch besteht die Kunst der Liebe darin, dass der eine seinen Willen dem des anderen unterordnet. Täter finden ihre Opfer ja auch bei der Partnerwahl.
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"Komm, du willst es doch auch!" – mit solcherlei ironischen Sprüchen unterstellen glückliche Täter ihren Opfern, dass diese ihr Glück eben im devoten Part finden. Wären sie sonst nicht auch dominant?
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Ernster Hintergrund dabei ist, dass das Unglück der Knechte das Glück der Herren oft trübt. Aber Glück im Unglück finden nur echte Masochisten, die noch seltener sein dürften als echte Nymphomaninnen.
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Wer weder Opfer auf dem Gewissen noch Herren auf dem Buckel haben will, dem bleibt kaum anderes übrig, als alleine zurechtzukommen. Um dann festzustellen, dass er selber auch wieder aus vielen besteht.
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Unfassbar: Lärmende Menschen möchten wennschon dann freundlich darauf hingewiesen werden, dass sie andere stören. Möchten nett darum gebeten werden, leiser zu sein.
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Dass sie selber den ersten feindlichen Schritt tun mit ihrem Krach, machen sie sich nur ungern bewusst. Sie wollen ja keinem etwas Böses – dazu müssten sie einen erst mal bemerken.
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Laute möchten es immer wieder von Neuem für unwahrscheinlich halten, dass ihr Radau jemanden stört. Und nur ausnahmsweise kurz Ruhe geben, wenn sich jemand beklagt.
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Von denen, die das Leben aus ganzem Herzen lieben, machen sich nur die wenigsten bewusst, dass es ebenso selbstverständlich auch Menschen gibt, die das Leben aus tiefster Seele hassen.
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Von denen, die in Liebe zum Leben dieses mit Nachwuchs fördern, machen sich nur die wenigsten bewusst, dass es bloß folgerichtig ist, wenn andere in ihrem Hass töten, um dem Leben zu schaden.
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Von denen, die das Leben hassen, zu verlangen, nicht zu töten, ist nicht mehr oder weniger parteiergreifend als von denen, die das Leben lieben, zu verlangen, sich nicht zu vermehren, oder?
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Lebensverneinung: vielleicht das größte gesellschaftliche Tabu.
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Eltern, welche die Existenz ihre Kinder bereuen – um ihrer selbst oder ihrer Kinder willen; und Kinder, welche ihre eigene Existenz bereuen – um ihrer selbst oder ihrer Eltern willen: davon lassen sogar die tabulosesten Talkshows ihre Finger.
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Warum nicht einen ersten Schritt machen und zugeben, dass es so sein kann? Zulassen und Ansprechen wäre besser als Verbieten und Totschweigen.
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Lebensverneinung: vielleicht das größte philosophische Problem.
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Die Christen verbieten sie, obwohl laut Bibel selbst Gott seine Schöpfung bereut hat. Die Realisten praktizieren sie, indem Leben definitorisch auf Materie reduziert wird.
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Die simple Einsicht, dass wir nichts anderes kennen können als das Leben, macht sowohl den Zorn auf vermeintliche Schöpfer als auch die Sehnsucht nach vermeintlicher Vernichtung hinfällig.
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No means no! Doch wie gut muss man reden können, damit ein Nein als Nein zählt?
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Wer das Leben sichtlich die meiste Zeit ablehnt – Säuglinge, Kleinkinder, Bettelarme, Melancholiker, Demente etc. – wird zu den Unmündigen gezählt oder wegen Befangenheit von der Lebensbeurteilung ausgeschlossen.
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Erst eine Gesellschaft, die Traurigkeit, Depression, Lebensverneinung etc. gesellschaftsfähig macht, darf sich aufgeschlossen nennen. Aber weder das Christentum noch der Materialismus sind dazu reif genug.
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Was spricht gegen die Ruhe? Nicht viel, meine ich – dennoch will ich hier konsequenterweise auch mögliche Kritik am eigenen Quietismus thematisieren.
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Bedenken hinsichtlich meiner Überzeugungen bekomme ich beispielsweise, wenn es um das sogenannte südländische Temperament geht. Inwieweit darf lebhafteren Kulturen Ruhe verordnet werden?
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Jugendliche schalten gerne augenzwinkernd um auf deutschtürkischen Akzent und aggressive Lautstärke. Als Integrationsmaßnahme finde ich das gut. Und hoffe doch, dass diese Sitte nicht länger als nötig währt bzw. sich nicht als Lizenz zum Schreien etabliert.
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Die Brights, moderne Skeptiker, erachten es für schwach, an ein ewiges Leben zu glauben. Unausgesprochen bewerten sie damit das Leben positiv, als dem Nichtsein – ihrem Jenseits – vorzuziehendes.
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Aber das Leben der meisten Menschen ist schlechter als nichts. Andere Religionen als der Naturalismus lassen sie ihr leidvolles Leben bestehen, anstatt sie zur Flucht in den Tod zu verführen.
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Ihnen wiederum kämen die Brights lebensfern vor, welche sich ein paar Jahrzehnte lang mit Arbeit oder Luxus betäuben und dann alles hinter sich zu haben glauben – wenn sie die Brights bemerken würden.
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Unsere Politik beschwört die moderne "Wissensgesellschaft". Die Zukunft rohstoffarmer Industrieländer könne nach dem "Outsourcen" aller mechanischen Arbeit in Billiglohnländer nurmehr in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit liegen.
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Unser Zeitgeist hingegen ist mit der Zeit des Geistes längst fertig. Die führende Wissenschaft höchstselbst stärkt den Instinkt gegen die Ratio. Wir sind wieder Tiere im Darwin'schen Wettbewerb, intellektuelle Betulichkeit bremst da nur.
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Entweder oder. Geistige Arbeit braucht ruhige Konzentration. Konsequente Politik dürfte es demnach nicht zulassen, dass an "Bildungsstandorten" der hektische Radau neuer Neandertaler zum herrschenden Lifestyle avanciert.
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Wir müssen leben.
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Dagegen hilft weder, dass die Christen meinen, wir dürfen leben, noch dass die Realisten meinen, wir dürfen sterben.
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Es ist wie wenn einem der Arm wehtut. Weder hilft es zu beschließen, das gut zu finden, noch ihn zu amputieren.
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Pessimismus bedeutet nicht, dass das Leben nichtig sei oder schlimm enden müsse. Pessimismus bedeutet, an keinerlei dauerhafte Erlösung vom prekären Leben zu glauben.
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Es würde für ihn nur eine Wohltat sein, zum absoluten Nichts zu gelangen; aber der Tod eröffne leider keine Aussicht darauf – so Schopenhauer auf dem Sterbebett. Lebensphilosophie im wahrsten Wortsinn: Leben ohne Alternative!
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Scheinbar ist diese schlimmste Vorstellung für viele Leute allzu schlimm, so dass sie den Pessimismus und seinen bekanntesten Vertreter da ums Verrecken missverstehen müssen.
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Nietzsche gab dem Pessimisten Schopenhauer als heroischer Optimist kräftig Kontra. Aber zuerst einmal hat der Lebensphilosoph den Lebensphilosophen verstanden.
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Sein Bild von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen bringt die Problematik auf den Punkt: wie lautet dein Urteil über das Leben, wenn es zu diesem keine Alternative gibt?
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Dass Nietzsche Ja sagt, lässt mich ratlos – mit Schopenhauer sage ich Nein. Aber die zentrale Frage erkannt zu haben erscheint mir fast noch wichtiger als die Antwort darauf.
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Mitgefühl verhindert Objektivität. Wer versteht besser, der Mitfühlende oder der Forscher?
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Ein Naturwissenschaftler denkt lieber nicht darüber nach, wie sich "seine" Fledermaus fühlt, während er im Labor ihren Ortungssinn untersucht.
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Nicht unwahrscheinlich, dass am besten versteht, wer andere in Ruhe lassen kann.
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Essenmüssen – allein dieser Umstand scheint mir ein hinreichender Grund zu sein, das Leben im Ganzen abzulehnen.
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"Ich mag Hühnchen" – schon die Zweideutigkeit dieses Satzes zeigt das unlösbare Dilemma eines Daseins zwischen Liebe und Mord.
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Die zwei Seelen in einer Brust wissen kaum voneinander. Wer sie durch Nachdenken kurzschließt, ist zum Glück nicht mehr dumm genug.
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In einer industrialisierten Gesellschaft zu leben heißt, sich an der riesig angelegten, gnadenlos verschwenderischen Ausbeutung schwächeren Lebens zu beteiligen.
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Als Öko in Deutschland zu residieren ist wie nonstop im Flugzeug reisend noch speziellen Wert auf Recyclingbecher zu legen – ein Tropfen auf den heißen Stein.
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Die Technik erlaubt es, während das Kind für sein Gewissen dem verletzten Tier eigenhändig hilft, für seine Bequemlichkeit zahllose andere automatisch zu töten.
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Ein Christ, der wirklich glaubt, was die Bibel über das Jenseits verkündet, wäre ja wahnsinnig, sein Seelenheil nur im mindesten zu gefährden. Müsste sein Leben kompromisslos in tiefster Demut vor Gott verbringen, um nicht ewige Höllenqualen zu riskieren.
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Ein Realist, der wirklich glaubt, was die Naturwissenschaft über das Ende allen Leidens im Tod sagt, wäre ja wahnsinnig, sich sehenden Auges Alter und Krankheit auszuliefern, anstatt seinem Leben eines schönen Tages ein selbstbestimmtes Ende zu setzen.
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Christentum hin, Realismus her – die Menschen leben fast alle so als gäbe es eh immer nur das Leben. Jenseits bzw. Nichtsein im Tod bleiben theoretische Konzepte ohne große Bedeutung, für die Lebenspraxis ergeben sich daraus keine echten Konsequenzen.
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Eile genießt hohes Ansehen in der Leistungsgesellschaft, obwohl bzw. gerade wenn uns scheinbar keine Not dazu antreibt. Ist Eile dann nicht eigentlich Zeichen des Mangels wohlüberlegter Zeiteinteilung?
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Aber vielleicht steckt noch mehr dahinter. Der Hektiker bleibt an der Oberfläche des Lebens; der Aktionist hat keine Zeit, darüber zu sinnieren, was seine Welt im Innersten zusammenhält.
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Vielleicht ahnt der westliche Mensch, dass seine Lebensphilosophie und erst recht seine Todesphilosophie einer kontemplativen Überprüfung nicht standhielte. Und so läuft er dem Nachdenken davon.
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Der Spirituelle bzw. Sceptic ist gereifter Nachfahre des Christen bzw. Realisten. Hat es aufgegeben, dogmatisch auf spezifischen Lehren zu beharren, die weder bewiesen noch widerlegt werden können.
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Doch obwohl man sich nun einig geworden ist, im Wesentlichen nichts Genaues zu wissen, geht der Spirituelle in aller Regel von einem Jenseits und der Sceptic in aller Regel vom Ende im Tod aus.
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Entgegen Religion und Naturalismus meine ich: Occam's Rasiermesser schneidet sowohl das Jenseits als auch das Nichtsein im Tod weg – die eleganteste Theorie reduziert sich auf das Sein, wie wir es kennen.
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Warum geht die herrschende Wissenschaft davon aus, dass Leben eine Form von Materie sei – und nicht Materie eine Form von Leben? Weil Materie von Grund auf berechenbar ist. Oder zumindest zu Zeiten von Galilei und Newton von Grund auf berechenbar schien. Herrscher lieben Berechenbarkeit.
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Naheliegender wäre es für uns Lebende jedoch, Materie als relativ stilles Leben anzusehen. Womit ein weiteres mögliches Motiv für den Materialismus erkennbar wird: die Attraktion des in sich Ruhenden, des im Gegensatz zu uns nicht zur andauernden Bewegung Getriebenen.
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Trotzdem scheint mir der Materialismus arg ums Eck gedacht: wir nehmen eine von uns absolut verschiedene tote Materie an, um uns daraus wiederum das Leben auf komplexeste Weise zusammengesetzt zu denken. Zwei gewagte Schritte, die sich wegkürzten, annehmend: alles ist Leben.
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Ein Monismus ist der Materialismus nur insoweit, als er etwa den Dualismus von Leib und Seele ablehnt bzw. die Eigenständigkeit letzterer bestreitet.
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Ein Dualist ist der Materialist gemeinhin jedoch in Bezug auf Sein und Nichtsein. Auch für ihn gibt es Diesseits und Jenseits, sein Jenseits ist eben das Nichts.
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Ein Seinsmonist aber, welcher im Gegensatz zum Materialisten wirklich nicht an ein Jenseits glaubt, wird von diesem für religiös gehalten – verkehrte Welt.
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Wie es wohl kommt, dass Christentum und Realismus behaupten, im Tod erwarte uns gänzlich anderes? Woher wissen die das?
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Meine Nahtoderfahrungen sagen, dass dem nicht so ist. Wie das Sprichwort: Überall der gleiche Käse, nur in einer anderen Schachtel.
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C&R wollen die Menschen unter Druck halten, indem sie das Leben als letzte Gelegenheit anpreisen. Schlussverkaufsstimmung.
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Realismus und Christentum sind – zusammen mit aktualisierten Versionen à la Naturalismus und Spiritualität – die beiden stärksten volksphilosophischen Antagonisten. Die Verfechter des endlichen Diesseits und des ewigen Jenseits liefern sich öffentlich wie privat unzählige Rededuelle. Wo des Pudels Kern noch Thema ist, da bekommt man den Eindruck, dass diese beiden Kandidaten die allgemeingültige Wahrheit unter sich ausmachen.
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Noch bemerkenswerter sind meines Erachtens die Allianzen, welche Realismus und Christentum eingehen. Welche sich jedoch nicht auf dem gemeinsamen Glauben an eine Veränderung im Tod gründen – denn diese erscheint den meisten Menschen außer mir selbstverständlich. Vielmehr wirkt hier wohl die Anziehung der Gegensätze. So kommt es beispielsweise eher häufig als selten vor, dass in der Ehe ein Partner Realist und der andere Christ ist.
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Am erstaunlichsten aber ist mir die durchaus übliche Synthese von Christentum und Realismus in ein und demselben Kopf. Viele Menschen sind theoretisch Christen und praktisch Realisten. Viele haben ein doppeltes Todesmodell – doppelt hält besser. Christliche Himmelsgewissheit mit dem leidlosen Nichts der Realisten in Reserve – oder realistisches Gefasstsein aufs Ende mit dem Christenparadies als ebenso unwahrscheinlichem wie schönem Joker im Hinterkopf.
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130)
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Zum einhelligen Missfallen von Christen und Realisten leben wir immer unseren gewohnten Trott. Klein-Klein von Tag zu Tag, anstatt endlich wesentlich zu werden.
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Gerade so, als würden wir ewig weiterleben – und müssten es dabei schon zufrieden sein, wenn uns allfällige Veränderungen eher später als früher erreichen.
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Könnte doch sein, wir sind so, weil eine tiefe Gewissheit in uns sagt, dass wir wirklich ewig leben und dass uns Veränderungen zumeist eher schaden als nutzen.
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131)
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Subjektivistisches Nichts: meditatives Bewusstsein, leer von allen Gedanken und Gefühlen. Objektivistisches Nichts: materialistisches Jenseits der Noch-nicht- bzw. Nicht-mehr-Lebendigen.
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Vorgestelltes Nichts: Nullmarke, an der das Leben gemessen werden kann, ohne dass es dazu eines der obigen Nichtse wirklich geben muss. Wer es ersehnt, der hasst sein Leben; wer es fürchtet, der liebt sein Leben.
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Mein persönliches Paradox: a) Ich hasse mein Leben. b) Viele lieben ihr Leben. c) Ich möchte mit keinem, der sein Leben liebt, tauschen. (Kann es sein, dass die, welche ihr Leben lieben, andere Maßstäbe anlegen?)
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132)
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Die Geisteswissenschaften zeigen den Schülern in epischer Breite, wie der Mensch leidet.
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Die Naturwissenschaften zeigen den Schülern in analytischer Tiefe, wie vergänglich alles ist.
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Die amoklaufenden Schüler sind einfach nur die Ersten, welche eins und eins zusammenzählen.
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Wenn das Leben schön ist und wir Leben zeugen bzw. empfangen können – wäre es dann nicht egoistisch, niemandem unser Leben weiterzugeben? Auch wenn die ins Leben Geholten nicht dankbar sind für ihr Geschenk?
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Wenn das Leben hässlich ist und wir Leben beenden können – wäre es dann nicht egoistisch, niemanden in unseren Tod mitzunehmen? Auch wenn die ums Leben Gebrachten nicht dankbar sind für ihre Erlösung?
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Wo ein Christentum das Leben per se heiligsprechen kann, da kann auch ein Materialismus den Tod in den Mittelpunkt stellen – doch während das Christentum seine größten Zeiten schon hinter sich hat, hat sie der Materialismus noch vor sich.
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134)
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Das Gefährliche am Christentum ist die Realität, welche Gott, Himmel, Hölle etc. dort zugesprochen wird.
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Das Gefährliche am Materialismus ist die Realität, welche der Beendigung des Lebens, dem Nichtsein etc. dort zugesprochen wird.
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Die idealisierten Begriffe sind theoretische Denknotwendigkeiten – aber wehe, wenn wir den Himmel oder das Nichts für praktische Möglichkeiten halten, die uns zu Gebote stehen.
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135)
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Der Tag hat Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Das Jahr hat Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und so hat das Leben Jugend, Reife, Alter und Tod.
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Falls auch das Leben zyklisch verläuft, ist weder ein besonders früher noch ein besonders später Tod erstrebenswert. So wenig wie ein besonders kurzer oder langer Abend.
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Ich nehme mir vor, den Morgen und den Mittag auszunutzen, jedoch am Abend und in der Nacht auszuruhen. Für den einzelnen Tag wie für das ganze Leben.
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136)
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"Schlafen kannst du, wenn du tot bist!" – einer dieser leistungsfrommen Sprüche, mit denen Aktionisten die Ruhe auf ewig vertagen wollen.
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Darauf verlasse ich mich lieber nicht. Wenn ich einmal krank oder schließlich alt bin, will ich mich vom Tagwerk des Lebens erholen.
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Aktionisten, stellt euch vor: wir sterben und stehen vor eurem Gott, der schreit: "Los geht's!" – wärt ihr dann nicht gerne ausgeruht?
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Das Unangenehmste am Leben ist nicht, dass wir alle miteinander in der Scheiße sitzen.
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Das Unangenehmste am Leben ist, wenn jeder versucht, ihre beste Stelle zu ergattern.
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Das Zweitunangenehmste am Leben ist, wenn jeder versucht, sie mit Humor zu nehmen.
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138)
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Die Ruhephasen des Lebens verlangen den Mut, sich auf seine Träume einzulassen.
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Tagträume, Nachtträume, Todträume – nach meiner Erfahrung zunehmend beängstigend.
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Aktionismus ist Weglaufen vor den Träumen, bis man möglichst bewusstlos zusammenbricht.
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139)
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Die Regelmäßigkeit unseres Tagesablaufs versuchen wir deshalb einhalten, weil morgen auch wieder ein Tag ist, und so fort.
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Was sollte uns heute sonst daran hindern, diese Regelmäßigkeit aus spontaner Lust oder vielmehr Unlust aufzugeben?
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Ebenso wirft eher mittendrin alles hin, wer glaubt, ein einziges endliches Leben zwischen ewigem Nichts zu leben – oder schuftet, bis er tot umfällt.
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140)
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Vertikale Gemeinschaft kennt keine Brüder und Schwestern im Sinne einer angestrebten Gleichwertigkeit – auch der Pfarrer, welcher seine Gemeinde so anredet, steht herrschend über ihr und dienend unter Gott.
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Schon die Natur kennt keine gleichgestellten Geschwister. Eine Rangordnung gibt es immer, sie ist durch Alter, Stärke, Klugheit gegeben bzw. ständig neu auszufechten – ein echtes Nebeneinander ist wider die Natur.
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Horizontale Gemeinschaft bzw. Umgang auf Augenhöhe Suchende bleiben da bestenfalls allein. Eher noch wird ihnen der Verzicht auf herrisches Gebaren mit Unterdrückung vergolten – wer aufhört zu kämpfen, liegt unten.
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141)
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Eine Gesellschaft, die ihre Kinder in dem festen Glauben erzieht, das Leben sei endlich bzw. Tote erführen kein Leid mehr, wird ihren Bürgern nach dem Suizid konsequenterweise auch die einverständliche Tötung gesetzlich erlauben.
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Denn das von ihr propagierte, dem Einzelnen ungefragt aufgezwungene Leben muss von diesem doch zumindest möglichst schmerzlos und sicher wieder beendet werden dürfen, indem er hierfür professionelle Hilfe in Anspruch nimmt.
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Es ist allenfalls das Nichtwissen um unser Schicksal im Tod, welches die Gesellschaft legitimiert, Lebensmüde und Todesengel zu trennen. Als Leidender oder für einen Leidenden das Nichts zu wollen – was sollte daran falsch sein?
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142)
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Wer sein Leben ablehnt – wäre der besser tot?
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Nur wenn der Tod etwas für ihn verändert, und zwar zum Besseren.
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Aber wer sein Leben für alternativlos hält, muss damit zurechtkommen lernen.
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143)
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Mehr noch als Engagement zeugt es von Kultur, andere in Ruhe lassen zu können.
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Menschen ohne Halt in sich selbst kennen nur Liebe oder Hass, keine Distanz.
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Das Christentum kennt nur Himmel oder Hölle – es ist für alle, ob sie wollen oder nicht.
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144)
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Männliche Chauvinisten sind meist stur solche geblieben.
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Weibliche Chauvinisten sind meist zornig solche geworden.
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Eigentlich ist letzteres noch schlimmer als ersteres.
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145)
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Ein Leidender, der sein Leid nicht gegen das Nichtsein tauschen würde, leidet nicht wirklich.
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Faulkner sagt: "Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz."
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007-Gegner Sanchez klingt da überzeugender: "Wenn der Häcksler deine Knie erreicht, dann küsst du mir den Arsch, damit ich dich töte."
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146)
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"Lieber will der Mensch noch das Nichts wollen, als nicht wollen", sagt Nietzsche. "Wer das Nichts will, will die Macht", sagt Pasolini.
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Das Nichts ist der unbestechlichste Wunsch bzw. wäre das allermindeste Recht des Leidenden, entgegne ich verärgert.
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Aber vielleicht habe ich nur noch nicht genug gelitten, um mich auf die Seite der zynischen Quälgeister zu schlagen.
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147)
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Wenn der Tod das sichere Nichtsein im Sinne von ewigem traumlosem Schlaf, von endgültiger totaler Bewusstlosigkeit wäre, hätte ihn dann nicht jeder sofort verdient? Die im Nachteil – sie wären endlich erlöst. Die im Vorteil – sie wären endlich gestoppt.
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Selbst das halbe Nichts, ab jetzt für alle Zukunft, wäre nur zu wünschen. Es würde zwar das Vergangene ungesühnt lassen, aber wenigstens müsste dieses ungerechte Leben nicht mehr fortdauern.
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Nicht einmal ein ideal gerechtes Leben verdiente die Schonung vor diesem Nichts. Denn warum sollten wir uns überhaupt Leid gegen Freude einhandeln müssen oder wollen? Eine Krämerseele, welche weiterhin auf gerechtem Lohn für ihre Arbeit, dem Genuss des Guten für das Erdulden des Schlechten, diesem ewig sinnlosen Hin und Her bestünde – wenn es stattdessen gleich ein für allemal ein Ende haben könnte mit allem.
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(Wir sollten das Nichts dort platzieren, wo es hingehört: an höchster Stelle. Als unsere unerfüllbarste Sehnsucht und allerreinste Erfindung, zu der es keinen praktischen Weg zu erhoffen gibt. Auch nicht den Tod.)
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148)
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Das Christentum verlangt das Gute jetzt sofort – wer sich damit Zeit lässt, könnte sterben, bevor er sich für das Paradies qualifiziert hat.
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Der Materialismus verlangt das Gute gar nicht – die Zeit reicht ja höchstens, um etwas Spaß zu haben, bevor man ins Gras beißt.
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Wer sein Leben als ewig ansieht, hat Zeit für das Gute, für den Spaß und für die Ruhe – es braucht alles drei, um auf Dauer zurechtzukommen.
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149)
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Aus der Welt draußen holt der Tod die von uns Geliebten und die von uns Gehassten.
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So ist er wohl in den Ruf gekommen, auch das Beste bzw. Schlechteste unserer selbst zu rauben bzw. zu entsorgen.
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Aber vielleicht bleibt von innen ja immer alles beim Alten. Lässt sich vom Tod der anderen auf unseren eigenen schließen?
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150)
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Sein und Nichts – wer glaubt, sein Sein sei endlich, glaubt der damit nicht automatisch, dass ansonsten ewiges Nichts bzw. Nichtsein sei?
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So betrachtet sind Materialisten nicht nur Dualisten bezüglich Sein und Nichtsein, sondern geben dem Nichts sogar den Vorrang, da es der ewige Teil ist.
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Materialismus – was für eine Religion! Ewig nichts, dann ein kurzes Aufflackern der Welt, dann wieder ewig nichts. So lässt sich sicher vieles aushalten im Leben.
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151)
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Wer das Leben ablehnt und dabei "zufällig" Materialist ist – was bleibt dem aufs Ganze gesehen nicht alles erspart!
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Vor ihm die Sintflut, nach ihm die Sintflut – die paar Jahrzehnte dazwischen gehen angesichts der Ewigkeit doch gegen Null.
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Und solange er sich von eigener Hand umbringen kann, steht ihm die Null nach Belieben noch früher zur Verfügung. Fast paradiesisch.
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152)
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Lässt sich eine materialistische Auffassung von Leben und Tod mit der Idee des Ewigen verbinden?
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Atome finden zu einem Menschen zusammen und driften wieder auseinander – wobei sich sein ewiges Bewusstsein quasi formiert und wieder deformiert.
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Wie sich Bewusstsein vor und nach der materiellen Ballung wohl anfühlt? Ob es schlimme Gründe hat, dass ich Bewusstsein vor seiner jetzigen Form nicht erinnere? Sollte ich Angst vor meinem ewigen Zerfließen haben?
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153)
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Der leidende Monotheist freut sich aufs Paradies, und der leidende Materialist tröstet sich damit, dass alles in absehbarer Zeit sein Ende findet.
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Ist es ein Wunder, wenn jugendlicher Ungestüm diesen anheimelnd leuchtenden Notausgang schon mal reichlich früh aufstößt?
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Wie groß muß der Leidensdruck sein, damit der Notausgang zum Hauptausgang wird? Kann Sterben ganz groß in Mode kommen?
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154)
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"Du hast nur ein Leben – und es ist kurz!" – verwunderlich, wie sehr der Mensch zu begrenzten Annahmen neigt.
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Die Erde war auch mal Ein und Alles, mit ein paar Laternen am Himmel – und wie sehr hat sich unsere Sicht da verändert!
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Könnten wir es verkraften, wenn sich unsere subjektiven Seinshorizonte so schlagartig erweiterten wie die objektiven?
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155)
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Falls es den Tod in Sinne von Nichtsein nicht gibt, dann sollten wir ihn erfinden.
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Was könnte lohnenderes Ziel sein für Wissenschaft und Technik als endgültige Erlösung?
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Stufe 1: Theoretisch nachweisen, dass es das Nichtsein geben kann. Stufe 2: Das Nichts praktisch herstellen, mit Garantie auf Lebenszeit.
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156)
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Die Entwicklung des Freitods steckt leider noch in den Kinderschuhen.
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Erbärmlich, wie der Einzelne mit primitiven Mitteln auf sein verdammtes Leben eindreschen muss.
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HighTech-Tod, mit wissenschaftlich-technischer Absicherung der Leidfreiheit.
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157)
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Am besten von allen Menschen haben es die bejahenden Idealisten: das Leben sei schön und unendlich. Dahinter kommen die bejahenden Realisten: das Leben sei schön aber endlich.
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Auch die verneinenden Realisten haben nicht das schlechteste Los gezogen: das Leben sei unschön aber endlich. Echte Pessimisten jedoch sind die verneinenden Idealisten à la Schopenhauer: das Leben sei unschön und unendlich.
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Die einzige pessimistische Steigerung, die mir noch einfällt, ist die Hölle – das schlimmstdenkbare Dasein. Schopenhauer meint, das hätten wir bereits. Ich denke: schlimmer geht immer.
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158)
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Schlimmer geht immer?
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Vielleicht hat Schopenhauer recht mit seinem Pessimismus: das Leben ist schlimm wie immer. Wer meint, es werde schlimmer, ist noch nicht beim Sein angelangt.
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Und bei Nietzsches Ewiger Wiederkehr des Gleichen wäre somit diese ereignishaft klingende Wiederkehr auch noch wegzulassen: das Leben ist einfach nur Ewig Gleich.
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159)
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Differenzieren heißt, vom sinnvollen Ganzen zum sinnlosen Einzelnen vorzudringen.
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Wer ein Bild oder einen Klang genauer analysiert, erhält Pixel bzw. Samples, die beziehungslos nebeneinander zu stehen scheinen, für sich nichts mehr über ein Ganzes aussagen.
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Dennoch bleibe ich selber lieber beziehungslos und sinnfrei, als Mittel eines höheren Zwecks zu werden – Sinnangebote und Erfolge unserer Geschichte halten eben auch keiner genaueren Analyse stand.
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160)
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Wer Tiere, Pflanzen und sogar Dinge als kommunikativ weiter von uns entfernte Lebensformen begreift, der lässt sie eher in Ruhe oder geht wennschon dann sorgsam mit ihnen um.
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Wer auf Tiere, Pflanzen und erst recht Dinge mit zunehmender Sorglosigkeit einwirkt, u.a. weil es gesetzlich erlaubt ist, dem unterstelle ich materialistisch bedingte Grausamkeit.
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Wer Tiere, Pflanzen und sogar Dinge als beseelt begreift, ist antiquierter Animist? Schon wieder Materialismus plus x. Umgekehrt: Gegenständlichkeit ist nur mögliche Eigenschaft allgegenwärtigen Lebens.
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161)
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Ein unabhängig von mir existierendes Gegenüber – mit dieser Annahme beginnt alle Grausamkeit.
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Altruismus klingt moralischer als Egoismus – aber Ausbeutung kann sich für mich nur lohnen in der Annahme, dass es anderes gibt als mich.
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Solipsismus klingt unmoralischer als Pluralismus – aber erst die nüchterne Annahme des All-Ein-Seins macht mich achtsam.
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162)
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Vitalismus ist vom Begriff her die Lehre, welche allem das Leben zugrundelegt.
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Doch auch der ließ sich in den Dualismus drängen, unterschied Anorganisches von Organischem – und gab sich mit der Laborsynthese von Harnstoff besiegt.
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Ich halte die Annahme von Nicht-Lebendigem für eine Lizenz zur leichtsinnigen Ausbeutung. Aber die Bezeichnung Vitalist wurde mir von Halbherzigen verbraucht.
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163)
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Nihilismus als naheliegender Begriff für das Streben nach dem Ideal des Nichts ist leider passé – dafür hat v.a. der Nichts-Hasser Nietzsche gründlich gesorgt.
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Heute kann keiner mehr diesen Begriff verwenden, ohne in mehreren Nebensätzen zu erklären, welche von seinen z.T. gegenteiligen Bedeutungen er nun damit meint.
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Ich bin moralistischer und idealistischer Nihilist à la Schopenhauer: Nichts wäre am besten, ist aber unmöglich. Mit Verneinung aller Werte oder Zerstörungswut hat das nichts zu tun, im Gegenteil.
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164)
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Kein Anfang, kein Ende. Bewusst wird uns immer nur das Gefühl kurz nach dem Aufwachen oder kurz vor dem Einschlafen – die exakten Zeitpunkte sind reine Illusion.
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Vielleicht wird unser Wachbewusstsein auch kurz vor dem Tod bis kurz nach der Geburt von Bewusstlosigkeit oder Träumen eines großen Schlafs abgelöst.
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Der Selbstmörder könnte gegen die Wand des Lebens rennen, so oft er wollte – kurz vor dem Knall verlöre er das Bewusstsein, kurz danach wäre er wieder zurück im Leben, mit einem Brummschädel.
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165)
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Who wants to live forever? Weder der Fliegende Holländer noch der Highlander.
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Leben macht lebensmüde.
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Wie lange, wie tief muss der große Schlaf wohl sein, wie viel muss er uns vergessen machen, damit wir nicht schon als Lebensmüde daraus erwachen?
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Letzter Wille par excellence: endlich mit dem Wollen aufhören können.
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Aber das kann niemand, solange er seinen Schmerz aushalten muss.
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Das Wollen Leidender ist Müssen – aber wer kann das schon zugeben.
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Gottes Zoo und Darwins Dschungel – unser Kulturkreis scheint damit einverstanden, sich demütig in ersterem und herrisch in letzterem zu bewähren.
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Wer jedoch weder devot noch dominant sein will, braucht eine dritte Weltanschauung, welche solch negative Haltung gewährt oder anstrebt.
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Hätte ich da nicht Schopenhauers Philosophie bzw. die östliche Religion für mich entdeckt, wäre ich wahrscheinlich schon wahnsinnig oder tot.
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Verallgemeinerung – richtig verwendet ist meiner Ansicht nach nichts dagegen zu sagen. Klischees – schon mal mehr als gar keine Orientierung! Schubladendenken – aber klar denke ich kategorial, wie denn sonst?
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Es gibt immer Mehrheiten und Minderheiten – erstere müssen begreifen, dass die anderen zu berücksichtigen sind, letztere müssen begreifen, dass sie nun mal die Ausnahme von der Regel sind.
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Individualistische Übertreibungen wie "Jeder ist anders!" etc., welche eine Gleichverteilung aller möglichen Fälle nahelegen, sind falsch und werden uns nicht helfen – wir sind im allgemeinen gleich und im besonderen anders.
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Wer partout nicht als Ausnahme von der Regel gelten will, diskriminiert Ausnahme-Sein damit erst recht.
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"Anders ist normal!" – wie traurig, sich mit einer Lebenslüge an den schnöden Mainstream kuscheln zu wollen.
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Aber vielleicht ist es normal, dass für den Kampf um Integration eben dieser Hauptpreis winkt: endlich Spießer.
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170)
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"Pessimismus – ein Stadium der Reife". So einfach, so wahr: wer sich diese Welt genauer anschaut, muss einfach traurig darüber werden.
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Aber nein, angeblich leiden wir nur zunehmend unter depressiven Verstimmungen, einer ominösen Hirnstoffwechselstörung.
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Dabei ist es genau umgekehrt: wer das Stadium der Traurigkeit nicht erreicht, musste oder wollte in seiner Entwicklung stagnieren.
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171)
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Schopenhauer fasste die altehrwürdige Philosophie treffend zusammen: das Leben wäre besser nicht.
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Nietzsche riss daraufhin diese Philosophie samt sokratischen Wurzeln heraus und setzte einen dionysischen Jugendkult.
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Statt Ruhe und Weisheit erstrebt man nun Party und Spaß – Denken ergab, dass man besser mit Denken aufhört. Na toll.
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172)
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Zuerst einmal wissen wir immer noch so gut wie gar nichts. Nach wie vor tappt die Menschheit hinsichtlich ihrer wesentlichen Fragen im Dunkeln.
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Als nächstes schließen wir von unserem Sein auf alles andere. Wir können immer nur das Maß unseres Lebens anlegen, dieses nicht hintergehen.
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Schließlich hat das vergleichsweise fernliegende Weltmodell der toten Materie dann am meisten "gebracht". Wahrscheinlich auch am meisten Unheil.
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173)
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Falls das Bottom-Up-Modell der Weltentstehung zutrifft und komplexe Strukturen haben sich aus einfachen entwickelt – wie stabil ist dann die "oberste" Schicht des menschlichen Miteinander?
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Dürfen wir davon ausgehen, dass ethische Verhaltensmuster in uns fest verdrahtet sind wie primitive Reflexe? Ihre Gesetzmäßigkeiten nur von Psychopathen überwunden werden können?
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Evolutionär versteht sich der Mensch als Tier, wenn nicht gar als pervertiertes Tier. Was könnte noch alles Schlimmes aus uns werden, wenn der Gangster-Zeitgeist uns trainiert?
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174)
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Ruhe, Gelassenheit, Abgeklärtheit – diese gilt es persönlich wie gesellschaftlich anzustreben und langsam aber sicher zu erreichen.
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Das Christentum schießt übers Ziel hinaus, indem es den wünschenswerten Lebenszustand ins Jenseits verlegt.
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Der Naturalismus hingegen greift zu kurz, seine Verklärung jugendlicher Tatkraft schickt uns unweigerlich auf den absteigenden Ast.
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175)
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Monotheismus, Christentum, Anthropozentrismus, ...
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Materialismus, Realismus, Naturalismus, ...
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Östliche Philosophie, Schopenhauerianismus, Bewusstseinsmonismus, ...
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176)
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Die Christen leben in einem Zustand der Verheißung, des Noch-Nicht.
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Die Materialisten leben in einem Zustand der Galgenfrist, des Gerade-Noch.
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Zur Ruhe kommt erst, wer genau jetzt so lebt, als lebte er für immer.
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177)
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Reif ist, wer vom Leben weder schlagartige Veränderungen erhofft noch befürchtet.
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Noch reifer, wer entsprechendes dann auch vom Tod annimmt.
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Christentum und Realismus aber lassen einen da im Alarmismus verharren.
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178)
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Das Bewusstsein als unhintergehbaren Urgrund des Lebens zu verstehen heißt für mich nicht, dass dieses Leben deshalb selbst gewollt oder sogar selbst erschaffen sei.
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Wer am liebsten nicht wäre, dem ist sein Bewusstsein, sein Körper und die ganze Welt drum herum aufgezwungen, dem ist alles Zwang, schlimmstenfalls für immer.
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Die Deterministen aber halten das Leben i.a. für endlich, nur Indeterministen reden vom ewigen Leben – scheint mir, als hätten beide ihre Lieblingsversion frei gewählt.
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179)
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Wer das Leben als zyklisch begreift, legt Wert auf einen guten Rhythmus.
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Zu wenig Arbeit heißt, den Abend und die Nacht unruhig zu verbringen.
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Zu viel Arbeit heißt, für den geruhsamen Abend schon zu müde zu sein.
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180)
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Leben ist Leiden, die Welt ist schlecht – jedoch nicht die schlechteste aller möglichen Welten. Ich bin wohl bloß "Malist" statt Pessimist.
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Aus der Balance ist das Leben damit nur, solange ich nach Art der Mathematiker einen neutralen Bezugswert ins Zentrum rücke.
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Wenn ich aber das Leben als Mitte annehme, liegt darüber eben das Nichts und der Himmel, darunter das Ungewisse und die Hölle.
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181)
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Skeptiker nennt sich gerne, wer die ewige Fortdauer des Lebens bezweifelt. Aber ist es nicht skeptischer, das Leben in praxi für alternativlos zu halten?
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Nichtsein und Paradies als bessere Alternativen bzw. Ungewisses und Hölle als schlechtere Alternativen bleiben damit reine Theorie – ausgedacht, frei erfunden.
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Lebensmonismus als tatsächlich erreichbares Stadium ruhiger Reife, anstatt eingespannt zwischen Verlockung und Horror des ganz Anderen.
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182)
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Zyklische Modelle unendlichen Lebens tendieren zur Paradoxie, ja. Aber auch das Leben als linear und endlich aufzufassen zeitigt manch widersinnige Stimmung.
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So gibt es das Leben an sich liebende Menschen, die dennoch überwiegend traurig sind, weil ihnen der Skandal des nahenden Todes unweigerlich bewusst bleibt.
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Entsprechend gibt es auch das Leben an sich hassende Menschen, die dennoch überwiegend heiter sind, weil ihnen die sichere Erlösung beliebig kurz bevorsteht.
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183)
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Der optimistische Christ freut sich auf den Himmel, der pessimistische Christ fürchtet sich vor der Hölle.
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Der moderne Mensch steht optimistisch oder pessimistisch vor dem Nichts oder vor dem Unbekannten.
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Ich blicke pessimistisch auf ein endloses Leben, andere blicken optimistisch darauf.
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184)
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Ich bin – leider.
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Und schlimmer: ich glaube, dass ich bleibe.
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Andere glauben an Sein und Nichtsein, an Werden und Vergehen. Mir bleibt nur noch das Sein.
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185)
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Unnötig laut ist distanzlos.
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Hören ist schon fast Fühlen.
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Das Trommelfell ist auch eine Pelle, auf die einem gerückt werden kann.
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186)
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Denken ist nicht nur Mittel zur Tat.
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Denken ist mir Alternative, und zwar i.a. die bessere Alternative zur Tat.
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Erst denken, dann besser nicht tun.
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187)
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Das Yin&Yang-Zeichen trifft es: in allem steckt zumindest ein wenig von seinem Gegenteil.
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Eindeutiger Definition zum Trotz haftet dem Himmel ein Verdacht von Langeweile an, der Hölle von Sensation.
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Das Nichts erlöst und bedroht, das Ungewisse macht Angst und Neugier.
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188)
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Kann man unglücklich sein, ohne dass es einem selber noch bewusst wird?
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Ich denke schon – jedenfalls wollte ich nie mit jemandem tauschen, der sich für glücklich hält. Vogel Strauß bleibt Vogel Strauß, auch mit dem Kopf im Sand.
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Vielleicht ist sich zu belügen sogar Bedingung einer "gesunden" Entwicklung (psychologische Reife: Abschottung von primärprozesshaften Inhalten).
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189)
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Drei Denkweisen, die vom westlichen Weltbild wegführen, sind mir zum Bestehen meines Lebens wohl hilfreicher als Therapien, wie sie unsere Gesellschaft anbietet, es hätten sein können:
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a) Abstrahieren auf das Leben als Allgemeinstes, b) zyklisches Bild dieses Lebens, und c) entsprechende Annahme von Altbekanntem bzw. nur unwesentlichen Veränderungen auch im Tod.
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Darüber zu sprechen ist m.E. wichtig, weil westliches Glücksstreben solche zu Pessimismus und Passivismus führenden Ideen systematisch unterdrückt oder esoterisch rosa färbt.
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190)
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Softie bin ich, lehne das Machtprinzip des Lebens ab. Laut und herrisch auftretende Menschen, soweit sie es m.E. schon besser wissen könnten, erregen mein Missfallen.
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War ich damit zu Hippiezeiten noch fortschrittlich, setze ich mich heute dem Verdacht aus, gegen die sich mit aller Macht befreienden Frauen, Schwulen, Einwanderer u.a. zu sein.
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Tut mir Leid, aber wenn Diskriminierte sich nun ihrerseits größtmöglich aufspielen, dann haben sie eben zu den Unsympathen gewechselt – meinerseits ist da noch alles beim Alten.
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191)
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Forever young – anscheinend wünschen sich viele Menschen endloses Werden, andauernde Entwicklung.
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Auf meiner Hitliste steht nach dem Nichtsein das Vergehen – wobei ich beides für illusorisch halte – dann das Sein und zuletzt das Werden.
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Will man nicht eigentlich nur etwas werden, um es dann zu sein? Ich fürchte, Lifelong Learning etc. wird uns von Arbeitgebern schöngeredet.
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192)
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Erwachsen ist man, wenn Wachstum keine große Rolle mehr spielt.
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Wer jung bleiben und ständig expandieren will, beraubt sich seiner Reife.
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Stillstand ist Rückschritt – sagen nur Leute, die nicht ankommen können.
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193)
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Jugendwahn – fatal nicht nur für das Alter, sondern auch für die Jugend.
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Erwachsene, die lieber wieder jung wären, sind denkbar schlechte Vorbilder.
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Unreife Unsicherheit ist besser zu ertragen mit reifer Sicherheit vor Augen.
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194)
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Drei große Lebensabschnitte: Ausbildung, Arbeit, Ruhestand. Und ein zeitloser vierter: Tod.
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Nach einem Drittel Leben sollte die Jugend vorbei sein, nach zwei Dritteln die Arbeit.
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Im Alter zur Ruhe kommen, schließlich bereit sein für den Tod. Das wär's doch.
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195)
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Die Metaebene fliehen oder sich dorthin flüchten – zwei Einseitigkeiten, erstere häufig, letztere selten.
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Einerseits immer mittendrin im Leben, ohne sich je zu besinnen, ohne je auszuscheren, um es von außen zu betrachten.
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Andererseits das Leben durch dessen Anschauung ersetzen, vor lauter Philosophieren aufhören, praktische Erfahrungen zu machen.
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196)
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Nach dem Tod sieht sich der Christ als dasselbe Lebewesen in einer anderen Welt, der Buddhist dagegen als anderes Lebewesen in derselben Welt.
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Blieben noch die beiden Kombinationen als derselbe in derselben Welt bzw. als anderer in einer anderen Welt.
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Müsste ich wählen, nähme ich wieder mich und wieder diese Welt. Müsste ich raten, tippte ich wieder auf mich und wieder auf diese Welt. Leider.
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197)
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Gibt es eine fundamentalere geistige Erschütterung als die, seine Religion zu wechseln?
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Eigentlich nur, seine Religion zu verlieren. Wobei Materialismus m.E. auch eine Religion ist, vielleicht sogar die tröstlichste.
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Was heißt dann ohne Religion sein? Den Tod als großen Unbekannten zu sehen? Oder sich des ewigen Höllenfeuers gewiss zu sein?
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198)
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Ohne Religion sein, das heißt wohl, ein Bild von Leben und Tod zu haben, das nichts tröstliches an sich hat.
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Wobei es vielleicht hauptsächlich zum Trost geschieht, wenn wir uns abstrakte Gedanken darüber machen.
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Dennoch können wir das Ganze nicht einfach sehen, wie wir es sehen möchten. Viele hätten lieber einen (anderen) Glauben.
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199)
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Lebten die Menschen früher hauptsächlich in Vorfreude aufs Paradies und die Jugend in Vorfreude aufs Erwachsensein?
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Heute jedenfalls ist es das Jugendlichsein, welches am allermeisten zählt und ums Verrecken aufrechterhalten wird.
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Und die Jugend feiert frenetisch, um ihr Entsetzen darüber zu kaschieren, dass diese prekäre Lebensphase die schönste sein soll.
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200)
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Klagen über das Leben im allgemeinen hört man selten, nicht weil es da nichts zu klagen gäbe, sondern weil es als schlechter Stil gilt.
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Ich beklage mich vergleichsweise häufig über das Leben, schon allein deshalb, weil ich diese Gefühle nicht in mir anstauen möchte.
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Mehr noch möchte ich nicht lügen müssen. Die Lebenslüge des bis zur Fratze verzerrten Keep Smiling gilt jedoch seltsamerweise als guter Stil.
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201)
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Das Kruzifix – was bedeutet es? Jesus, Sohn des allmächtigen Gottes, starb für unsere Sünden am Kreuz? Das versteht doch kein Mensch.
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Ich sehe da einfach den leidenden Menschen. Mir sagt es ganz direkt: sei eingedenk des Leides, auch wenn alle lächeln und so tun als wäre nichts.
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Mir kommt es manchmal vor, als wolle christliche Theologie diese Wahrheit fliehen, mit aller Macht ersetzen durch unverständliche Komplikation.
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202)
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Ist Selbstmord mutig oder feige? Ist Siechtum Mut zum Leben oder Feigheit vor dem Tod? Wann Leben festhalten, loslassen, beenden?
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Da es keine allgemeingültigen Antworten auf diese Fragen gibt, sollte die Entscheidung beim Einzelnen selber liegen.
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Der Allgemeinheit bleibt die Pflicht, ihm bei der Durchsetzung seines Willens zu sekundieren. Auch mit Technik für ein sanftes Sterben.
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203)
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Reife, Traurigkeit und Lebensverneinung – scheinbar werden diese Begriffe nach und nach abgeschafft bzw. ausgetauscht gegen Krankheitsbezeichnungen.
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Dann ist man entweder jugendlich, fröhlich und lebensbejahend – oder eben befindlichkeitsgestört, krank und damit behandlungsbedürftig.
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Depressive Verstimmung irgendwann behandlungspflichtig, gar strafbar? Könnte vielen so passen, "alte Jammerlappen" medizinisch, gar juristisch zu kurieren.
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204)
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Wie es den männlichen und den weiblichen Charaktertyp gibt, so gibt es auch den fröhlichen und den traurigen.
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"Depressive Verstimmung" besteht m.E. zumeist darin, dass der traurige Typ seine Traurigkeit nicht zulassen möchte.
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Sanftmütige Mädchen wollen kerlig werden, Melancholiker fröhlich – dabei gibt es gute, nein bessere Gründe, weiblich bzw. traurig zu bleiben.
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205)
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Don't shit where you eat – dieses Motto erklärt auch das menschliche Lärmverhalten recht gut.
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Da wird ein Kreis ums traute Heim gezogen, wo gefälligst Ruhe zu herrschen hat – und außerhalb dann die Sau rausgelassen.
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Im Trend liegt z.B. der Zweitwohnsitz für den Heimwerker, wo er nur zum anonymen Radaumachen hinfährt.
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206)
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Die eigene Religion ist das, woran man sich geistig-seelisch festhalten kann.
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Wer keine hat, ist zu abhängig von den Urteilen anderer.
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Wer sie nicht ständig prüft und nachbessert, fällt ins Bodenlose, wenn er plötzlich erkennen muss, dass seine Religion doch nicht seine eigene ist.
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207)
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Selber glaube ich zwar nicht, dass Selbstmord eine Lage verbessert – Leben ist nicht dauerhaft totzukriegen, fürchte ich.
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Aber ich komme nicht umhin, es zu bewundern, wenn jemand sich umzubringen versucht oder sich tatsächlich umbringt.
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Es stimmt traurig, ja, besonders bei jemandem, den ich mag. Trotzdem mein erster Gedanke: Respekt für dieses Statement.
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208)
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Ist die Welt doch gerecht?
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Haben böser Täter und gutes Opfer den Vor- und Nachteil je zur Hälfte?
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Nein, dazu ist dem Täter sein Bösesein nicht Makel, dem Opfer sein Gutsein nicht Trost genug.
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209)
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Psychotherapie ist in aller Regel Umschulung vom Opfer zum Täter.
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Sie redet den Opfern ihre Unschuld aus, mobilisiert ihre Wut.
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Den Begriff "Kämpfen" besetzt sie positiv, zieht neue Rekruten für den Lebenskrieg.
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210)
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"Das Sein", modernerweise als illegale Substantivierung eines Hilfsverbs desavouiert, leistet für mich die Synthese von "Ich bin" und "Es ist".
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Oder vielmehr erspart es mir gleich von vorneherein die analytische Teilung in Subjekt und Objekt, in erste und dritte Person.
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Warum um den Primat von Subjekt bzw. Objekt streiten? Wer es tut, wünscht sich dabei wohl Ewigkeit bzw. Endlichkeit des Lebens.
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211)
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Wer sich einmal angewöhnt hat, vom Sein als Grund auszugehen, der wundert sich, wie es üblich sein kann, ein Nichtsein darunter zu denken.
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Bei gründlicher Überlegung leuchtet es unumkehrbar ein, dass Nichtsein ein Konstrukt unseres Seins ist, und nicht umgekehrt.
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Sowohl für das Christentum mit seiner Creatio ex nihilo als auch für den Materialismus mit seinem Urknall liegt das Nichts dem Sein zugrunde – meine Religion hingegen erträumt sich das Nichts als unendlich hohes Ziel.
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212)
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Warum bemühen sich Christen und Materialisten, unser Sein als besonderen Fall im allgemeinen Nichts hinzustellen?
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Ich denke, beide Glaubensrichtungen betreiben so die Verherrlichung des Lebens, das siegen soll über sein gedachtes Gegenteil.
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Tatsächlich verhält es sich aber umgekehrt: das Sein ist allgemein, und das besondere Nichts soll Herrschaft schlussendlich aufheben.
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213)
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Macht über andere zu wollen, oder aber nicht zu wollen, dass einer Macht über andere hat – das unterscheidet für mich böse und gut.
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Für den guten Menschen ist das Nichtsein einem Himmel mit einer Hölle darunter vorzuziehen.
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Sich in den Himmel mit der Hölle darunter zu wünschen ist ein schlechter Wunsch. Denn besser wäre Nichts für Alle(s).
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214)
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Wenn auch nur ein einziges Lebewesen in der Hölle schmoren muss – wäre es dann nicht gerecht, wenn alle anderen dies auch müssten?
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Wenn es die Alternative des Nichtlebens gäbe, hätten die niemals auf die Welt gekommenen dann nicht einen unbilligen Vorteil gegenüber den Leidenden?
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Die Kunst des Lebens scheint mir darin zu bestehen, denen da oben ihre Freude und denen da unten ihr Leid gönnen zu können. Wie ekelhaft.
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215)
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Als Naturalisten sehen wir sogar uns selber nur noch von außen, zoomen dabei so nahe wie möglich ran oder so weit wie möglich weg. Betrachten unsere Misere nurmehr per Mikroskopie oder Demoskopie und murmeln abwesend: "Hochinteressant!".
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Die Vorgänge des Mikrokosmos erscheinen so flüchtig, die des Makrokosmos so behäbig, beide so leidlos neutral. Auf dieser weiten, nach unten und oben offenen Skala schrumpft das Ich zu einer eng begrenzten Ausnahme, über die sich endlich hinwegsehen lässt.
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Nachts zeigen sie im Fernsehen unseren Planeten vom Weltraum aus, unterlegt mit elektronischen Sphärenklängen. Soll sagen: im Zeitalter der Naturwissenschaft brauchst du keine Angst mehr zu haben, die Erlösung im Nichts des Alls ist gewiss.
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216)
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Materialismus als Volksreligion verführt mit seinem Versprechen der einfachen Herstellbarkeit leidlosen Nichtseins immer mehr Menschen zum Selbstmord.
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Endgültige Schmerzfreiheit durch simples Unterbinden der Blutzirkulation? Lebenserhaltung lohnt sich dann nur noch für die Gewissenlosen an der Spitze der Nahrungskette.
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Mit dem Nichts als Ziel bin ich ja mehr als einverstanden, der materialistische Weg dorthin – körperliche Selbstzerstörung – erscheint mir jedoch mehr als suspekt.
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217)
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Ob ich mein Leben denn so scheiße finde?
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DAS Leben finde ich so scheiße!
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Und somit auch deines.
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218)
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Freier Wille?
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Im Kleinen ja: dies hier ist meine Wortwahl.
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Im Großen nein: es ist nicht mein freier Wille, überhaupt zu existieren.
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219)
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Der waschechte Christ muss nach Kräften ein gutes Leben im Sinne der Bibel führen, und Selbstmord ist ihm streng verboten, wenn er nicht auf ewig in der Hölle brennen will.
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Der Materialist hingegen darf nach eigenem Gutdünken leben, und als tröstliche Alternative zum unwegsam gewordenen Leben bietet sich ihm das endgültige Nichts im Suizid.
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Als Bewusstseinsmonist kann ich zwar leben wie ich es gut finde, die Flucht ins Nichts jedoch bleibt mir verwehrt. Also habe ich es leichter als der Christ und schwerer als der Materialist.
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220)
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Das Leben wäre längst noch nicht gerechtfertigt, wenn das Gute bei weitem überwöge.
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Geht ein KZ in Ordnung, nur weil gegenüber drei Vergnügungsparks sind?
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Solange es irgendein Leid gibt, wäre alles besser nicht.
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221)
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Das Leben ist per se eine einzige moralisch empörende Misere.
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Weder die materialistischen Hedonisten noch die religiösen Fanatiker wollen das einsehen.
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Für erstere ist ihr Leben und damit das Leben schön, für letztere sind erstere an der Misere schuld.
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222)
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Vorwärtsstrebende Menschen gelten als mutig und achtbar. Wer es lieber ruhig angehen lässt, steht schnell als vermeintlicher Drückeberger im Abseits.
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Dabei verdrängen erstere vieles, indem sie so forsch ans Werk gehen. Handelnd fällt es gemeinhin leichter als denkend, Probleme nur oberflächlich wahrzunehmen.
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Vielleicht führe unser aller Boot besser, wenn wir mehr darauf achtgäben, dass es nicht leckschlägt, anstatt nur den Motor immer weiter aufzudrehen.
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223)
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Ein konsequenter Pessimist nimmt sich höchstens im Affekt das Leben, also solange ihn sein Leid am ruhigen Nachdenken hindert.
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Denn der Suizident ist zwar mit gutem Grund pessimistisch gegenüber dem Leben, aber grundlos optimistisch gegenüber dem Tod.
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Kluger Pessimismus wertet den Tod als Übel, jedoch nicht zu großes. Motiviert so zum Überleben, ohne zu viel Angst vor dem Tod zu machen.
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224)
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Morgen, Mittag, Abend und Nacht – so betrachtet ist die Nacht Teil des Tages.
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Jugend, Reife, Alter und Tod – so betrachtet ist der Tod Teil des Lebens.
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Nacht bzw. Tod Gegenteil des Tages bzw. Lebens? Erfindungen aus Müdigkeit.
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225)
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Der Suizident erhofft sich vom Tod die Erlösung aus seiner misslichen Lebenslage. Sein Drang zum Suizid resultiert aus Misstrauen gegenüber dem Leben und Vertrauen gegenüber dem Tod.
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Suizidalität wird in der Regel bekämpft durch ein optimistischeres Bild vom Leben, welches in einer unheilbar schlechten Welt aber nur um den Preis von Verdrängung und Ignoranz zu haben ist.
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Konsequent wäre ein pessimistischeres Bild vom Tod. Wie glaubwürdig sind die Versicherungen von Religion, Wissenschaft und gesundem Menschenverstand, das Leiden habe im Tod ein Ende?
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226)
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Der Begriff Suizid ist neutral, aber ein sperriges Fremdwort. Der deutsche Begriff Selbsttötung klingt umständlich und hat sich nie richtig etabliert.
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Der Begriff Selbstmord hat den Nachteil, dass er moralisch wertet – aber den Vorteil, dass er zur Geltung bringt, wie sehr sich der Körper seiner Tötung widersetzt.
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Der Begriff Freitod spricht das Motiv der Tat an, aber idealisierend bis heroisierend. In Ermangelung des einen optimalen Begriffes verwende ich sie alle synonym.
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227)
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Der berühmteste Monolog des berühmtesten Dramas des berühmtesten Schriftstellers stellt bereits für sich alleine, ohne Bezug auf seinen Kontext, die glasklare Frage:
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Wenn wir uns sicher sein könnten, dass der Tod ein ewiger traumloser Schlaf sei, wer würde noch die Mühen des Lebens auf sich nehmen, statt sich durch Suizid davon zu erlösen?
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Die rhetorische Frage in Aussageform gewendet lautet: Wir leben deshalb weiter, weil wir nicht wissen, was uns im Tod erwartet. Nur wer schneller handelt als er denkt, bringt sich um.
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228)
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In unserer christlich-abendländischen Tradition – bis vor kurzem auch per Staatsgesetz – war es verboten, sich umzubringen. Die Kirche wusste genau, welche Strafe auf gelungenen Selbstmord steht: ewiges Höllenfeuer.
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Shakespeare's Hamlet ist da schon einen Schritt weiter: er meint, dass er nicht weiß, was im Tod auf ihn wartet. Übernimmt also nicht blind das Pseudowissen seiner Religion, sondern macht sich seine eigenen Gedanken.
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Heute aber sind wir bei einem neuen Pseudowissen gelandet: der Tod könne aus naturwissenschaftlichen Gründen nur endgültige Bewusstlosigkeit bedeuten. In jeder misslichen Lage eine Einladung zum Freitod.
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229)
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Die heute gültige Wahrheit lautet: alles ist endlich, stammt aus dem Nichts und geht zurück ins Nichts. Dazwischen liegt der Übergang vom Nichts zur Materie, von der Materie zum Leben, vom Leben zum Bewusstsein und zurück.
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Keiner dieser Übergänge ist theoretisch zu erklären oder praktisch im Labor nachzuvollziehen. Vergleichsweise winzige Erfolge wie die Synthese von Harnsäure oder die Erforschung der DNA müssen als Beweise reichen.
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Trotzdem hängen die meisten diesem Dualismus von Sein und Nichtsein an. Warum? Weil es keine überzeugenderen Alternativen gibt und das Nichts eine zumindest unbewusst unwiderstehliche Versuchung ist für den leidenden Menschen.
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230)
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Ein Gegenstück zum Glauben an die Naturwissenschaft als gültige Wahrheit und deren Realität des Nichtseins im Tod bildet die pessimistisch-idealistische Nichts-Religion. Sie stellt das Nichts als reine Idee auf die höchste Stufe.
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Das Sein wird hier als unhintergehbare Grundtatsache gewertet, das Nichts bzw. Nichtsein als unsere beste Erfindung innerhalb dieses Seins, welche zur Orientierung des Denkens und evt. Hoffens gut und wichtig ist.
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Das Nichts wäre mehr als gerecht. Die im Nachteil wären erlöst, die im Vorteil gestoppt. Das ewige Hin und Her des Lebens mit seinem Leid für viele und seiner Freude für wenige würde endlich verlöschen – optimal.
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231)
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Ist es sinnvoll, sich mit einem unbegründeten Glauben an das reale Nichts in den Suizid zu flüchten? Oder andauernd vom idealen Nichts zu träumen, ohne eine Chance, dieses je zu erreichen?
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Eine praktikable Lebenseinstellung ist m.E. der Lebensmonismus, welcher das Leben als ewigen Kreislauf von Jugend, Reife, Alter und Tod betrachtet, aus dem es keinen Ausweg gibt.
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Ohne Furcht vor einem Jenseits, aber auch ohne Hoffnung auf ein Jenseits, spielt sich so ein Lebensrhythmus ein, in dem sich leben und sterben lässt. Ohne die unerträgliche Nichtssehnsucht.
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232)
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Optimal wäre, wenn alle sein und dabei glücklich sein könnten, also im Paradies.
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Wenn es im Sein jedoch Gewinner und Verlierer geben muss, dann wäre sein Gegenteil, das Nichts, optimal.
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Wenn aber auch das Nichts nicht sein kann, dann ist das Optimale nicht nur schlechter als gut, sondern auch schlechter als nichts.
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233)
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Bosheit definiert sich für mich dadurch, dass jemand mit dem Leben im Ganzen einverstanden ist, solange er auf der Gewinnerseite steht.
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Prinzip der Lebensbejaher ist es doch, sich so lange und skrupellos Vorteile zu verschaffen, bis sich das Leben für sie lohnt.
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Das Gute und das Schlechte zusammen als Lebensfülle lieben lernen? Selbst wer von beidem gleich viel hat, ist den meisten gegenüber grob im Vorteil.
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234)
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Mit Pessimismus meine ich in Bezug auf das Leben die Einstellung, dass dieses im allgemeinen schlechter sei als nichts und auch schlechter bleibe als nichts.
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In Bezug auf den Tod meine ich damit eine Einstellung, die sich nach der Aussicht auf ein Paradies auch die Aussicht auf ein Nichtsein abgewöhnt hat.
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Erst wer an keinen Himmel und an kein Nichts mehr glaubt, ist wirklich "realistisch" bzw. "skeptisch". Leider sind diese Begriffe von den Gläubigen des Nichts besetzt.
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235)
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Mit zunehmendem Alter bzw. zunehmender Krankheit nähert sich der Suizid einem dem Sterben Nachhelfen an.
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Sich jung und gesund sein Leben zu nehmen ist etwas anderes als alt und krank seinem Siechtum ein Ende zu setzen.
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Vielleicht unterscheiden zwischen vorzeitigem und rechtzeitigem Suizid? Wobei dann der vorzeitige wahrscheinlich zu oft unterstellt wird.
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236)
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Suizidalität besteht auch darin, dass der Suizident sein ungeliebtes Leben für eine gute Sache opfern will, weil er es anders nicht beenden zu dürfen meint.
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Dies ist häufig bei religiös gebundenen Menschen der Fall, aber auch jegliche andere Verpflichtung gegenüber Leben und Lebenden führt zu solch indirekter Methodik.
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Wenn alle Versuche, das eigene Leben zu schädigen, um dadurch dem Tod näherzukommen, zum Suizid zählen, ist dieser fürwahr ein riesiges Phänomen.
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237)
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Ist es zu weit hergeholt, dem Materialismus eine suizidale Motivation zu unterstellen?
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Er behauptet nicht weniger als dass alles nur eine unwahrscheinliche Ausnahme im Nichts sei.
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Könnte nicht der Wunsch statt die Beobachtung Vater solch einer Weltanschauung sein?
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238)
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Seltsam: der Religion unterstellt man immer schwärmerisches Wunschdenken, dem Realismus hingegen nüchterne Wahrheitsliebe.
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Lieber auf ewig einem Gott ausgeliefert, der Hölle und KZs erschuf, oder endgültig zu bewusstlosem Staub zerfallen?
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Epikur klingt so tröstlich, wenn er sagt, dass einen Materialisten der Tod nichts anginge – wieso rangiert das bis heute unter "ungläubig"?
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239)
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Get rich or die tryin' – dieses Motto des Gangsta-Rap trifft genau den Zusammenhang zwischen Materialismus i.S.v. Streben nach materiellem Wohlstand und Materialismus i.S.v. Glaube an das Nichts im Tod.
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Denn wenn der Tod tatsächlich die endgültige Bewusstlosigkeit bedeutete, wäre er einem Leben in Armut und Elend sicherlich vorzuziehen. Und gesellschaftlicher Aufstieg damit jedes Risiko wert.
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Wird bald die Mehrheit nach diesem Motto leben? Oder sitze ich hier nur einer Provokation der Jugendkultur auf, wie etwa vor 50 Jahren der Rock 'n' Roll für die Älteren den Weltuntergang einläutete?
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240)
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War einst Nichts? Wird einst wieder Nichts sein? Der Materialismus beantwortet beide Fragen mit Ja und liegt damit noch ein Ja vor dem Christentum.
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Im Materialismus ist der Lebensmüde sicher eingehüllt ins leidlose Nichts. Ewig war kein Leid, nun tut es kurz weh, und wieder wird ewig kein Leid sein. Angenehm.
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Ein paar wenige haben ihren Spaß, viele leiden beträchtlich – aber im Wesentlichen sind sie alle des Nichts. Was wird, wenn diese Religion rundum ankommt?
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241)
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Je ein realistisches und ein idealistisches Bild vom Leben bzw. vom Tod haben – gegeben und gesucht, wie bei einer Matheaufgabe.
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Realistischerweise gegeben ist dann für mich das Leben als Jammertal bzw. der Tod als unbekanntes Schicksal.
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Idealistischerweise gesucht ist dann für mich das ethische Optimum im Leben bzw. die absolut leidfreie Ewigkeit im Tod.
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242)
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Wiedergeburt in ein selber ausgesuchtes Leben für Fortgeschrittene – vielleicht der beste Kompromiss zwischen realistischer und idealistischer Todesvorstellung.
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Ewiges Leid ohne Ausweg – zu pessimistisch, um es aushalten zu können; sofortige und endgültige Leidfreiheit – zu optimistisch, um es abwarten zu können.
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Wenn bis heute angeblich alle Philosophie auf Platon fußt, wieso ist dann sein Jenseitsmodell dermaßen in der Versenkung verschwunden?
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243)
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Unsere monotheistischen Religionen sind Religionen des Wettbewerbs, wo es endgültige Sieger im Himmel und endgültige Verlierer in der Hölle gibt.
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Wer derartige religiöse Moral predigt, scheint sich nicht bewusst zu machen, wie unmoralisch wiederum das Konzept solcher Gewinnerreligionen ist.
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Wem der Himmel nicht mehr genug Anreiz bietet, falls es keine Hölle darunter gibt, der glaubt wohl an einen Himmel für Sadisten. Zu Gott würde er passen.
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244)
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Das Leid muss aufhören.
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Aber ohne Leid kein Glück!
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Dann eben auch das Glück.
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245)
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Selbst gewollt sei das Leid der Menschen, so sagt mancher Philosoph.
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Wenn damit gemeint ist, dass es sehend gewählt wird, halte ich das für zynisch.
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Vorstellbar ist mir aber, dass unwissend ein nur vermeintlich besseres Lebenslos angestrebt wird; etwa wenn Lieschen Müller davon träumt, Paris Hilton zu sein.
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246)
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Wer Gerechtigkeit fordert, hat das Leid schon akzeptiert.
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Ist bereits käuflich, lässt Leid durch Freude aufwiegen.
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Alles Glück der Welt rechtfertigt nicht eine Kinderträne!
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247)
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Heidegger wird auch der Todesphilosoph genannt, obwohl er den Tod gar nicht in Frage gestellt hat – bei ihm ist Tod gleich Nichtsein.
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Es ist schwer, überhaupt einen namhaften zeitgenössischen Philosophen zu finden, der über den Tod neue Vermutungen anstellt.
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Ist die Philosophie damit noch voraussetzungslos? Oder denkt sie nur noch auf dem festen Grund des Naturalismus?
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248)
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Die Dunkelziffer der Unglücklichen schätze ich noch viel höher ein als die aller anderen gesellschaftlich tabuisierten Gruppen.
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Man will es ja noch nicht einmal vor sich selber zugeben, dass die Welt einem aus guten Gründen missfällt. Dann noch lieber seelisch krank.
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Sich einzugestehen, das Leben an sich zu hassen, hieße in der Spaßgesellschaft, auf ganzer Linie versagt zu haben.
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249)
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Nur wer eben noch krank war, weiß die Gesundheit wieder richtig zu schätzen. Weil es ihm krank eben noch schlechter ging als gesund.
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Vielleicht weiß das Leben erst wieder richtig zu schätzen, wer gerade eben tot war. Weil man tot eben noch ohnmächtiger ist als lebendig.
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Ich weiß, wie andere Nahtoderfahrene oft vom Leben und vom Tod schwärmen. Können sie nicht zugeben, wie sehr der Tod verängstigt?
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250)
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Ein Nahtoderlebnis ist wie ein Traum, der so intensiv ist, dass er hyperreal i.S.v. irreal real wirkt.
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Der Müde ist froh, wenn er schlafengehen kann; aber nach einem befremdlichen Traum ist er doch froh, wieder wach zu sein.
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Der Tod als großer Schlaf: seine Ruhe lockt, aber seiner Hyperrealität fühlt man sich noch ausgelieferter als der Realität des Lebens.
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251)
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Die Alten predigen den Jungen mit vorwurfsvollem Unterton, wie gut diese es heutzutage doch hätten.
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Aber müsste das den Jungen so nachdrücklich gesagt werden, wenn es wahr wäre?
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Dass es ihnen schlechter gehen könnte, heißt noch nicht, dass es ihnen gut geht. Gut wäre besser als Nichts.
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252)
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Wie es mir geht? Meist wäre ich lieber nicht. Und die Gelegenheit endgültigen Nichtseins würde ich sogar jederzeit ergreifen. Also geht es mir schlecht. Oder sollte ich mich mit den anderen Lebenden vergleichen? Weiß nicht, wie es denen wirklich geht.
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Aber die Wie-geht-es-dir?-Frage ist ja so existentiell nicht gemeint. Erkundigt sich bloß freundlich nach meiner aktuellen biorhythmischen Tendenz. Doch auch dahingehend geht es mir meistens gleich – wie immer halt.
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Allzu aktuell aufgefasst wiederum wüsste ich die Antwort, dass mich jene Frage augenblicklich in Verlegenheit bringt. Muss dann entweder schauspielern oder Unpassendes kundtun. Insofern ist die Frage für mich ein Test: lieber lügen oder sich zum Affen machen?
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253)
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Im Monotheismus manifestiert sich Sadismus/Masochismus, im Materialismus Todessehnsucht. Also östliche Weisheit?
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Neo-Buddhist Schopenhauer hatte diesen Weg schon bereitet, da hat Neo-Christ Nietzsche alle wieder zurückgepfiffen.
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Es gibt halt immer einen Prince und einen Michael Jackson – einen, der zum Standard taugen würde, und einen, der es wird.
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254)
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Es ist nunmal jedes Individuum verschieden, und gegen alle ist Toleranz zu üben, solange diese auch selber Toleranz üben?
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Solche Argumentation hilft denen, die sich Vorteile herausnehmen, z.B. den Lauten. Warum sollten die sich an den Leisen stören?
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Wie es dem Zeitgeist in der "rechten" Halbzeit nur immer gelingt, den Verlierern die Parolen der Sieger beizubringen – "Respect!".
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255)
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So geworfen wir sind, so wichtig ist unser Entwurf.
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Erwachsen ist, wer ein selbstgewähltes Ziel ausgemacht hat.
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Streben ist sinnvoll, wenn auch keine Erlösung.
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256)
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Mensch ist gleich Tier plus Technik?
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Ausschlaggebender noch als die Technik scheint mir die Theorie zu sein.
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Was könnte, was sollte? An diesen Fragen erweist sich denkerische Unabhängigkeit.
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257)
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Ich hasse das Leben – aber was wird aus meinem subjektiven Ich, wenn ich tot bin? Weiß ich nicht. Religion, Naturwissenschaft und gesunder Menschenverstand versuchen, Antworten zu geben – vorab zu verifizieren ist jedoch keine davon.
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Während die Religion mir als potentiellem Selbstmörder noch schlimmeres oder gar ewiges Leid androht, ist die materialistische Bewusstlosigkeit und bisweilen auch das agnostische Ungewisse im Freitod eine starke Versuchung für mich.
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Soweit ich wählen kann, mache ich mir ein zyklisches Bild vom Leben, glaube an stete Wiederkehr von Jugend, Reife, Alter und Tod. Solch selbstbezügliche Philosophie lässt mich dem großen Schlaf und seinen Träumen ruhiger entgegensehen.
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258)
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"Herr, nimm mich zu dir!" oder "Beam me up, Scotty!" – die Sehnsucht nach dem nicht mehr Daseinmüssen war, ist und bleibt so tief empfunden wie sonst kaum etwas.
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Wenn die heutige materialistische Naturwissenschaft als Naturalismus zur maßgeblichen Religion wird, braucht es zur Erlösung mit den Worten Hamlet's "eine Nadel bloß".
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Ohne die Möglichkeit einer jenseitigen Hölle oder einer diesseitigen schlechteren Wiederkunft wird unser eigenes momentanes Leben zum hassenswerten Worst Case.
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259)
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Am Anfang waren vielleicht das Nichts und die Ungewissheit – zumindest was die ersten Vorstellungen vom Tod betrifft. Sie sind und bleiben wohl die naheliegendsten.
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Glaube bzw. Religion ist dann etwas Gemachtes. Bilder vom Tod, mit denen wir besser leben können als mit der Vorstellung, dass im Tod alles aus oder alles anders sei.
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Aber können wir glauben, was wir wollen? Sicher nicht. Stetes Nachdenken jedoch kann plausible Modelle vom Tod konstruieren, die glaubwürdig sind und das Leben lebenswerter machen.
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260)
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Suizid im Affekt oder Suizid mit Kalkül – beiden liegt m.E. die aktive Überlegung zugrunde, im Tod sei alles aus, zumindest alles anders.
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Oder hat unser individueller Egoismus Grenzen, die der Art zugutekommen – richtet sich die höchste Wut schließlich gegen den Einzelnen selbst?
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Wie dem auch sei: Selbstmord braucht viel Energie. Ist man nicht eigentlich erst dann wirklich lebensmüde, wenn man von alleine stirbt?
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261)
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Keine Religion haben, das heißt bezogen auf den Tod, ohne die Konstruktion tröstlicher Vorstellungen davon auszukommen.
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Eine gute Religion hat, wer mit ihr den Tod gelassener oder gar freudiger erwartet, als er es ohne sie getan hätte.
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Eine schlechte Religion hat, wer mit ihr dem Tod panisch entgegenstarrt oder begeistert auf ihn zustürmt.
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262)
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Als Quietist mag ich die Sonne. Freue mich, wenn ich sie sehe und fühle.
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Geräuschlos statt laut, ruhig statt hektisch, hell statt dunkel, warm statt kalt, rund statt eckig – gute Eigenschaften, oder?
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Sicher zeigt sie sich vielen auch von ihrer schlechten Seite, aber ich hatte da bisher Glück.
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263)
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Materialismus heute modelliert das Leben als selbstbezüglichen objektiven Prozess, als zufällig entstandenen Regelkreis.
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Bewusstsein entsteht dann wiederum aus so einer Rückkopplung, nämlich von Wahrnehmung auf das Wahrnehmende selbst.
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Vielleicht beginnt drittens das spirituelle Selbstsein mit der Annahme, das eigene Leben sei ein ewiger Kreislauf. Wer es endlich denkt, ist noch bei zweitens.
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264)
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Amokläufe provozieren von offizieller Seite seltsam stereotype Reaktionen fassungsloser Verständnislosigkeit. Schlecht geschauspielert, meine ich.
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Wer verstanden hat, was Materialismus bedeutet, dem leuchtet das Konsequente solcher "finalen" Aktionen gegen das scheiß Leben als solches unmittelbar ein.
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Wer aber seine Augen so fest geschlossen hält, dass er das Leben nur für schön und bewahrenswert halten kann, sollte kein öffentliches Amt bekleiden.
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265)
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Vom materialistischen Standpunkt aus betrachtet ist ein Leben allzu schnell nichts mehr wert, d.h. schlechter als das Nichts im Tod.
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Liebeskummer, Krankheit, Bankrott – wäre es da nicht oft besser, endgültig nicht mehr da zu sein, als solches durchleiden zu müssen?
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Wer sein Leben statt mit dem Nichtsein mit dem Leben anderer anderswo vergleicht, muss bzw. kann es eher wertschätzen.
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266)
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Die Welt ist schlecht und wäre besser nicht.
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Aber Nichts ist vielleicht unmöglich, und jeglicher Versuch der "Vernichtung" vermehrt das Leiden noch.
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Da hilft nur Nachdenken – wie das Nichts sicher erlangt werden kann einerseits, und wie das Sein trotzdem auszuhalten ist andererseits.
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267)
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Das naheliegendste Todesmodell? Erstens alles Mögliche, also das Unbekannte einschließlich des Bekannten (echter Skeptizismus), zweitens das Nichts bzw. Nichtsein i.S.v. endgültiger Bewusstlosigkeit (Materialismus).
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Das wünschenswerteste Todesmodell? Erstens die Allversöhnung ohne Vater, also allen und allem geht es nur gut (Christentum minus Hierarchie), zweitens das Nichts bzw. Nichtsein (Materialismus).
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Das Todesmodell, mit dem ich am ruhigsten leben kann? Erstens der ewige Lebenskreislauf mit stetig wachsender Lebenskunst (etwa Platon), zweitens die Ewige Wiederkehr des Gleichen (etwa Nietzsche).
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268)
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Falls ich von jemand anderem erschaffen wurde, soll der mich gefälligst auch wieder abschaffen! Oder doch nicht?
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Dieser Schöpfer wäre ja alles andere als vertrauenswürdig. Also sich doch lieber selbst abzuschaffen trachten?
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Typisch aktionistischer Zeitgeist: vom Gegenteil der Autopoiese i.S.v. Selbstabschaffung hab ich noch nie was gehört.
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269)
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Früher hat Pädagogik die lauten Kinder bestraft, heute therapiert sie die stillen.
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Was sie alle bräuchten, wären leise Vorbilder – aber wer könnte es in unserer lauten Gesellschaft soweit bringen?
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Amoklaufende Schüler reagieren. Treten mit einem ohrenbetäubenden Knall ab, statt als Mucksmäuschen in die Klapse zu gehen.
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270)
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Die Lauteren, Emotionaleren, Lustigeren setzen sich durch. Empiristische Forschung der Biologie, Psychologie und Soziologie gilt den Medien als Quelle purer Weisheit und liefert fleißig Modelle von Individuum und Gesellschaft, die das auch noch rechtfertigen und fördern. Und bestätigt dabei doch nur ihre eigene Prämisse: Die Welt ist ein Dschungel.
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Wo sogar den Lauten zu offensichtlich wird, wie die Leisen zu Opfern gestempelt und gequält werden, hilft ihnen augenzwinkernde Ironie und schadenfroher Humor über die eigene Peinlichkeit hinweg. Im Fernsehen hat sich eine gigantische Spaßindustrie etabliert, die nachdenkliche Skrupel ab- und triumphales Gebrüll antrainiert.
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Die Stilleren, Vernünftigeren, Ernsteren bleiben auf der Strecke. Ihre Einwände gelten als antiquiert, intolerant, humorlos, passiv-aggressiv. Haben eben die falsche Mentalität für eine Welt, in der sich schon die 13-jährigen Mädchen im Internet als stolze Kriegerinnen präsentieren. Sollen unter dominanten Verhaltenstherapeuten lernen, sich zu behaupten.
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271)
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Das Schönste an den herkömmlichen Musikinstrumenten ist vielleicht, dass sie Ruhe geben, solange keiner an ihnen tätig wird.
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So wünschte man sich doch auch das Leben: dass seine Musik nur für den erklänge, der sich freiwillig darum bemühte.
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Aber es ist, als hätte uns ein sadistischer Gott an seine Orgel gekettet, die umso lauter und dissonanter ertönt, je weniger wir auf ihr spielen mögen.
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272)
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Die höhnischen Harten desavouieren das Leid gerne als Selbstmitleid, das Mitleid als Überheblichkeit.
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Militanten Optimisten geht es darum, jegliches "Gejammer" und jegliche Sympathie dafür abzuschaffen.
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Immer aggressiver und unempfindlicher werden, bis alles Leid unterdrückt ist? Wird nicht funktionieren.
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273)
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Wenn ich im Tod die Wahl bekäme zwischen Sein und Nichtsein, würde ich sicherlich ohne Zögern das Nichtsein wählen.
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Viel schwieriger wäre die Entscheidung zwischen einer Fortstetzung des Seins mit und ohne Erinnerung an alles bisherige.
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Vielleicht besteht mein Leid auch darin, nicht loslassen zu wollen, um ein anderer sein zu können. Wäre doch Verrat an mir selbst.
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274)
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Wegwerfmentalität zeugt vom Vertrauen darauf, dass es einen Raum jenseits des eigenen gibt, in den hinein jeglicher Abfall sauber und endgültig zu entsorgen ist.
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Materialisten glauben an solch einen perfekten Müllschlucker, der alles vernichtet, was sie nicht mehr gebrauchen können, am Lebensende dann auch sie selbst.
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Vielleicht ist der Anfang allen Übels so ein Jenseitsglaube. Erst wer kein Anderswo bzw. Nichts für seine Debris mehr hat, lernt mit statt über den Dingen zu leben.
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275)
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Wann ist ein Tod vorzeitig?
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Wenn es noch zu lernen, zu arbeiten oder auszuspannen gegolten hätte.
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Wer Jugend, Reife und Alter gehabt hat, kann dann wohl auch in den Tod gehen.
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276)
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Ist bigotte Spießbürgerlichkeit wieder o.k., sobald auch das schwule Quotenpaar seine Doppelhaushälfte kriegt?
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Ist intellektueller Nationalismus wieder o.k., wenn ihn Immigranten aufleben lassen, deren Bücher vormals gebrannt hätten?
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So traurig, wenn ehemalige Opfer ihre Chance auf Einfluss ergreifen, indem sie Amnestie gewähren gegen Mitgliedschaft.
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277)
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Das Sein ist nicht zu bezweifeln, das Nichts aber wohl.
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Der Zweifel an der Möglichkeit des eigenen Nichtseins ist heutzutage nicht verbreitet genug.
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Die Christen behaupten, keiner könne sich ins Nichts verabsentieren; die Materialisten behaupten, jeder müsse das. Beide sollten diese ebenso sturen wie willkürlichen Festlegungen unterlassen.
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278)
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Moderne Skepsis bringt der alten Unsicherheit materialistische Untertöne bei, tauscht unwissende Trostlosigkeit unter der Hand gegen eine fast religös zu nennende Tröstlichkeit.
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"Der Tod ist nicht erfahrbar!" – das klingt erst mal nach empiristischer Abstinenz vom unwissenschaftlichen Fragen, verspricht dabei aber auch irgendwie die Leidlosigkeit im Tod.
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Ausgerechnet der Positivismus redet gerne kritisch-negativ, sagt, was etwas nicht sei. Etwa aus (mir nur allzu verständlicher) Sehnsucht, irgendwann gar alles ausgeschlossen zu haben?
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279)
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Himmel und Hölle, Nichts und Ganz Anderes – alles Jenseitsmodelle, die Unruhe stiften, wo sie nicht als unsere eigenen Konstrukte, sondern als offenbarte, erwiesene usw. Wahrheiten gelten.
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Theoretisch weiß ich nicht, was mich morgen wie auch im Tod erwartet – und praktisch gehe ich davon aus, dass es morgen wie auch im Tod so ähnlich weitergeht, wie ich es schon kenne.
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Es wundert mich, dass dieses Thema weder akademisch noch alltäglich eine nennenswerte Rolle spielt. Basieren Gesellschaften auf der Unantastbarkeit ihrer Todesvorstellungen?
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280)
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Das Grundgesetz mag die Würde des Einzelnen noch so sehr betonen, das Strafgesetz favorisiert seit jeher die Gruppe.
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Wer Zeugen für "seine Wahrheit" beibringt, der gewinnt. Und Lügen von Angehörigen dürfen sogar legal gedeckt werden.
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Vor Gericht entscheidet im wahrsten Sinne des Wortes die Mehrheit, die Wahrheit geht mit dem Einzelnen unter.
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281)
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Nietzsche und Freud lassen grüßen: Psychotherapie redet dem Patienten ein, sein negatives Bild vom Leben sei krankhaft und Selbstverwirklichung führe zu Lebensbejahung und Daseinsfreude.
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Nach dem Rückfall in die Rolle des Zöglings folgt also die noch lächerlichere Phase, wo der Indoktrinierte sich weisungsgemäß vom Leben zu holen versucht, was sein Anstand ihm bislang verwehrte.
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Schnell sind die alten Gerüste der Pflicht aufgegeben und die neuen Gerüste der Lust zusammengebrochen. Und wohin bitteschön ist die post-postmoderne Gesellschaft dann unterwegs?
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282)
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Die Fraunatur setzt sich durch – im Anschluss an Rationales wie z.B. die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter propagiert der Postfeminismus das "Bad Girl": eine Frau, die ihre unterdrückten Emotionen rauslässt.
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Drama-Queens erfüllen öffentlichen Raum mit ihrem Gekreische, enthemmte Chauvinistinnen bekunden zotig ihre Lust auf viel jüngere Männer – die Neue Frau räumt lästige kulturelle Konventionen aus dem Weg.
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Die Mannnatur bleibt noch aus gutem Grund gesellschaftlich tabuisiert. Aber lange wird es nicht mehr dauern, bis die Herren ihrerseits wiederentdecken, was sie von Natur aus am dringendsten wollen. Das wird schlimm!
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283)
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Ich wollte, diese Welt wäre so, dass ich sie gutfinden könnte.
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Keineswegs jedoch wollte ich, ich wäre so, dass ich diese Welt gutfinden könnte.
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Denn diese Welt gutfinden zu können ist schlecht, dessen bin ich mir sicher.
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284)
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Suizidenten halten sich oft für nicht gut genug. Tun ihrer Meinung nach der Welt einen Gefallen damit, dass sie sich entsorgen.
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Ironischerweise sind jedoch gerade sie eher zu gut für diese Welt, beurteilen die Welt zu positiv und sich selbst zu negativ.
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Nicht dass es leichter wäre, zu gut für diese Welt zu sein – aber die eigene depressive Stimmung als gutes Zeichen zu werten schützt vor Suizidalität.
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285)
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Tue Gutes, dann geht es dir gut – so in etwa die falschen Versprechungen der traditionellen Religionen.
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Praktisch bleiben aber erst mal nur zwei Möglichkeiten: im freudigen Vorteil oder im leidigen Nachteil sein.
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Erst in zweiter Linie ist Leid als Notwendigkeit der Güte zu interpretieren, vielleicht sogar zu wollen.
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286)
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In einer Gesellschaft, die das Individuum lehrt, die Gesellschaft sei das Wichtigste, kann es für den Einzelnen sehr lange dauern, bis er überhaupt merkt, dass er Individuum ist bzw. sein könnte.
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Das gilt aber auch für eine Gesellschaft, die Individualität zum gesellschaftlichen bzw. kommerziellen Imperativ macht. In Massen individuelle Lifestyle-Accessoires shoppen – kann es das schon sein?
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Nein, die Initiation der Individualität ist und bleibt ausgiebiges Alleinsein. Nur so findet sich das Eigene – oder zumindest die mangelnde Eignung bei demjenigen, der einfach nicht alleinsein kann oder will.
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287)
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Je eigener ein Mensch, desto mehr Kraft kostet es ihn, in menschlicher Gesellschaft zu verweilen.
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So ziehen sich die einen in die Einsamkeit zurück, um Energie zu tanken, die anderen gehen unter Leute.
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Wer aber damit kokettiert, er bräuchte hin und wieder eine Stunde für sich, gehört definiv zu letzteren.
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288)
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Ohne Religion aufzuwachsen mag ja durchaus möglich bis üblich sein.
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Nichts glauben positiviert sich jedoch oft unversehens zum Nichtsvertrauen.
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Wer erst einmal seinen Tod bedenkt, gerät schnell an eine Religion.
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289)
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Emissionshandel bringt den Quietisten auf Ideen: Krach sollte kosten – und je vermeidbarer der Lärm, desto teurer sollte er seinen Verursacher kommen.
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Stattdessen machen es die Baumärkte für immer mehr Heimwerker immer billiger, lautstarke Renovierung zum dauerhaften Selbstzweck zu erheben.
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Ruhestörer sind sich ihrer Rolle meist nicht einmal bewusst und begreifen wohl erst, wenn es ihnen deutlich spürbar an den Geldbeutel geht.
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290)
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Zuerst denkt man naiverweise nur innerhalb des Lebens, bedenkt noch kein Vorher/Nachher bzw. Außerhalb.
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Dann denkt man sich Rahmen um das Leben, die anders sind als das Leben – und dazu gehört auch das Nichts.
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Schließlich kann zum Lebensmonismus zurückkehren, wer sich als Lebensrahmen wiederum das Leben denkt.
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291)
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Philosophieren ist etwas für Leute, die in ihrem Denken bzw. ihrem Sein neu ansetzen wollen – oder nein: müssen.
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So optimistisch die Vorsilbe "Phil-" erst mal daherkommt, philosophische Charaktere wirken eher von Leid motiviert.
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Wer unbewusst einen guten Start hatte, denkt kaum nach – der unbewusste Fehlstart nötigt zum bewussten Neustart.
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292)
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Der Vergleich mit dem Nichts ist meine absolute Richtschnur – besser als Nichts ist gut, schlechter als Nichts ist schlecht.
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Der Vergleich des Lebens mit dem Nichts entscheidet für mich jedoch nicht die Frage, ob der sofortige Tod dem Weiterleben vorzuziehen sei.
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Lebensqualität bemisst sich für mich am Vergleich mit dem Leben der anderen. Ich finde mein Leben zwar schlecht, aber besser als das der meisten anderen.
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293)
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Friedhöfe sind leider keine Fried-Höfe.
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Statt mit ihren Toten zu schweigen, schwatzen die Lebenden dort miteinander.
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Statt still der Toten zu gedenken und sich selbst dabei zu besinnen, bestellen sie mit Getöse ihre auf den Gräbern angelegten Kleingärten.
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294)
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Das private Glück jeden Tag beim Schopf packen; oder enttäuscht vom Leben darauf vertrauen, dass der Tod alles Leid beendet – diese Philosophien sind mir zu oberflächlich.
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Die kurze Zeit bis zum Tod als letzte Gelegenheit begreifen, durch Tun oder Unterlassen des Guten das eigene Seelenheil auf ewig zu retten oder zu verspielen – das ist mir zu drastisch.
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Der Lebensmonismus, welcher das Leben für alternativlos hält, gibt unbegrenzt Zeit für die Suche nach dem seelischen Gleichgewicht. So ist er weder amoralisch noch moralinsauer.
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295)
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Ist Philosophie noch Philosophie, wenn sie unfreiwillig stattfindet?
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Ich philosophiere zwanghaft, seit mich religiöse Drohungen dazu nötigten.
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Aber vielleicht war Philosophie schon immer nur Gegengift – und wer seine religiöse Vergiftung überstanden hat, braucht auch keine Philosophie mehr.
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296)
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Über ein Außerhalb des Lebens können wir nichts wissen.
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Problematisch, denn das Unbekannte verängstigt bzw. verlockt.
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Um der Ruhe willen ist anzunehmen, dass es kein Außerhalb gibt.
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297)
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Todesdogmen wie Himmel und Hölle der Christen oder das Nichts der Materialisten verängstigen bzw. verlocken. Das ist unnötig, denn tatsächlich können wir über ein Außerhalb des Lebens nichts wissen.
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Doch mit dem Unbekannten kommen wir vom Regen in die Traufe, weil das Unbekannte auch wieder verängstigt bzw. verlockt.
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Um der Ruhe willen bleibt uns nur die Annahme, dass es kein Außerhalb des Lebens gibt.
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298)
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Wenn es Gott gibt, ist er entweder böse gegen uns oder ohnmächtig gegen unser Leid – soweit die Gotteskritik der Theodizee.
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Die dritte Möglichkeit des unbeirrbar Gläubigen liegt im Vertrauen darauf, dass jedes Leid einem höheren Zweck dient, der sich lohnt.
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Solcher Glaube klebt ein Preisschild auf die Würde des Menschen. Der Gläubige ist käuflich, im jetzigen Leiden denkt er ans spätere Kassieren.
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299)
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Entweder es gibt Gott und ewigen Lohn für die Gläubigen bzw. ewige Strafe für die Ungläubigen, oder es gibt ihn nicht und das Leben endet für alle mit dem Tod; also kann der Gläubige gar nicht verlieren – sagt die Pascalsche Wette.
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Ihre Widerlegungen sind entweder so kompliziert, dass ich sie nicht verstehe, oder sie versteifen sich in vorausgesetztem Atheismus darauf, dass der Gläubige sehr wohl verliert, weil er sich das Sündigen im irdisch Endlichen verkneift.
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Ich meine, die Wette hinkt, wegen der Asymmetrie ihrer beiden Fälle, wo Gott entweder Gutes belohnt und Böses bestraft, oder nicht existiert. Symmetrisch wäre ein Fall 2, wo Gott Gutes bestraft und Böses belohnt. Und damit stünde es wieder patt.
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300)
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Der Verlockung des Todes im Suizid erliegen, der Angst vor dem Tod in den Wahnsinn entfliehen – beides alltägliche Schicksale, einzeln wie kollektiv.
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Die Bildungsgesellschaft vermittelt das Rüstzeug zur Lösung komplexester theoretischer und praktischer Aufgaben – und lässt das Grundlegendste weg.
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Mit dem Schulunterricht in monotheistischer Religion und Naturwissenschaft wird Todessehnsucht und Todesangst gleichermaßen geschürt – beruhigende Todesmodelle findet man selber oder gar nicht.
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301)
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Verantwortung heute, für sich selbst und andere, resultiert daraus, dass morgen wieder ein Tag ist.
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Verantwortung für das Leben bleibt auf der Strecke, wenn immer mehr es für endlich und einmalig halten.
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Vielleicht ist Wiedergeburtsglaube ja das ethische Minimalprogramm – und Materialismus ist zu wenig.
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302)
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Nichts Schlimmes machen ist sicherer als etwas Gutes probieren. Oft sogar schwerer, weil der Mensch Aktivist ist.
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Wo gehobelt wird, da fallen meist so viele Späne, dass man es besser von vornherein gelassen hätte.
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Mag sein, dass Unterlassen von Schädlichem etwas Halbes ist – aber mehr verlange ich nicht von mir.
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303)
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Christen rächen sich nicht selber an ihren Peinigern, sondern trösten sich damit, dass Gott sie rächen wird, indem er diese nach dem Tod auf ewig in der Hölle schmoren lässt.
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Einerseits verwundert es mich, wie man so rachsüchtig werden kann, jemandem ewiges Leid zu wünschen. Vielleicht hat mir noch niemand so richtig wehgetan?
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Andererseits gibt es Christen, welche die Hölle für weniger schlimm halten als das Nichts, weil man dort immerhin noch existiere. Vielleicht hat denen noch niemand so richtig wehgetan?
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304)
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Vielleicht hat sich der Allmächtige von allen Rollen im Universum genau die ausgesucht, welche ich auch am liebsten hätte: er ist nicht.
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Und die anderen müssen sein statt nichtsein, und zwar jeder anders, so dass insgesamt Alles ist, mit Gott zusammen eben Alles und Nichts.
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Ob wir Seienden durchwechseln oder dieselben bleiben? 'Jeder muss mal jeder sein' wäre gerecht, bequemerweise bliebe ich lieber ich.
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305)
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Lebensverneiner könnten auf die Idee kommen, dass Lebensbejahern der Tod deshalb oktroyiert werden dürfe, weil jenen von diesen ja auch das Leben oktroyiert wurde.
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Ein Unterschied besteht aber darin, dass mit dem Kind nunmal nicht vor seiner Zeugung bzw. Empfängnis besprochen werden kann, ob es gerne auf die Welt kommen möchte.
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Blieben evt. die zu töten, welche nicht (mehr) sagen können, ob sie Leben oder Tod vorziehen. Gilt den Todesengel widerwillig anstöhnen als Nein zum Tod? Dann schreien aber auch alle Neugeborenen dieser Welt Nein zum Leben.
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306)
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Mütter können angeblich unterscheiden, ob ihr Säugling "nur so" schreit oder ob ihm "wirklich" etwas fehlt.
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Unglaublich, welche Verrenkungen die Lebensbejaher vollführen, um am Lebensleid vorbeizusehen.
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Übrigens reagieren diese Mütter sauer, wenn Männer sagen, sie wüssten, ob eine Frau "wirklich" neinsagt.
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307)
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Alle Menschen werden mit einer verneinenden Haltung gegenüber Leben, Welt und Mensch geboren, welche ihnen die Gesellschaft dann systematisch austreibt, indem sie jene bestraft und die bejahende belohnt.
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Wer sich seine negative Haltung nicht abgewöhnen lässt, gilt als retardiert, leidet angeblich an einer Entwicklungsstörung, welche erzieherisch, therapeutisch, ärztlich, juristisch etc. kuriert werden soll.
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Wer auch diese Maßnahmen übersteht, ohne einzuknicken, verfasst z.B. sonderliche Blogs über die Schlechtigkeit der Welt. Worin evt. andere Bestätigung finden, anstatt auch noch in die Heuchelei einzustimmen.
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308)
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Bosheit kommt nicht nur von Habgier oder Neid. Auch Psychopathie und Sadismus sind vielleicht seltener als vermutet.
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Bosheit schöpft ihre Energie nämlich oft aus der Wut darüber, dass alle Welt beharrlich so tut, als sei das Leben ach so schön.
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Bosheit schlägt dann ohne bestimmtes Ziel auf das Leben als solches ein, um es zu zwingen, sein Leid endlich zu offenbaren.
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309)
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Aufgeklärte Zeitgenossen schütteln verständnislos den Kopf über hochstudierte islamistische Selbstmordattentäter.
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Wie könnten gebildete Menschen nur Leben vernichten für ein Jenseits, das so offenkundig der blühenden Phantasie entspringt?
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Aber vom Nichts im Tod zu "wissen" ist kaum klüger. Solange unsere Akademia selber dogmatisch ist, sind auch diplomierte Paradies-Bomber kein Wunder.
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310)
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Das Leben ist ein schlechtes Schicksal, der Tod ein ungewisses. Mir nur allzu klar.
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Aber außer Shakespeare's Hamlet findet sich kaum einer, der das so sieht und so sagt.
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Schon Lebensverneiner sind selten, und die glauben dann fest an das Nichts im Tod.
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311)
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Die Gesellschaft erblüht, weil sie Gemeinschaften u.a. das Recht einräumt, kommunikativen Krach zu machen. Den ruhigen Einzelnen zermürbt diese Dauerbeschallung.
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Sollte er daraufhin gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen und alleine genauso reden, singen, grölen und kreischen wie die anderen miteinander, wird er für verrückt erklärt.
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Steter Tropfen höhlt den Stein: über Jahre reicht schon die bloße Akustik der Familien hin, um Ledige erst in die Defensive und schließlich zur Kapitulation zu drängen.
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312)
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Der geruhsame Lebensabend knüpft sich für viele an die Bedingung des zuvor befriedigend vollendeten Lebenswerks.
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Also hören die einen nie auf zu arbeiten, und andere bringen sich um, sobald abzusehen ist, dass sie nichts fertigbringen.
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Aber reicht es nicht schon, Gutes angestrebt bzw. Schlechtes unterlassen zu haben? Die Welt lässt eh nur das wenigste gelingen.
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313)
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Das Leid muss aufhören! Vielleicht die einzige Aussage, welche ich ohne Wenn und Aber unterschreiben kann.
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Wie die meisten Menschen ziehe ich ja oft die goldene Mitte den klaren Entscheidungen fürs Eine oder Andere vor.
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Aber Himmel oder Nichts würde ich sofort und immer nehmen, da gibt es kein Vertun. Das Leid muss aufhören!
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314)
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Wie konnte der Monolog "Sein oder Nichtsein" aus Shakespeare's Hamlet zum berühmtesten der Theatergeschichte werden?
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Das Leben ist hässlich, der Tod unbekanntes Terrain – so seine Grundaussage. Das Leben ist schön, der Tod Erlösung – so dagegen die Volksreligion.
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Ich meine, dass letztere lügt. Die traurige Wahrheit aber muss sich verkleidet auf die Theaterbühne stellen, um gehört zu werden.
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315)
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Wer sich ohne oder trotz Ruhe immer müder fühlt, beginnt irgendwann den Tod herbeizusehnen.
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Ist diese Reaktion angeboren? Oder nur erworben über die gesellschaftlich vermittelte Assoziation von Schlaf und Tod?
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Vielleicht konnte man einst ungehinderter passiv werden. Heute muss mit Aktivierung von außen rechnen, wer sich gehen lässt.
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316)
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Wer ein Leben besser als Nichts hat und ein gutes Gewissen noch dazu, der lässt es sich zu gut gehen.
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Wer ein Leben schlechter als Nichts hat und ein schlechtes Gewissen noch dazu, der lässt es sich zu schlecht gehen.
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Weder im Vorteil mit schlechtem Gewissen noch im Nachteil mit gutem Gewissen – das wäre Balance.
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317)
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Die Einsicht beneidet die Einfalt, und umgekehrt. Was ist denn wirklich besser – mit oder ohne Bedenken zu leben?
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In Shakespeare's Monolog "Sein oder Nichtsein" wird am Schluss eher fürs Verwerfen der Bedenken plädiert.
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Ich selber finde es schlecht, die Bedenken dem forschen Handeln zu opfern. Das Risiko ist schlicht zu groß.
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318)
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Das Sein monistisch als Grund seiner selbst aufzufassen und somit eine seltsame Schleife zu bauen ist nicht mehr oder weniger imaginär, metaphysisch, paradox usw. als ihm dualistisch das Nichts gegenüberzustellen.
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Die Endlichkeit steht im Ruf der Wissenschaftlichkeit, Skepsis, Nüchternheit – die Ewigkeit aber sei religiös, konstruiert, schwärmerisch. Gibt es dafür haltbare Argumente?
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Ich glaube nicht. In einer "positivistischen" Gesellschaft, die nur zwischen dem sturen Lebenswillen und dem drohenden Nichts hin- und herdenken kann, gilt letzteres eben als realitätsnah – zu Unrecht.
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319)
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Gerecht am Glauben an ein endliches bzw. einmaliges Leben ist es, dass die Lebensbejaher sich ihres Lebens freuen können, aber traurig ihres Todes gedenken müssen, während die Lebensverneiner umgekehrt im sicher bevorstehenden Tod einen starken Trost für ihr miserables Leben haben.
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Ungerecht am Glauben an ein ewiges bzw. vielmaliges Leben erscheint es dagegen, dass die Lebensbejaher sich nur noch am Leben erfreuen dürfen und die Lebensverneiner nur noch traurig darüber sein müssen – falls mit dem Leben auch Lebensbejahung und Lebensverneinung ewig sein können.
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Vielleicht kennt der Buddhismus deshalb kein beständiges Ich bzw. keine unsterbliche Seele – damit selbst noch Lebensbejahung und Lebensverneinung sich mit der Zeit abwechseln mögen. Das Christentum hingegen ist da eher ein Glaube für Begünstigte, die ihre Geschenke auf ewig behalten wollen.
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320)
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Pessimismus ist "Jammern auf hohem Niveau", damit haben die Optimisten nicht einmal so unrecht.
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Aber ich als Pessimist sehe das im Gegensatz zu den Optimisten positiv: das Leben zu beklagen ist authentisch.
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Ehrlich Erwachsenwerden heißt für mich, meinem Leid in immer ruhigerer Weise Ausdruck zu verleihen.
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321)
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Wenn man sich diese Welt so ansieht, was ist dann wohl wahrscheinlicher: dass ihr möglicher Schöpfer die Sanftmütigen oder die Kriegerischen liebt?
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Selbst der christlich Erzogene muss sich irgendwann fragen, ob seine Religion nicht als hinterlistige Antwort der Schwachen auf die Starken entstand.
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Wem die Sanftmut lieber ist, der kann sich damit aber immer noch gegen den kriegstreibenden Gott stellen – müsste dem eigentlich sogar gefallen!
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322)
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Damit das Über-Ich überhaupt eine Chance gegen das Es bekommt, braucht es etwas Ruhe bzw. Bedenkzeit.
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Wer einen Menschen zu schneller Reaktion zwingt, fordert damit sein Es heraus, nicht sein Über-Ich.
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Wenn Spaßmacher moralisch "entlarven" wollen, indem sie ihre Opfer überrumpeln, betrügen sie damit selber.
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323)
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Leben muss aus Totem geschaffen bzw. geworden sein – solche Logik steckt hinter Christentum wie Materialismus.
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Aber vielleicht ist Leben ja schon immer, und zwar genau das: ganz von selber.
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Nichtsdestotrotz sollte es besser vergehen bzw. abgeschafft werden, anstatt ewig weiter wehzutun.
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324)
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Entweder das Unbekannte im Tod aushalten – oder diesem möglichst glaubwürdige Hypothesen entgegensetzen.
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Die dritte Möglichkeit eines Wissens um Sein oder Nichtsein im Tod gibt es halt nicht – ob zum Glück oder Unglück.
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So ist man also entweder echt skeptisch oder religiös – und zu letzterem zählt auch die materialistische "moderne Skepsis".
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325)
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Nicht nur Himmel und Hölle, sondern auch Nichts, Ganz Anderes und Ewig Gleiches sind zweischneidige Jenseitsmodelle.
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Das Nichts erlösend wie verhindernd, das Ganz Andere aufregend wie einschüchternd, das Ewig Gleiche anheimelnd wie nervtötend.
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Trotzdem erscheint mir das Ewig Gleiche insgesamt noch am wenigsten verstörend – um der Ruhe willen mein religiöser Favorit.
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326)
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Zwischen Schopenhauer und Nietzsche liegt für mich ein philosophiehistorischer Übergang vom Generalismus zum Spezialismus.
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Pessimist und Optimist könnten sich evt. darauf einigen, dass Leben und Welt im allgemeinen miserabel und im besonderen schön sind.
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Bleibt weiterhin die Frage, ob denn nun das Generelle oder das Spezielle den Ausschlag gibt. Ich meine weiterhin: ersteres.
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327)
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Zugunsten der Lebenden gehe ich davon aus, dass das Leid grundsätzlich zuerst da ist und das Böse immer nur aus dem Leid folgt.
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Das Leid der Welt zugunsten eines guten Gottes uns freiwillig bösen Sündern in die Schuhe zu schieben halte ich für fromme Selbstquälerei.
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Schon Gott hat sich vor der Schöpfung mies gefühlt und kann – von uns vors Jüngste Gericht gestellt – mildernde Umstände geltend machen.
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328)
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Die Christen wünschen sich Gott als höchsten Verantwortlichen, dem die Bösen schließlich selber zum Opfer fallen.
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Ich wünsche mir ein noch höheres Nichts, dem schließlich alles einschließlich dieser Gott zum Opfer fällt.
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Aber wenn wir Pech haben, stürzt alles immer wieder ins Chaos und schließlich kriegt keiner, was er will.
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329)
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Bejahende Individualisten und bejahende Kollektivisten kämpfen miteinander auf der Bühne des Lebens.
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"Das Leben lohnt nur als Egoist!" gegen "Hilf und dir wird geholfen!" – eine gigantische Inszenierung.
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Verlieren tun dabei nämlich nur die Verneinenden – ob sie nun am individuellen oder kollektiven Leid verzweifeln.
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330)
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Wer wie ich sagt, er bezweifle, dass im Tod das Nichts auf uns wartet, steht sofort im Verdacht zu glauben, an den gängigen religiösen Jenseitsvorstellungen sei doch etwas dran.
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Ich glaube aber nicht, die plastischen Jenseitsgemälde religiöser Spinner treffen zu – viel eher glaube ich, die Todesvorstellung des modernen Menschen ist ebenfalls falsch.
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Wir kriegen bereits als Kinder beigebracht, "konstruktiv" zu sein – und wer etwas zweifelnd ablehnt, dem wird unterstellt, dass er die übliche Alternative dazu glaubend annimmt.
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331)
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Lebenbejaher sind einverstanden damit, für ihre Lust eigenes Leid in Kauf zu nehmen – diese Bestechlichkeit ist mir als Lebensverneiner zwar ein Dorn im Auge, aber ihre Sache.
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Lebensbejaher billigen es jedoch überdies, dass dem Leben der einen in Freude das Leben der anderen im Leid gegenübersteht – und dazu jazusagen ist grundböse.
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Wer die Wahl hätte zwischen Himmel und Hölle einerseits oder dem Nichts andererseits – und nähme erstere, müsste schon ein Psychopath von göttlichen Ausmaßen sein.
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332)
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Wenn das Leben tatsächlich für uns alle aus dem Nichts käme und ins Nichts ginge, so wäre es doch einfach eine große Party, auf der sich die einen wohlfühlen und die anderen eben nicht.
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Man stelle sich nun einen Lebensgenießer vor, der von einem am Leben Leidenden verlangt, für ihn weiterhin auf dieser Party zu verweilen anstatt heimzugehen – wie vermessen!
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Genau das aber tun Realisten, die bitter beklagen, dass ein Angehöriger oder Freund ihnen seinen Selbstmord antun konnte. Kaum zu glauben, aber unter Hinterbliebenen die Regel.
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333)
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Wer das Nichts im Tod als unumstößliche Tatsache predigt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Lebenshasser sich und anderen so einen Tod schenken.
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Wer sein Leben liebt, schenkt gerne auch anderen das Leben – wieso sollte nicht gleichermaßen, wer sein Leben hasst, sich und andere daraus erlösen?
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So krampfhaft die Gesellschaft solches in die kranke Ecke schiebt, so folgerichtig ist diese Motivation für einen, der die Scheuklappen abgelegt hat.
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334)
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Der Untergang als aktive Möglichkeit des Menschen bleibt ein Tabu – allgemein herrscht die Ansicht, das Ende der Menschheit drohe von selbst und es gelte vereint dagegen anzukämpfen.
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Aber jedes Tabu wird gefunden und gebrochen von einer stereotyp rebellierenden Jugend. Alles, was nicht offen diskutiert, sondern fundamental verschwiegen wird, fällt dergestalt auf uns zurück.
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Hassworte gegen die Menschheit im Chatroom und Hasstaten gegen die Menschheit im Schulraum trachten diese Marktlücke zu füllen. Es wäre besser, Fachleute kümmerten sich darum.
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335)
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Wenn das Leben individuell wie kollektiv endlich ist, also nur eine Pause zwischen Nichts und Nichts, dann ist es Geschmackssache, diese Pause möglichst lange, mittel oder kurz halten zu wollen.
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Wenn das Leben vorher und nachher nicht vermisst werden kann, ist der Wunsch einer individuellen wie kollektiven Abkürzung zum Tod mindestens ebenso legitim wie der Wunsch nach Verlängerung.
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Wer das Leben als unendlich annimmt, braucht sich nicht mehr nach Abkürzungen und Verlängerungen zu verzehren. Und das wäre dann genau die ruhige Stimmung, welche unserer Zeit fehlt.
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336)
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Weltschmerz gilt als abgeschafft. Probleme sind heutzutage partikular – wer am Leben schlechthin zu leiden meint, ist krank.
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Psychologen tippen auf innerfamiliäre Fehlentwicklungen, Mediziner auf eine Dysbalance von Hirnbotenstoffen.
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Und bessere gesetzliche Kontrollen von Computerspielen und Sportwaffen erledigen den Rest. Die neue Welt ist schön, basta.
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337)
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Doppelt hält besser – das gilt besonders für die "Fundamente" des Glaubens.
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Mein Kulturkreis hofft auf ein paradiesisches Jenseits, abgesichert durch das bewusstlose Nichts darunter, welches aber schon als areligiös gilt.
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Ich glaube an die Alternativlosigkeit des Lebens als ewiger Kreislauf, freischwebend über dem verglichen zum Nichts viel areligiöseren Absolut Unbekannten.
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338)
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Was ist der Unterschied zwischen der Vorstellung des Todes als das Ganz Andere und als das Absolut Unbekannte?
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Letzteres enthält zusätzlich zu ersterem auch noch die Möglichkeit der Wiederkehr des Gleichen bzw. Ähnlichen. Also alles.
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Wer sich in der sicheren Erwartung einer Veränderung umbringt, könnte mit der Wiederkehr des Gleichen enttäuscht werden.
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339)
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Mit Himmel und Hölle stimuliert das Christentum in krassester Weise Sehnsucht nach bzw. Angst vor dem Tod.
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Die christlichen Bilder vom Jenseits sind keinesfalls kindgerecht und haben unsägliches Leid angerichtet.
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Als philosophische Kategorien jedoch sind das maximal vorstellbare Angenehme bzw. Unangenehme im Tod nicht abzulehnen.
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340)
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Nichts ist unmöglich – auch das Nichts nicht. Alles ist möglich im Tod, nichts kann ausgeschlossen werden – so definiere ich echte Skepsis.
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Von allen vorstellbaren Möglichkeiten wähle ich als meinen Glauben diejenige aus, welche gleichermaßen plausibel und beruhigend auf mich wirkt.
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Das Leben als ewiger Zyklus ist ebenso naheliegend wie entspannend. Naheliegenderes ist mir zu aufregend, Beruhigenderes zu unplausibel.
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341)
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Lebensmonismus i.S.v. Alternativlosigkeit bewussten Daseins hat viele Varianten: Wiederkehr des Ewig Gleichen, zufällige Wiedergeburt als eines von allen Lebewesen, ewiges Wachstum, ewige Verwesung usf.
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Ich denke, am selbstähnlichsten lässt sich Leben fortgesetzt denken in zyklischer Bewegung: der nächste Tag, das nächste Jahr, das nächste Leben gleichen dem Vorgänger in vielem, aber nicht in allem.
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In einer Hinsicht ist das nächste Mal fortgeschritten, in anderer Hinsicht zurückgefallen – aber mehr als es fortschreitet oder zurückfällt, dreht sich doch alles in vielfachst überlagerten Kreisen.
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342)
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Das Nichts im Tod erst einmal anzuzweifeln begonnen, erscheint bald wieder schier alles möglich.
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Und von allem, zuerst einmal hauptsächlich assoziiert mit allem Neuen, kehrt man skeptisch zurück zum Alten.
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Wer blind voraussagen soll, wie es weitergeht, liegt am besten mit: genauso. Die Natur macht eher keine Sprünge.
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343)
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Wer sich im Leben nicht behauptet, kommt in Therapie.
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In der Therapie behaupten sich dann die Therapeuten.
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Für den Patienten ist das Leben schlechter als nichts.
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344)
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Zwar denke ich nicht, dass die Lebensbejaher den Glauben an das Nichts des Todes verbreiten, damit sich die Lebensverneiner umbringen.
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Aber es fehlt an Bewusstmachung, wozu dieses Bild vom Tod, welches den Lebensbejaher ja abschreckt, den Lebensverneiner verlockt.
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Dass das Todesnichts nur ein Glaube ist, würde sich viel schneller herumsprechen, wenn er auch für Lebenbejaher lebensgefährlich wäre.
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345)
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Schuld an Suizidalität und Suizid von Jugendlichen wie Erwachsenen sind offiziell psychische Störungen und das psychosoziale Umfeld.
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An die Verlockung durch erzieherisch bzw. medial vermittelte Jenseitsmodelle wie Paradies, Nichts oder Ganz Anderes denkt dabei kaum jemand.
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Es grenzt ans Kriminelle, den Tod zum erforschten Terrain zu erklären. Jede unangezweifelte Vorstellung vom Tod verleitet Menschen zum Suizid.
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346)
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Suizidprävention funktioniert auf zweierlei Weise: Verbesserung der Lebensqualität oder Entzauberung der Todesvorstellung.
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Es wird jedoch realistischerweise nicht gelingen, die Lebensqualität der meisten am Leben leidenden über das leidlose Nichts zu erheben.
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Der Realismus legt nahe, dass ein Leben schlechter als Nichts nicht lebenswert sei. Dieses "Wissen" führt unzählige direkt in den Tod.
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347)
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Lebensverneinung muss per se noch keine allzu großen psychischen Probleme machen.
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Erst wer sich dafür selber hasst, gerät in einen krankmachenden Teufelskreis.
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Gerade als Lebensverneiner gilt es, sich selber nicht mit den Augen der Gesellschaft anzusehen.
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348)
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Warum nicht gleich ins Paradies? Warum dieses grausame Vorspiel? Das hab ich mich als kindlicher Christ gefragt.
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Warum nicht gleich ins Nichts? Warum dieses sinnlose Vorspiel? Das hab ich mich als jugendlicher Realist gefragt.
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Es ist, wie es ist. Und wahrscheinlich bleibt es auch so, verdammt. Das denke ich mir als erwachsener Lebensmonist.
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349)
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Ohne Verantwortung gegenüber einer Zukunft unbegrenzter Dauer rafft halt jeder in seiner vermeintlich endlichen Lebensspanne an sich, was er nur kann.
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Das ungedeckte Versprechen des Realismus, dass im Tod das leidlose Nichts auf uns alle wartet, macht noch aus dem letzten Feigling einen Gangster.
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Die Rollen sind klar verteilt: Religiöses gilt als Einbildung, Realistisches als Wirklichkeit. Bis sich auch das Nichts als Illusion entpuppt, ist alles ausgeplündert.
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350)
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Lebensverneinender Lebensmonist bin ich. Bereite ich mir so meine eigene Hölle?
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Mag sein, aber diese Philosophie scheint mir nach gründlicher Überlegung die ehrlichste.
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Dann lieber unehrlich? Nein, die Unehrlichen bedauere ich sogar von meiner Hölle aus.
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351)
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Als lebensverneinender Lebensmonist treffe ich fast nur auf lebensbejahende Sein-Nichts-Dualisten.
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Wenn denen ihre individuelle Lebensbejahung wegbricht, dann wollen sie ihr Nichts, durch Suizid.
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Sollte das mal kollektiv passieren, kriegen evt. auch die den Tod verordnet, die nicht ans Nichts glauben.
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352)
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Vom Weltschmerz zum Ichschmerz: statt "There's something wrong with this world" heißt es heute "There's something wrong with me – chemically".
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Über die Welt zu räsonieren war der idealistische Weg, die eigene Hirnchemie mithilfe von Drogen bzw. Medikamenten zu tunen ist der realistische.
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Mag ja sein, dass letzterer mehr Wirkung zeigt. Falls aber nunmal die Welt verkorkst ist und nicht ich, wäre es doch falsch, mich ihr anzupassen.
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353)
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"Das Leben ist kurz und ungerecht, haha... ich liebe das Leben... ich gewinne gerne..." – heutige Sympathieträger können nicht nur so reden, sie müssen sogar.
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Das Geheimnis eines erfolgreichen, glücklichen Lebens scheint darin zu liegen, nicht die mindeste Sensibilität dafür zu besitzen, wie böse diese Lebenseinstellung ist.
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Die Philosophie des Lebensbejahers: lieber Himmel und Hölle als Nichts – Hauptsache, dass ich selber dabei auf der Himmelsseite bin. Zutiefst verworfen.
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354)
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Ein Recht auf Würde, das hat der Mensch, daran zweifle ich nicht.
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Ein Recht auf die Verfolgung seines Glücks hat er m.E. dagegen mitnichten.
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Amerika denkt gar nicht daran, das Konkurrenzprinzip zu hinterfragen.
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(Ausnahmen bestätigen die Regel: I'm a loser baby so why don't you kill me.)
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355)
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Statt vergeblich einem Himmels- oder Nichtsideal nachzujagen, bietet es sich an, die Hölle mit dem Himmel zu nehmen und so auf eine neue Weise "intensiv" zu leben.
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Fragt sich, wie weit der eingefleischte Konsumist "seine Komfortzone verlassen" und in die Hölle vordringen kann. Geht es denn, aktiv leben zu wollen, was von den meisten ohnmächtig gelebt werden muss?
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Scheint bislang, als wären die neuen Höllentrips eher teuer und TÜV-geprüft. Die neue Intensität erweist sich nur als weiterer Versuch, dem Pseudoparadies die Langeweile auszutreiben.
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356)
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Inzwischen greifen die Leute mit derselben Selbstverständlichkeit zum Bohrhammer wie zum Staubtuch. Anscheinend mit keinen oder sogar genüsslichen Gedanken an die Belästigung der anderen.
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Bauliche Fortentwicklung des Heims ist zur Alltags- und durchaus auch Feiertagstätigkeit geworden, die Vorwand sein dürfte für eine höchst fragwürdige Selbstverwirklichung als infernalisch lauter (Bau-)Herr.
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Was kommt als nächstes? E-Gitarren mit Riesenverstärkern, die sich praktisch von selbst spielen? Eine Chance hat alles, was wenig Können mit viel Dürfen verbindet.
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357)
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Wäre es wirklich zu viel verlangt, stark lärmende Heimarbeiten – ob nun selber oder von Firmen ausgeführt, ob von Eigentümern oder von Mietern – auf eine maximale Anzahl von Tagen im Jahr pro Heim zu begrenzen und sie voranmeldungspflichtig zu machen bzw. auf einem Zeitplan anzukündigen?
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Der freie Heimwerker, welcher so regelmäßig zum Hammer greift wie andere zur Tasse Kaffee, schimpft hier vielleicht gleich über Blockwartmentalität. Er wie fast alle anderen spürt überhaupt nicht mehr, was für ein Terror es ist, fast jederzeit ohne Vorwarnung und für unbekannte Dauer von Lärm heimgesucht werden zu können.
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Und man bedenke nur, wie angenehm es wäre, auf solch einem Stundenplan auch Ruhe reservieren zu können – für den Besuch der Großmutter, das Auskurieren der Erkältung, das Schreiben der Abschlussarbeit. Erst bei solch unrealistischen Gedanken wird richtig klar, wer in unserer Welt Regie führt – der Krach oder die Stille.
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358)
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Monotheistische Religionen sind zwar dem Klischee nach die Hüter der tiefen Ewigkeit in einer modernen Zeit der oberflächlichen Endlichkeit, tatsächlich aber haben erstere die letztere direkt auf den Weg gebracht.
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Gott sagt nicht etwa: Geh es ruhig an, morgen ist wieder ein Tag – er sagt: heute könnte der letzte Tag vor der Ewigkeit sein, also spute dich! So war diese Ewigkeit immer primär ein Instrument der Ausbeutung.
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Die Ewigkeit, mit der man sich aus Tradition und Moderne emanzipieren kann, ist diejenige, welche dem Einzelnen alle Zeit der Welt gibt. Ihm keine endgültigen Zeitgrenzen mehr setzt, die Sehnsucht oder Furcht bereiten.
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359)
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Depressive Stimmung will uns auf die Dunkelheit und Endlosigkeit des Lebens hinweisen.
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Aktionisten kontern mit der Planung strahlender Erlebnisse und dem Herbeizwingen des Todes.
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Pessimisten nehmen das Leben als dunkel und endlos hin bzw. erdulden es eben als solches.
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360)
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Unabhängig von dem, was physikalische Kosmologen sagen, dünkt uns der Weltraum eher dunkel als hell, eher endlos als endlich.
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Und so ist es auch mit dem Leben. Wer das strikt ignoriert bzw. sich aufs Helle und Endliche versteift, den mahnt die Depressivität.
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Wer sich aber dreinfindet, dass die Welt dunkel und endlos ist, den belohnt auch bisweilen ein Anflug von Abenteuerlust.
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361)
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Seit Bestehen des Privatfernsehens grölt sich dort die neue Härte in zahllosen hämischen Unterhaltungsshows einen ab über die alte Betulichkeit: "Da machst du mich jetzt aber ein Stück weit betroffen, Heinz-Dieter!"
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Was gerne verdrängt wird: diese psychologisch-soziologische Feinfühligkeit war dezidierte Gegenbewegung zur allerschwersten seelischen Rohheit des zweiten Weltkriegs, deren unfassbares Ausmaß alle traumatisiert hatte.
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Jetzt ist für die Jugend also "Weichei" ebenso fraglos ein Schimpfwort wie "Hardliner" ein Kompliment – respect, eh. Wer verstehen will, wes Geistes Kind wir sind, der sehe sich gut an, wer uns das Lachen lehren darf.
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362)
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Kommt nach den Realisten noch wer? Könnte bzw. wie könnte sich unser zeitgeistiges Selbstverständnis in Zukunft weiterentwickeln?
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Man stelle sich vor, dass Wissenschaft bzw. Technologie ihre gesellschaftlich sinnstiftende Bedeutung wieder verliert. Was wäre dann?
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Vielleicht Individuen, die das Wesentliche ihres Lebens darin sehen, sich eigene (statt neue) Gedanken zu machen. Das wär doch mal was.
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363)
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Es ist verboten, andere körperlich anzugehen. Sie seelisch anzugehen ist erlaubt.
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Kulturell ist somit den Männern ihre Waffe genommen worden, die der Frauen bleibt legitim.
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Männer können die Kämpfe mit Frauen nur aushalten oder fliehen – seelisch Paroli bieten: chancenlos.
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364)
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Theoretisch betont die Theologie gerne die göttliche Schöpfung des freien menschlichen Willens, die Wissenschaftstheorie die wissenschaftliche Abstinenz gegenüber philosophischen und religiösen Fragen.
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Praktisch besteht der gesellschaftliche Haupterfolg des Christentums aber gerade in der moralischen Beschränkung des menschlichen Willens, der der Wissenschaft in der faktischen Abschaffung von Gott bzw. Hölle.
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Wenn man jetzt noch bedenkt, dass es eigentlich die Klöster waren, welche die Wissenschaft hervorgebracht haben, dann ist die Menschheitsgeschichte vielleicht eine einzige Flucht vor den Ideen Gott bzw. Hölle.
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365)
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Im Vergleich zum Nichts steht das Leben zu allermeist arg schlecht da.
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Der Naturalismus erhebt das Nichts zu einer realistischen Lebensalternative.
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Wie Positives noch schätzen, wo dieses Negative alles in den Schatten stellt?
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Band 2
366) bis 730)
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366)
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Wer wirklich im Nichts i.S.v. völlig bewusstlos wäre, der könnte davon nichts wissen. So existiert das Nichts also nur im Sein, als eine Erwartung, die Sehnsucht oder Angst macht.
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Obwohl die absolute Bewusstlosigkeit eine Vorstellung ist, die großes Verlangen in mir weckt, bin ich froh, dem Glauben an ihre Realisierbarkeit entkommen zu sein.
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Mir scheint, dass ich mein Leben erst im richtigen Maß vor mir habe, seit ich es mit anderem Leben vergleiche statt mit dem Nichts. Nichtsglaube macht alles kaputt.
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367)
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Depressivität ist das Gefühl, das Leben sei dunkel und endlos.
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Wir fliehen davor in die Genusssucht und in den Suizid.
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Das Gefühl jedoch ist authentisch, seine Botschaft plausibel.
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368)
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Es ist ein Unterschied, die Botschaft von der Dunkelheit und Endlosigkeit des Lebens wahrhaben zu können bzw. gutheißen zu wollen.
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Dem Pessimisten wird oft unterstellt, seine Diagnose des Schlechten sei für dieses Zustimmung, wenn nicht gar Voraussetzung.
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Als Pessimist finde ich es umgekehrt unglaublich unreif und stur, dass für den Optimisten einfach nicht sein kann, was nicht sein darf.
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369)
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Nietzsches Ja zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen ist noch kein Ja zum Leben überhaupt, sondern nur ein Ja zum eigenen momentanen Schicksal.
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Erst wer einverstanden wäre mit einer unendlichen Folge zufälliger Wiedergeburten als je irgendein Lebewesen, der sagte wirklich Ja zum Leben.
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Dürfte aber ein weiter Weg sein bis zu dem Gleichmut, auch als das arme Ungeziefer leben zu wollen, für welches man eben noch Gift auslegte.
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370)
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Für den richtigen Handwerker ist nie Ruhezeit. Stets ist etwas in die Mangel zu nehmen, carpe 24/7!
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Nachts und feiertags bleiben wegen der spießigen Hausordnung nur kurze Attacken oder leisere Arbeiten.
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Leiser heißt: ohne Hammer und Schlagbohrer. Sozusagen der bedächtigere Teil des Nichtdenkens.
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371)
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Was denkt sich eigentlich einer mit Alarmanlage im Auto, die bei jeder Erschütterung loshupt?
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Dass Anwohner und Passanten bis zum Ernstfall stillhalten und dann seinen Besitz verteidigen?
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Eher noch würde ich den Dieben helfen, das Auto wegzuschaffen, damit es woanders weiterlärmt.
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372)
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Ich habe aufgehört, laute Menschen darauf anzusprechen, dass sie die Ruhe stören. Ich schimpfe bloß noch über sie.
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Denn nach meiner Erfahrung gibt es nur zwei Möglichkeiten: sie bedauern ihre Lautstärke oder eben nicht.
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Aber selbst wenn sie ihre Lautstärke bedauern, ändert sich mitnichten etwas daran. Denn sie ist nicht ihr Schade, im Gegenteil.
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373)
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Nichtswunsch und Nichtsglaube sind für mich zwei streng zu unterscheidende persönliche Eigenschaften.
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Der Wunsch nach dem idealen Nichts ist meine wichtigste Orientierung, der Glaube an das reale Nichts hingegen brächte mich zum Suizid.
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Die meisten haben noch keinen Nichtswunsch, aber noch einen Nichtsglauben. Ich meine da weiter zu sein.
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374)
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Passiv-aggressiv ist immer noch besser als aktiv-aggressiv.
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Meine Sympathie gehört den sauer gestimmten Opfern, einschließlich meiner selbst – mag der Zeitgeist das noch so sehr verachten.
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Therapeutisch gesehen wirkt es vielleicht, die Opfer zu Tätern zu machen. Aber diese schöne neue Welt ist nicht meine.
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375)
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Die Fröhlichen und die Traurigen unterscheiden sich nur dadurch, dass erstere keinen Weitblick haben bzw. haben wollen.
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Dadurch sind die Fröhlichen aber weniger in der Lage, sich gegen nahendes Unglück schon von weitem abzusichern.
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So halten sich die Traurigen länger und können bei jedem Fröhlichen, den ein Unglück ereilt, denken: Wusst ich's doch.
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376)
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Zum Glücklichsein reicht es für den, der nur eine Stunde weit denkt, sich für mehr als eine Stunde gegen Unglück gefeit zu fühlen.
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Dem Unglücklichen, der immer weiter und weiter denkt, kann alle Gesundheit und aller Wohlstand nicht hinreichen.
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Aber letzterer ist doch sicher der Klügere. Sollte man für das Glück wirklich die Weitsicht und den Verstand sausen lassen?
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377)
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Akademische Philosophie hilft bei der Lebensführung etwa so viel wie die Grundlagen der Nachrichtentechnik bei der Radioreparatur.
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Ein konkretes Problem von vornherein so grundsätzlich wie möglich anzugehen, bringt den Bildungsbeflissenen selten einer Lösung näher.
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Gut möglich, dass die Lebenspraxis bis zur Philosophie gelangt und die Radiobastelei bis zur Nachrichtentechnik. Aber umgekehrt eher nicht.
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378)
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Die einen ringen aus bitterer Notwendigkeit um eine Philosophie, in der sie einigermaßen leben können, die anderen philosophieren stets von ihrer nie wirklich bezweifelten Grundüberzeugung aus.
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Mein Christentum hätte mich auf Dauer um den Verstand gebracht, mein Materialismus hätte mich in den Suizid getrieben. Lebensmonist zu werden war mir konkrete Rettung vor Irrsinn und frühem Tod.
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Die üblichen Philosophen aber bleiben ihr Leben lang Christ oder Materialist, betrachten die unüblicheren Denklandschaften sozusagen nur von ihrem klimatisierten Reisebus aus durch getönte Scheiben.
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379)
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Ewiges Diesseits – so würde ich nennen, woran ich glaube, wenn ich es partout positiver fassen müsste als ich wollte. Lieber sage ich es negativ: Aus dem Leben, wie wir es kennen, gibt es kein dauerhaftes Entkommen.
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Beim Tod tippe ich auf einen vorübergehenden Schlaf mit als zeitlos empfundenen Träumen, welche lebensmüde Religionsstifter mit Nahtoderfahrung gerne zum Eingang des ewigen Jenseits hochstilisieren.
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Das ewige Diesseits stimmt mich traurig, ist mir aber geistig gangbarer als das irre machende endliche Diesseits vor dem ewigen Jenseits bzw. das suizidal machende endliche Diesseits vor dem jenseitigen Nichts.
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380)
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Unsere eigentliche Geschichte ist die des Geistes: Am Anfang ist das Denken.
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Und eigentlich interessiert, wohin es mit dem Geist bzw. dem Denken denn nun geht.
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Wer die Weltgeschichte lieber materiell definiert, flieht zu Nebensächlichkeiten.
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381)
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Was im Tod aus uns Menschen wird, ist ein Thema, das gesellschaftlich nach stereotyper Indoktrination der Kinder mit religiösen "Erklärungen" oder auch von vornherein unter der Bewusstseinsschwelle dahindümpelt.
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Unhaltbar wird diese Situation spätestens dann, wenn Ethikkommissionen offiziell über Abtreibung, Patientenverfügung, Sterbehilfe etc. befinden, ohne ihre Annahmen darüber offenzulegen, was im Tod eigentlich geschieht.
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Denn davon, was uns im Tod erwartet, hängt es ab, ob bzw. wann es besser ist zu leben oder zu sterben. Wer über Leben und Tod richtet, muss also mindestens dazusagen, auf welcher Todesvorstellung seine Entscheidung gründet.
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382)
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Kann es sein, dass sich die gewissenlose Jagd nach dem eigenen Vorteil doppelt lohnt, weil diese Jäger, wenn sie schließlich selbst in den Nachteil gesetzt werden, ja auch noch verständnisvoll denken können: an der Stelle des Gegners würde ich ebenso handeln?
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Die zahllosen Piraten, Mafiosi, Gangster etc. aus den Spielfilmen, die erst selber grausam morden und dann in Würde und ohne Groll auf ihre Mörder sterben – sind sie das heimliche Vorbild des heutigen Menschen, der begriffen hat, dass es sich nur als Böser gut leben lässt?
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Wäre die angesagte Religion dann also: Jeder sei ein stolzer Räuber, nehme ohne Skrupel von den Schwächeren, werde dabei möglichst stark – und wende sich am Ende als Verlierer auch noch ohne Reue von sich selber ab, stets mit den Gewinnern sympathisierend? Wie reichselig.
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383)
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Alle Gläubigen, die ich kenne, sympathisieren auch mit den höheren Sphären, an die sie glauben. Und allen Skeptikern i.S.v. Materialisten, die ich kenne, ist die Erwägung von deren Existenz auffallend unsympathisch.
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Da liegt der Schluss nahe, dass die Leute ihren Glauben bzw. Unglauben einfach aus Sympathie für das jeweilige weltanschauliche System wählen. Reden tun sie aber lieber über Beweise und Evidenz. Sehr verdächtig.
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Also ich wünschte ja, die "Ungläubigen" hätten recht. Das Leben wäre ein Unfall – ginge aber vorbei! Ich glaube jedoch nicht, dass das Leiden endet. Damit bin ich für die, denen Wünschen und Glauben eins sind, wohl ein Masochist.
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384)
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Böse höhere Mächte – ein seltenes Gesprächsthema. Entweder glauben die Menschen an überwiegend gute höhere Mächte oder an gar keine.
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Traut man sich vielleicht nicht, darüber zu reden? Ich fürchte, dass Glauben meist vom Wünschen kommt und über Unerwünschtes geschwiegen wird.
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Insofern bilden die doch immer als Antagonisten auftretenden Gläubigen und Ungläubigen eigentlich eine Allianz der Ignoranz gegen böse höhere Mächte.
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385)
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Dass man in der westlichen Kultur nur noch an das Gute oder an "gar nichts" glaubt, könnte daher rühren, dass den Kindern heute nur noch der Himmel oder das Nichts im Tod versprochen wird.
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Dass ich mich beiden Gruppierungen nicht zugehörig fühle, könnte daher rühren, dass ich meine Kindheit als gesellschaftlicher Ausnahmefall in steter Furcht vor der Hölle verbracht habe.
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Sind meine Überzeugungen damit weniger plausibel als die der Himmels- und Nichtsgläubigen? Nein, sie sind nur seltener. Und dass sie mich in die Defensive drängen, schärft mein Bewusstsein.
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386)
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Wer den Himmel mehr ersehnt als er die Hölle fürchtet, bleibt eher bei seinem christlichen Glauben. Wer dagegen die Hölle mehr fürchtet als er den Himmel ersehnt, fällt eher davon ab.
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Ist der materialistische "Unglaube" ursprünglich aus quälender Furcht vor der Hölle entstanden? Schon Epikur konzipierte seine Philosophie vom Nichts des Todes gegen den Hadeswahn.
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Die sogenannten Skeptiker unterstellen den Gläubigen Realitätsflucht. Inwieweit jene jedoch mit der Behauptung ihres Sein-Nichts-Dualismus vor der Höllenidee fliehen, hinterfragt keiner.
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387)
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Hölle gleich ewiges maximales Leid erwartet kaum mehr einer vom Tod.
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Und selbst an diese Erwartung kann sich mancher noch gewöhnen.
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Gibt es überhaupt eine Todesvorstellung, die Suizid verunmöglicht?
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388)
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Wer es für möglich hält, dass im Tod eine ewige Hölle auf ihn wartet – ist der nun gläubig oder ungläubig?
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Also ich meine, es handelt sich bei denen, die sicher sind, dass es für sie keine Hölle geben kann, um Gläubige.
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Insofern ist der Spruch, dass sich vor der Hölle nur fürchtet, wer daran glaubt, m.E. verdreht formuliert.
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389)
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Wie lange dauert es noch, bis aus all den Monotheisten Materialisten geworden sind?
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Ein Leben, mehrere Generationen, ganze Zeitalter? Wird der Tod dann zum Nichts?
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Oder symbolisiert eben doch die Hölle unser eigentliches, auf immer unentrinnbares Movens?
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390)
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Mal realistisch zu Ende gedacht: wie viele Leben sind denn wirklich lebenswert, nüchtern verglichen mit der Alternative Nichtsein?
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Ich denke, dass knallhart konsequenter Realismus eine enorme Suizidrate, ja evt. sogar kollektiven Suizid nach sich ziehen würde.
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Paradoxerweise müssen die Realisten immer schön idealistisch bleiben hinsichtlich der zukünftigen Möglichkeit eines schönen Lebens.
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391)
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Falls wir uns vom Tod die große bzw. größtmögliche Veränderung des eigenen Lebens erwarten, dann tun wir das realistischerweise deshalb, weil der Tod erfahrungsgemäß den Körper samt seiner Äußerungen des vor uns Gestorbenen zerstört.
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Aber ist es nicht trotzdem eher Glaubenssache, einen funktionstüchtigen Körper für die Bedingung des eigenen Bewusstseins zu halten? Ist nicht vielmehr das eigene Bewusstsein die grundlegendste und damit unhintergehbare Erfahrung?
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Den Körper als vergänglichen Grund des Selbst-Bewusstseins anzusehen, scheint mir eine im Zunehmen begriffene Erlösungsreligion, resultierend aus zunehmender Verschonung des zivilisierten Menschen vor körperlosen Erfahrungen.
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392)
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Gibt es den typischen Suizid? Und wenn ja: ist seine Motivation rational oder irrational?
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Individuelle Fallanalyse, unbewusste Verhaltenssteuerung und Hirnchemie hin oder her: Suizid begeht man, wenn die bis dato selber- und mitdenkend erzielte Vorstellung vom Tod viel verlockender geworden ist als die vom Weiterleben. Affekt ist höchstens der Auslöser, nicht die Ursache.
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Wer Philosophien in die Welt setzt, muss also gut über die möglicherweise damit ausgesprochenen Todesempfehlungen nachdenken.
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393)
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Gegen das Verzweifeln am Leben hilft es am besten, Ordnung ins eigene Denken und Reden zu bringen.
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Philosophie als Streben nach Verständnis und Einsicht scheint mir insofern die richtige Maßnahme gegen Suizidalität.
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Üblicher als solches Selbstvertrauen ist aber das alte Gottvertrauen oder das neue Therapeuten- bzw. Arztvertrauen.
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394)
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Religiöse Ausdrücke von philosophischem Pessimismus bzw. Optimismus sind etwa Herrgott bzw. lieber Gott.
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Ersterem dient man äußerlich und hasst ihn innerlich, letzterem dankt man äußerlich und liebt ihn innerlich.
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Mein Verhältnis zu Gott, Leben, Selbst ist immer vorwiegend ersteres gewesen. Falsch? Im Gegenteil: ehrlich.
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395)
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Als schadenfroh gilt es, über das Missgeschick anderer zu lachen; als humorvoll, über das eigene lachen zu können.
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Früher wurde ersteres getadelt und letzteres gelobt. In der heutigen Spaßära ist beides gleich recht, Hauptsache lustig.
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Als Pessimist meine ich: beides soll nur lauthals übertönen, dass Missgeschick eigentlich nicht komisch ist, nur traurig.
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396)
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Unverbesserlicher Optimismus, dass sich die Medien jeden neuen Tag wieder überrascht und empört geben über Skrupellosigkeit, Korruption, Doping etc. der vorher von ihnen in den Himmel gejubelten Vorbilder.
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Was ums Verrecken nicht zugegeben werden soll: zum gesellschaftlichen Vorbild aufzusteigen, ist ohne Skrupellosigkeit, Korruption, Doping etc. so gut wie unmöglich. Auch unter Begabten gewinnt der rücksichtslosere.
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Aber nein, diese meine Behauptung stellt ja alle Erfolgreichen unter "Generalverdacht" – ein böses Wort. Dennoch dürfte es m.E. kaum je fehlgehen, von Karriere auf Kaltschnäuzigkeit zu schließen.
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397)
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Ganz oben ist es eiskalt.
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Götter sind ultraharte Typen.
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Besser selber keiner sein wollen.
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398)
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Auf den Sozialdarwinismus im populär verstandenen Sinn, also dass sich im Dschungel des menschlichen Miteinander in aller Regel skrupelloses Herrschaftsstreben durchsetzt, reagiert die intellektuelle Welt m.E. zumeist genau falsch herum.
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Zuerst streiten die Gelehrten schlicht ab, dass Sozialdarwinismus zutreffend sei – gerne durch spezifischere Definitionen des Begriffs, die vom allgemeinen Problem wegführen – um dann beschönigte Formen davon zu definieren und gutzuheißen.
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Richtig herum ist es nach meinem Dafürhalten, sich zuerst einmal einzugestehen, dass unsere Realität in höchstem Maß sozialdarwinistisch funktioniert. Um dann Idealismus, ja Menschlichkeit als das zu definieren, was sich dieser Natur verweigert.
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399)
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Warum wirken die Intuitiven auf die Intellektuellen so unbekümmert, unbeschwert, beneidenswert?
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Weil den Intuitiven all die Zusammenhänge außerhalb ihres engsten persönlichen Kreises egal sein können.
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Aber weiteres Nachdenken bringt davon ab, lieber angenehm beschränkt als unangenehm bewusst sein zu wollen.
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400)
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Religion unterstellt allem einen Sinn. Entweder werde noch alles gut und alles Leid bis dahin diene diesem höheren Zweck – oder das bleibende Böse sei unsere eigene Schuld.
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Areligös ist, an solchem Sinn zu zweifeln. Alles bleibe schlecht und das ewige Leid habe keinen höheren Zweck – es sei denn, dass sich überhalb von uns jemand sadistisch daran weide.
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Realismus zweifelt zwar am höheren Sinn, glaubt aber fest an ein Ende jeden Leides. Mit letzterem gestaltet er seinen ausschlaggebenden Teil religiös – trotzdem gibt er sich areligiös.
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401)
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Warum ist das Einhalten von Ruhe an extra dafür reservierten Plätzen so wichtig?
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Weil nette Menschen ohne ihre Rückzugsräume nicht nett bleiben können.
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Ohne Orte der Stille wäre die Welt ein einziger Dschungel für aggressive Täter.
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402)
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Pädagogik, die Zurückhaltung in erster Linie als ungesundes Problem der Passiven begreift und diese zu ihrem Besten aus sich herauslocken will, ist grundverkehrt.
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Auch die stereotype Forderung nach freundlichem Entgegenkommen beider Seiten – dabei die Frage abtuend, wer den Streit begonnen hat – bevorzugt die Aggressiven.
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Wer sich erst ständig angreifen lassen muss und dann auch noch als einer der beiden Streithähne zurechtgewiesen wird, verzweifelt doch an seinem Verzicht auf Bosheit.
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403)
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Wenn der Erfolg i.S.v. gesellschaftlichem Durchsetzungsvermögen seinen Inhabern Recht gibt, dann ist dies ein Recht, welches in trauriger Regelmäßigkeit deren zuvor begangenes Unrecht belohnt.
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Denn Frechheit siegt durch die Bank – und das wird für die Opfer der Frechheit noch viel trauriger dadurch, dass die Frechen alle Lacher auf ihrer Seite haben und allerseits beneidet werden.
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Wer dies anklagt, dem entgegnet man schulterzuckend: Dann werd doch auch frech! Und das wäre dann das allertraurigste. Aber der Zeitgeist stimmt mit überwältigender Mehrheit dafür.
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404)
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Auf die Beschwerden der Schwächeren reagieren Ruhestörer amüsiert, machen sich über die Empörten lustig, provozieren sie weiter oder verscheuchen sie mit Beleidigungen oder gar Androhung von Gewalt.
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Auf Beschwerden der Stärkeren reagieren Ruhestörer beleidigt, verbitten sich Empörung, pochen mit abgewandtem Blick auf einen freundlichen Umgangston, nach Argumenten zu ihren Gunsten ringend.
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Wer ausgelassen lebt, will nichts einsehen, sondern immer nur Herr der Lage bleiben. Vergebens demnach die Erwartung, dass Empörung als gerechtfertigte Reaktion auf Rücksichtslosigkeit akzeptiert wird.
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405)
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Es ist bitter, von den Lauten mit arroganter Miene erklärt zu kriegen, dass es ja wohl mein Problem sei, wenn ich mich selber als Opfer ihres Lärms sehen möchte.
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Ob Nietzsche und die ihm nachfolgende Psychologie, Soziologie, Pädagogik etc. diesen Zeitgeist der Rücksichtslosen wirklich mit Bedacht so gestaltet haben?
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Ich fürchte eher, dass all die neuen Harten mit den strengen Stimmen sich nur großtuerisch durchschummeln und die wirklich großen Konsequenzen möglichst verdrängen.
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406)
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Jesus predigte das Tun nach eigenem Gutdünken anstatt das Unterlassen nach Gesetzen der Altvorderen.
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Luther ließ dann überhaupt Gnade und Vertrauen vor Recht ergehen und empfahl, wacker zu sündigen.
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Wenn schon christliche Ethik, dann besser die Zehn Gebote – noch Opfer- statt schon Täter-freundlich.
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407)
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Opfer der alten Schule denken: Ich will rücksichtsvoll sein. Schädige ich dennoch jemanden, ist er zu Recht empört. Ich entschuldige mich.
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Täter der neuen Schule denken: Ich tue erst mal was ich will. Wem das nicht passt, der soll mir freundlich Bescheid sagen. Aber bereuen werde ich nichts.
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Mir sind die Opfer sympathisch und die Täter unsympathisch – Opfer leben besser i.S.v. ethischer, Täter leben besser i.S.v. angenehmer.
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408)
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Monotheistische Kirchen behaupten, absolutes Recht zu vertreten.
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Postmoderne Relativisten stellen dessen Existenz in Abrede. Gut.
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Trotzdem meine ich, dass v.a. ertappte Täter gerne Recht als Willkür abtun.
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409)
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Verkappte Religion gibt noch mehr Sicherheit als offene Religion, weil ihre Anhänger nicht daran denken zu bezweifeln, was sich bereits Zweifel nennt.
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Wer heute ohne den Schatten eines Zweifels an das Nichts im Tod glaubt – und damit immerhin an endgültige Erlösung von allem Leid! – gilt als Ungläubiger.
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Könnte durchaus sein, der Realismus hält sich das Christentum weiterhin als Klischeereligion, um sich nicht selber als Religion bewusst werden zu müssen.
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410)
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Laute Zeiten sind geistlose Zeiten.
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Denn Nachdenken braucht Ruhe.
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Und geistige Entwicklung beruhigt.
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411)
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Am ehesten steckt Lärm weg, wer selber lärmt.
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Eher kann Lärm ab, wer mit den Händen arbeitet.
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Aber Kopfarbeit braucht einen ruhigen Hintergrund.
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412)
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Wer geistige Entwicklung will, muss Ruhe erhalten bzw. Ruhezonen schaffen.
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Wer ruhige Räume für die Lauten öffnet, schafft geistige Entwicklung ab.
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Toleranz gegen Lärm allerorten macht auf Dauer alle dumm.
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413)
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Auch die Lauten lieben ruhige Orte – um dort laut sein zu können, ohne mit anderen Lauten konkurrieren zu müssen.
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Am liebsten erobern sich die Krachmacher unbeaufsichtigte Ruhezonen, wo nur ihr Schall ertönt und möglichst weit trägt.
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Wer auf die Ruhe dort angewiesen ist, um zu arbeiten, zu schlafen etc., verbringt stattdessen viel Zeit mit sinnlosem Ärger.
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414)
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Schilder, die um Ruhe ersuchen, sind ziemlich selten – daran zeigt sich, wie wenig die Ruhe wichtig genommen wird.
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Bestimmte Orte zu finden z.B. scheint dagegen wichtig genug zu sein, um alles mit Wegweisern regelrecht vollzupflastern.
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Wer meint, dass Ruhe zu halten an Orten, wo gedacht, geschlafen usw. wird, sich von selbst verstehe, irrt leider.
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415)
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Die Sehnsucht nach meinem Nichtsein rührt nicht etwa daher, dass ich die Welt gut und mich selber schlecht fände.
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Nein, bei meinem Vergleich zwischen Ich und Welt schneidet eigentlich in aller Regel die Welt schlechter ab.
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Ich sehe nur nicht ein, ohne Welt bzw. mit dem miesen Job dazustehen, die schlechte Welt zu verbessern.
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416)
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Umbringen tut sich, wer sein Leid nicht mehr aushalten will oder kann.
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Weil er selbst bzw. die anderen es nicht lindern wollen oder können.
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Glaubte ich an die Bewusstlosigkeit im Tod, würde ich mich aus moralischen Gründen umbringen: ich will meinem Leid nicht fortwährend abhelfen, weil ich anderen dadurch fortwährend schaden muss – dann besser nur noch einmal, wenn auch in krasser Weise.
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417)
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Traurige, die ihre Traurigkeit nicht hinter einer Maske verbergen bzw. überspielen wollen, werden von der Gesellschaft zunehmend härter angegangen.
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Die Älteren sagen: Wenn du Trübsal bläst, mag dich keiner. Damit zu drohen ist hart genug – aber wer mich nicht mag, lässt mich i.a. wenigstens in Ruhe.
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Die Jüngeren sagen: Schultern hängen lassen signalisiert Opferhaltung. Damit zu drohen ist härter, denn Opfer werden ausgenutzt oder gar gequält.
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(Am traurigsten dabei ist, dass oft anklingt, die ablehnende oder gar aggressive Reaktion der anderen geschehe den Trauerklößen doch recht. Denn dass die Reaktionen so ausfallen, mag wahr sein – aber dass dies zu Recht geschieht, ist falsch.)
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418)
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Radikale mit einfacher Meinung aus eigener Erfahrung sind bessere Gesprächspartner als Gemäßigte, die ihre gehobene Meinung per Wochenzeitung abonniert haben.
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Die gelesenen und evt. sogar verstandenen Artikel können hochkomplex sein, ohne dass sich dabei einer aufgefordert fühlt, mit dem Selberdenken anzufangen.
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Sogar für akademische Karrieren ist normal, dass es den Veröffentlichungen an originellen Ideen fehlt – Cut&Paste steigert den Output und verschreckt keinen.
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419)
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Moralischer Pessimismus bedeutet für mich die Erkenntnis, dass Welt und Ich nicht zu retten i.S.v. zum Guten zu wenden sind. Diese Erkenntnis gilt es zu verinnerlichen, ohne dabei allen Anstand fahren zu lassen und zum amoralischen Optimismus zu konvertieren.
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Das Christentum konzentriert sein Gutsein auf den nächsten Menschen und macht sich zugleich alle Welt untertan – eine verheerende moralische Bilanz. Und der Materialismus hält Leben sowieso für einen sekundären Effekt und steht damit unter dem Motto: Nach uns die Sintflut.
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Ohne Hoffnung auf eine reale Erlösung, wie sie Christentum und Materialismus anbieten, bleibt nur der kargere Idealismus: das Gute bzw. das Nichts als unerreichbare Ziele, deren Kenntnis jedoch Orientierung und Trost geben. Wenn auch grundsätzlich zu wenig.
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"Lebensmüdigkeit ist eine Wohlstandskrankheit! Die Ärmeren kämpfen noch mit voller Kraft für ihr Leben!" – so in etwa lautet die abfällige Kritik an Pessimismus und Suizidalität in den hochkultivierten Ländern.
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Aber die Ärmeren kämpfen nicht für ihr Leben, sie kämpfen nur gegen ihr Leid. Und es ist zynisch, ihnen die unwillkürliche Verteidigung gegen grausame Qualen als Lebensbejahung auszulegen.
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Optimismus gründet immer in der Behauptung, dass alles eigentlich gewollt sei. Und höchster Zynismus ist es dann, das allerdringendste Müssen der am meisten Gepeinigten als größten Sieg des Willens zu feiern.
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Schopenhauer sagt, diese jammervolle Welt sei gewollt und damit metaphysisch gerechtfertigt. Aber der Schopenhauersche Wille ist ein blinder Drang, in späterer Begrifflichkeit ausgedrückt also das Unbewusste, das Es.
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Ist dieses Unzugängliche, Unkontrollierbare dann nicht gemusst statt gewollt? Wie kann unser blinder Lebenswille uns schuldig werden lassen? Gerechtfertigt wäre die Welt doch nur, wenn dieser Trieb abstellbar wäre.
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Ich weigere mich, Verantwortung bzw. Schuld für etwas auf mich zu nehmen, woran ich keine bewussten und kompetenten Veränderungen vornehmen kann. In die Schlacht mit den anderen Lebewesen bin ich geworfen.
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Zur Besinnung kommen – das kann für Aktivisten sehr gefährlich sein.
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Es ist der Sonntag, der unruhige Menschen depressiv werden lässt.
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Regelmäßige Muße ist besser als Suizid, wenn es dafür zu spät ist.
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Dem Rhythmus von Aktivität und Passivität unterliegen wir erst einmal alle.
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Aktivisten minimieren ihren passiven Teil und beschimpfen die anderen als faul.
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Aber die Ruhe holt die Aktivisten ein, im Extremfall mit einem Schlag.
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Christ bin ich keiner – aber wenn die Geschäfte sonntags auch noch geöffnet haben dürfen und die Kirchen zu Attraktionen für laute Touristen verkommen, heißt das auch für den Gottlosen, dass Zeiten und Räume der Ruhe verschwinden. Gesetzlicher Schutz?
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Spätestens hier rächt sich die Verknüpfung von Ruhe und Religion. Wer Reglements abschaffen will, unterstellt ihnen lächerliche Motive bzw. desavouiert sie als Teil eines obsoleten Systems. Ruhezeiten und Ruheräume als Gottesdienerei abzutun ist auch so ein Trick.
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Und der Trick funktioniert, weil sich die heutigen Actionjunkies wohl nicht mehr vorstellen können, dass Sonntage und Kirchen in erster Linie dazu da sein sollten, Zeit und Raum für Ruhe und Besinnung zu geben. Und religiöse Rituale dabei bestenfalls sekundieren sollten.
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Die Angst vor einer jenseitigen Hölle im Tod bzw. die Sehnsucht nach dem bewusstlosen Nichts im Tod haben in mir zeitlosen Bestand – sie sind m.E. angebrachte Gefühle des Lebens.
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Sofern damit aber Hörigkeit gegenüber Herrgott sprich Bibel bzw. Drang zum Suizid einhergeht, sind mir das nurmehr unangebrachte Überbleibsel aus christlicher und materialistischer Zeit.
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Philosophische Abstraktion hilft, richtige Theorie von ihrer falschen Praxis zu unterscheiden. Wie wohl die Gesellschaft in ihrer scheinbar unphilosophischen Zukunft mit solcher Problematik umgehen wird?
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Wenn Gott der Actus Purus ist, also sozusagen das reine Tun – ist dann der Teufel etwa das Nichtstun?
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Westliche Kultur steuert tatsächlich auf die pure Action zu – selbst Urlaub gerät da zur Extremsportart.
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Begann alles Böse, als der Urmensch von der nackten Notwehr zur Muße fand? Eher zur Gier, denke ich.
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Zwischen endgültigem Tod und ewigem Leben nach dem Tod steht das zyklische Modell des immer wiederkehrenden Lebens mit dem Tod als Nacht- bzw. Traumphase.
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Diese dritte Möglichkeit mag uns traditionsbedingt erst mal fremd anmuten – Nachdenken enthüllt jedoch die ersten beiden Möglichkeiten als seltsame Extreme.
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Obwohl auch der westliche Mensch in vielerlei Hinsicht bemüht ist, moderater zu werden – bezüglich seiner Vorstellungen vom Tod scheint er Extremist bleiben zu wollen.
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Die Harten haben sich in der Gemeinschaft schon immer durchgesetzt.
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Nur dass dies heute im Gegensatz zu früher eben gutgeheißen wird.
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Sicher wollen viele in genau so eine Welt keine Kinder mehr setzen.
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Schlaflosigkeit ist weit verbreitet, man spricht gar von Zivilisationskrankheit. Jene kann m.E. aber Sinn machen, sofern es in den wiederkehrenden Phasen nächtlichen Wachbewusstseins gelingt, das Tagwerk loszulassen und den Träumen nachzuspüren.
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Ihre Nachtruhe wünschen sich viele als durchgehend tiefen und traumlosen Schlaf. Doch es bringt durchaus auch Ruhe und zudem Selbsterkenntnis, immer wieder in die Traumwelt hinüber und wieder zurück zu gleiten. Eine noch seltsamere Welt!
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Vielleicht ist der Tod dann ja der nächstgrößere Schlaf mit den nächstgrößeren Träumen – zumindest für den, der sein altes Leben zeitig loslassen und in sie einzutauchen vermag. Wer dagegen bis zum Gehtnichtmehr am Werken bleibt, ruht ganz oder gar nicht...
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Schlaflosigkeit könnte u.a. auf der wenig bewussten Weigerung des modernen Realisten beruhen, sich auf seine irreale Traumwelt einzulassen.
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Wer seinen Träumen ausweicht, fördert damit den Ganz- oder Garnicht-Schlaf – bleibt so lange wach, bis er in tiefen, traumlosen Schlaf fällt bzw. wendet sein Denken schon im Aufwachen wieder dem Alltag zu.
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In meinem zyklischen Lebensmodell ist der Tod ein großer Schlaf – wenn es zutrifft, kann ich in meinen kleinen Traumwelten für die großen trainieren.
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Das Leben – nur ein Traum? Dieses Bild scheint mir lebenspessimistisch und todesoptimistisch gemeint. Für die Erwartung stehend, dass alles zunehmend mit rechten Dingen zugehe.
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Demnach sollen wir in Bälde erwachen aus der jetzigen in eine höhere Wirklichkeit, so wie wir bislang aus dem Schlaf mit seinen sub-realen Träumen in die alltägliche Realität zurückfinden.
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Steht jedoch sofort die Frage im Raum, warum diesen flüchtigen Albtraum Leben überhaupt weiter träumen – statt sich durch Selbstaufopferung bzw. Suizid erwecken.
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Meine Träume erscheinen mir eher sous-real denn surreal.
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Ihre Wirklichkeit ist mehr seelisch-dunkel als geistig-hell.
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Ebenso denke ich mir meinen Tod als tiefere statt höhere Wirklichkeit.
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Die großen Religionsstifter haben Ideale wie Liebe, Freiheit, Wahrheit, Nichts etc. – m.E. die größten Schätze der Menschheit – in pseudoreale Erzählungen verpackt, um sie dem Volk nahezubringen.
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Heute, wo immer weniger Menschen an das reale Eintreten der religiösen Heilsversprechen glauben können, schafft man mit den Religionen auch die Ideale ab und schüttet so das Kind mit dem Bade aus.
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"Keep it real!" sagt die Jugend heute – Religion, Ideologie, Ideale landen in einem Topf und werden komplett entsorgt. Aber Leben für die Realität kann nunmal nur den Reichsten und Ruchlosesten gefallen.
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Der Christengott meiner Jugend war streng. Ich jedenfalls war nicht würdig, von meinen Leiden erlöst zu werden sprich in den Himmel zu kommen, durfte nur so demütig wie möglich auf seine Gnade hoffen, um nicht hoffärtig zu sein.
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Da habe ich bei der realistischen Konkurrenz zu glauben begonnen. Lieber mein eigener Chef sein und ein sicheres Nichts im Tod erwarten, als Gefahr laufen, von einem Herrgott wegen Hochmuts in die Hölle geworfen zu werden.
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Inzwischen dürfen die Schafe aber stolzer sein. Wer heute in den kirchlichen Kindergarten geht, soll sich für würdig halten – es scheint, als stünde der Himmel sperrangelweit offen für alle, die noch bereit sind, sich Christen zu nennen.
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Pragmatiker sehen das Denken immer nur als Mittel zum Handeln. Je origineller ein Gedanke, desto spöttischer ihre postwendende Frage, wozu er denn bitteschön gut sein solle.
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Dass es überhaupt gut sein könnte, mehr zu denken als zu handeln, leuchtet Pragmatikern nicht ein. Obwohl Technik in Jahrzehnten zugrunde richtet, was sich in Jahrmillionen entwickelt hat.
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Wer gerade nachdenkt, macht schon mal gerade nichts kaputt. Eigentlich reicht allein dieses Argument schon aus, um sich mehr denkende und weniger handelnde Menschen zu wünschen.
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Realisten halten Nichtsein für real möglich.
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Nicht nur als relativ zum Sein definierte Alternative.
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Sondern als absoluten Grund an und für sich, mit dem Sein als nicht notwendigem Spezialfall.
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Den Mephisto aus Goethes Faust bemühen gerne Nihilisten als Leitfigur, die an reale Vernichtung glauben und Lust daran empfinden.
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Schopenhauers Nihilismus dagegen, wenn man es denn so nennen will, ist mitleidige Sehnsucht nach dem unerreichbaren Nichtsideal.
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Nietzsches Nihilismus lädt zu Missverständnissen geradezu ein – Nihilismus als unkommentiert verwendbarer Begriff ist damit vernichtet.
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Spielfilm-Komödien, in denen ein sympathischer Opfercharakter von seiner gutmeinenden Mitwelt aus weniger sympathischen Tätercharkteren zu Berufserfolg und Liebesglück genötigt wird, sind Legion.
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Aber läge das gute Ende nicht vielmehr darin, dass diese immerzu das Geldverdienen und die Paarbildung befördernden nassforschen Yuppies sich umgekehrt selbst zu Sympathieträgern bekehrten?
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Man stelle sich mal vor: am Schluss sind alle so grundanständige und bescheidene Alleinstehende geworden wie die Hauptfigur, ohne protzige Sportwagen oder sündhaft teuere Häuser, Büros, Ateliers.
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Pessimistisch Philosophieren ist wie einen guten Tanz zu einer ungeliebten Musik finden zu wollen.
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Die Optimisten, Fans der Lebensmusik, fühlen sich durch diese Herangehensweise zwar dupiert.
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Dennoch kommen auch Pessimisten auf Schritte, die sich auf der Tanzfläche ausbreiten wie ein Lauffeuer.
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Das Leben ist wie eine Musik, die man entweder hören will oder hören muss.
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Kann auch ihr unfreiwilliger Hörer die Lebensmusik lieben lernen?
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Evt. hilft Gewohnheit bzw. Analyse dabei, sie lieb zu gewinnen.
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(Aber aktiv welche machen ist nichts für Pessimisten, oder?)
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Wer akustische Signale des Lebens – Sprache, Musik, Geräusch – analog zu unserem Gehör in einfachere Schwingungen zerlegt, der gerät darüber schnell an eine zyklische Weltanschauung.
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Denn Prinzip des Lebens ist dort ganz offenbar die Wiederholung. Umgekehrt kein Wunder, wenn Philosophen wie Schopenhauer die Musik als den allerreinsten Ausdruck des Lebens empfinden.
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Mag sein, dass Religionen wie Monotheismus und auch Materialismus die Einmaligkeit einst als Antithese dazu aufstellten. Und die naheliegendere These wurde inzwischen vergessen.
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Das Nichts war denkerisch zuerst mal die besondere Antithese zum gewöhnlichen Sein.
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Das konnten die frohgemuten Seyn-Verehrer wohl nicht hinnehmen und drehten es um.
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Wer heute aufwächst, sieht das Sein von vornherein mitten im Nichts prangen.
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Moderne Skepsis bemüht gegen antiquierte Mystik oft Bilder vom ins geheime Dunkel zu bringenden Licht der Erkenntnis usw.
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Vielleicht ist es ja banalerweise die moderne Verfügbarkeit von Licht, welche das dunkle Denken immer mehr verdrängt.
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Wer sich bei Sonnenuntergang zur Ruhe begab und erst bei Sonnenaufgang wieder aktiv wurde, hatte einfach mehr Nachtgedanken.
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Philosophie verstehe ich u.a. als Interesse an Verallgemeinerungen.
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An Schlussfolgerungen, was Leben, Welt, Ich usw. denn im Grunde seien.
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Nichts gegen Individualität: v.a. eigene Vorstellungen vom Ganzen interessieren.
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Früher hatten die Leute mehr Nacht und mehr Tod.
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Moderne ist die Abschaffung von Nacht und Tod.
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Mit einer Medienecke für die Romantikrudimente.
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Ins Unbekannte des Todes hinein sich das Leben periodisch fortgesetzt denken – das ist meine vertrauensbildende Maßnahme.
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Im Rückblick immer noch unglaublich, dass ich den Tod zuerst lange als Hölle fürchten, dann lange als Nichts ersehnen musste.
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Einem Kind würde unheimlich, stellte man ihm den Tod gleich als großen Unbekannten vor. Aber als großen Schlaf wär anheimelnd genug.
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Um einem Kind zu erklären, was uns im Tod erwartet, würde ich die Analogie zum notwendigen Schlaf vor dem nächsten Tag wählen.
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Und was kommt morgen? Weiß man nie so genau, aber ungefähr schon. Wahrscheinlich so ähnlich wie heute. I.a. vertraut genug und neu genug.
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Dass dies genau genommen eine Vermutung über im Grunde Unbekanntes ist, würde ich erst ergänzen, wenn ich das Kind für reif genug hielte.
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Moralische Hemmung ist das Ende des persönlichen Erfolgs und der Anfang des humanen Miteinander. Aber wer will ein moralisch eingeschüchtertes Kind statt eines mit ungebrochenem Willen? Also gönnt man den Kleinen erst mal ihre Glückssträhne als putzige Terroristen des Alltags.
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Doch auch noch mit dreißig bleibt nette Zurückhaltung dem eigenen Fortkommen nur hinderlich. Bis die Karriere gesichert ist, muss schon noch der ein oder andere Kollege über die Klinge springen, der durch sein liebes Lächeln moralische Skrupel bzw. Zufriedenheit mit der Opferrolle signalisiert.
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Für den Glücklichen bricht die Zeit der Moral deshalb erst weit nach der Lebensmitte an. An der Spitze der Mafia mit Tränen in den Augen selber gestiftete Kinderheime einweihen – die Krönung eines schönen Lebens. Und ist nicht Gott höchstselbst der reumütige Sünder lieber als hundert Gerechte?
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Meine passive und damit wenig katholische bis antikatholische Moral: ob ein Mensch gut war, sei weniger daran zu messen, was er Gutes getan hat, als vielmehr daran, was er Schlimmes unterlassen hat.
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Je früher ein Mensch moralische Skrupel entwickelt, desto weniger Erfolg wird er haben. Wie sollte jemand, der schon im Sandkasten seine Förmchen an die Rabauken verlor, später mal ein Kinderheim stiften?
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Wer nicht zuerst einmal nimmt, kann später auch nicht geben. Sieht man sich die Menschheit richtig an, wie sie alles in Strömen ausplündert und dann tröpfchenweise Gutes tut, kann man nur das Heulen kriegen.
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Pessimismus ist auch die Feststellung, dass es keine goldene Mitte gibt.
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Lieb aber selbstbewusst, feinfühlig aber stark usw. – ist höchst unrealistisch.
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In der Mitte ist man weniger sowohl-als-auch, sondern vielmehr weder-noch.
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Ambivalente Gefühle gegenüber dem Tod sind wohl die Regel.
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Meine Gefühle gegenüber dem Tod schwanken zwischen dem allzu Verlockenden und dem allzu Verängstigenden des Großen Unbekannten und stabilisieren sich in ihrem Gegenteil: dem allzu Eintönigen des Ewig Gleichen.
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Sozusagen meine abstrahierte Version von Himmel und Hölle der Monotheisten bzw. dem All-Einen und dem Nichts der Mystiker.
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Persönlichkeitsstörung als Diagnose für sich anzunehmen ist wohl tatsächlich Zeichen einer Persönlichkeitsstörung.
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Aber all die hellen Charaktere akzeptieren einen dunklen eben nur, wenn er sich von ihnen als defizitär einstufen lässt.
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Besser als sich krank stempeln zu lassen ist es m.E., die eigene dunkle Weltsicht mit guten Argumenten zu vertreten.
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Depression und Suizid sind oft traurige Konsequenz daraus, die eigene dunkle Seele vor den anderen zu verbergen und so ganz alleine damit zu bleiben.
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Es ist schwer, andere dunkle Seelen zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen, weil die negativistische Weltanschauung als krank stigmatisiert ist.
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Solange die meisten Schwarzseher noch nicht einmal selber in einen Club eintreten wollten, der solche wie sie als Mitglieder aufnähme, sieht es düster für sie aus.
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Schwarz gilt bei uns als Farbe der Trauer wie auch als Farbe des Bösen.
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Kommt wohl nicht von ungefähr in einer Gesellschaft krampfhafter Optimisten.
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Umso schwerer für die Traurigen, selber zu erkennen, dass sie die Guten sind.
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Was wird wohl häufiger geheuchelt: Traurigkeit oder Frohsinn?
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Mag sein, dass manch traurige Miene Mitleid heischt oder Anteilnahme vortäuscht. Doch der schiere Alltag sind krampfhaft hochgezogene Mundwinkel.
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Umgekehrt müssen vorgeschobene Anlässe die offene Äußerung echten Lebensverdrusses legitimieren – so liegt das größte Verdienst von vielen Prominenten in ihren Skandalen oder gar in ihrer Beisetzung.
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Pessimistischerweise steht zu befürchten, dass es Nichtsein nicht gibt – wer oder was wollte ich also sein? Eine Frage, über die nachzudenken sich lohnen sollte, zwecks Selbstfindung bzw. Selbsterfindung.
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Angefangen von echten Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen aus meinem persönlichen Umfeld, über möglicherweise echte aus den Medien, bis hin zu Phantasiegestalten aller Art – wer oder was davon wollte ich gern sein?
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Am Ende solcher Überlegungen, die in der Suppe jeglicher Existenzform nur allzu schnell eklige Haare finden, bleibt mir streng genommen nichts übrig. So komme ich doch immer wieder darauf zurück: Nichtsein.
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Gottes Welt ist gut und am Bösen sind wir selber schuld – wer von frühester Kindheit an mit solch grässlich verpolten Lehren indoktriniert wird, leidet sein restliches Leben lang unter einer schmerzhaften Form von Wahnsinn. Üblich und deshalb unauffällig.
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Statt seinem Schicksal zürnen zu können, muss der Gläubige immerzu Angst haben, dass Gott ihm zürnt. Statt Erkenntnis zuzulassen, wie die Welt wirklich ist, verbiegt sich sein Denken solange in verwinkelte Formen, bis es auch ja nicht mehr gotteslästerlich ist.
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Am unglaublichsten ist jedoch, wie brillant die Rhetorik zu werden vermag, wo sie sich unablässig vor dem Höllenfeuer in Sicherheit zu bringen hat. Aber besser locker und unscharf richtig herum reden als gestreckt und akurrat falsch herum.
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Der Kunde ist König, aber halt leider ein dummer.
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Audiotechnik verkauft sich umso besser je dynamikärmer und basslastiger. Dabei bleibt Musikgenuss bzw. Sprachverständlichkeit auf der Strecke – was der Konsument vergeblich zu beheben versucht, indem er lauter aufdreht.
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Verzerrtes Gewummer, wohin man hört. Alles innerhalb der High-Fidelity-Norm.
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Der Kunde ist König – oder Untertan, je nachdem, wie er den Verkäufern, Obern etc. beim ersten Augenkontakt begegnet.
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Da diese den König bedienen müssen, behandeln sie zum Ausgleich eben den herablassend, welcher nicht als König auftritt.
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Kugel oder Kegel – ein Umgang auf Augenhöhe steht in den meisten Geschäften, Gaststätten etc. nicht zum Angebot.
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Nur drei Möglichkeiten, in dieser Welt glücklich zu werden: Naivität, Skrupellosigkeit oder Begabung.
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Begabung ist selten, also kann man i.a. davon ausgehen, dass Glückliche entweder unwissend oder ohne Mitgefühl sind.
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Die meisten Glücklichen halten sich jedoch für Lebenskünstler und geben ständig Empfehlungen, die nichts helfen.
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Idealismus wird von den heutigen – auch den philosophisch gebildeten – Realisten gerne in einem Atemzug mit Religion genannt und zur endgültigen Abschaffung empfohlen oder gar bekämpft.
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Als Idealist dagegen halte ich eher dogmatische Formen von Religion und Realismus für zwei Formen ein und desselben Irrglaubens: nämlich dass etwas Grundlegenderes als unser Denken feststünde.
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Realisten wie Religiöse haben das Denken noch nicht als die eigentliche Bühne des Seins erkannt – diesen subjektivistischen Groschen zum Fallen zu bringen bleibt weiterhin eine idealistische Aufgabe.
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Vom körperlich orientierten Menschen zum geistig orientierten, vom lauten und hektischen Menschen zum leisen und ruhigen – mir als Idealisten bleibt diese Richtung weiterhin klar. Retro-Style aber lenkt gegen und erklärt jenes Vorhaben für gescheitert. Ist das nicht arg überhastet? Historisch ist der Idealismus doch noch blutjung!
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Religion i.S.v. Kirche verordnete ihre hehren Lehren streng von oben – Idealismus ist besser eine freiwillige Bewegung von unten. Eigentlich will doch jeder Ordnung in seinen Kopf kriegen, alle wollen ihre Welt verstehen. Ist die bewusste Einstellung dieses Projekts nicht ein allzu gefährlicher Versuch, wieder zum Tier zu werden?
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Freier Bildungszugang für jedermann wäre nötig, um dem Ziel des Homo Cogitans näher zu kommen. Und zwar Bildung, die sich nicht elitär und verquast gibt, sondern offen und verlockend. Die den Wissbegierigen dort abholen will, wo er steht. Und jeder Verständnisschritt selber Belohnung genug ist, statt auf fernen Nutzen zu vertrösten.
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Hedonisten sehen nur Füchse, die an die fetten Trauben rankommen, und Füchse, denen sie zu hoch hängen.
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Aber es gibt auch Füchse, welche die Trauben zwar erreichen, aber hängen lassen, weil sie ihnen nicht zustehen.
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Früher wurde Bescheidenheit hoch geschätzt. Heutzutage wird sie gering geschätzt bzw. als Störung behandelt.
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Gesundheitliche Beschwerden bleiben bei ihrer medizinischen Untersuchung in der Regel ohne objektiven Befund.
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Wer das oft genug erlebt hat, begreift vielleicht irgendwann, dass Leben auch als offiziell Gesunder in erster Linie Leiden ist.
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Oder er wird in den Händen der Ärzte wirklich krank und hat den Lebensbejahern endlich ein gültiges Leiden vorzuweisen.
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Werdet wie die Kindlein – oder bleibt am besten gleich welche; in dieser Hinsicht scheinen christlich orientierte Tradition und spaßorientierte Postmoderne seltsam einig.
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Lärmende Ausgelassenheit verärgert mich umso mehr, je älter die Störenfriede sind, je reifer sie also eigentlich schon sein könnten.
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"Du warst früher auch mal lauter!" kommentieren Verwandte und Bekannte meinen Ruhefimmel. Gewiss war ich das – aber erstens: da war ich halt noch jung und dumm, und zweitens: so laut war ich nun auch wieder nicht.
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-ismus hat seine Selbstwidersprüchlichkeit oft von vornherein eingebaut. Skeptizismus muss sich selber bezweifeln, Pluralismus kann keinen -ismus neben sich tolerieren usw.
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Pessimismus hält die Welt für die schlechteste aller möglichen. Welche Erleichterung: da keine weitere Verschlechterung mehr droht, kann jegliche Bemühung aufgegeben werden.
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"Malismus" – i.S.v. immer schlimm aber schlimmer geht immer – vermeidet diese Paradoxie. Das Nichts bleibt vorzuziehen aber unerreichbar, Unachtsamkeit reißt einen noch tiefer rein.
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467)
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Der Fehler steckt in folgendem Dreieck: a) Ich halte mein Leben für schlechter als das Nichts. b) Die anderen halten ihr Leben für besser als das Nichts. c) Ich halte mein Leben für besser als das der anderen.
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Nach meiner Ansicht hinkt b): Das Leben der anderen ist auch schlechter als das Nichts, sie verdrängen diese Tatsache nur mit aller Macht. Weil es das Ende der Lebensfreude bedeutete, das zugeben zu müssen.
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Vielleicht ist es ja das Prinzip des normalen Lebens, dass nicht sein darf was nicht sein soll. Und wer die Wahl hat zwischen wahrer Traurigkeit und falscher Fröhlichkeit, üblicherweise letztere nimmt. Ich nicht => c).
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468)
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Himmel bzw. Eudaimonismus ist das Höchste. Ewiges Glück ist nicht langweilig, da Langeweile eine Form von Unglück ist.
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Ruhe bzw. Quietismus ist Zufriedenheit mit dem Zweitbesten. Ewige Ruhe ist nicht langweilig, da Langweile eine Form von Unruhe ist.
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Ich wünsche mir damit nur das, worauf ich ein Recht zu haben meine. Eigene Ruhe kann ich mir vorstellen, eigenes Glück nicht.
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469)
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Peinliches Schweigen kommt im Alltag der Kultivierten nur selten auf, dank Smalltalk.
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Warum nicht still den eigenen Gedanken nachhängen, bis es wirklich was zu sagen gibt?
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Zumal man bei jenem hohlen Gerede ja auch noch so tun muss, als wär alles prima und lustig.
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470)
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Der Teufel steckt im Detail? Postmoderner Partikularismus schafft das Generelle ab, zugunsten des Speziellen.
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Der Engel steckt im Detail! Genau deshalb will keiner mehr aufs Ganze blicken. Ist verpönt, weil es dem Pessimismus Recht gibt.
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Aber so schöne Lebensfeinheiten die Glücksritter auch bergen mögen: das Ganze ist bzw. bleibt das Wesentliche – im Argen liegend.
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471)
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Recht auf Lebensfreude – woher sollte ein solches kommen, solange diese Freude nur um den Preis der anderen Leid zu haben ist?
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Je tiefer die anderen Lebewesen in unserer Hierarchie stehen, desto rechtloser sind sie, desto bedenkenloser beuten wir sie aus.
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Notwehr dürfte die einzige Rechtfertigung sein, anderen Schaden zuzufügen. Und diese Not endet schon in der Ruhe, nicht erst im Glück.
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472)
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Gibt es ein Recht auf ruhiges Leben, solange das durchschnittliche Lebewesen viel mehr Leid als Freude erlebt?
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Müsste sich der berechtigte Lebensstandard des Einzelnen nicht aus dem mittleren Leidensstandard aller herleiten?
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Zum Glücksverzicht aus Solidarität erkläre ich mich noch bereit – zum Ruheverzicht aus Solidarität nicht mehr.
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473)
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Was ist zuerst? Sehendes Denken, blinder Wille, tote Materie?
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Das Eigenste und damit Erste ist mir das sehende Denken.
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Und dieses muss und soll, statt einfach nur zu wollen oder zu sein.
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474)
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Eingehen auf den Lebensmüden – das könnte auch bedeuten, mit ihm zusammen seine Gedankengebäude über die Schwierigkeit des Lebens weiterzubauen.
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Pathologisierung von Suizidalität tut genau das Gegenteil – sobald jemand wiederholt von der Schlechtigkeit der Welt redet, wird ihm dringend ein Gang zum Arzt empfohlen.
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Die Assoziation von depressiver Verstimmung (sic!) und Krankheit ist so in, die zugrunde liegende pessimistische Philosophie so out, dass viele daran eingehen.
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475)
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Christen, Kommunisten, Faschisten u.a. sind zwar out, haben aber Foren, wo sie ihre Ansichten austauschen und pflegen.
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Pessimisten sind per se keine Kämpfer, also betreiben sie keine Foren. Es ginge uns eh wie den Faschisten: viele Gegner brüllen die wenigen Gleichgesinnten nieder.
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Teile und herrsche, sagt sich da die Gesellschaft: Pessimisten lieber einzeln zum Arzt schicken als in Ruhe miteinander reden lassen.
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476)
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Suizidale werden Suizidenten, weil gegen ihr negatives Lebensbild ein weniger negatives, neutrales oder positives Todesbild steht.
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Suizidale werden Suizidenten, weil sie keine Bezugspersonen mit ebenfalls negativem Lebensbild haben bzw. finden können.
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Suizidale werden Suizidenten, weil sie es für inakzeptabel halten, ein negatives Lebensbild zu haben bzw. offen zu vertreten.
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477)
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Pessimismus ist andauernde Traurigkeit für Fortgeschrittene.
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Ihnen ist bewusst geworden, dass sie zu Recht andauernd traurig sind.
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Anfänger lassen sich noch einreden, dass sie falsch denken oder krank sind.
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478)
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Einig bin ich schon mal mit allen, die der Meinung sind, dass wir nicht wissen können, was im Tod auf uns zukommt.
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Einiger noch bin ich mit denen, die sich damit nicht zufriedengeben und philosophische Hypothesen aufstellen.
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Am einigsten bin ich mit jenen, die eine endlose zyklische Lebensstruktur annehmen, mit dem Tod als Lebensphase.
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479)
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Sonderlinge, die alleine in der Öffentlichkeit herumkrakeelen und damit alle und keinen meinen, treffen bei mir auf immer mehr Verständnis.
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Zwar äußere ich mich schriftlich und überlegt, dennoch vermute ich eine ähnliche Motivation: auf Dauer nicht schweigen können, wo alle plärren.
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Kinder lässt man heute laut sein, damit sie keine Opfer werden. Die Eltern, falls anwesend, schreien noch lauter. Wir übrigen müssen damit klarkommen.
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480)
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Leibniz' Optimismus der besten aller möglichen Welten und Schopenhauers Pessimismus der schlechtesten aller möglichen Welten erklären sich wohl am sinnvollsten als philosophische Idealisierungen bzw. begriffliche Radikalisierungen.
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Doch diese mit doppelten lateinischen Superlativen hervorstechenden Denkmodelle wurden einst – ihrer Zeit gemäß – als real präsentiert. Und bleiben gefährlich, sofern – wie zuvor Himmel und Hölle – von den Rezipienten als real genommen.
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Unter Pessimismus verstehe ich heute, dass die Welt im Grunde als schlecht zu bewerten sei, besser nicht existierte. Dass eine noch schlechtere unmöglich sei, gar nicht mehr existieren könnte, ist vergleichsweise absurd anmutende Spekulation.
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481)
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Pessimismus im extremen Sinne der Schopenhauerschen Behauptung, dass wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben, könnte aus der Notwendigkeit heraus erdacht sein, christlicher Höllendrohung zu begegnen. Denn wer bereits diesseits in der Hölle schmort, braucht eine jenseitige nicht mehr zu fürchten.
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Nihilismus in dem epikureischen Sinne, dass wir alle des Nichts seien – was uns aber nicht zu kümmern brauche, weil wir dann ja nicht mehr seien – war wohl auch schon im Wesentlichen die Reaktion auf Panik hinsichtlich eines noch schlechteren Daseins in der griechischen Unterwelt.
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Je mehr ich darüber sinniere, desto weniger allein fühle ich mich mit meiner Höllenangst. Vielleicht ist sie gar das Problem der Menschheit schlechthin.
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482)
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Himmel und Hölle meinen keine ewigen jenseitigen Orte, sondern zeitlose diesseitige Zustände – so entschärft moderne Religionslehre den Volksglauben. Darin steckt die philosophische These, dass es zumindest Momente im Leben gibt, die besser bzw. schlimmer nicht sein könnten.
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Erst mal nur als Ausnahme. Unser irdisches Leben könnte regelmäßig viel besser und auch viel schlechter sein, befindet sich normalerweise zwischen den Extremen. Optimismus und Pessimismus im strengsten Sinn bestreiten das – für sie ist das Leben stets am positiven bzw. negativen Anschlag.
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Ich glaube ersteres: das Leben könnte fast immer viel besser bzw. viel schlimmer sein. Und füge hinzu: den meisten, die es sich bewusst zu machen wagen, bleibt es dabei schlechter als Nichtsein. Himmel und Hölle sind außerordentliche Glücks- bzw. Leidenstaumel, in denen vergleichende Ratio aussetzt.
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483)
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Harte Bandagen, so früh wie möglich angelegt, bringen ihre Träger in den Himmel der Ruchlosen. Für die damit Niedergeboxten bleibt die Hölle.
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Nachdem der unfaire Kampf zwischen Kampflustigen und -unlustigen gelaufen ist, wählen die Verlierer allenfalls, ob sie den Siegern verzeihen oder nicht.
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Aber in der Hölle landen sie beidenfalls: weil sie den Angreifern verzeihend auch noch den letzten Sieg schenken oder weil sie an ihrem Groll verbittern.
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484)
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Christliches Verzeihen hat etwas Widersinniges: während der Gläubige vergeben soll, legt ihm sein Glaubenssystem zugleich die psychopathische Genugtuung nahe, dass Übeltäter auf ewig in der Hölle brennen werden.
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Noch seltsamer, wenn die Gläubigen angewiesen sind, den Himmel für alle zu erbitten. In diesem Fall wären sie besser als ihr Gott, der zumindest die Möglichkeit der Hölle eröffnet, selbst wenn sie dann doch leer bleiben sollte.
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Immerhin lässt der Begriff der Hölle aber etwas bedenken, was mit meinem zyklischem Lebensmodell vielleicht außer Acht gerät: dass es Entscheidungen gibt bzw. geben könnte, die unumkehrbar und auf ewig zu bereuen sind.
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485)
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Tadellose sind es, die sich unter der Fuchtel der Sünder allzu bald wünschen, dass deren Übeltaten niemals verziehen werden mögen.
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Frevelhafte sind es, die sich umgekehrt wünschen, dass immer wieder von Neuem mit weißer Weste begonnen werden könne.
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Mir sind die Tadellosen mit Zornesfalten auf der Stirn lieber als die Frevelhaften mit Lachfältchen – aber damit bin ich inzwischen allein.
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486)
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Die Mitte zwischen Generalamnestie per Allerlösung und ewiger Höllenstrafe ist doch ganz einfach: jeder büßt seine Übeltaten Auge um Auge, Zahn um Zahn.
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Ist es nicht verwunderlich, wie sich die christlichen Vorstellungen ausgleichender Gerechtigkeit vom Nächstliegenden zum Fernstliegenden fortentwickeln?
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Nach dem Nichts wäre das Gerechteste ein ewiges Leben zwischen Himmel und Hölle, in welchem sich jeder mit seinem Karma hinauf- und hinabarbeitet.
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487)
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Aufklärung i.S.v. zunehmender Einsicht der Menschheit ins Gute, Wahre und Schöne kann ich mir ansatzweise vorstellen.
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Religionen aber haben sich mit der Zeit eher verschlechtert. Meine Rangliste der großen drei: a) Hinduismus, b) Christentum, c) Islam.
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Zunehmende patriarchalische Strenge passt aber wiederum zur zunehmenden "Einsicht" in den menschlichen Machtwillen.
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488)
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Schlafende weckt man natürlich aus ihren Albträumen, Schmerzpatienten schickt man mit Halluzinogenen regelmäßig ins Traumland – solche Wechsel von Bewusstseinszuständen werden i.a. recht entschlusskräftig herbeigeführt.
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Besser wach als albträumend, besser halluzinierend als schmerzgeplagt – so selbstverständlich, dass kaum jemand darüber spricht. Wer seine Albträume träumen wollte, wer seine Schmerzen spüren wollte, der gälte als seltsam.
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Und wann ist es besser, lebendig bzw. tot zu sein? Vom Übergang zwischen diesen Bewusstseinszuständen lässt man hingegen die Finger. Mit ähnlicher Auswirkung: es findet keine Diskussion darüber statt, hier bleiben wir Anfänger.
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489)
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Christliche Ewigkeitsgestaltung mal pragmatisch nachvollzogen: Die lieben Schafe im irdischen Nachteil sind so lieb nun auch wieder nicht, um sich vom Jenseits nur einen gerechten Ausgleich zu erhoffen – dort soll sie vielmehr ein bleibender Vorteil gegenüber den bösen Wölfen belohnen.
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Und die bösen Wölfe im irdischen Vorteil ließen sich ihrerseits wohl kaum abschrecken, wenn unter dem Schlussstrich eh für jedes Tier dieselbe Summe von Freud und Leid stünde – denn es bliebe damit einfach Geschmackssache, ob man zuerst die Rolle des Räubers oder die des Beraubten wählt.
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Ein Jenseits, das nur Auge um Auge, Zahn um Zahn rächt, gäbe höchstens den Vernünftigen zu denken. Die christliche Wette aber bietet für den winzigen weil endlichen Einsatz einen riesigen weil ewigen Gewinn – gerecht ist das eigentlich nicht. Wieso trägt der Christengott diesen Titel trotzdem?
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490)
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Gut sein zu den Schwachen klingt erst mal nach einer prima Idee, die von Natur aus unethische Welt zu einem besseren Ort zu machen.
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Dies kann jedoch immer nur besondere Geste bleiben, weil das Leben allgemein auf der Ausbeutung alles Schwachen beruht.
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Christen mit gutem Gewissen bemerken nicht, dass sie nur im Kleinen schenken können, während sie im Großen rauben müssen.
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491)
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Einfach Abstraktes soll mich schließlich aus diffizil Konkretem erlösen.
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Ein Philosoph, der z.B. historisch immer feiner differenziert, vertut sich.
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Jedenfalls dann, wenn er eigentlich noch Wesentliches sucht.
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492)
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Bergpredigt-gemäßes Handeln scheint die sozial Aktiven eher in den Burnout als in den Himmel zu führen.
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Religiöse Verkündigung als praktische Umsetzung philosophischer Erkenntnis ist eben fehleranfällig.
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Mir hilft nicht das Helfen, sondern die Beruhigung, dass mein individuelles Leid Teil des allgemeinen ist.
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493)
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Helferberufe halfen wohl immer zuerst den Helfern selber, verliehen ihnen große Macht über ihre Schützlinge.
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Weil die Schützlinge sich heute aber wesentlich weniger gefallen lassen, brennen die Helfer psychisch aus.
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Neokonservative Lösung: superdominante Helfer und dominante Schützlinge drangsalieren den ruhigen Rest.
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494)
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Das Leben ist nicht schön, der Tod ist keine Erlösung.
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Erstere schlimme Erkenntnis findet Ruhe in letzterer.
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Könnte zukünftiger pessimistischer Weitblick die gegenwärtige Carpe-Diem-Panik ablösen?
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(Pessimistisch gesehen: nein.)
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495)
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Stur behaupten die Klugen und Schönen, es läge vor allem am eigenen Engagement, wie das Leben gelinge.
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Das ist weder klug noch schön von ihnen. Startschuss zum Glück i.S.v. angenehmem Leben ist Glück i.S.v. zufälligem Vorteil.
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Die so Beschenkten vergrößern ihren Vorsprung auf Kosten der Benachteiligten weiter und nennen es erarbeiteten Erfolg.
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496)
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Differenzierte Betrachtung, genaue Fallunterscheidungen, exakte Zahlen – in Naturwissenschaft und Technik gibt solches Vorgehen zu Recht den Ausschlag, zeigt Fleiß und Wahrhaftigkeit.
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Versuche scharfer Abgrenzung wirken jedoch spätestens dann komisch, wenn Religion sie unternimmt. Dogmatische Tabellen mit soundsoviel Sorten von Karma, Sünde etc. desavouieren diese Begriffe.
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Insbesondere naturwissenschaftlich auftretende Esoterik stellt sich selbst ein Bein. Wenn Mystiker wortreich die Relativitätstheorie umarmen, kann sogar ein Pessimist nur schwer ernst bleiben.
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497)
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Falsifizierung ist auch so eine Methode aus der Wissenschaft, die sich unberechtigterweise in alltäglichen Diskussionen breit macht.
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Ein Gegenbeispiel zu finden mag zum Widerlegen einer wissenschaftlichen Theorie genügen – im Alltag jedoch bestätigen Ausnahmen die Regel.
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Herausstellen ungewöhnlicher Fälle berührt allgemeine Aussagen nur am Rande. Südländer sind einfach lauter – ist doch wahr!?
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498)
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Südländische sog. Gastarbeiter wurden von uns leisen Softies bereits damals respektiert, als laute Hardliner noch "Ausländer raus!" brüllten.
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Heute kommen laute Hardliner und temperamentvolle Immigranten miteinander klar, uneingeschüchtert sind letztere i.d.R. ja auch laute Hardliner.
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Leider steht kaum zu hoffen, dass sich in einer dritten und letzten Phase laute Hardliner gleich welcher Herkunft zu leisen Softies wandeln.
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499)
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Untergang – mit diesem Szenario kommt der Kulturpessimist inzwischen bestens zurecht. Es herrscht Partystimmung!
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Zahllose Drohungen todbringender Zivilisationsfolgen prasseln nun seit Jahrzehnten auf uns ein – das macht gleichgültig.
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Besonders dann, wenn man sich unter dem Untergang das Nichts statt der Hölle vorstellt – also eigentlich eine Erlösung.
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500)
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Kulturpessimisten sind gern Naturoptimisten. Ich bin zwar auch Kultur-, aber mehr noch Naturpessimist.
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Moral ist m.E. nicht nur gut gemeint, sie ist wirklich die beste Erfindung der Kultur zur Naturkorrektur.
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Dennoch traue ich auch der Kultur nicht zu, die Welt von einer natürlichen in eine gute wenden zu können.
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501)
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Jugendbewegungen gehören per se eher der Romantik als der Ratio, verteidigen in der Gesellschaft das Rauschhafte gegen das Nüchterne.
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Pfadfinder oder Halbstarke, Hippies oder Punks – trotz Differenzen, gar Feindschaft untereinander streben doch alle vom Denken weg zum Fühlen hin.
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Schön und gut, solange sie anschließend noch erwachsen werden. Falls sich jedoch Jung-Sein weiter so durchsetzt, bleibt auch das Chaos im Kopf.
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502)
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Lebensverneinend weiterleben ist nicht widersinnig, wenn die pessimistische Weltsicht den Tod mit einschließt.
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Sich aktiv das Leben nehmen erfordert genau genommen nicht nur Lebensverneinung, sondern auch Todesbejahung.
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Selbst passiver Suizid i.S.v. Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen ist evt. eine asketische Meisterleistung.
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503)
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Befreite Frauen entpuppen sich als unterdrückerisch, befreite Schwule als stockkonservativ, befreite Immigranten als fremdenfeindlich.
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Das Schlimmste an den langwährenden Misshandlungen dieser Welt ist, dass die Eigenschaften der Täter sich zwangsläufig auf die Opfer übertragen.
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Als Kind missbraucht und dadurch als Erwachsener pädophil – vor solchem Schicksal verschließen die Lebensfrommen ihre Augen, können nur verfemen.
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504)
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Schopenhauer hat den Pessimismus meisterhaft durchdekliniert.
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Bislang drängte es mich noch gar nicht, genauer nachzuvollziehen, wie er dies getan hat. Denn v.a. dass er dies getan hat, ist für mich kaum zu überschätzende Lebenshilfe gewesen.
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Schopenhauers Leben ist der offizielle Beweis: dass das Leben eine missliche Sache sei, muss nicht vergebliches Fazit, sondern kann auch feste Grundposition denkerischen Lebens sein.
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505)
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Ruhe hebt das intellektuelle Niveau, Unruhe senkt es. Alles was "Leben in die Bude bringt", verhindert Nachdenken über das Leben. Besinnliche Stimmung ist immer weniger erwünscht, der Blick aufs Ganze deprimiert nur.
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In der Gruppe mit Hund z.B. versucht ständig einer, das aufgeregte Tier im Befehlston von etwas abzuhalten. Dabei kommt kein tieferes Gespräch zustande. Wahrscheinlicher Zweck der Übung: bloß nicht ins Grübeln kommen.
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Ist erst am Lebensende die rechte Zeit zur Besinnung? Noch später, im Tod? Niemals? Der Philosoph wagt es, in jeden Lebenszyklus Bedenkzeit einzubauen. In den von Morgen und Abend, evt. gar in den von Ein- und Ausatmen.
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506)
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Popmusik hat oft philosophisch anmutende Texte. Vielleicht beziehen die meisten Leute ihre Lebensphilosophie ja aus den allgegenwärtigen Chartsongs!
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Reim und Rhythmus, Melodie und Timbre als Gleitmittel für die Message der Lyrics – ob der Philosophie (oder der Musik) damit wirklich gedient ist?
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Naja, eigentlich wollen wohl auch meine "Dreisätze" gut flutschen, dieweil sie in genehmer Struktur bzw. in prägnanten Häppchen daherkommen.
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507)
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"Das starke Geschlecht!" höhnt die Krankenschwester, als ihrem Patienten beim Blutabnehmen schlecht wird. Leicht vorstellbar.
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"Das schöne Geschlecht!" höhnt der Krankenpfleger, als seine Patientin Hängebrüste vor ihm entblößt. Schwer vorstellbar.
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In puncto verbale Attacken auf die seelisch empfindlichsten Stellen fehlt noch so einiges zur Gleichbehandlung von Mann und Frau.
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508)
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Pessimismus heißt für mich, sich seines Ekels vor Leben bzw. Welt so gewiss zu sein, dass nichts anderes auch nur annähernd so sicher ist.
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Jeden verdammten Tag Situationen erleben zu müssen, die einen nur angewidert feststellen lassen: "Das darf doch alles nicht wahr sein!"
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Und nicht im entferntesten daran glauben zu können, dass dem nachhaltig abzuhelfen sei. Stattdessen zu begreifen: war so, ist so, bleibt so.
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509)
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Der Tonfall der Stimme eines Menschen ist chronische Manifestation der Haltung, die er der Welt gegenüber einnimmt oder einzunehmen versucht: gütig, fröhlich, traurig, energisch etc. Darin spiegelt sich auch der Zeitgeist.
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Ganz groß in Mode: höhnisch. Die medial meistgehörten Moderatoren- und besonders Moderatorinnenstimmen triefen vor Hohn. Wollen mit ständig impliziertem "Ho, ho, ho!" drüberstehen über allen Unzulänglichkeiten.
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Härte, Stolz, Entschlossenheit klingen da mit. Nur nicht weich sein, nur nicht bescheiden sein, nur nicht zögerlich sein, das ist die Hauptsache. Selbstbewusstsein schlägt Kompetenz um Längen. Wär doch gelacht, "ho, ho, ho!".
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510)
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Schallwellen – die Luft ist wie ein Basin, das ich leider mit vielen teilen muss, die ausgelassen plantschen und spritzen.
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Im Wasser gibt es mehr Regeln. Ruhige Badende haben Rechte, Bademeister weisen die Rowdies in ihre Schranken.
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Lärmer kriegen vergleichsweise null Schwierigkeiten, leben im anarchischen Paradies. Wiegen Schallwellen nicht genug, um zu zählen?
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511)
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Atheist bzw. Ungläubiger – passen diese Begriffe besser auf den Materialisten oder auf den Pessimisten?
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Wer glaubt, im Tod sei alles vorbei, ist m.E. gläubiger als einer, der glaubt, sein Leiden währe ewig.
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Aber das ist so ähnlich, als wolle man sich darüber streiten, ob das Gegenteil von 1 nun 0 oder -1 ist.
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512)
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Gegenteile bildet Sprache oft mit einer negierenden Vorsilbe – ist das nur Nachlässigkeit oder optimistische Taktik?
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Ist etwas schon schlecht, wenn es ungut bzw. nicht gut ist? Also mit dem Unhimmel i.S.v. Nichts im Tod wäre mir geholfen, mit der Hölle nicht.
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Diese positivistische Idee, null sei das niedrigstmögliche, hat etwas grob Verharmlosendes. Der Untergang verliert seinen Schrecken.
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513)
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Die Zeiten der Vernunft sind vorbei. Heute ist man kämpferisch statt vernünftig, setzt sich durch statt im Recht zu sein.
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Leider auch die Frauen. Früher sah ich sie als Bundesgenossinnen der Sanftheit in einer kämpferischen Männerwelt.
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Begegnet mir einer bzw. eine mit diesem kämpferischen Blick, behalte ich vernünftige Vorschläge für mich. Ruhe ist mir lieber.
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514)
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Individuelles Bewusstsein ist nach meiner Befürchtung nur eine Manifestation des kollektiven Bewusstseins.
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Individuelle Selbsttötung ist insofern zu kurz gegriffen, als sich damit das Problem des kollektiven Bewusstseins nicht löst.
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Aber auch auf der kollektiven Ebene fragt sich wieder: ist Bewusstsein ewig oder endlich bzw. irgendwie totzukriegen?
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515)
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Materialismus, östliche und westliche Religion stehen für drei Stufen ethischer Verantwortlichkeit.
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Auf Stufe 1 wird im Tod generalamnestiert, auf Stufe 2 behält jeder sein Konto sprich Karma fürs nächste Leben und auf Stufe 3 wird ultrahart auf- bzw. abgerundet: Himmel oder Hölle auf ewig.
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Erstere vernachlässigt m.E. die Moral und letztere pervertiert sie. Beidenfalls aber geht es um Risiko und Gewinn. Der Wettbewerb hat den Westen leider fest im Griff.
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516)
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Materialisten können entweder ihren Geist besser zügeln als ich, oder sie müssen sich ihr Leben auch als endlos vorstellen – nur eben vorn und hinten auf Nulllinie.
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Denken sich da eine Zeit, die auch ohne ihr Beisein vergeht. Noch nicht mal der bewusst erlebte Abschnitt muss sie allzu viel kümmern angesichts leidloser Ewigkeit.
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Fasziniert es Materialisten deshalb so sehr, naturwissenschaftlich forschend in unendliche Weiten vorzustoßen, weil die ihnen Gottisttot sei Dank schön egal sein können?
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517)
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Sogar die Glücksfrommen geben zu, dass einem sein Glück erst richtig bewusst wird, wenn es schon wieder vorbei ist.
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Liegt wohl daran, dass gerade riesige Tomaten auf den Augen haben muss, wer diese Welt mal rundum gut findet.
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Echtes Glück wäre, währenddessen glasklar zu sehen, wie glücklich man ist. Aber nein. Augen zu: Glück; Augen auf: Unglück.
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518)
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Das eigene Dasein ist etwas Schreckliches und unwillkürlich so Vorgefundenes.
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Jedes Neugeborene ist darüber entsetzt, nur zu missdeuten von hormonell Umnebelten.
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Das weitere Leben ist verzweifelte Reaktion auf dieses Geworfensein, Verdrängung dieses Unglücks.
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519)
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Die meisten sind Christen oder Realisten.
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Ich habe zweimal meinen Glauben verloren: a) den an einen richtenden Gott, b) den an einen erlösenden Tod.
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Mein Leben bleibt absolut schlecht, aber relativ gut.
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520)
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Weinen zeigt nur, dass ich leide.
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Schreiben kann schon zeigen, wie ich leide.
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Philosophieren erst versucht zu zeigen, warum ich leide.
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521)
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Rap, Comedy etc. lassen v.a. konkrete Wut aus, über individuell benannte Menschen und Sachverhalte.
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Manch Gutwilliger wird schwer geschädigt, sich als dumme Prügelknaben Verdingende werden Stars.
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Ich äußere v.a. Traurigkeit, über Generelles. Tut keinem weh, es sei denn er identifiziert sich selbst mit Gott, Welt, Leben usw.
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522)
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No risk, no fun – durchaus mein Motto, aber andersrum verstanden.
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Gehe besser kein Risiko ein, auch wenn so der Spaß ausbleibt.
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Der Schaden ist länger unangenehm als der Spaß angenehm.
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523)
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Wer sich das Nichtsein so sehr wünscht wie ich, mag Trost darin finden, wer oder was er momentan alles nicht sein muss.
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"Ich beneide jeden, der lebt." sagt O. Spengler – ist mit solcher Lebensbejahung die stärkste Empfindung etwa der Mangel?
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So gesehen ist der Pessimist eigentlich näher am Ziel: selbst noch mit allem Seienden mitleidend ist er doch nahezu nicht.
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524)
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Nicht genug, dass fast alle auf lebensbejahende Optimisten machen.
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Fast alle lebensverneinenden Neo-Schopenhauerianer sind – im Gegensatz zu Schopenhauer – materialistische Realisten, die an das Nichts im Tod und damit an die individuelle Selbsterlösung des Menschen durch Suizid bzw. an seine kollektive Erlösung durch atomaren Overkill o.ä. glauben.
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Echte Pessimisten, die das Leid für ewig halten, find ich leider keine mehr.
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525)
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Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich fassen, dass es so grundsätzlich in Mode kommen konnte, das Subjektive sich aus Objektivem zusammengesetzt zu denken.
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Wahnsinn, leblose Grundbestandteile unserer Welt anzunehmen. Wir modeln unbekümmert an diesem Objektiven herum und müssen mit dem sich daraus subjektiv Ergebenden leben.
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Man stelle sich vor, an einem Bild sinnvolle Veränderungen vornehmen zu wollen, nachdem man seine Sichtweise auf eine analytische Pixel-Ebene fixiert hat. Aussichtslos eben.
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526)
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Wer sich dauernd nach dem Paradies sehnt, hat seine Betrachtung der Welt auf die Reichen und Schönen fixiert.
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Wer sich dauernd nach Bewusstlosigkeit sehnt, hat seine Betrachtung der Welt auf das Objektive bzw. Dingliche fixiert.
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Erst seit ich mein Sein mit dem aller anderen Lebewesen vergleiche, lässt diese verdammte Sehnsucht etwas nach.
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527)
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Selbstmord ist keine Lösung – das beteuern seltsamerweise auch die Hilfseinrichtungen mit naturalistischer Grundeinstellung.
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Aber wenn es wirklich stimmt, dass Bewusstsein eines biologisch intakten Nervensystems bedarf, dann ist Suizid die Lösung schlechthin.
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Wieso es nicht zugeben? Falls die Materialisten Recht haben, dann tauschte sich besser jedes schlechte Leben gegen das Nichts.
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528)
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Lernverdrossenheit aus Lebensverdrossenheit – die materialistische Gesellschaft übersieht geflissentlich den Zusammenhang zwischen ihrer zornigen, nicht mehr erziehbaren Jugend und ihrem Götzen, dem Nichts.
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Die Gesellschaft im allgemeinen und die Eltern im besonderen holen nach realistischer Auffassung ihre Kinder mit voller Absicht in ein qualvolles Leben, das ihnen im Nichts erspart geblieben wäre.
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Wer leidet und fest an das Nichts als Seinsalternative glaubt, greift evt. zur Waffe und hält das Unrecht Leben im erweiterten Suizid ein gutes Stück weit auf. Verständnislosigkeit hierfür ist ignoranter als Amoklauf.
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529)
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Monotheismus, Materialismus und Wiedergeburtslehre gibt es je in pessimistischer und optimistischer Ausführung, historisch haben sie auch alle ihre Anhänger gefunden.
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Den gefürchteten Herrgott mit seiner Hölle, das vergängliche weil vom süßen Nichts umrahmte und das ewiglich wiederkehrende irdische Leid hab ich auch in meiner Historie durchgemacht.
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Den geliebten Schöpfer mit seinem Paradies, das einmalig kostbare weil vom bitteren Nichts umrahmte und auch das ewiglich steigerbare irdische Glück kenn ich nur vom Hörensagen.
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530)
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Der schlimmste Pessimismus ist die Erwartung einer idealtypischen, also ewig schlimmstmöglichen jenseitigen Hölle, der beste Optimismus die eines Himmels.
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Der zweitschlimmste Pessimismus ist die Erwartung fortgesetzter Reinkarnation in ein je schlechtes irdisch-reales Leben, der zweitbeste Optimismus die in ein je gutes.
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Der drittschlimmste Pessimismus einer negativen Bewertung des einmalig-endlichen irdischen Lebens und der drittbeste Optimismus einer positiven stehen gemessen an oben genannten schon fast pari.
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531)
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Religionswissenschaftlich sind all die historisch vorzufindenden Spielarten religiöser Jenseitsmodelle hochinteressant. Nach einigem Studieren bekommt man den Eindruck einer Art Vollständigkeit – wohl so ziemlich alle wesentlichen Möglichkeiten von Jenseits sind ersonnen und vertreten worden.
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Philosophisch besorgniserregend ist die Tatsache, dass diese Jenseitsmodelle keine Hypothesen bzw. theoretischen Vorschläge sein sollten, sondern von den jeweiligen Religionsstiftern sozusagen praktisch am Volk ausprobiert wurden durch Missionierung als felsenfeste Wahrheit.
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Ist das die letzte Konsequenz einer philosophischen These: Wahrheitsanspruch dafür zu erheben? Mag sein, dass handlungsorientierte Menschen das so sehen. Ich denke aber, dass sie genau damit das Gebiet der Philosophie verlassen. Absolute Wahrheiten sind philosophisch unseriös.
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532)
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Religionsstiftern vorzuwerfen, dass sie sich eine ihnen vernünftig erscheinende Volkslehre ausdenken und dann ihre Wahrheit als von oben eingegeben behaupten, ist vielleicht ein Irrtum von Philosophen, die noch keine höheren Eingebungen als ihre eigenen Ideen erleben durften bzw. mussten.
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Nahtoderfahrungen, Erscheinungen, meditative oder durch Einnahme von Drogen induzierte Erlebnisse hinterlassen evt. unüberbietbar starke Eindrücke höherer Macht, die sich ihres Mediums nach Belieben bedient bzw. es sozusagen unabweisbar beauftragt, seine höhere Wahrheit zu verkünden.
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Als einer, den religiöse Erziehung, Nahtoderfahrungen u.a. zum Philosophieren drängten, bewege ich mich zwischen höheren und eigenen Wahrheiten. Letztere helfen erstere zu relativieren. Wie es ist, als echter Philososph aus freien Stücken nach der Wahrheit zu suchen, weiß ich nicht.
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533)
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Hör auf, Wellen zu machen (Stop making waves) – so könnte ein quietistisches Motto lauten.
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Der Realist als Dinge Sehender ist sich selber erst mal Teilchen mit Abmessungen im Meterbereich. Klein und harmlos?
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Als Wellenquelle betrachtet ist sein Wirkungsradius aber um viele Zehnerpotenzen größer. Machen sich sorglose Naturen allzu selten klar.
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(Und als Interferenzmaximum eines Wellenfeldes reichen seine Konstituenten evt. durchs ganze Universum. Nur was für Esoteriker?)
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534)
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Pessimisten streben i.a. zum Besseren hin wie die Optimisten auch – nur dass sie sich eben keine Illussionen über den Status Quo und die Chancen seiner positiven Wandlungsfähigkeit machen. Optimisten sehen sich schon auf halbem Weg vom Menschen zum Gott, Pessimisten empfinden sich eher als Tiere, für die das Ideal der Menschlichkeit in allzu weiter Ferne leuchtet.
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Aus dem optmistischen Blick auf die Welt resultiert Tatendrang bis hin zur Tollkühnheit, aus dem pessimistischen Vorsicht bis hin zur Angststarre. Optimisten meinen, dass strenge Reglements und daraus resultierende Unbeweglichkeit an allem Unglück schuld seien, Pessimisten meinen genau im Gegenteil, dass wir erst einmal zu Ruhe und Ordnung finden müssten.
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Aber noch typischer ist vielleicht die unterschiedliche Miene zum selben Spiel. Optimisten schauen so, wie sie sich fühlen wollen, Pessimisten lassen sich ihre negative Stimmung anmerken. Optimisten meinen, dass ihre Bemühung des Keep Smiling schon mal ein guter Anfang sei, Pessimisten sehen darin eine Urlüge und finden all das künstliche Gegrinse nicht weniger als gruselig.
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535)
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Als Pessimist, der an die jenseitige Hölle glaubt, hält man sich mit wachsender Verzweiflung an seinem diesseitigen Leben fest – bis einem Krankheit oder Wahnsinn die Kraft dafür rauben.
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Als Pessimist, der an das jenseitige Nichts glaubt, quetscht man allen Trost aus seiner dekadenten Gegenwart, wobei Genusssucht dann ja auch gerne in einen frühen Tod mündet.
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Als Pessimist, der an diesseitige Wiederkehr glaubt, ist der Tod nicht mehr so abstoßend bzw. anziehend. Man wünscht sich ein bieder proportioniertes Leben: Morgen, Mittag und Abend vor der Nacht.
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536)
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Wie kommt einer zu seiner Religion?
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Frühe Prägung, Wünschbarkeit, intensive Beschäftigung damit, Plausibilität.
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Mein Glaube an die ewige Wiederkehr leidvollen Lebens ist spät erworben und kaum wünschbar, aber mit der Beschäftigung und der Plausibilität hab ich mir echt Mühe gegeben.
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537)
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Optimisten bejahen das Lebenwollen, Pessimisten verneinen es.
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Wie im Yin&Yang-Zeichen hat die optimistische Bejahung aber etwas von gesellschaftlichem Anpassungszwang, die pessimistische Verneinung etwas von gesellschaftlicher Emanzipation.
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Ich bin Pessimist: eher müssen als wollen, eher wollen müssen als müssen wollen.
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538)
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Paradoxer Pessimismus: wenn jemand grundsätzlich frustriert ist, weil er in dem realistischen Bewusstsein lebt, dass sein geliebtes Leben nur allzu vergänglich ist und für die Erfüllung der allermeisten Wünsche keine Zeit bleibt.
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Paradoxer Optimismus: wenn einer ständig heiter ist, mit realistischer Sicherheit davon ausgehend, dass die Tage seines leidigen Lebens gezählt sind und der Großteil aller Kalamitäten ihn verpassen bzw. nach seiner Zeit stattfinden wird.
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Hier scheint also Pessimismus auf der lebensbejahenden und Optimismus auf der lebensverneinenden Seite vorzukommen – tatsächlich jedoch wird die Endlichkeit als negativ bzw. positiv zu wertende Haupteigenschaft des Lebens angesehen.
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539)
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Pessimismus beim Wort genommen bedeutet, bereits in der tiefsten Hölle zu schmoren und basta. Für immer am äußersten Anschlag zu leiden, ohne Chance auf Linderung. Aber kein Pessimist vertritt das so extrem.
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Wenn wir die Hölle angedroht bekommen, sind wir da jetzt noch nicht. Wenn wir durch Versenkung in Kunst oder Askese dem Leid für eine Weile entkommen können, leiden wir noch nicht am denkbar schlimmsten usw.
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Ein lupenreiner Pessimist wäre völlig resigniert und damit passiv – es sei denn, er könnte in seinem maximalen Leid dann doch nicht anders als zu versuchen, wider besseres Wissen etwas gegen dieses Leid zu unternehmen.
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540)
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Pessimismus, Apathie, Optimismus könnte man auch einfach so definieren, dass seine Vertreter im Großen und Ganzen leidend, gleichgültig, freudig gestimmt sind.
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Wobei es von der weiteren Weltanschauung abhängt, welche Seins- oder auch Nichtsform den Ausschlag für die Stimmung gibt. Durchaus denkbar, dass jemand Jenseitiges wie Hölle, Nichts oder Himmel als stimmungsbeherrschend erlebt bzw. Diesseitiges für seine Grundstimmung eher nebensächlich ist.
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So gäbe es also beispielsweise auch Optimisten, die frohgemut im Elend leben oder gar Selbstmord begehen, in Erwartung ihres Paradieses oder auch nur des Nichtseins.
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541)
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Schopenhauers Vater starb wahrscheinlich durch eigene Hand – für S. sicher Anlass zum Nachdenken über die Misslichkeit des Lebens, traditionelle Bilder jenseitiger Höllenstrafe und moderne Bilder jenseitiger Nichtserlösung.
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Schopenhauers Philosophie ist ungewöhnlich todbezogen, er musste vermutlich zeitlebens pessimistische Balance halten zwischen drohender Hölle und lockendem Nichts, wobei ihm die Wiedergeburtslehre sehr gelegen kam.
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Bei aller Spekulation über das Leben und den Tod ist er nie darauf verfallen, ersteres oder letzteren positiv zu werten. Dass beides von Übel sei, ist seine Grundannahme. Intuitive Gewissheit? Geht mir jedenfalls ganz genauso.
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542)
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Sowohl als auch – Wunschvorstellung der Versöhnlichen.
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Aber das Böse soll schon abgeschafft werden. Und so heißt es bei den Sanftmütigen dann doch wie bei den Kriegern: Entweder oder. Jede Entwicklung hat absterbende Äste, schickt Verlierer ins Verderben – harmoniesüchtige Freunde des Wachstums können sich höchstens noch deren Wiedergeburt zu neuem Leben einreden.
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Drittens bliebe der Nichtsglaube: Weder noch.
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543)
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Feingeistiges soll Grobkörperliches überwinden – diese idealistische Bestrebung aufklärerischer Weltverbesserer hat etwas generell Intolerantes an sich.
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Aber das Grobkörperliche ist halt von vornherein spezifisch intolerant, räumt individuell aus dem Weg, was es stört bzw. beutet individuell aus, was es will oder braucht.
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Paradoxerweise nimmt das Ganze auf Kosten des Einzelnen in Schutz, wer kulturpessimistisch darauf hinweist, dass die Natur wenigstens nicht zum Totalitarismus neige.
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544)
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Materialisten und Spiritualisten gibt es viele, erstere lebensbejahend wie lebensverneinend.
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Negativer Spiritualismus – die Ansicht, Materialismus sei zwar schöner, Spiritualismus aber leider wahrer – wird jedoch kaum vertreten. Zumindest außerhalb geschlossener Anstalten.
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Nicht dass niederschmetternde Erlebnisse der höheren Art so selten wären – aber sie bleiben in aller Regel das Problem des Einzelnen, weil die Gesellschaft davon nichts wissen will.
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545)
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Du hast nur ein Leben, es fliegt vorbei – hinter solchen Midlife-Crisis-trächtigen Mottos steckt paradoxerweise eine Art Jenseitsbezogenheit.
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Wer sein Leben v.a. von außen sieht als etwas streng Begrenztes, ist geistig eingenommen vom "jenseitigen" Nichts des Sein-Nichts-Dualismus.
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Seinsmonismus hingegen verunmöglicht Flucht wie Vertriebenwerden aus dem Leben, lässt es einen ruhiger und nachhaltiger angehen.
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546)
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Zur Erinnerung, dass der Sohn Gottes für uns am Kreuz starb? Glaub ich nicht, dass Kruzifixe dazu da sind. Der Gekreuzigte soll einfach Vorbild für geduldiges Leiden sein, die Ohnmächtigen trösten.
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Auch Schopenhauers Asketismus idealisiert den Willenlosen, der sein Leid, gar seine Misshandlung wehrlos hinnimmt. Sich am Nichts orientieren, aber alles gehen lassen wie es wolle – das ist sein Credo.
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Das Nichts wollen erscheint mir jedoch angemessen; unklug vielleicht, aber es stünde uns doch zu. Vorteil bzw. Lust wollen ist m.E. schon verfehlt. Aber mit weniger als Nichts einverstanden sein auch.
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547)
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Das Leid Christi als Schönheitsideal? Der Schmerzensmann als Sexsymbol? Nackt am Kreuz als beliebteste Pin-up-Pose?
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Selbstzerstörung in der Magersucht als Spätfolge des Christentums? Heroindürre Rockstars als Reinkarnation des Erlösers?
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Könnte stimmen, wenn sich denn wirklich alles um Ästhetik drehen würde. Aber vielleicht ist die ja auch nur Flucht vor der Moral.
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548)
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Unglücklich bin ich, mit Absicht – Glück steht mir nicht zu.
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Unzufrieden bin ich, ohne Absicht – Zufriedenheit stünde mir zu.
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Ruhig bin ich, zumindest einigermaßen – seit mir das Sein alternativlos scheint.
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549)
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Wach, träumend und bewusstlos durchleben wir die Zeiten.
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Der Tod wird i.a. für ewiges Verbleiben in einem dieser Zustände gehalten.
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Aber liegt ewiges Abwechseln aller drei nicht näher?
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550)
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Religion – Vertrauensbildung für Ängstliche?
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Wissenschaft – Wahrheitsfindung für Mutige?
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Beides gewollte Konstrukte. Erstere älter, letztere neuer.
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551)
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Wenn es nach oben noch ewig besser und nach unten noch ewig schlimmer werden kann, befindet sich jeder einzelne eigentlich genau in der Mitte.
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Wenn es zum Besseren hin immer weniger Glückliche, zum Schlimmeren hin immer mehr Unglückliche gibt, geht es sogar jedem besser als den meisten.
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Aber da es selbst den Priviligiertesten meist schlechter als nichts geht, ist fast alles von Übel. Mein Pessimismus macht sich am absoluten Nichts fest.
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552)
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Atheismus und Areligiosität sind nicht unbedingt dasselbe.
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Ex-Christen haben mit ihrem Gott aber meist auch ihre Religiosität beerdigt.
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So gesehen ist ein unnahbarer, unglaubwürdiger Gott etwas Religionsfeindliches.
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553)
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Wahrheit ist mir generell Mittel zum Zweck höchst unwahrscheinlicher Erlösung.
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Philosophie als Liebe zur Wahrheit um ihrer selbst willen bleibt mir als Pessimist fremd.
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Die meisten Philosophen erscheinen mir erlösungsgetrieben, ihr Name beschönigend.
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554)
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Der Ruhemensch Schopenhauer war seiner Zeit vielleicht noch weiter voraus als der Machtmensch Nietzsche.
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Denn verhalten sich die Lebensabschnitte der Menschheit analog zu denen ihrer Individuen, dann kommt nach der Kinderzeit (Liebe, Religion) und der Jugend (Wahrheit, Politik) die Erwachsenenzeit (Macht, Kapital) und das Alter (Ruhe, ?).
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Und jede dieser Phasen kann auch ein ganzes individuelles Leben bestimmen. Manche sehnen sich ihr Leben lang nach Liebe – ich nach Ruhe.
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555)
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Auf Altem aufbauen oder mit Neuem beginnen?
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Die Optimisten sagen "Weg mit Schaden!" und tilgen alles, was ihnen kein Glück gebracht hat.
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Vielleicht erinnert sich deshalb niemand an frühere Leben – im Tod wird der Reset-Knopf gedrückt und alles Übel beginnt von vorn.
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556)
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Im Film wird laut gelebt und dann in Ruhe gestorben.
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In Wirklichkeit passt die Akustik selten zur Stimmung.
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Während ich sterbe, wird mein Nachbar schlagbohren.
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557)
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Liebe ist was für die Schönen.
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Wahrheit ist was für die Klugen.
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Ruhe ist was für die Genügsamen.
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558)
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Die meisten, die ich kenne, haben begriffen, dass es wahrscheinlich keinen Himmel und keine Hölle als Jenseits gibt.
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Aber nur die wenigsten, die ich kenne, haben begriffen, dass das Nichts als Jenseits so wahrscheinlich auch nicht ist.
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Wer sich dem Sein widmet, begreift: Himmel, Hölle und Nichts sind idealisierte Vorstellungen von Lust, Leid und Bewusstlosigkeit ohne Beweiskraft.
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559)
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Stolz auf Religionsverzicht ist verbreitet – es gilt als tough, ohne lieben Gott, jenseitiges Paradies und derlei "heiligen Kram" auszukommen.
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Die meisten glauben, dass sie ihr westliches Luxusleben auf einer Backe absitzen und anschließend ins Nichts verschwinden können.
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Der entsetzliche Gedanke, dass es nichts geben könnte außer dem ewigen Sein – und damit eben kein Nichts – kommt kaum noch einem.
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560)
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Statt die Schule der Universität anzugleichen – Lehrende und Lernende wählen ihre Themen frei – ist es nun also umgekehrt gekommen.
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Wann wird die Wirtschaft begreifen, dass gute Ideen nicht aus bravem Auswendiglernen eines von ihr vorgegebenen Kanons resultieren?
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Leider braucht es dazu wahrscheinlich erheblich länger als es dauern wird, bis kein Absolvent der Lernfabriken mehr gute Ideen hat.
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561)
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Das Sein – dieser denkerische Begriff bezeichnet für mich das, was ist, jenseits vom Ich/Welt- bzw. Subjekt-Objekt-Problem.
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Gelingt es den meditierenden Buddhisten etwa, jenseits vom Sein-Nichts-Problem anzukommen?
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Oder dominieren die Meister damit nur ihre Schüler, bis die endlich selber mit dem Denken anfangen bzw. aufhören?
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562)
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Das Leib-Seele-Problem i.S.v. Materialismus vs. Spiritualismus ist für mich im Grunde genommen nur ein Spezialfall des Sein-Nichts-Problems.
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Wenn die Leib-Leute recht haben, dann ist unser Sein nichtig; wenn die Seele-Leute recht haben, gibt es evt. keinen Ausweg aus dem Sein.
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Wünschen tu ich mir das Nichts, wetten aber tu ich auf das Sein. Und wundere mich, dass es bei anderen gerade andersherum ist.
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563)
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Sein ist Praxis.
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Nichtsein ist Theorie.
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Wieso sollte ein Leben einmaliger sein als ein Tag?
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564)
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Blinder Wille ist noch nicht selber schuld.
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Erst der sehende Wille wäre wirklich böse.
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Z.B. Gott, so er sich im Anfang selbst erschüfe.
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565)
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Mir geht es schlecht. Das liegt daran, dass ich mein Sein stets am Nichtsein messe.
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Mir könnte es gutgehen, nähme ich den Vergleich mit anderen zum Maßstab.
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Dieser "Relativismus" fühlt sich für mich jedoch nach Selbstbetrug an. Es werde Nichts!
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566)
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Trotz Faible fürs Gigantische geht es im Christentum eigentlich um Endlichkeit, um Aufgehobensein zwischen Alpha und Omega.
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Das Irdische hat da einen ersten und einen letzten Tag, sogar ewiger Himmel und ewige Hölle markieren Grenzen, denn besser bzw. schlimmer gehts nimmer.
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Kein Anfang, kein Ende? Ohne Mauern im Kopf, ohne willkürliche Konstrukte? Nein, das Christentum ist und bleibt ein Bauherren-Modell.
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567)
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Argumente gegen den Suizid – auch diese Domäne scheinen heutzutage die Optimisten für sich reserviert zu haben.
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Die Schönheit des Lebens neu entdecken usw. – über die Bewusstmachung möglicher Fehleinschätzung des Todes redet keiner.
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Pessimistische Argumente gegen den Suizid – mag vielen nach einem Witz klingen, ich halte sie aber für die besseren.
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568)
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Jede gute Geschichte hat auch einen wahren, philosophischen Kern.
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An den Lagerfeuern früher war die Schale wohl zum Jugendschutz.
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Spät hab ich von den Kernen erfahren, mich vorher umsonst gelangweilt.
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(Viele erfahren nie davon – Rilkes Panther bleibt für sie ne öde Tierstory.)
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569)
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Die Metaebene ist oft dröge – nur schlechte Vorträge ergehen sich in langen Ausführungen, wovon sie nachher handeln werden.
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Aber vielleicht sollte man Schülern dennoch erklären, was es heißt, etwas zu erklären. Sie sollten verstehen, was Verstehen ist.
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Durchs Abi und das halbe Studium musste ich gehen, ohne anderes als Lernen kennenzulernen. So ist Ausbildung nur eine Strafe.
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570)
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Denkwürdiger Angelpunkt der Geschichte, als Schopenhauer und Nietzsche von der Ewigen Wiederkehr erzählten.
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Schopenhauer sah sie pessimistisch, Nietzsche wollte sie optimistisch umdrehen – beide jedoch glaubten an sie.
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Vor ihr glaubte man an ein ewiges Jenseits, nach ihr "nur" noch an das ewige Nichts – warum war sie wohl so kurzlebig?
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571)
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Weniger Jenseits als das Nichts wird von den wenigsten akzeptiert.
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Auch die "Ungläubigen" bedürfen ihrer jenseitigen Erlösung allzu sehr.
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Die Vorstellung, es gebe nur dieses Diesseits, ist zu traurig. Aber naheliegend.
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572)
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Solange das leidfreie Nichts als Jenseits im Angebot ist, werden die Erlösungsbedürftigen auch zugreifen, z.B. durch Suizid.
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Treusorgende Mitmenschen werden vielleicht noch möglichst viele andere Erlösungbedürftige mit sich in den Tod nehmen.
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Die moderne Welt beklagt solche "unerklärlichen" Taten und verkündet weiterhin fleißig die Leidfreiheit des Todes.
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573)
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Die Leute meinen, sie glauben an nichts, glauben aber an das Nichts.
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Die Positivierung des Nichts ist die heimliche Religiosität der Moderne.
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Wer erleichtert sagt, der Tote habe es ja nun hinter sich, ist gläubig.
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574)
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Unendlichkeit – hinter jedem Gott ein noch größerer, über jedem Himmel ein noch besserer, unter jeder Hölle eine noch schlimmere.
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Und ist der Tod der große Bruder des Schlafes, warum sollte nicht auch der Tod wiederum einen großen Bruder haben?
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Vor jedem Anfang ein voriger, nach jedem Ende ein nächstes – wer da noch immer auf ein Größtes besteht, ist eben ein Kleingeist.
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575)
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Zerstörung von Leben will dessen Leid entweder vergrößern oder beenden.
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Ersteres kann sichtlich gelingen, letzteres ist eher ein beharrliches Gerücht.
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Vernichtung bleibt ein Ideal, welches Realisten durch Zerstörung anstreben.
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576)
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Einfältige Menschen wollen unbedingt mit jedem etwas zu tun haben – freundlich, ansonsten halt feindlich.
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Zivilisation bedeutet Einkehr der dritten zwischenmenschlichen Kategorie: sich gegenseitig in Ruhe lassen.
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Nichts mit jemandem zu tun haben wollen ist m.E. noch keine misanthrope, sondern eine ganz neutrale Haltung.
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(Aber unsere dualistische Sprache, die un-freundlich mit feindlich gleichsetzt, will scheinbar Krieg.)
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577)
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Wer nicht alleinsein kann, zieht den Streit der Ruhe vor.
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Hat den Nachbarn lieber zum Feind als anonym zu sein.
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Erpresst ihn: Gib mir Süßes oder ich geb dir Saures.
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578)
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Idealerweise glauben Idealisten gar nicht, dass ihre Ideale realisierbar seien – Ideale sollen Halt geben, nicht wirklich Ziel sein.
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Heilshoffnung ist realiter gar nicht nötig – zur Erholung von der hässlichen Realität in schönen virtuellen Welten schwelgen reicht schon.
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Wird uns von den Verwirklichern aber auch das noch genommen – man stelle sich Unterhaltung ohne Idealisierung vor – wird es eng.
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579)
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Heilige Momente gibt es in Wirklichkeit höchst selten bis nie – in der Fiktion sind sie zum Ausgleich die Regel.
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Die Welt nimmt realiter weder Rücksicht noch Anteil – nur im Film hält während einer Liebeserklärung alles inne.
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Gutaussehende, nette und sensible Menschen, gutgelaunt und robust gegen Rückschläge – Widersprüche in sich.
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580)
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Das Leben ist im Wesentlichen gemusst, nicht gewollt – auch ohne dass es jemanden über uns geben muss, der es erzwingt.
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Zuerst ist das Leid – ich glaube nicht an einen Quäler, der aus freien Stücken des Leides höhere Ursache sei.
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Wollen ist nur gefälschte Reaktion auf Müssen. Babies sind da noch authentisch, Erwachsene haben lügen gelernt.
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581)
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Vielleicht hat Gott im Gegensatz zu uns die Wahl, ob er sei oder nicht sei – und ist lieber nicht. Könnte ich ihm nachfühlen.
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Vielleicht sind nur wir es, die mit ewigem Seinsschicksal geschlagen sind – und das Nichts gibt es für uns schlichtweg nicht.
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Am schlimmsten wäre es, wenn wir – wie Gott in der Schöpfungsgeschichte – das Sein allzu spontan und zügig weitertrieben.
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582)
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Auch der heutige Realismus gibt sich noch meist als Wahrheit aus, so wie es vor ihm das Christentum getan hat.
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Erst mal müsste bekannter werden, dass so ein Wahrheitsanspruch philosophisch vermessen bis sträflich dumm ist.
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Und dann müssten Alternativen zum Realismus bekannter werden, z.B. der pessimistische Idealismus à la Schopenhauer.
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(Denn Pessimisten werden am Christentum irre und am Realismus suizidal – ihnen dürfte der Idealismus nicht vorenthalten werden.)
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583)
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Als pessimistischer Idealist brauche ich Schopenhauer nicht besser zu kennen als der durchschnittliche Christ seine Bibel oder der durchschnittliche Materialist die Newtonschen Gesetze: so gut wie gar nicht.
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Soll das heißen, die philosophische Grundeinstellung eines Menschen sei für ihn von eher nachrangiger Bedeutung? Ganz im Gegenteil: als sein geistiges Fundament ist sie kaum zu überschätzen.
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So wichtig ist sie, dass Idealisten, Christen und Realisten ein näheres Kennenlernen ihrer Kodizes kaum riskieren dürfen – wären sie doch nach genauerer Lektüre ihren geistigen Halt möglicherweise wieder los.
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584)
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Sein strahlt für mich zwar Ruhe aus – im Gegensatz zu Werden und Vergehen, also den Übergängen zwischen Sein und Nichtsein.
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Sein klingt mir aber v.a. nach ewigem Seinsschicksal – dem zu meinem Leidwesen nicht auf Dauer ins Nichtsein zu entkommen ist.
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Mag sich im speziellen auch unablässig etwas verändern auf dieser Welt – im allgemeinen bleibt doch alles, wie es schon immer ist.
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585)
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Den Christen ist Gott das Höchste, den Realisten das Menschtier, und Pessimisten im wörtlichen Sinn ist unsere Welt die schlimmstmögliche.
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Diese Superlative losgelassen zu haben gibt mir Ruhe. Über Gott wieder einer, und warum keine intelligenteren Wesen und schlimmeren Welten?
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Mag sein, die Grenzen wurden einst zur Beruhigung aufgestellt – aber ich hab mir daran nur den Kopf gestoßen und lebe besser ohne.
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586)
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Nietzsche war m.E. ein Neo-Christ – er hat die Welt, bei Schopenhauer revolutionärerweise eine gemusste, wieder zur gewollten zurückgebogen.
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Schon der Schöpfungsgeschichte geht es darum, dass die Welt eine von Gott gewollte sei. Bei Nietzsche will dann der absichtsvolle Mensch.
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Abgesehen davon, dass Wollen und Müssen als Ursache und Wirkung gar keinen Anfang haben müssen – ich tippe auf eine gemusste Welt.
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587)
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Das Leben ist nur blind gewollt, einsichtig aber ist es gemusst.
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Für mein unzugängliches Unterbewusstes bin ich nicht haftbar.
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Für mein unzulängliches Tierbleiben kann ich doch kaum etwas.
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588)
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Wer mir partout einreden will, dass es (s)einen Gott gibt, ist wahrscheinlich ein Hilfsbedürftiger, der vor seinem Nächsten den Helfer markiert à la "Hilf und dir wird geholfen".
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Stimme ich in den Gesang von Größe und Ewigkeit ein und behaupte, dass es über seinem Gott noch einen und noch einen gibt, stoße ich auf Ablehnung oder gar Empörung.
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Denn was der Monotheist eben nicht will, ist ewiges Undsoweiter. Er will, dass es endlich anders kommt – der Verlierer als endgültiger Sieger. Basta-Religion.
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589)
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An ein Leben, welches ewig weiter auf und v.a. ab geht, will keiner glauben.
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Vordergründig plädieren die Christen für Ewigkeit, die Realisten für Endlichkeit.
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Aber beide predigen endgültige Zustände nach dem Tod. Lebensferne Theorien.
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590)
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Ein allmächtiger Gott hat die Wahl zwischen Nichtsein, Alleinbleiben, Zusammensein mit seinen Geschöpfen usw.
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Das Psychogramm des Christengottes zeigt aber v.a. einen herrischen und einen abwesenden Gott.
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Für subalterne Eigenschaften spaltet er einen Sohn, einen heiligen Geist, eine Gottesmutter usw. ab.
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591)
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Frühe Traumata lassen sich durch spätere Einsicht kaum revidieren.
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Viele Religionen prägen durch Himmelslockung und Höllendrohung.
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Vielleicht ist damit das Kind Mensch(heit) bereits unwiderruflich verdorben.
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592)
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Die Philosophien und Religionen erweisen ihre Wirkung vielleicht am deutlichsten an den Kindern.
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Den Erwachsenen kann man vergleichsweise viel erzählen bzw. zumuten, ohne sie nachhaltig zu schädigen.
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Verdächtig ist ein Glaube, von dem es keine verträgliche Kinderversion gibt. Oder umgekehrt?
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593)
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Pessimisten leben weiter, wenn auch ungern – denn ungeschöntes Nachdenken über das Leben lässt sie an ihrem Ende im Tod zweifeln.
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Dass Pessimisten mit einem bösen Ende rechnen, haben sich Optimisten ausgedacht – "Ende" klingt nur für gerne Lebende negativ.
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Happy End heißt bei den Optimisten, dass es danach glücklich weitergeht. Den Pessimisten dagegen wäre ein echtes Ende schon genug.
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594)
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Um Abstand von Selbstmordgedanken zu bekommen, muss das Leben nicht als sinnvoll erkannt werden – nur als alternativlos.
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"Ohne Gott hat das Leben keinen Sinn!" sagen die Christen und deuten damit an, dass Atheisten sich ja auch gleich umbringen könnten.
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Aber Christentum gegen Suizidalität ist der totale Overkill – den fatalen Glauben an das Nichts im Tod ablegen reicht schon.
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595)
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"Was soll ich noch hier auf Erden?" – diese banale Frage ist möglicherweise der Hauptauslöser für Depressivität und Suizidalität.
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Die christliche wie materialistische Lehre, unsere Tage seien gezählt, erpresst eine ganzheitliche Betrachtung bzw. Sinngebung des Lebens.
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Wer sich hingegen plausibel machen kann, das irdische Leben sei ewig und ohne Alternative, von dem fallen Druck und Torschlusspanik ab.
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596)
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Man stelle sich vor, eine endlose Zeitreihe zufälliger Inkarnationen in einer ausweglosen Welt durchleben zu müssen.
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So würden alle ernten, was alle säen.
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Der Einzelne könnte sich produktiv, passiv oder destruktiv verhalten. "Nach mir die Sintflut!" gäbs dann aber nicht mehr.
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597)
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Das Nichts wünsche ich jedem: mir selber, dem liebsten Freund, dem ärgsten Feind.
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Wer nicht mehr ist, vermisst nichts mehr, leidet nicht mehr, ist erlöster als erlöst.
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Für Realisten eine gemeingefährliche Einstellung, für Idealisten wie mich reine Theorie.
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598)
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Der Mensch kann, was er im allgemeinen ist, selber höchst unsympathisch finden – das ist vielleicht seine sympathischste Eigenschaft.
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Kapseln, die wir zur Kommunikationsanbahnung mit Aliens ins All schicken, sollten auch selbstkritische Botschaften enthalten.
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Wenn wir Pech haben, sehen die Fremden als erstes einen der zahllosen Spielfilme über den stolzen Sieger Mensch. Wie peinlich.
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599)
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Depression ist evt. der Ausdruck endgültiger Unfähigkeit, sich wieder auf die Liebe einzulassen, nachdem sie zu sehr enttäuscht hat.
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Warum soll denn nicht auch seelisch etwas ein für allemal kaputtgehen können – wenn es doch körperlich ganz offensichtlich so ist.
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Wo sie nicht direkt nachschauen können, machen sich die Menschen noch mehr unbegründete Hoffnung als beim Offensichtlichen schon.
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600)
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Gut ging es mir noch nie in dem Sinn, dass ich generell Freude daran gehabt hätte, am Leben zu sein.
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Schlecht ging es mir noch nie in dem Sinn, dass ich generell mit jemand anderem hätte tauschen wollen.
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Gefragt, wie es mir gehe, vergleiche ich meine momentane Befindlichkeit mit meinem Langzeitwert.
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601)
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Wie kann man als ungern Lebender nicht mit einem gerne Lebenden tauschen wollen?
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Weil nähere Betrachtung ergibt, dass zum gerne Leben Torheit oder Bosheit gehört.
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Heißt das etwa, Weisheit und Güte sind wichtiger als Glück? Glaub ich schon.
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602)
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Ruhe ist Auszeit von der Echtzeit.
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Schwer, in direkter Kommunikation sofort verstehen und reagieren zu müssen. Meist zu schwer und zum Scheitern verurteilt. Trotzdem tendiert unser sich ständig beschleunigendes Leben zur Echtzeitanforderung. Falsche Richtung.
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Wichtiges am besten nur Offline.
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603)
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Den westlichen Religionen von vornherein eine affirmative und dem Naturalismus eine kritische Haltung gegenüber dem Leben zu unterstellen, wäre vielleicht zu plump.
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Schon wahrer ist aber, dass diejenigen, welche sich ein ewiges Leben wünschen, i.a. religiös denken, und diejenigen, welche sich ein endliches Leben wünschen, i.a. naturalistisch.
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Aber Naturwissenschaft ist da neutral, oder? Schwerlich, denn spätestens seit ihrer Umstellung auf Statistik und Drittmittel validiert sie die Theorie der je zahlungskräftigsten Lobby.
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604)
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Problematisch an der Emanzipation ist mitnichten die einsichtige Vorhut, sondern die uneinsichtige Gefolgschaft.
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"Die Kerle haben uns unterdrückt und jetzt drehen wir den Spieß um, Kriegerinnen!" – so wird das nix mit der Gleichstellung.
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Aber vielleicht ist die schmale Spitze der nächsten Bewegung ja einsichtig genug, keine breite Basis mehr anzuwerben.
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605)
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Wo ist die Grenze zwischen innen und außen?
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B. Russell meint, statt "Cogito ergo sum" müsse es doch "There are thoughts" heißen. Ist also alles objektiv, sogar meine Gedanken?
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Ich sehe es umgekehrt: Zuerst bin ich, subjektiv. Blende mich nach außen hin immer weiter aus, aber ganz aus bzw. außen ist nicht.
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606)
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Wagnis Weisheit? Nö, Sicherheit ist wichtiger.
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Die Philosophie wechselt doch nur, wer muss.
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Bevor er wahnsinnig wird oder sich umbringt.
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607)
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Suizid geschieht entweder im Affekt oder mit Überlegung.
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Überlegter Suizid folgt aus Optimismus gegenüber dem Tod.
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Heutiger Realismus verspricht allen endgültige Bewusstlosigkeit.
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608)
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Der Individualismus gilt als Sieg über das Kollektive – keiner sieht, wie ersterer das letztere beschützt bzw. sakrosankt macht.
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Wer deprimiert denn die Depressiven? Es ist das leidvolle Leben an sich bzw. die kriegerischen Verhältnisse in unserer Leistungsgesellschaft.
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Herrschende Meinung ist inzwischen aber, die Ursache seien individuelle psychologische und hirnphysiologische Störungen.
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609)
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Zweifel am Materialismus sind in der modernen Welt ähnlich unüblich geworden wie es Zweifel am Christentum im Mittelalter waren.
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Vielleicht erleben wir eine Nachmoderne, in der man sich über den Glauben an das Nichts im Tod ebenso wundert wie heute über Himmel und Hölle.
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Eigentlich schon jetzt unglaublich, dass die materialistische Lebenserklärung obsiegt, ohne auch nur einen Einzeller als Beweis bauen zu können.
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610)
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Gott ist gut, der Sünder böse – seit Urzeiten versuchen die Hüter des Lebens, dem Einzelnen die Schuld in die Schuhe zu schieben.
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Postmoderner Individualismus mit seinem Verbot von Verallgemeinerungen wiederholt nur das alte Gebot: An die eigene Nase fassen.
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Der Selbstmörder legt noch mehr Hand an sich – und trifft damit den Falschen. Denn nicht sein Leben ist schlecht, sondern das Leben.
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611)
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Ruhe resultiert paradoxerweise auch aus der Erkenntnis, dass es eh keinen sicheren Hafen zu erreichen gibt.
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Unruhe resultiert paradoxerweise auch aus der Annahme, es gebe einen sicheren Hafen zu erreichen.
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Suizidalität ist eine Art Unruhe, die v.a. jene überkommt, welche an die ewige Ruhe im Tod glauben.
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612)
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Differenzieren ist angesagt, Verallgemeinern verpönt.
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Aber Fachsimpeln führt meist allzu schnell vom Eigentlichen weg.
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Lieber das Wesentliche überzeichnen als sich in Details verzetteln.
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613)
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Mein Pessimismus sagt aus, dass es kein zugleich angenehmes und ethisch gerechtfertigtes Leben geben kann.
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Wer ein schönes Leben lebt, schädigt dafür anderes Leben mehr als notwendig. Aber sogar das ist noch die Ausnahme.
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Traurige Regel ist, dass die Menschen ausbeuten was irgend geht und ihr Leben trotzdem hassen, ohne sich dies einzugestehen.
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614)
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Geht es uns mit den Segnungen des modernen Lebens besser als ohne sie? Mag sein.
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Geht es uns mit den Segnungen des modernen Lebens wirklich gut? Glaub ich nicht.
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Vorerst geht es uns besser, indem wir der Umwelt Gewalt antun. Gut geht gar nicht.
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615)
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Reif, wer nicht mehr dem Schönen nachjagt, sondern nur noch das Hässliche los sein möchte.
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Bete zu Gott: auf dein Paradies ist gepfiffen – nimm bloß das leidige irdische Vorspiel zurück.
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Dem Leid an die Wurzel gehen, statt es mit Lust zu übertünchen – das ist richtiger Nihilismus.
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616)
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Charaktersache, ob sich einem die Welt zu schnell oder zu langsam dreht?
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Charaktersache, ob einen ihr Hässliches abstößt oder ihr Schönes anzieht?
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Vielleicht gibt es immer die einen und die andern, wie Männer und Frauen.
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617)
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Der platte Materialismus hat mir als eingefleischtem Pessimisten einen Mordsschrecken eingejagt.
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Destructio ad nihilum – all meine Probleme seien mit Selbstmord, alle Menschheitsprobleme mit genügend Bomben zu erledigen.
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Per aspera ad nihilum – perfide, mit der Erlösung vom Leid um den Preis weiterer Verschlimmerung des Leides zu locken.
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618)
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Christen und Materialisten – erstere glauben an ihre Creatio ex nihilo, letztere an ihre Destructio ad nihilum.
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Aber aus Nichts kann nicht Etwas werden, aus Etwas nicht Nichts – ich glaube nicht mehr an Werden und Vergehen.
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Die Unendlichkeit ist einfacher und naheliegender als die Endlichkeit – sie wurde uns nur gründlich ausgeredet.
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619)
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Sogar aus den sowieso quirligen Cartoons für Kinder muss die Ruhe mit der Zeit immer weiter weichen.
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The Pink Panther war noch ein Ausbund an Coolness verglichen mit SpongeBob SquarePants.
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Postmoderne Identifikationsfiguren sind laut, hysterisch, tuntig – SpongeBobs letzte alte Eigenschaft: lieb.
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620)
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Naturalismus – die unbewusste Religion. Ihre Gläubigen halten die Naturwissenschaften für unsere wesentliche Informationsquelle.
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Die Naturwissenschaftler selber wissen, dass der Schluss von ihren speziellen Analysen auf unser allgemeines Leben dubios bis illegitim ist.
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Aber würde die technologische Motivation hinreichen? Oder kauft sich die Gesellschaft da v.a. ihr Leben ohne Reue bzw. ihr Nichts im Tod?
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621)
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Wer wie ich bezweifelt, dass der Tod die Vernichtung des Bewusstseins bedeutet, wird schnell zu den aussterbenden Dualisten gezählt, welche eine immaterielle Welt des Geistes neben die materielle Welt der Dinge stellen.
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Mir hingegen erscheint der Glaube an Vernichtung seltsam gekünstelt. Naheliegender ist doch, dass jegliche Veränderung der materiellen Struktur eines Lebewesens auch bloß eine Veränderung seines Bewusstseins bewirkt.
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Der Wunsch nach endgültiger Bewusstlosigkeit, wenn der Schmerz zu groß wird, vernebelt den Verstand. Materialistische "Monisten" stellen das Nichts als ganz anderen Zustand neben das Sein und bemerken ihren Dualismus nicht.
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622)
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Die heute gängige Lehre von der Vernichtung des Bewusstseins im Tod verführt die am Leben hauptsächlich Leidenden zum Suizid.
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Unvorhersagbare Bewusstseinsveränderungen im Tod hingegen ließen eher die Erlebnishungrigen das Experiment Suizid wagen.
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Der Gesellschaft ist es lieber, die Lebensverdrossenen bringen sich um – also lehrt sie die Vernichtung des Bewusstseins im Tod.
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623)
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Wer an die Vernichtung seines Bewusstseins glaubt, argumentiert gern mit der Vollnarkose als leicht zu demonstrierende, vorerst mal zeitlich begrenzte Nullsetzung.
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Ich habe Vollnarkosen samt deren Nachwirkungen erlebt und halte dagegen: unsere Portion an Bewusst-Sein wird damit nicht kleiner, nur zeitlich umverteilt.
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Schon die üblichen zur Bewusstseinsverengung eingesetzten Drogen zeigen: jedem Rausch folgt sein Kater auf dem Fuße – langfristig betrachtet gibt es keine Erlösung.
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624)
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Verkehrsdelikte sind für den Gesetzgeber keine Bagatelle, die verhängten Strafen akkumulieren sich auch für Unempfindliche zu empfindlichen. Rücksichtslosigkeit in Form von Lärm hingegen führt i.a. nur zu höflichen Ermahnungen – und dafür sind Rücksichtslose sowieso taub.
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Ruhestörung ist gesetzlich grob unterbewertet. Obwohl die Hinderung an Feierabend- und Wochenend-Entspannung auch Richter schwer beeinträchtigen würde. Zweierlei Maß, weil die Judikative zwar fahren muss, wo alle fahren, aber nicht wohnen muss, wo alle wohnen?
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Zornige Law&Order-Vision eines Ruheberaubten: Lärmpolitessen schreiben Strafzettel für unnötig laute Anwohner, Passanten, Handwerker, Bauarbeiter etc. Im Wiederholungsfall gibts Lärmpunkte in Flensburg und über dem Limit folgt Aufenthaltsverbot für das Viertel.
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625)
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Philosophie enttäuscht viele Menschen, indem sie nicht zu der einen endgültig überzeugenden Weltanschauung hinführen kann.
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Mir hat sie geholfen, indem sie mich von den mir unlebbaren Überzeugungen Christentum und Realismus wegführen konnte.
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Erst mal eine Weltanschauung finden, mit der man überhaupt leben kann – ihre Absicherung ad ultimo ist dann zweitrangig bis falsch.
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626)
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Physikalismus in Form materialistisch-monistischer Bewusstseinsmodelle, wie die Philosophie des Geistes (philosophy of mind) sie verhandelt, wirkt auf Pessimisten wie mich v.a. als Einladung zum Selbstmord.
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Skeptics bekämpfen so die Scharlatanerie, z.B. esoterische Beutelschneiderei. Aber dass physikalistische Reduktion des Bewusstseins auf Hirnfunktionen die Erlösung im Tod verspricht, thematisieren sie kaum oder gar nicht.
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Ihre Lehre brächte das vielbeschworene Licht der Aufklärung in praxi wohl v.a. dergestalt in die Welt, dass alle, deren Leben düster ist, sich materiell so zu deformieren suchten, dass ihr Bewusstsein ein für allemal erlischt.
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627)
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Philosophiegeschichte schlägt seltsame Kapriolen: Die aktuelle sog. Philosophie des Geistes verhandelt keine Bewusstseinsmodelle mehr, in denen die Materie nur einen von vielen typischen Inhalten des zugrundeliegenden Bewusstseins stellt.
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Ihre monistischen Modelle einerseits begreifen Materie als etwas Bewusstseinsunabhängiges und Bewusstsein als etwas Materieabhängiges. Ihre dualistischen Modelle andererseits begreifen beides als eigenständig. Und Bewusstseinsmonismus? Fehlanzeige.
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Dabei frage ich mich, wieso der materialistische Monismus überhaupt Monismus heißen darf – postuliert er doch kraft des Bewusstseins eine bewusstseinsunabhängige, also ganz andere zweite Welt – vom Nichts als Grund und Ziel des Seins ganz zu schweigen.
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628)
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Wenn es zutrifft, dass harte Männlichkeit im Alter zur Weichheit tendiert und zarte Weiblichkeit zur Härte – zeigten dann die jungen Softies der Siebziger und die jungen Furien der Neunziger erstmals einen dramatisch beschleunigten Alterungsprozess?
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Ist es dekadent, wenn Männer sich nicht mehr so lange wie möglich um Härte und Frauen nicht mehr so lange wie möglich um Zartheit bemühen, sondern lieber locker lassen und dabei offenbaren, wie sie charakterlich eigentlich beschaffen sind?
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Die sicherlich zu begrüßende Möglichkeit, heute ungestrafter auf die alten Geschlechterrollen zu verzichten, wird zeigen, ob die Bevorzugung männlicher Härte und weiblicher Weichheit nur anerzogen war. Schön wär's ja schon, aber ich glaub's eher nicht.
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629)
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Behauptung islamistischer Selbstmord-Attentäter: Wir bringen Gott unser schönes Erdenleben im heiligen Krieg zum Opfer.
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Kommentar des lebensverneinenden Pessimisten: Ihr hasst das Leben und gewöhnlichen Selbstmord hat Gott verboten.
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Bewundernswert von den Buddhisten, das Leben nicht zum Geschenk hochzulügen – um des Lebens willen. Ehrlich währt am längsten!?
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630)
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Pessimismus bedeutet für mich, dass das Leben im Wesentlichen etwas Schlechtes i.S.v. schlechter als nichts ist.
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Aber schlimmer und besser geht wohl immer – deshalb haben die meisten Pessimisten noch nicht ganz resigniert.
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Mein pessimistischer Lebenstil: das Gute als Ideal anstreben und zugleich wissen, dass es real nicht erreichbar ist.
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631)
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Die Unsterblichkeit der Seele gilt als menschlicher Wunschtraum, als eine aller evidenten Sterblichkeit trotzende Sehnsucht.
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Ich glaube jedoch, dass ihre Annahme schon immer in erster Linie dazu diente, die Menschen vom Selbstmord abzuhalten.
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Denn früher oder später kommt jeder an den Punkt, wo ihm die endgültige Bewusstlosigkeit aufs höchste willkommen wäre.
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632)
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Physikalismus als Ausdruck der Sehnsucht nach Leblosigkeit, Naturalismus als gigantisches Projekt der humanen Selbstauslöschung – dieser Verdacht kommt seltsamerweise kaum jemandem.
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Schon jetzt gilt der Zeitraum des Lebens als vernachlässigbar gegen den Zeitraum des toten Planeten. Und Technologie verlängert individuelles Leben in kleinem Ausmaß, bedroht aber die Menschheit in großem.
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Wissenschaftsjünger belächeln jeden, der das Leben nicht auf Materie gegründet sieht. Dabei ist nichts leichter auszuhalten als die Vorstellung von Bewusstlosigkeit, nichts schwerer als deren Unmöglichkeit.
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633)
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Der Realismus steht allgemein im Ruf, historisch nach den Religionen als Ernüchterung über die Menschheit gekommen zu sein.
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Die in religiöser Moral erzogenen Jugendlichen aber befreit er von jeglicher höheren Strafandrohung und wirkt wie eine Droge.
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Im Amoklauf allen Hass auf die anderen rauslassen und dann das eigene Leben beenden ist eine verlockende realistische Option.
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Amokläufer gelten als unbemerkte Kranke, ihre Taten als irrational und deshalb unverständlich. Die Hinterbliebenen sind schockiert und fassungslos.
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Auch Abschiedsbriefe, Tagebücher, Internetauftritte etc. der Täter, welche evt. sogar außerordentlich eloquent sind, ändern daran nichts.
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Die Menschen wollen ums Verrecken nicht einsehen, dass erweiterter Suizid von bestimmten philosophischen Standpunkten aus nur konsequent ist.
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Lebenshasser gibt es zu allen Zeiten und in allen Kulturen.
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Ob als Krieger, Märtyrer, Amokläufer, Selbstmörder oder als Asketen, Mönche, Philosophen, Künstler hängt stark davon ab, welchen dieser Lebensstile die jeweilige Gesellschaft begünstigt.
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Solange Lebensliebe zwangsverordnet und Lebenshass als Bösartigkeit oder Krankheit verfolgt wird, sind die übleren Karrieren wahrscheinlicher.
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636)
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Das Leben kann man verabscheuen und trotzdem – oder sogar deswegen umso mehr – darauf achten, möglichst keinem wehzutun.
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Wer das Hassenswerte das Liebenswerte hoffnungslos übersteigen sieht, handelt deshalb noch nicht böse – eher im Gegenteil.
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Aber Lebensverneiner werden gemieden, isoliert, verfolgt – und falls sie ausrasten, gibt das ihren Peinigern auch noch recht.
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Radikaler Konstruktivismus als postmoderne Zuflucht für antirealistische Subjektivisten kommt zwar ohne ein äußeres Sein aus, aber nicht ohne das Nichts.
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Alles Sein ist Bewusstsein – aber der Dualismus schleicht sich mit der Autopoiese ein, wo das Subjekt sich selbst erschafft und wohl auch wieder abschafft.
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Mangels Erfahrungen, die auf unbegrenztes Leben hindeuten, postuliert man ein begrenztes. Das Nichts gilt nur dort offiziell als unmöglich, wo der Nahtod noch alltäglich ist.
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638)
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Meine Nahtoderfahrungen sind Erlebnisse, auf die ich im Gegensatz zur großen Mehrzahl meiner NDE-Kollegen gerne verzichtet hätte. Weil sie mir die Unendlichkeit meines Daseins nahegelegt haben, wo ich mir seine Endlichkeit so sehr gewünscht hätte.
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Andererseits erschweren meine Nahtoderinnerungen evt. Selbstmordpläne aus Sehnsucht nach dem Nichtsein heraus. Falls mein Bewusstsein wirklich kein Ende hat, bleibt mir damit ein vorzeitiger Tod erspart, den ich bitter bereuen könnte.
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Verzwickt: meine Nahtoderlebnisse sagen zwar etwas aus, was zu erfahren mich todtraurig gemacht hat. Aber sollte ich nicht froh sein, dass ich es durch die NDEs auf sanftere Weise erfahren habe als ich es es durch einen evt. Suizid erfahren hätte?
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639)
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Philosophische Ver(!)allgemeinerungen sind vielleicht wirklich ein zu grober Akt der Ausweitung vom aktuell Entdeckten bzw. Erfundenenen aufs Ganze.
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Für Pythagoras gründete sich die Welt auf die arithmetisch idealen Zahlen, für Platon auf die geometrisch idealen Formen. Für die Monotheisten war Gott ein großer Baumeister. Für die Humanisten war die Welt Geist, für die Naturalisten ist sie eine Maschine etc.
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Die jungen Philosophen sehen das Leben als wild und stark, die alten als prekär und gefährdet. Sag mir, wo du persönlich gerade stehst, dann erklär ich dir deine "ganze" Welt.
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Am besten wäre, allen ginge es nur gut. Am zweitbesten wäre, es gäbe erst gar niemanden. Am drittbesten wäre, das Leid der Welt wäre gleichmäßig verteilt.
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Da aber nunmal Sein statt Nichtsein herrscht und die Welt ungerecht ist, fragt sich: lieber Täter oder Opfer sein bzw. welchen Kompromiss dazwischen finden?
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Oder fragt sich das nicht? Seltsam, wie wenig Gewissensbisse die fleißigen Täter haben. Die Krone der Schöpfung macht sich alles untertan und lächelt sozial.
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641)
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"Jeder ist ein Gewinner" – so lügen sich Optimisten die Welt schön.
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"Wettbewerb" – so klingt der Kampf des Lebens nach einem Spiel.
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Weitergedacht wird hier gerade von den "Fortschrittlichen" nicht.
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Paradox an postmoderner Toleranzforderung ist die angeblich einzige Ausnahme "Intoleranz gegen Intoleranz" – darauf wird ständig herumgeritten.
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Wer im Kampf der Minderheiten um Anerkennung aber wirklich aufgerieben wird – und das ganz unbeteiligt und unbemerkt – sind die Introvertierten.
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Emanzipation erfordere nunmal Aus-sich-herausgehen bis Laut-werden – das plappert zwar jeder nach, bedeutet aber Benachteiligung der Ruhebedürftigen.
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Gut sein erfordert zumeist nur, es gut sein lassen zu können.
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Aber die guten Cowboys sind ständig auf der Suche nach bösen Cowboys, um ihren heiligen Zorn an ihnen auslassen zu können.
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Den Rest des Zorns kriegen die Ruhigen ab, indem sie dazu genötigt werden, endlich auch gegen die Bösen aktiv zu werden.
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Umweltschutz klingt so aktionistisch – dabei müsste der moderne Mensch nur Konsum und Mobilität wieder einschränken, sprich zur Ruhe kommen.
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Der heutige Umweltbeauftragte sitzt jedoch unentwegt mit stressgeplagtem Gesicht am klimatisierten Einwegfläschchen-Buffet und im Flugzeug.
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Die Aktionisten wollen nicht wahrhaben, dass sie da den Teufel mit dem Beelzebub austreiben – ihr eigentlicher Angstgegner ist nämlich die Ruhe.
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Wenn Etwas nicht zu Nichts werden kann, wie Büchners Danton sagt, dann ist leider alles ewig.
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"Nichts ist unmöglich" – eine frohe Botschaft für Optimisten, aber für Pessimisten wie mich die schlimmste.
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"Alles ist möglich" – das klingt schon wesentlich besser, denn "alles" beinhaltet ja auch das Nichts, oder?
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Alte Religiosität durch moderne Wissenschaftlichkeit ersetzen? Auf die Endlichkeit des Bewusstseins zu vertrauen ist nicht wissenschaftlich, sondern religiös.
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Aufgrund ihrer eigenen Prämissen kann die Wissenschaft keine Antworten auf die großen Lebensfragen geben – vom Partikularen aufs Ganze zu schließen ist illegitim.
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Wissenschaft ist spezifisch-komplexe Systematik, Religion allgemein-einfacher Trost. Ihn aus Astronomie oder Hirnforschung schöpfen zu wollen ist ein Kategorienfehler.
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Optimistische Idealisten (A) glauben an ein schönes und ewiges Leben, optimistische Realisten (B) an ein schönes aber endliches – von beiden gibt es viele.
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Pessimistische Realisten (C) glauben an ein hässliches aber endliches Leben – sie machen Therapien in Richtung B oder erwarten bzw. beschleunigen ihren Tod.
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Pessimistische Idealisten (D) wie ich glauben an ein hässliches und unendliches Leben – wir sind am seltensten, dabei ist es von C nach D kürzer als von C nach B.
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648)
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Mehr noch als Angst ist es Wut, welche mir die Ruhe nimmt. Nicht einmal über besondere Begebenheiten, sondern über den Alltag, z.B. die allgegenwärtige Werbung.
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Menschen preisen Produkte an, geben sich überzeugt. Jeder weiß, dass diese Begeisterung gekauft ist, und doch quillt unsere Welt von dieser Heuchelei über.
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So tun als ob ist unverzichtbar für fast jede professionelle Betätigung, die Verweigerung aalglatter Schauspielerei gilt bei Erwachsenen als Entwicklungsstörung.
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Obwohl der individualistische Zeitgeist stur das Gegenteil behauptet: wenn mich ein einzelner Mensch wütend macht, dann triggert er zuallermeist nur als austauschbarer Auslöser bzw. typischer Vertreter des Lebens bzw. Systems meine Wut auf eben dieses.
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Und diese Wut auf Leben und System steht m.E. auch nicht wiederum für die Urwut aufs familiäre Umfeld, wie die Psychologie seit Freud so genau zu wissen meint. Ich unterstelle umgekehrt der Psychologie, dass sie das Leben als Ganzes auf Kosten der Einzelnen hochzuhalten sucht.
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Warum sollte ich Vater, Mutter, Freunden, Feinden etc. unterstellen, die Ursache meiner Wut zu sein? Das Leben ist wie es ist – und seine Protagonisten allesamt nur sein klägliches Produkt. Das eigentliche Problem ist von immenser Größenordnung.
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650)
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Ruhelosigkeit bis Wut resultieren u.a. aus dem schmerzhaften Verlust menschlicher Nähe, wie er mit dem Erwachsenwerden zwangsläufig einhergeht.
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Körperliche, seelische und zuletzt auch geistige Geborgenheit werden mit zunehmendem Alter immer seltener, an ihre Stelle tritt förmlicher Smalltalk.
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Eiferer, die fremden Leuten ihre Botschaften von drohenden Katastrophen etc. aufdrängen, bekämpfen damit eigentlich die Floskelei übers Wetter.
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651)
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Wo jemand von der heute üblichen realistischen bzw. materialistischen Weltanschauung abweicht, da tut er es aufgrund seiner überkommenen religiösen Erziehung oder aufgrund seiner allen realistischen Erklärungen widersprechenden "übernatürlichen" Erfahrungen aus erster Hand.
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Auch unter der konstruktivistischen Annahme der Möglichkeit kreativster Interpretation von Sinnesreizen im Falle aussetzender bzw. widersprüchlicher Körperwahrnehmung überzeugen mich meine Nahtoderlebnisse weiterhin von einer immateriellen Welt auf Basis des Bewusstseins.
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Vielleicht haben Inquisition & Co. die "Ungläubigen" ja auch deshalb durch Folter an den Rand des Todes bringen wollen, um derart ein tieferes Erleben bei ihren gepeinigten Opfern zu provozieren. Denn je ungestörter ein Körper funktioniert, desto normaler gleich realistischer eingestellt ist auch der Geist.
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652)
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Unglaublich, wie dominant die im Krieg aufgewachsene Generation ist. Alle großen Entwicklungen scheinen auf sie zugeschnitten.
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Zuerst war Deutschland ihr Land des Aufbaus, dann ihres industriellen Wohlstands mit protzigen Autos etc. – und jetzt, wo die Leute alt und reich sind, wird es das Land der aufwändigsten Medizintechnik.
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Nur historisches Glück? Oder Früchte einer harten Kindheit, welche die Neokonservativen am liebsten wieder einführen wollen?
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Bewusstseinsmonismus als dem Materialismus gegenüberliegendes Extrem: die ganze Welt empfinde ich als bewusste Einheit, in der ich mich von nichts so weit distanzieren kann, dass es mich nichts mehr angehen muss. Meine Umwelt, ob Menschen, Tiere, Pflanzen oder Dinge sind Teil dieses Bewusstseins, ob ich will oder nicht – und i.a. will ich nicht.
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Materialisten versuchen m.E. genau aus dieser Unwilligkeit heraus, selbst ihr Innerstes noch als materielle Struktur von außen zu betrachten – als etwas, das sie eigentlich nichts angehen muss. Als etwas Dingliches, dessen Struktur sich früher oder später sowieso erledigen wird und somit nurmehr amüsiertes akademisches Interesse verdient.
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Fragt sich nun, was übertriebener ist: die ganze Außenwelt in (m)ein Bewusstsein zu packen oder das Bewusstsein als randständige bis unnötige Eigenschaft der materiellen Außenwelt zu begreifen. Falls die Materialisten recht haben, erlebe ich ihren Triumph eh nicht mehr, da der Bau eines Maschinenbewusstseins so oder so in den Kinderschuhen steckt.
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Monismus im weiteren Sinne: alles hat denselben Urgrund, z.B. Materie oder Geist. Monismus im engeren Sinne: alles bildet eine Einheit, alles hängt mit allem zusammen bzw. voneinander ab.
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Der Emergentismus z.B. meint, das Bewusstsein sei eine von seinem stofflichen Grund so unabhängige Form, dass sie auch auf anderer stofflicher Basis möglich wäre – also ein materialistischer Monismus im weiteren, nicht im engeren Sinn.
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Da ich nicht mehr an die Möglichkeit völliger Trennbarkeit der Phänomene voneinander glaube, bin ich ein Bewusstseinsmonist im engeren Sinne. Alles ist immer bewusst, zumindest mittelbar. Das Sein bin ich – leider.
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655)
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Entführung durch Außerirdische – bei derartigen Behauptungen ihrer Klienten vermuten Therapeuten gerne sexuellen Missbrauch oder andere Traumata in der frühen Kindheit.
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Aber die außerirdischen Forscher stellen mit den Versuchsmenschen in ihren Raumschifflabors das Gleiche an wie die menschlichen Forscher mit den Versuchstieren in ihren irdischen Labors.
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Könnte es sich bei solchen Erzählungen nicht auch um einen Ausdruck unserer kollektiven Schuld gegenüber den Tieren handeln? Also ich fühl mich schuldig, auch ohne Alien Abduction.
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Beschreibungen von Nahtoderlebnissen und Entführungen durch Außerirdische zeigen auffällige Gemeinsamkeiten: helles Licht, Tunnel bzw. Traktorstrahl, schemenhafte Wesen u.v.m. Aber ersteres wird i.a. als positiv erlebt, letzteres als negativ. (Und mit negativ erlebter NDE bzw. positiv erlebter Alien Abduction ist man doppelter Außenseiter.)
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Vielleicht interpretieren Menschen dieselben ungewöhnlichen Empfindungen mit dem Rüstzeug einer traditionell-religiösen Erziehung eher positiv, mit dem einer modern-(pseudo)wissenschaftlichen Erziehung eher negativ. Oder man darf Gott einfach nichts Negatives unterstellen, Aliens hingegen schon.
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Wieso richtet sich dies derart nach gesellschaftlichen Vorgaben, während die Unterdrückung solcher "verrückten" Erinnerungen trotz großer gesellschaftlicher Repressionen nicht zu funktionieren scheint? Ich denke, sie funktioniert – die Dunkelziffer der Nahtoderfahrenen, Entführten und vergleichbar Verrückten dürfte immens sein.
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Träume sind genialisch zu Ganzheiten zusammengesetzte aktuelle und vergangene Empfindungen. Jahre- bis jahrzehntelalte Erlebnisse, kürzliche Eindrücke aus dem echten Leben, Kino oder Fernsehen, sowie die Wärme der Bettdecke, die Enge des Schlafanzugs und das Weckerklingeln fügen sich wie Puzzleteile zu seltsam stimmigen Geschichten.
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Bei Nahtoderfahrungen ist es ähnlich, aber noch viel eindrucksvoller: durch in höchster Panik blitzschnell aus fernsten Winkeln abgerufene Erinnerungen, durch Veränderung oder Ausfall großer Teile der Innen- wie Außenwahrnehmung u.a. konstruiert das Bewusstsein überwältigend paradiesische oder höllische Welten, außerkörperliche Reisen durchs All usf.
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So lässt sich vieles unglaublich Anmutende erst mal realistisch erklären. Aber wer länger über solche außerordentlichen Erfahrungen nachdenkt und die absolute Macht unserer "Interpretationen" des Innen- und Außenlebens erkennt, dem fällt die angeblich zugrundeliegende objektive, reale Welt zusammen wie ein zu alten naiven Zeiten gebautes Kartenhaus.
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658)
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Träume lassen sich im anschließenden Nachdenken darüber analysieren, auflösen in ihre realsten Bestandteile, desintegrieren in bzw. wiedererkennen als Ausschnitte des Wachzustands. Das Verwunderlichste bleibt trotzdem die Kreativität ihrer Synthese zum zusammenhängenden Traum. Denn was z.B. ein Künstler in der realen Welt auch mit den neuesten technischen Mitteln der Collage zuwege bringen mag, ist nichts dagegen.
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Jahrzehnte nach meinem ersten Nahtoderlebnis meine ich nun langsam, dessen reale Ingredienzien herauspräpariert zu haben. Obwohl es seltsam anmutet, dass ich diese im Alter von drei Jahren schon so genau in mein Gedächtnis aufgenommen haben konnte. Unglaublich aber bleibt die Synthese dieser Teile zum Ganzen. Das Ganze ist nicht nur mehr als die Summe seiner Teile, es ist etwas ganz anderes. Ach, die Realteile sind gegen die imaginative Qualität des Gesamterlebnisses vernachlässigbar.
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Selbst realistisch betrachtet bleibt es ein Wunder. Alles als Ich-Punkt von oben – und zugleich auch von allen Seiten – wahrzunehmen, weil man den eigenen Körper nicht spürt. Die Gedanken Umstehender lesen zu meinen, auch wenn es evt. nur die eigenen, in sie projizierten Gedanken sind. Wer so ein Erlebnis einmal hatte, kann über selbstherrliche Hirnforscher nur müde lächeln, die sich auf dem besten Weg zum Bau eines Maschinenbewusstseins wähnen. Denn die sind die eigentlich Halluzinierenden.
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659)
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Wie es wohl ist, ein Embryo, ein Neugeborenes, ein Baby zu sein?
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Hormonbenebelte Eltern meinen wohl immer, es müsse großartig sein.
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Ich denke, dass man die Erinnerung daran aus gutem Grund verdrängt.
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660)
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Die Natur hat uns tyrannisiert, jetzt tyrannisieren wir sie?
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Natur ist, dass immer einer die Oberhand hat – ohne Herrschaft geht nichts.
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Wenigstens gibt es die Theorie des Nichts. Da heißt es bescheiden sein.
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661)
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Wenn zeitgeschichtliche Veteranen zu letzten Interviews ins Fernsehen gebeten werden, scheinen sie nurmehr Anekdoten abliefern zu wollen, welche die eigene Person mit noch berühmteren in Verbindung bringen.
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Dazu ist keine Frage des Interviewers zu weit weg, keine Ein- bzw. Überleitung zu lang – und wenn dem Erzähler die Augen feucht werden, weiß man: gleich kommt die Stelle, wo der noch Berühmtere was Nettes zu ihm sagt.
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Lehrt uns das etwas? Werden nur die Obrigkeitshörigen berühmt, alle Berühmten irgendwann sentimental? Erscheinen sachdienliche Informationen mit zunehmendem Alter unbedeutend gegen persönliche?
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662)
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Realisten halten das Bewusstsein nur für eine letzte innere Projektionsfläche, auf die ihr sinnlicher Wahrnehmungsapparat winzige Ausschnitte der riesigen Außenwelt abbildet.
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Idealisten halten die Außenwelt – falls es überhaupt eine gibt – nur für vergleichsweise unbedeutende Peripherie, der Löwenanteil des Seins ist ihnen der innere Prozess.
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So will der Realist die Außenwelt dann auch bereisen, seine Sinnesorgane in jedes Land rund um den Globus tauchen. Der Idealist aber hat seine ganze Welt von vornherein daheim.
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663)
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Kirche befördert traditionell die Innerlichkeit beim gemeinen Volk, um äußere Experimentierfreudigkeit und individuelles Machtstreben kleinzuhalten. Da ist es eine wirksame Methode, die Kinder möglichst früh mit Himmel und Hölle zu indoktrinieren.
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Denn wem seine jungfräuliche Phantasiewelt so ruckartig aufs Extremste aufgespreizt wird, der hat den Rest seines Lebens genug damit zu tun, diese wenn auch sehr theoretische Art der Vergewaltigung zu verarbeiten – und bleibt ohnmächtig.
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Die nachmoderne therapeutische Konzentration aufs Körperliche tut zur staatlichen Legitimation der Kirche ein Übriges, von jener frühkindlichen geistigen Programmierung abzulenken. Ecclesiogene Beschädigung ist so häufig wie die Diagnose selten.
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Am unentbehrlichsten machen sich Berufszweige, welche die von ihnen selbst angerichteten Schäden auch nur selbst wiedergutmachen könnten.
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Hat ärztlicher Übereifer deine Gesundheit ruiniert, kennen Ärzte die besten Heilmittel. Du hörst (k)eine Entschuldigung und wirst noch tausendmal Danke sagen.
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Hat die Werbung für Konzentration aufs Monetäre ein Gemeinwesen erst in den Bankrott getrieben, knien alle vor den Wirtschaftsexperten.
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665)
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Schüler, denen ihr Leben in einer Hackordnung präpotenter Großkotze zur Hölle gerät, kriegen sogar noch in den Texten der angesagtesten Rap-Songs offiziell bestätigt, dass ihre Peiniger genauso sind, wie alle sie haben wollen.
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Und ich meine keine extremen Underground-Labels, sondern die amtlichen MTV-Charts. Verherrlichung des darwinschen Überlebenskampfs im urbanen Dschungel ist gesellschaftlich akzeptiert bis erwünscht.
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Zugleich wird der Glaube an das Ende im Tod gepredigt. Wieso sollte ein Schwacher da nicht in einem blutigen Rachefeldzug gegen das verhasste System abtreten? Argumente gegen Amok laufen nur im Seniorenprogramm.
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666)
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Amokläufer, die wahllos erschießen, wer ihnen vor den Lauf kommt, können es wohl kaum persönlich meinen. Sie zielen eigentlich auf das soseiende Leben schlechthin, auf das System.
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Ein weiteres Argument für den postmodernen Individualismus? Amokläufer als Rückständige, die noch einem ideologischen Denken in Systemzusammenhängen verhaftet sind?
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Die Tatsache, dass das Leben systematisch scheiße ist, lässt sich per Individualismus nicht abschaffen. Der Wut ihre Angriffsfläche wegzudefinieren ist nur ein Schildbürgerstreich.
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Wer Psychotherapie will – und ihr Gewolltsein muss der Patient als ersten Therapieschritt schriftlich bestätigen – gesteht damit als Voraussetzung ein, dass sein Problem ein individuelles und eine Lösung bei ihm selber zu suchen sei. Also dass er sich nicht etwa für einen noch verwunderlich Intakten hält, der unschuldig in einer Hölle namens Leben brät.
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Umgekehrt macht die pessimistische Erkenntnis, diese Welt wahrheitsliebenderweise nur als prinzipbedingt schlecht ansehen zu können und damit das Glück der optimistischen Leugner sowieso aufgeben zu müssen, eine Psychotherapie überflüssig. (Falls es dabei nicht nur ums Trainieren von Coping-Strategien für prinzipiell bereits Resignierte gehen soll.)
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Was in Gottes Namen zumindest explizit verkehrt wurde – die Schöpfung ist gut, du bist sündig! – wird mit der Moderne immer intrinsischer. Postmoderner Individualismus mit seiner Tabuisierung genereller Kritik ist päpstlicher als der Papst, ist doppelt verkehrt, weil er die Schuldzuweisung ans Individuum auch noch in dessen Namen ausspricht.
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668)
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Als Pessimist sehe ich grob gesagt nur zwei Möglichkeiten: die des bösen Täters und die des guten Opfers.
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Optimisten behaupten aber steif und fest, dass es auch den guten Täter gebe – und alle wollen gern einer sein.
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Moderne Psychologie leistet Schützenhilfe mit der zweiten Erfindung: dem Passiv-Aggressiven als bösem Opfer.
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669)
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Wie der psychisch gesunde Mensch heute eingestellt sein sollte, das definiert die Psychologie als eine nach Objektivität strebende Wissenschaft.
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Und eben diese Psychologie fußt über Freud auf Nietzsche, seine Philosophie ist derart anonymisiert zu kaum überschätzbarer Macht gelangt.
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Kein Wunder, dass ein Denken à la Schopenhauer, gegen welches Nietzsche opponierte, heute schnell im Verdacht steht, psychisch krank zu sein.
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670)
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Theodizee – das Christentum setzt seinen Gott ins Unrecht, indem es ihn eine Welt aus dem Nichts erschaffen lässt, die schon nach kurzer paradiesischer Phase ins Leid abkippt.
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Biodizee – der Realismus setzt mit der Behauptung endlichen Lebens die Eltern ins Unrecht, weil deren Kinder niemals zur Existenz gelangt auch niemals hätten leiden müssen.
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Hedonedizee – ich gehe von einem unendlichen Leben aus, wo nur im Unrecht ist, wer etwas für andere Schädliches nicht unwillkürlich in Notwehr, sondern willkürlich zum Vergnügen tut.
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671)
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Verwunderlich, dass es nicht mehr moralistische Realisten gibt, welche auf die Idee verfallen, alles Leid durch Zerstörung zu beenden.
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Im Übergang vom traditionellen Gutmenschentum zum modernen Materialismus wäre so eine Überlappung doch naheliegend.
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Oder bewirkt diese Einstellung tatsächlich einen großen Anteil aller Gräueltaten, ohne dass wir und evt. sogar die Täter selber davon wissen?
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672)
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Gütige "Todesengel" – ein Phänomen medizinischer Berufe. Ärzte, Pfleger etc. töten Siechende aus Mitleid, ohne um deren Erlaubnis zu fragen bzw. ohne dass noch deren Fähigkeit zu unmissverständlicher Zustimmung bestünde.
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Tagtäglich sehen sie großes menschliches Leid. Ihr Drang zum autoritären Helfen stammt oft noch aus einer religiösen Erziehung, ihre Ausbildung dagegen legt ihnen schon die materialistische Todesauffassung nahe.
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Schließlich verfügen sie über das Wissen und die Mittel zur sanften Tötung. Zumindest letztere sind der Allgemeinheit ja vorenthalten, woraus sich für sie nachgerade ein gesellschaftlicher Auftrag zur Verordnung von Euthanasie ergibt.
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673)
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Gibt es Systeme, die nur funktionieren, solange die Beteiligten nicht wissen wie?
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Wird Religion wirkungslos, wenn man dazusagt, sie sei für die Moral erfunden?
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Und bricht unser Bewusstsein in sich zusammen, sobald wir es mal verstehen?
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674)
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Wer den Fortschrittsaktivismus des Menschen auch ethisch rechtfertigen will, muss v.a. die Frage beantworten: was haben die dafür ausgebeuteten Lebewesen davon?
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Solange die armen Menschen, die Tiere, die Pflanzen und womöglich sogar die Dinge nur Nachteile von unserer Neugier haben, verbietet sich die Moderne da nicht von selbst?
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Deswegen vielleicht die Erzählungen vom zukünftig notwendigen Umzug auf andere Planeten – um einst etwas zurückgeben zu können. Aber was nutzt das den jetzt Geopferten?
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675)
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Philosophie ist streng genommen voraussetzungslos. Aber wer setzt schon alles aufs Spiel? Bereits diese Redensart ist widersinnig, da es dann gar kein Spiel mehr sein kann, sondern todernst wird.
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Mein Denken kreist um Meinungen, die ich kaum je zur Disposition stelle, z.B. dass der Mensch sein ethisches Streben nicht aufgeben soll und dass wegen der Aussichtslosigkeit desselben die Welt schlecht ist.
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Insofern bin ich philosophierender Moralist, Pessimist usw., nicht etwa moralistischer, pessimistischer usw. Philosoph. Philosoph ist erst, wem Voraussetzungslosigkeit zum Wichtigsten geworden ist.
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676)
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Außenwelt wie Innenwelt sind uns Baukästen – ihre Bausteine rekombinieren wir andauernd, nach Ganzem strebend.
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Selbst schlafend tun wir dies in unseren Träumen, noch vergeblicher an losen Enden werkelnd als im Wachzustand schon.
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Dekonstruktivisten nehmen neue Bauteile her, die sie durch Ausschlachten alter Konstrukte gewinnen, aber sonst: siehe oben.
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677)
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Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts, warum ist nicht nur tote Materie, warum ist nicht nur instinkthaftes Leben ohne Plan und Reue?
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Kreationisten, Materialisten bzw. Physikalisten, Biologisten etc. wollen den Ausgangszustand nicht wahrhaben: das menschliche Bewusstsein.
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Nennen es einen hochspeziellen Fall im leeren Nichts, im toten All, im tierischen Dschungel – als wäre seine Unhintergehbarkeit zu bestreiten.
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678)
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Das echte Problem: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt" (Schiller).
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Die falsche Lösung: "Zum Streiten gehören immer zwei – schweigt einer, ist der Zank vorbei." (Sprichwort)
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Sobald einer extrovertiert und dominanzgeil ist, wars das mit der schönen Ruhe – denn entweder es herrscht Lärm oder Zwang.
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679)
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"Süüüß!" – erst ein putziges Haustier streicheln, dann eines zu Mittag essen und dabei keine Verlogenheit spüren: so ist der Mensch.
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Die Balkonpflanzen pflegen, gar zu ihnen sprechen – und dann Wandern gehen und dabei Tausende zertreten, ohne einen Gedanken daran.
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Zum schönen Leben muss man Herr sein wollen und dürfen, erst bei den "edlen" Menschen, Tieren und Pflanzen anfangen zu fühlen.
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680)
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Inzwischen haben sich alle dran gewöhnt: Böcke haben die Gärtnerrolle übernommen.
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Stets nagelneu gekleidete Yuppies feixen, die CO2-Bilanz eingeflogener Äpfel sei besser.
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Bald landen noch die technikarm lebenden Ökos als uneinsichtige Umweltsünder im Knast.
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681)
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Optimistische Realisten halten das Leben für schön, aber endlich – und unterstellen denen, die es für ewig halten, wahnhaftes Wunschdenken.
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Pessimistische Idealisten wie ich halten das Leben für hässlich und unendlich – und unterstellen denen, die es für endlich halten, wahnhaftes Wunschdenken.
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Volkstümlich gibts nur Himmels- und Nichtsgläubige – und wer die Endlichkeit des Lebens anzweifelt, wird umstandslos ersteren zugeordnet. Bitter für Pessimisten, aber wir sind ja Kummer gewöhnt.
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Religion ist nichts anderes als eine tröstliche Erzählung, die ausreichend Anlass zur Hoffnung gibt, dass Leiden nicht immer unerträglicher wird, sondern irgendwann sein Maximum erreicht oder gar völlig aufhört.
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So dient auch die moderne wissenschaftliche Weltanschauung sehr wohl als Religion, da sie den meisten ihrer Anhänger ein mit dem körperlichen Tod einhergehendes Ende des Leidens plausibel zu machen versteht.
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Interessant wäre zu schauen, wie viele Gläubige ihr noch blieben, führte sie dereinst den Nachweis, dass individuelles Leid gleich der physikalischen Entropie zwar anwachsen, aber nie kleiner oder null werden kann.
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Kleine Ungenauigkeiten und Fehler ändern nichts am Wesen einer Aussage.
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Wer solche aufspürt und damit pars pro toto alles verwirft, will uneinsichtig sein.
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Schuld an solcher Erbsenzählerei ist u.a. das hehre Wissenschaftsideal.
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684)
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Qualia – einfach-typische Sinneseindrücke z.B. in der freien Natur, welche bei näherer Überlegung doch auf komplexesten Wahrnehmungsmustern beruhen.
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Erst seit ich versuche, das Bewusstsein auch wissenschaftlich zu sehen, kann ich etwas mit japanischen Haikus anfangen, wie ein Basho sie geschaffen hat.
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Ein Frosch springt in den alten Teich, na und? Nein – die 17 Silben zaubern ein reiches Stillleben, an dem man lange fasziniert verweilt. Life in a nutshell.
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Haben auch Maschinen ein Bewusstsein?
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Ist es ethisch o.k., sie zu bauen bzw. einzuschalten? Und wenn ja, sie auch wieder abzuschalten bzw. zu verschrotten?
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Ist Shannon's ultimate machine, die sich nach dem Eingeschaltetwerden selber wieder ausschaltet, ein Symbol für den Auftrag des Menschen resp. der Menschheit?
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686)
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Das Nahen des Todes macht große Angst – aber die Gewissheit unwiderruflicher Unsterblichkeit wäre evt. noch schlimmer.
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Zwischen der Nichtigkeit einerseits und dem Sein in Ewigkeit andererseits liegt traditionell weltanschauliches Brachland.
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Vielleicht sollte sich die Lebenserwartung auf diese Mitte einpendeln – aber wie lang ist der halbe Weg zwischen jetzt und immer?
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687)
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Reduktionisten heißen heute die Materialisten, weil sie Bewusstsein nicht als etwas eigenständiges "Höheres" sehen, sondern auf Materielles zurückführen.
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Eigentlich stünde die Bezeichnung eher den Bewusstseinsmonisten zu – sie glauben an keinerlei vom Bewusstsein zu trennendes Dasein.
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Als Mehrheit beanspruchen aber erstere trotz ihres Glaubens an eine extra bewusstlose Objektwelt die coole und damit heiß begehrte skeptics corner.
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688)
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Mein Dasein ist mir das Gewisseste, obgleich ich es v.a. als leidvoll empfinde.
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Mittlerweile entwickeln sich die Menschen aber zu Naturalisten, welche so fest an ihre Theorien von Urknall, Evolution usw. glauben, dass ihnen ihre eigene Existenz als das kosmisch Unwahrscheinlichste vorkommt.
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Solche Verkehrung im Auffassen von Ich und Welt sehe ich als eine Form von Wahnsinn an, die von verdrängtem Nichtseinwollen herrührt.
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689)
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"Alt werden ist nichts für Feiglinge!" (Bette Davis) – mit solchen z.B. in der Altenpflege gängigen Sprüchen werden Suizidgedanken geächtet und Selbstmörder diskriminiert.
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Eher unbemerkt setzt diese Behauptung als Tatsache voraus, dass man im Tod dann endlich alles Leid hinter sich habe. Darin sind sich Himmels- und Nichtsgläubige einig.
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Und eben in letzterem steckt die eigentliche Feigheit unseres Zeitalters: Verharmlosung des Todes gegenüber dem Altern und Sterben. Die Idee der Hölle wird hektisch verdrängt.
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690)
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Industrie von lateinisch industria, der Fleiß, ist auf globale Expansion ausgerichtet und damit das Gegenteil von Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Dem echten Öko muss es weiterhin darum gehen, lokal zu leben und die Natur möglichst in Ruhe zu lassen.
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Selbst Unöko-Konsummuffel, die ihr halbes Leben im Uralt-Benz durchs Dorf heizen, sind wahrscheinlich ein gutes Stück unschädlicher als umweltbewusste Wirtschaftsankurbler, die zwischen grünem Flieger und Neuwagen mit Umweltsiegel hin und her hetzen.
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Öko-Yuppies erdreisten sich mittlerweile gar, den Weltmarkt gegen den regionalen auch noch ökologisch schönzurechnen, nur den Treibstoffverbrauch des Warentransports bedenkend – das gigantische Verkehrsnetz gilt ihnen als gegeben.
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691)
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Künstlicher Urknall, künstliches Leben, künstliche Intelligenz, künstliches Bewusstsein – auch in der experimentellen Naturwissenschaft bedeutet Moderne viel mehr das Wachstum der Visionen als das der Erfolge.
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Reizverarbeitung und Erkenntnis, Gehirn und Geist – heute verwenden Neurowissenschaftler diese Begriffe z.T. so synonym, dass für ihre aufgeregten Jünger deren Überführung ineinander unmittelbar bevorsteht.
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Mag sein, dass Wissenschaftler i.a. bescheidener sind, zuhause sind im experimentellen Klein-Klein. Aber auch sie müssen zugeben, dass ihre Profession dort am meisten anrichtet, wo sie am unbescheidensten auftritt.
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692)
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Kollektivsuizid der Menschheit wäre ethisch nur zulässig, falls alle einverstanden sind – in so existentiellen Fragen genügte keine Mehrheit, vielmehr hätten Minderheiten ein Vetorecht.
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Zum einen müssten alle ihr Leben für schlechter als nichts halten, zum andern daran glauben, dass eine Vernichtung ihres Bewusstseins realisierbar sei. Keine so abwegige Dystopie...
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...sofern man nur an mündige Menschen denkt. Unmöglich, es abhängigen Menschen, Haustieren etc. rechtzumachen, die nicht entscheidungsfähig sind bzw. auch im Elend weiterleben wollen.
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693)
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Suizid als Entscheidung des lebensverneinenden Einzelgängers gegen die lebensbejahende Allgemeinheit ist naheliegend.
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Der suizidalen Gruppe aber bedeutet ein einzelner Suizid schon Fahnenflucht, macht die Leidensgemeinschaft noch leidender.
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Weiterleben, gar Kinder kriegen, bis wir erkenntnistheoretisch wie technisch den sicheren kollektiven Untergang hinbekommen?
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694)
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Krieg, verbreitete Suchten, lebensfeindliche Technisierung etc. – offenbar gibt es viele holprige Versuche kollektiven Suizids.
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Lebensmüden kann es aus gutwilligen wie böswilligen Beweggründen ein Anliegen sein, dass alle gemeinsam in den Tod gehen.
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Ungeduldige gehen dilettantisch voraus, Gründliche aber bleiben, bis endlich die reibungslose Strömung gen Null eintritt.
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695)
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Bewusstseinserweiterung scheint mir am sinnvollsten, wo sich das Erkenntnisstreben aufs Bewusstsein selbst richtet.
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Das Leben nur in immer größerer Fülle wahrnehmen zu wollen, halte ich als Pessimist für die verkehrte Richtung.
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Zwar tippe ich eher auf ein prinzipielles Geheimnis nach Art der Mystik als auf ein letztes Geheimnis nach Art der Naturwissenschaft, dennoch forsche ich an meinem Bewusstsein – know your enemy.
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696)
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Psycherl wie ich tendieren konsequenterweise zum Panpsychismus.
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Descartes' Dualismus spaltete von der beseelten Menschenwelt eine rein mechanische und somit ohne Skrupel auszunutzende Tier-, Pflanzen- und Dingewelt ab. La Mettrie verwarf die immaterielle Seele dann ganz und erklärte auch den Menschen zur Maschine.
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Jahrhunderte später müssen wir über die Bilder der mechanischen Ente bzw. des Menschen als Industriepalast unwillkürlich grinsen, sie offenbaren die Hybris der Lebensingenieure. Erzählen aber die Neurowissenschaftler vom Computer Gehirn, lauschen alle ernst und andächtig – die materialistische Religion ist ihren Vorgängerinnen ebenbürtig an zeitgenössischer Überzeugungskraft.
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697)
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Philosophie greift im Gegensatz zur Literatur nicht bestimmte einzelne Menschen bzw. deren Lebensgeschichten heraus, sondern räsoniert über den Menschen bzw. das Leben schlechthin. Eigentlich nimmt sie damit bereits Partei gegen eine individualistische Weltanschauung.
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Weil konkret Persönliches – selbst wenn es fiktiv ist und damit wieder fürs Allgemeine steht – die Leute viel mehr zu fesseln vermag, stehen literarische Erzählungen aus dem Leben viel höher in der Gunst der Leser als abstrakte philosophische Abhandlungen über das Leben.
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Am beliebtesten sind deshalb noch jene Bücher des Philosophieregals, welche die Philosophen biographisch präsentieren. Zu schwer, die großen Denker mit Gegenargumenten auf ihrem Gebiet auszuhebeln – Sockelsturz mittels ihrer privaten Unzulänglichkeiten geht leichter.
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698)
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Literaten schöpfen aus ihrem eigenen außergewöhnlichen Leben – oder haben die Phantasie, ein fiktives glaubwürdig und eindrucksvoll genug in Szene zu setzen.
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Philosophen finden das gewöhnliche Leben spannend genug. Wundern sich dermaßen über das Leben an sich, dass seine individuellen Akzidenzien in den Hintergrund treten.
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Traurig, wie man sich heute mehr denn je nach der besonderen Persönlichkeit (umsonst) verzehrt. Mir evident: mein Leben und das der Superstars sind zu 99% gleich (schlimm).
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Am skeptischsten weil am reduziertesten ist es doch wohl gedacht, an keinerlei Hypothese mehr festzuhalten jenseits des allgegenwärtigen Lebens, das sich Individuum für Individuum zum Ausdruck bringt.
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Antithetischer Trotz gegen das katholische Allgemeingültige, "kata-holos", was den philosophischen Zeitgeist gen Nominalismus, Individualismus, Partikularismus, Differenzialismus etc. treibt?
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Schopenhauer erweist sich hier m.E. als der erste und letzte große Philosoph, welcher das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet: Leben als allgemeines unentrinnbares Übel jenseits aller christlichen Dogmatik.
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700)
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Wer die ignoriert, welche es im Leben schlechter getroffen haben als er, den quält der blanke Neid auf die, deren Los besser ist als das eigene.
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Wer die Unglücklicheren aber wahrzunehmen beschließt, den plagt das schlechte Gewissen, da er sich seines unverdienten Vorteils bewusst wird.
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Wer jenes nicht mit der Gabe von Almosen beruhigen kann, dem bleibt die Einsicht, im Grunde ohnmächtig zu sein gegen das Schicksal Leben.
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701)
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Widersinnigerweise wäre es heutzutage recht individualistisch, sein Augenmerk auf das zu richten, was unser aller Leben gemein hat.
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Denn jeder schaut nur noch auf den Unterschied, welchen er machen kann; alle wollen unter allen Umständen außergewöhnlich sein.
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Beruhigend statt aufregend, das einzelne Leben als endliche Individuation des unendlichen All-Lebens aufzufassen. Und an Ruhe fehlt es.
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702)
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Die Empiristen haben die Rationalisten verdrängt. Ausprobieren geht schneller als Verstehen, Erfolg ist einfacher zu haben als Erkenntnis. Inzwischen genügt den Forschern das Wie, das Warum hält nur auf.
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Zumindest so lange, bis Risiken und Nebenwirkungen der experimentellen Produkte sich zeigen und ihren Opfern zu Ehren Aufklärung verlangen. Oder reicht auch da Nachbessern der Laborroutine?
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Erst denken, dann handeln – dieses Prinzip ist passé. Versuchspersonen, Versuchstiere etc. liefern immer publizierbare Ergebnisse, während die meisten Überlegungen sich ja doch nur im Kreis drehen. Just try and die.
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703)
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Suizid begeht, wer nicht mehr mitansehen will oder kann, was aus ihm wird bzw. nicht wird.
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Nimmt seine Entwicklung wieder in die eigene Hand, sie destruktiv beschleunigend.
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Glaubte er nicht an den Tod als leidfreie Zuflucht, bliebe nur konstruktiv oder passiv.
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704)
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Gelächter ist das hässliche Geräusch der Überlegenheit. Je größer die Horde, desto ausgelassener krakeelt sie.
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So fordert sie weithin hörbar freie Bahn, denn die Horde hält es für legitim, die Einzelnen vor sich kuschen zu lassen.
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Schert einer aus der Horde aus, rückt er oftmals – vom Erlebnis gemeinschaftlichen Vorrangs noch berauscht – anderen durchsetzungsfreudig auf die Pelle, bis er den Machtverlust bemerkt und sein forsches Grinsen sich zum entschuldigenden Lächeln mildert, unwillkürlich bedeutend: sorry, bis eben durfte ich ja noch.
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705)
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Der Weg ist das Ziel – leider. Viel lieber würde ich sofort im Nichts oder wenigstens im Paradies ankommen, aber ein Pessimist glaubt nicht an solche Endstationen.
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Der Weg ist das Ziel – wer den östlichen Satz heute im Westen ausspricht, meint aber wahrscheinlich dessen optimistische Umdeutung: Liebe den Prozess.
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Sicherlich kriegen die Menschen nie genug, aber diese Tatsache ins Positive zu wenden ist eine schwache Ausrede für das i.a. elend unbefriedigende Leben.
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706)
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In aller Stille innere Einkehr halten, ganz alleine über sich und die Welt nachdenken – das will heute niemand mehr.
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Und selbst wenn jemand wollte, wäre es immer schwerer möglich bei all der exaltierten Gemeinschaftlichkeit.
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Nietzscheanische Übermenschen gehen immer weiter aus sich heraus – und ihr Mut gen Außen gerät zur Flucht vorm Innen.
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707)
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Miniaturen bevölkerter Landschaften wirken meist seltsam in ihrer Idylle, weil sich die idealtypischen Figuren ungezwungen verhalten, obwohl ihnen maßstabsgetreu betrachtet extrem wenig Platz zur Verfügung steht.
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Kinderbücher, gestellte Werbefotografien etc. zeigen sie ausgelassen in winzigen Seen plantschend, die Eisenbahn knappest an ihnen vorbeifahrend usw. In groß und echt wären derart beengte Zustände die Hölle.
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Freiheit und Geselligkeit schließen einander realiter so konsequent aus, dass höchstens eines von beiden möglich ist, eher noch keines von beiden. Wer das mit zunehmendem Alter nicht wahrhaben will, bleibt eben klein.
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708)
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Zuerst das Individuum – und das Allgemeine leitet sich als Abstraktes daraus her? Wieso kommt dann philosophiegeschichtlich der Individualismus nach dem Kollektivismus? Denkt man nach Murphys Gesetz immer zuerst falsch?
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Seltsames Gefühl, als ein vom Individualismus Indoktrinierter nachdenkend zum Kollektivismus zurückzufinden, begreifend: entgegen Art. 1 GG bin ich nur oberflächlicher Auswurf der zugrundeliegenden Daseinsform Mensch.
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Leider unterscheidet die Begrifflichkeit der -ismen nicht zwischen Soll- und Istzustand. Gewiss sollte das Individuum nicht Knecht des Kollektivs sein – tatsächlich aber ist es ganz wesentlich genau das.
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709)
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Echte Glückspilze lieben das Leben und wünschen von ganzem Herzen, das Leben an und für sich möge so lange wie möglich fortdauern.
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Echte Unglückswürmer hassen das Leben und wünschen von ganzem Herzen, das Leben an und für sich möge so bald wie möglich aufhören.
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Viele Glückspilze würden gern Unglückswürmer Lebenskunst und -lust lehren – aber v.a. gegen Autorität sind Unglückliche allergisch.
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710)
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Eudaimonisten, welche das Glück für alle wollen, reagieren oft sauer auf Quietisten, welche das Nichts für alle wollen.
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"Tritt gefälligst für dich alleine ab!" giften sie den Unglücklichen an, wenn sie mit ihrer Allbeglückung nicht zu ihm durchdringen, verständnislos gegen seine Solidarität mit all den Unglücklichen nach ihm: individueller Selbstmord gibt nämlich der kollektiven Entwicklung eines Lebens statt, das fortwährend Unglückliche wie ihn gebiert.
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Glaubte ich an das realistische Nichts per Zerstörung, hielte ich die Arbeit am globalen Overkill für moralischer als den persönlichen Strick.
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711)
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Sinn meines Lebens ist es u.a., gegen das Leben zu plädieren.
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Christen, Nietzscheaner etc. hören nicht auf, es schönzureden.
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Schopenhauerianer i.S.v. explizite Lebensverneiner gibt's zu wenig.
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712)
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Christentum, Schopenhauer und Nietzsche haben gemeinsam, dass sie das Leben "verherrlichen" i.S.v. als herrschend anerkennen.
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Schopenhauer jedoch bewertet die Herrschaft negativ; das Leben – bei aller Aussichtslosigkeit seiner Abschaffung – wäre besser nicht.
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Auch die Gegenüberstellung des Nichts ist allen dreien gemein – aber nur Schopenhauer ersehnt das Nichts als bleibenden Zustand.
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(An dieser Stelle frage ich mich, wie ehrlich Christen und Nietzscheaner sind, beschließe aber, ihnen ihre Lebensbejahung zu glauben.)
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713)
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Das wesentliche Instrument der Lebensbejaher ist die Vertröstung auf ein zukünftiges Heil.
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Per aspera ad astra, sagen sie zu den Unglücklichen. Und zynischer: wer im Bemühen um sein fernes Glück nicht erst mal noch größeres Leid in Kauf nimmt, sei am Fortbestehen seines Unglücks selber schuld.
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Lebensverneiner wie ich sehen das Leid als unüberwindlich – eigene Schuld daran sehen sie jedoch mitnichten. Und dieser Trost ist nachhaltiger als jener der sich fortlaufend als falsch erweisenden Glücksverheißungen.
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714)
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Der ideale Suizid als Garantie des absoluten Nichts mag schon aus systematischen Gründen unmöglich sein.
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Das Streben nach seiner Perfektionierung aber kann dem Pessimisten zur Orientierung im Leben dienen.
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Kollektiv müsste dieser Suizid sein, philosophisch ebenso abgesichert wie wissenschaftlich und technisch.
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715)
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Misery loves company – aber wo Suizidale Gleichgesinnte suchen, da wehrt die Gesellschaft bereits den Anfängen.
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Einsamer Entschluss muss der Selbstmord nämlich nach Meinung der Lebensfrommen allermindestens sein und bleiben.
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Teilen und herrschen wollen sie, die gemeinschaftlich Glücklichen, indem sie die Unglücklichen vereinzeln und behandeln.
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716)
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Im Fernsehen zeigen sie rund um die Uhr Strahlemänner, die auf ein besonders hartes Lebenslos umso leistungsfreudiger reagieren – ihre Belohnung ist die gesellschaftliche Anerkennung.
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Als Buhmänner der Gesellschaft müssen Menschen in glücklicheren äußeren Umständen herhalten, die ihr Schicksal trotzdem beklagen bzw. mit dem Leben im allgemeinen sichtlich unzufrieden sind.
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Aber selbst lebenslange Konditionierung auf die Liebenswürdigkeit des Optimismus kann evt. schon durch kleine Splitter von philosophischem Pessimismus aufgehoben werden: die Wahrheit liegt auf Seiten der Buhmänner.
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717)
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Materialismus enthält lateinisch mater, die Mutter. Aber die Mutter wiederum steht v.a. für das Vitale – insofern sind die Materialisten, welche toten Stoff für den Urgrund halten, mit jenem Wort eher falsch bezeichnet.
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Quietisten wie ich wünschen sich ein immer gefestigteres und leidärmeres Dasein – wäre Materie tot i.S.v. bewegungs- und bewusstlos, wollte ich statt neuem Leben lieber alte Materie sein, wenn ich denn überhaupt sein muss.
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Vielleicht das grundlegende Gegensatzpaar des menschlichen Charakters: veränderungslustig und -unlustig. Nach meiner Erfahrung wäre ersteres eher weiblich, letzteres männlich. Materie – das Wort so verkehrt wie das Konzept.
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718)
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Die Glücklichen kriegen absichtlich Kinder, obwohl unheilbar Unglückliche darunter sind.
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Diese Unglücklichen müssen das hinnehmen, dem Fortbestand der Glücklichen zuliebe.
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Wieso sollen die Unglücklichen für etwas leiden, woran sie nicht teilhaben können?
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(So müssten zumindest unglückliche Realisten denken, weil ihnen das Nichtsein möglich scheint. Falls aber das Sein muss, dann evt. am besten als Mensch?)
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719)
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Die Frauen werten es nun schon jahrelang als Sieg, wie die Medien sie mit den Macho-Eigenschaften der Männer ausstatten.
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Tatsächlich gestehen sie damit zu, in ihrer Entwicklung den Männern hinterherzuhinken, sie stempeln sich selber zum defekten Geschlecht.
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Softie-Männer, nun allein in ihrer einst beispielgebenden Sanftmut, säumen den Weg der Machismas als Punchingbälle und Lachnummern.
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720)
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Das wahrhaft Skandalöse am Selbstmord ist für mich, dass er heutzutage regelmäßig im Denkmodus eines nahezu völlig unreflektiert angenommenen Materialismus stattfindet.
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Menschen, die sich selbst für areligiös halten, sterben von eigener Hand im felsenfesten Glauben an das Nichts im Tod. Oft die einzige ihnen geläufige Alternative: Himmel und Hölle.
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Mir hilft es weiter, das Leben als unhintergehbaren Urgrund anzusehen und mein Dasein als unglücklicher Mensch statt am Nichtsein am Sein des Anderen zu messen.
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721)
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Wer an die Endlichkeit seines Lebens glaubt, lächelt gerne über die angeblich absurde Vorstellung der anderen vom ewigen Leben.
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Tatsächlich aber ergibt sich eher aus seiner Perspektive ein Paradoxon: das ihm nach dem Tod garantierte "eigene" Nichtsein.
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Ein unveräußerlicher Platz für alle Zukunft, an dem er vor jedem weiteren Lebensleid in bewusstloser Sicherheit ist.
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722)
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Quietismus heißt für mich auch, dass jeder und alles ein Recht darauf hat, möglichst in Frieden gelassen zu werden.
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Nicht einmal ein Stein sollte ohne Not einen Tritt kriegen. Im Zweifelsfall will jeder und alles eher ruhen als benutzt werden.
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Materialismus ist dualistisch, weil er vom Lebendigen vermeintlich Totes absondern und damit beliebig verfahren will.
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723)
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Stirb und werde – das ist Nietzsches hysterische Reaktion auf Schopenhauers Seinszwang.
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Der Wille als Himmelreich statt als Hölle, das laute Ja zu Tod und Leben statt das leise Nein.
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War das denn explizit nötig? Die Nichtdenker wüten doch schon von ganz alleine.
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724)
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Am Anfang hat jeder mit dem anderen gemacht was er wollte bzw. konnte.
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Die Ethik gab den Menschen, Tieren usf. nach und nach Würde bzw. Rechte.
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Der Mythos Materie aber sorgt dafür, dass das allermeiste rechtlos bleibt.
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725)
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Viele Systeme übernehmen sogar noch die Eigenschaften ihrer diametralen Opposition, wenn sie damit kurzfristig etwas an Popularität zulegen können.
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Geschieht ihnen dann aber auch recht, wenn sie langfristig untergehen, weil sie vor lauter Pragmatismus ihren Wesenskern eingebüßt haben.
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Das gilt für eine Arbeiterpartei mit Armani-Kanzler, für eine Kirche unter nassforscher Führung wie für eine Universität als Büttel der Industrie.
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726)
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Wissenschaft wertet ihren rationalen Anteil i.S.v. theoretischem Verständnis immer weiter ab, ihren empirischen Anteil i.S.v. praktischem Experiment immer weiter auf.
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Aber die Forschung in immer aufwendigeren Labors kostet immer mehr Geld – und deshalb erforscht man jetzt nur noch das, wofür die Industrie zahlt. Ausverkauf der Ideale.
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Hätte sich die Universität bei knapper Kasse wieder mehr auf die Theoriebildung verlagert statt auf die Drittmittelfinanzierung, wäre sie unabhängig geblieben.
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(Muss selbst die Wahrheitssuche handeln statt denken, um global konkurrenzfähig zu bleiben? Ich fürchte eher, ruhige Bedächtigkeit fällt generell der Hyperaktivität zum Opfer.)
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727)
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Es geht so.
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Selten anders.
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Aber nicht nicht.
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728)
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In einer modernen Welt, wo jeder als verrückt gilt, der den Tod nicht mit dem Nichtsein gleichsetzt, herrscht Lustgewinnung auf Teufel komm raus.
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Was wird passieren, wenn der Teufel in Form der Erkenntnis rauskommt, dass nur ein kleiner Teil der Konkurrenten auf seine Kosten kommen kann?
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Werden die Modernen sich auf spätere Lebenslust vertrösten lassen wie die Traditionellen aufs Paradies im Tod? Wenn nicht, dann gute Nacht.
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729)
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Die Garantie eines Nichts um ihr endliches Dasein herum lässt Materialisten das Leben auspressen und wegwerfen.
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Erst die Befürchtung, dem Sein nicht dauerhaft entkommen zu können, bringt auch Egoisten zum langfristigen Denken.
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Besser von der Ewigkeit des Seins ausgehen und dann darüber nachsinnen, ob und wie das Nichts doch zu erreichen sei.
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730)
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Quietisten wie ich nehmen das "ora" (Besinnung) wesentlich wichtiger als das "labora" (Betätigung).
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Workaholics halten sich für die Wohltäter der Welt und wollen deren Probleme mit noch mehr Aktionismus lösen.
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Dabei plündern sie nur die Natur aus – machen in Jahren kaputt, was sich in Jahrmillionen entwickelt hat.
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Band 3
731) bis 1095)
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731)
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Wohl-Täter richten i.a. viel mehr Unheil an als sie gutmachen können.
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Das gilt insbesondere für reiche Wohltäter und ihre Charity-Aktionen.
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Unglaublich: die schlimmsten Ausbeuter, stolz auf ihre Wohltätigkeit.
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732)
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Das Primitive in uns will leben.
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Das Höhere mag evt. nicht mehr.
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Suizid: negative Rückkopplung.
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733)
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Das allermeiste, was in der industrialisierten Welt an bezahlter Arbeit geleistet wird, ist direkte oder indirekte Plünderung der Natur für Luxusgüter.
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Mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Rohstoffen usf. geht man dabei verschwenderisch um, weil sie keine Rechte haben oder die Firmen zu wenig kosten.
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Technische Rationalisierung, Einsatz von Chemikalien etc. sorgen schließlich dafür, dass die Luxusprodukte auch noch gesundheitsschädlich sind. Arbeit?
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734)
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Pessimistischerweise fürchte ich, dass es bei näherer Betrachtung nur wenig gibt, worauf wir Menschen mit Recht stolz sein können.
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Das meiste, was unsere Gesellschaft Arbeit nennt, macht die Welt schlechter statt besser. Gute Bezahlung soll für Gewissensbisse entschädigen.
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Wenn das so weitergeht mit der Industrialisierung, ist der Mensch dort noch am besten, wo er einfach gar nichts tut. Stolz werden auf Unterlassungen.
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735)
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Wenn Philosophen das Nichts so zerreden, dass es dabei kompliziert und marginal wird, frag ich mich, ob diese Verständnisprobleme von vornherein bestehen müssen.
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Erst mal scheint mir die Überlegung so einfach wie zentral, im eigenen Tod sei entweder Nichts i.S.v. alles zu Ende, oder alles ähnlich wie jetzt, oder alles anders als jetzt.
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Das Nichts: mein Liebstes, aber am unwahrscheinlichsten; wieder so wie jetzt: am wahrscheinlichsten; wesentlich anders als jetzt: wenig wahrscheinlich. Wie sonst auch.
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736)
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Das Wesentliche ändert sich nie – eine Gewissheit, schlimm und beruhigend zugleich.
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Pessimismus und Quietismus als die zwei Seiten ein- und derselben Münze namens Sein.
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Dasein fühlt sich weder geworden noch vergänglich an, wäre auch ohne Erinnerung so.
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737)
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Arbeitswütige oder Faulenzer – wer ist schuld an der großen Krise?
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Mir scheinen die Leistungsträger verdächtiger als die Müßiggänger.
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Die Umwälzungen der Industrialisierung überfordern das Leben.
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738)
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Das Leben ist ein Meer, dessen individuelle Wellen möglichst mächtig toben.
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Ich bin eine Welle, die eine spiegelglatte Oberfläche des Meeres ersehnt.
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Auch in diesem All-Ein-Sein bliebe leider das Sein, aber es wäre ein stilles.
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739)
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Statt die kriegerische Seite der Natur zu befrieden, richtet die Technik lieber die natürliche Stille zugrunde.
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Bald macht die gesellschaftliche Maschinerie einen so ohrenbetäubenden Lärm, dass jeder ein Antischallgerät braucht.
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Dann gibt es Stille nur noch, wo sie aktiv erzeugt wird, dann verbraucht auch noch die Erzeugung von Ruhe Energie.
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740)
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Erst wer nicht mehr an ein Jenseits bzw. ein Nichts glaubt, wo er nach seinem diesseitigen Intermezzo in endgültiger Sicherheit sein wird, ist im Leben angekommen.
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Erst wer das individuelle Sein als temporäre Form allgemeinen ewigen Seins begreift, flüchtet sich nicht mehr in den Trost, eh bald alles hinter sich zu haben.
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Das Leben hat erst den wirklich eingeholt, der ohne Aussicht auf ein Ende immer wieder ein anderer Teil davon sein muss, statt nur der bessere oder gar keiner.
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741)
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Das Nichts für alle wäre genug.
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Das Paradies für alle wäre besser.
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Aber im Nichts würde es nicht vermisst.
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742)
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Warum das Nichts anstreben, wo ich den Himmel anstreben könnte?
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Weil mir das Nichts bescheidener und damit berechtigter erscheint.
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Wer mehr erreichen will als notwendig ist, verdient eher zu scheitern.
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743)
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Quietismus würde ad extremum wohl bedeuten, so passiv wie irgend möglich zu leben und gar nichts mehr ändern zu wollen.
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Mein Quietismus aber ist geistig noch rege, ich versuche, Handeln durch Denken zu ersetzen und somit unschädlicher zu leben.
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Aber vielleicht komme ich ja irgendwann von der Philosophie zur Meditation und versuche, auch noch das Denken einzustellen.
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744)
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Philosophischer Quietismus à la Wittgenstein & Co., welcher den Geist durch sprachliche Klarstellungen beruhigen zu können meint, kommt mir eher antiphilosophisch vor.
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Das Sein und das Nichts als illegitime Substantivierungen abzutun halte ich für eine Art Beerdigungsversuch der Philosophie ihrer selbst. Ich zweifle eher an jener Erde.
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Philosophischer Quietist – den Begriff sähe ich lieber auf meinesgleichen angewandt: für mehr Denken und weniger Handeln plädierend. Ist aber perdu, wie Nihilist u.a.m.
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745)
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Sündig in Gedanken, Worten und Werken – denkt, sagt und tut eh jeder nur das Notwendige? Haben die meisten eben viel Not zu wenden?
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Quietismus heißt für mich, weg von den extremen hin zu den stillen Bewusstseinszuständen finden. Ohne sich darin zu langweilen.
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Sich im Nachdenken, Träumen, Meditieren usf. zu üben, statt lange Tage in hellster Aufruhr und kurze Nächte in dunkelster Bewusstlosigkeit zu verbringen.
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746)
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Religiöser Quietismus will das theoretische Denken einschränken, philosophischer Quietismus – in meiner Verwendung des Begriffs – das praktische Handeln.
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Denke nichts! – so wird Gott dich in deinem Tun leiten, glaubt der religiöse Quietist. Bete und arbeite! – die Kirchenoberen denken für dich, sagt die Orthodoxie.
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Wer denkt, sündigt noch nicht – meine ich. Erst wer sich in der Theorie sicher ist, sollte sich an die Praxis wagen dürfen. Learning by doing, Just do it! usf. ist zu gefährlich.
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747)
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Pädophilie wird als böswilliger Exzess abgetan. Aber wahrscheinlich ist ein gewisser Anteil der Menschen sexuell auf Kinder fixiert, ohne eine Wahl zu haben. Jene quälen sich allein mit ihren Phantasien oder suchen sich echte Opfer.
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Das Ausleben solcher Neigungen zu verbieten ist sowohl unmenschlich als auch realitätsfremd. In virtuellen Welten, an lebensechten Sexpuppen usw. müsste es erlaubt sein. Haben die Spießer Angst, sie könnten auf den Geschmack kommen?
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Solange für die Pädosexuellen im Bereich des legalen Porno keine ausreichenden Ersatzbefriedigungen locken, bei denen niemand zu Schaden kommt, ist hinsichtlich Kindesmissbrauch m.E. keine Ruhe in Sicht.
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748)
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Parmenides mit seinem Stillstand – das Sein ist, das Nichts ist nicht – hat zeitgeistmäßig gerade keine Chance gegen Heraklit mit seinem Fluss von Werden und Vergehen.
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Dabei glaubt der heutige Materialist an sein einmaliges und endgültiges Vergehen, auf das nie mehr ein Werden folgt – hat doch eigentlich sehr viel von Stillstand.
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Ich halte das makroskopische Sein für wesentlich und beständig, das mikroskopische für unwesentlich und flüchtig. Pflückt den Tag wie ihr wollt – das Leben hat uns im Griff.
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749)
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Freiwillig zu leben behauptet der Mensch m.E. nur, weil er den Zwang des Lebens sich und anderen nicht eingestehen will.
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Es könne jeder stattdessen das Nichts im Freitod wählen, behauptet er weiterhin und verleugnet auch noch das Ungewisse im Tod.
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Stockholm-Syndrom nennen es die Psychologen, sich auf die Seite seines übermächtigen Quälers zu schlagen. Dabei ist das normal.
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750)
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Meditation trainiert vielleicht die Seele, so wie Sport den Körper und Mathematik den Geist.
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Im dritten Lebensabschnitt, nachdem erst der Körper und dann der Geist ihre besten Zeiten hinter sich haben, will ich evt. auf meine Seele eingehen, indem ich die ruhigsten bewussten Zustände anstrebe.
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Asketisch wäre das, sich stufenweise vom Handeln zum Denken zum Sein zurückzunehmen.
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751)
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Kein Nichts. Kein Sein ohne Leben, kein Leben ohne Bewusstsein, kein Bewusstsein ohne Leid.
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Als Bewusstseinsmonist glaube ich nicht an absolute Bewusstlosigkeit.
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Sein, Leben, Bewusstsein sind mir ziemlich synonym, ihr Gegenteil schönste Theorie.
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752)
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Bewusstsein ist für jeden ein partielles – in großem Abstand zum Nichtsein einerseits und zum All-Ein-Sein andererseits.
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Und doch halten viele diese Extreme für erreichbar – die Materialisten das erstere, die Mystiker gar beide zugleich.
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Welche Richtung ist die bessere? Bewusstseinsverengung oder -erweiterung? Ich strebe über die Eins zur sicheren Null.
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753)
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Geist bzw. Intelligenz unterscheiden sich vom Bewusstsein insofern, als es den ersteren bereits um Verstehen und Einsehen zu tun ist.
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Reines Bewusstsein heißt erst mal, ums eigene Dasein zu wissen und daran zu leiden, denn Verständnis dafür ist i.a. nicht gegeben.
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Vielleicht will das Sein ja sogar, wer es schließlich verstanden hat. Der Normalfall bleibt aber m.E. Nichtverstehen bzw. Seinmüssen.
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754)
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Rücksichtsvoll ruhig und rücksichtslos laut ist in den Zeiten der neuen Härte eine Kategorie zu wenig: es gibt nämlich auch noch die extra Lauten.
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Ihnen ist es nicht egal, ob ihr Lärm jemanden stört – sie versuchen so laut wie irgend möglich zu sein, um so viele wie irgend möglich zu stören.
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Dass die heutige Gesellschaft in Richtung extra laut tendiert, hört man schon am Niesen – zu viele versuchen dabei mittlerweile regelrecht zu brüllen.
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755)
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Idealer Suizid allen Seins zum Nichts ist m.E. das ethisch wertvollste Projekt – welches aber schon bei seiner bloßen Erwägung kollektives Entsetzen hervorruft.
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Aber dass die Gesellschaft ihre Individuen im Namen der allgemeinen Wohlfahrt immer grausamer leiden lässt, wird gelassen als Kollateralschaden abgebucht.
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Wer ein höllisches Leben abkriegt, hat eben Pech gehabt. Das Leben im Ganzen muss angeblich weitergehen – die Schafe und ihre Hirten sind leider in der Überzahl.
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756)
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So schlecht ist die Welt, dass der Einzelne auch beim allerbesten Willen mehr Unheil als Heil in ihr stiften muss.
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Jedes Lebewesen tut im Überlebenskampf den niedrigeren viel mehr Leid an als es je gutmachen kann.
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Ganz unausweichlich. Selbst der reale Suizid darf eigentlich nicht sein, weil er mächtig schadet. Erbsünde.
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757)
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Der eigentlich relevante politische Gegensatz ist heute m.E. "ehrgeizig und hart im Nehmen" vs. "besinnlich und empfindlich".
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Die unentwegte Verarsche letzterer durch erstere in zahllosen Comedy-Fernsehsendungen ist schon lange medialer Mainstream.
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Die Kids wachsen kritiklos darin auf, kennen es nicht anders. Echte Ökos sind die Witzfiguren der kommenden Generation. Klimawandel.
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758)
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Nach dem Nichts ist das Sein leider nur – mit gewaltigem Abstand – das Nächstbeste; bleibt uns nichts anderes übrig als das Beste draus zu machen.
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Nach der Stille ist der Schall leider nur – mit gewaltigem Abstand – das Nächstbeste; bleibt uns nichts anderes übrig als das Beste draus zu machen.
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Z.B. mit Musik. Je stiller desto besser. Aber selbst noch die kontemplativsten Musiker versuchen, mit Ereignishaftem Aufmerksamkeit zu erregen.
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759)
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Süchtige sollen die individuelle Konfrontation suchen, sollen ihre Täter wie ihre Opfer aufsuchen und mit ihnen ins Reine kommen.
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Bei den Eltern wirds besonders widersinnig, denn die sind meistens erst Täter, dann Opfer. Erst Vorwürfe, dann Entschuldigungen?
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Individualisiererei soll m.E. das eigentliche Problem heiligen: das Sein im Großen und Ganzen. System fuck me – me fuck system.
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760)
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Das Große Ganze verantwortlich machen ist verpönt bzw. sinnlos – da sind sich traditionelle Christen und postmoderne Individualisten einig.
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Ich hab dennoch meinen individuellen Weg gefunden, mit dem Leid umzugehen: ich sehe die ganze Welt als meinen Täter und als mein Opfer.
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Mag sein, dass man sich an sowas Generellem nicht wirklich reiben kann. Aber reale Reibung ist mir eh viel zu heiß. Ideal cool bleiben.
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761)
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Das alte Christentum und die moderne Psychotherapie wollen den Menschen einreden, sie seien v.a. eigenverantwortliche Akteure.
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Dreist gelogen im Angesicht der schieren Unmöglichkeit, wirklich etwas zu verändern am Wesen des Lebens.
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Die größten Unternehmungen der Menschheit sind die der Verdrängung. Freud als der Schöpfer dieses Begriffs eingeschlossen.
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762)
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Die traurigste Nachricht meines Lebens: der Hinweis aus meinen Nahtoderfahrungen auf ein Weiterexistieren im Tod. Die Traurigkeit darüber hält bereits jahrzehntelang an und ich glaube kaum, dass ich sie je überwinden werde.
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Auf den Tod fixiert zu sein ist ein großes Tabu, aber auf die Traurigkeit fixiert zu sein ist ein noch größeres. Sterbebegleiter wollen auch an den Todespforten partout ein Licht anzünden, von der Trauer zur Zustimmung geleiten.
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Die seltsamste Situation meines Lebens wird sich wohl ergeben, falls mich einst ein Sterbebegleiter drankriegt, der letzte heilige Augenblicke provozieren will. Aber ja, ich glaube an ein Weiterleben – aber nein, ich hasse es.
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763)
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Die Glücklichen verfahren mit den Unglücklichen v.a. auf zweierlei Weise: entweder meiden oder beherrschen.
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Hedonisten sperren das Unglück möglichst aus – und wo es ihnen direkt in den Weg tritt, blicken sie blasiert hindurch.
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Heiler nehmen sich die Unglücklichen zur Brust und ergehen sich in Bevormundungen – haben ja so viel zu "geben".
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764)
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An einen Gott glaubt in meinem Umfeld kaum noch jemand, aber die meisten glauben sehr wohl an ein letztendliches Nichts.
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M.E. sind wir Seiende i.S.v. Teilhabende an einem Sein, das kein Nichts übrig lässt, in das hinein etwas verschwinden könnte.
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Ich glaube an das unentstandene, unvergängliche, im Wesen immer gleiche Sein, schlechter als das erdachte Nichts.
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765)
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Theoretische Gegenentwürfe nach Art der Philosophie halte ich für die größte menschliche Errungenschaft.
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Zum wirklichen Sein bzw. Schlechten können wir das Gegenteil des unwirklichen Nichts bzw. Guten imaginieren.
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Und dann sollen wir dieses Nichts bzw. Gute anstreben, es als Ideal setzen, das uns Orientierung gibt.
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766)
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Das Leben nötigt einen mit zunehmendem Alter zur Stabilisierung der eigenen Verhältnisse – eine Aufgabe, die mit dem Nachlassen der Gesundheit jedoch zunehmend misslingt.
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Der Tod lässt die Lebenden einen Umsturz des mühevoll Bewahrten vermuten, wobei er zugleich Erlösung vom Leid verheißt und mit weiterer Leidverschlimmerung droht.
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Das Leben als ein für alles Sein im Grunde gleiches Schicksal zu erkennen, bringt einem die Ruhe seiner Unverlierbarkeit einerseits und die Trauer seiner Unbeendbarkeit andererseits.
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767)
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Nahtoderfahrungen beweisen nicht, dass es im Tod weitergeht.
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Aber sie lassen starke Zweifel am sicheren Ende im Tod aufkommen.
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Und plötzlich wird einem klar: Materialismus ist eine Religion.
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768)
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Agnostizismus, Skepsis u.ä. ist auch Religion.
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Nichtwissen impliziert zukünftigen Wandel.
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Einsicht ins Unabänderliche ist nüchterner.
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769)
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Religion macht ihren Anhängern das Angebot, ihnen die Hölle, in der viele Mitlebewesen schmoren müssen, zu ersparen.
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Ob im Schoße Gottes oder dem realistischer Wahrscheinlichkeit – man wähnt sich dort naiverweise in Sicherheit.
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Religion will wohlige Distanz garantieren zu denen mit üblerem Schicksal – im rechten Glauben bleibe man was Besseres.
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770)
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Seinsmonismus bedeutet für mich die eigentliche Abstinenz von allem Mysteriösen, wie sie Realisten, Skeptiker usw. immer für sich beanspruchen.
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Himmel und Hölle der Monotheisten, Nichts der Materialisten, All-Einheit der Mystiker und selbst Unbekanntes der Agnostiker sind lebensferne Extreme.
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Wer das evidente Sein als auf ewig einzige Möglichkeit begreift, kann sich nurmehr mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen vergleichen.
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(Als ich jung war, war ich trotz bunterer Welt unzufriedener – der Glaube ans Jenseits bzw. Nichtsein vermieste mir das miese Sein zusätzlich.)
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771)
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Leben ist ein Kontinuum, Individuen sind nur aus großer Nähe autonom wirkende Ausprägungen desselben.
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Systematisch formieren sich Aufgaben, wir erledigen sie – Kügelchen, die in vorgestanzte Löcher rollen.
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Wenn du es nicht tust, tut es ein anderer. Schon aus kleiner Entfernung mutet alles unpersönlich, zwingend an.
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772)
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Wir sind uns gleich doppelt vorgeschrieben: erst formt uns das Kollektiv nach dem jeweiligen Zeitgeist, dann sollen wir uns selbst verwirklichen, indem wir die bereits fest in uns angelegten individuellen Talente suchen.
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Das wenige mit spontaner Leichtigkeit scheinbar von uns selbst Gewollte ist auch nur biologisch notwendiger Trieb, außerdem schmilzt seine Befriedigung wie Zuckerwatte im Mund, hinterlässt immer nur Schalheit und Leere.
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Fühlt sich insgesamt an wie Zuschauen und Mitmachen in der Hölle. Wurde das alles absichtlich ersonnen, dann von einem Sadisten. Ist das alles Zufall, mittelt es sich zu fast aller Leidwesen zufällig nicht zu Null aus.
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773)
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Nicht zu glauben: erlittenes Unrecht nimmt einen gesellschaftlich zusätzlich in die Pflicht. Vom Arzt verpfuscht, vom Priester belästigt? Die Öffentlichkeit fordert dringend dazu auf, sich gleich die nächste Schmach antun zu lassen und offiziell gegen den Täter vorzugehen.
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Sollte das Opfer nicht in Ruhe gelassen statt noch mehr belastet werden? Blanker Zynismus, dem von fremdverschuldeter Krankheit bzw. sexuellem Missbrauch Betroffenen auch noch abzuverlangen, via sperrigste Bürokratie kraftvoll fürs Allgemeinwohl zu streiten.
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Wenn schon, dann steht erst mal eher das Kollektiv mir gegenüber in der Verantwortung als umgekehrt. Seit mir klar wurde, dass die Individuen weder für ihre Existenz im allgemeinen noch für ihr Sosein im speziellen etwas können, geht es mir besser mit ihnen.
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774)
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Seinsmonismus heißt einzusehen, dass Sein so ist und bleibt. Das macht ruhig.
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Dualisten stellen immer zwei Möglichkeiten gegenüber: Himmel und Hölle, All-Einheit und Nichts, Sosein und Anderssein.
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Das Sosein des Seinsmonismus liegt in der Mitte zwischen den Extremen, ohne Hoffnung und Furcht bzgl. all des Ganzandersseinkönnens drumherum.
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775)
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Wie ist das Sein? Leidlich. Ausschnitthaft. Immerzu so oder so ähnlich.
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Weder Himmel noch Hölle, weder ganz noch gar nicht, auch nicht ganz anders.
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Philosophische Extreme sind gut, um sich klarzumachen, was es nicht ist.
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776)
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Wenn man unter Menschen lebt, ist Stille ein seltenes Geschenk.
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Denn irgendwer macht leider fast immer irgendwelchen Lärm.
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Wen Stille z.B. bedrückt, der kann sie heute dank Audio sogar dauerhaft verhindern.
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777)
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Am Schluss hilft gegen den Teufel nur noch der Beelzebub: Audiotechnik als letztes Mittel gegen den von ihr selber mitangerichteten, allgegenwärtigen Störschall.
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Masker bzw. Noiser erzeugen ein auditiv verdeckendes Rauschen. Natürliches Klangspektrum à la Meeresbrandung, Gebirgsbächlein, Sommerregen gefällig?
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Im traurigsten Anwendungsfall wird das zu überdeckende Störgeräusch bereits vom überlasteten Gehör selbst erzeugt: Tinnitus. Das Ohr schallt lästig zurück!
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778)
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Geräuschkulissen von Städten ergeben sich bislang eher von selbst, im Gegensatz zur visuell relevanten Architektur.
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Soundscapes als Begriff u.a. für aktiv zu gestaltende städtische Klanglandschaften sensibilisiert gegenüber dem Lärmproblem.
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Richtig laut wirds allerdings, wenn Künstler an den bislang noch ruhigen Plätzen ihre Klanginstallationen aufbauen.
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779)
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Akustisch ist die künstlerische Gestaltungsfreude am öffentlichen Raum nicht so groß wie optisch. Ein aufzuholendes Manko?
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Bisher dominiert gedankenloses Lärmen. Andererseits werden viele Orte unabsichtlich noch in Ruhe gelassen. Sic!
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Man stelle sich vor, es gäbe schon ebenso viele absichtliche Schalldarbietungen wie Skulpturen oder Werbeplakate. Schluck!
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780)
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Monotheisten glauben an einen extremen Endzustand nach dem Jüngsten Gericht, Realisten an das neutrale Ende im Tod. Dies sind die zwei häufigsten hiesigen Weltanschauungen, alle anderen vergleichsweise kapriziös.
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Spirituelle glauben an für andere abstruse Zusammenhänge – Meditation lässt sie die All-Einheit erfahren. Skeptiker dagegen bezweifeln für andere evidente Zusammenhänge – analytische Wissenschaft partikularisiert.
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Seinsgläubig sehe ich mich als entstandenen und vergänglichen Seienden, als Individuation des unentstandenen und unvergänglichen Seins. Philosophieren ließ mich diese Beruhigung finden – ich brauchte bzw. brauche sie.
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781)
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Meine Schublade? Will ich meine Weltanschauung auf einen gängigen Begriff bringen, nenne ich mich schon mal Schopenhauerianer – obwohl ich kaum Schopenhauer gelesen habe. Doch welcher Christ kennt schon seine Bibel, welcher Kommunist seinen Marx usf.
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Ich glaube nicht an Gott bzw. lehne ihn ab – bin also kein Monotheist. Ich glaube nicht an das Ende im Tod – bin also kein Realist. Ich halte das Leben für dissonant statt harmonisch – bin also kein Esoteriker. Und ich glaube an das evidente, ewige Sein – bin also kein Skeptiker.
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Die Kombination Idealismus und Pessimismus ist speziell bzw. selten – persönlich kenne ich keinen außer mir, der ihr anhängt. Zwar bin ich auch mit Schopenhauer in vielem uneins, aber schon froh, dass es wenigstens einen großen Vertreter solcher Philosophie gibt.
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782)
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Pro Schopenhauer: Ja, die Welt ist und bleibt schlecht, aber wir können uns ihr durch Suizid nicht auf Dauer entziehen, da Individuen nur Ausprägungen des allgemeinen, ewigen, absoluten Seins sind, dem kein absolutes Nichts gegenübersteht.
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Contra Schopenhauer: Nein, die Welt ist nicht etwa gerechtfertigt, nur weil sie gewollt ist. Denn der Wille zum Leben ist nicht bewusst kontrollierbar, nicht durch einsichtige Willensverneinung aufzuheben. Ich bin zwar schlecht, aber nicht schuld.
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Widersprüchlicher Schopenhauer: Es gibt Stellen in seinem Werk, die von endgültiger Erlösung im Tod sprechen und welche, die sie abstreiten. Vertritt er nun eine Erlösungsphilosophie oder nicht? Ich nehme ihn bei seinen letzten Worten auf dem Sterbebett: nicht.
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783)
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Gebildetere Menschen überhöhen ihre angestammte Religion oft zum spirituellen Mystizismus bzw. ihren angestammten Naturalismus zum modernen Skeptizismus.
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Statt nur Schäfchen der Gemeinde zu sein, wollen sie selber Visionen haben wie Jesus; statt nur eine Laune der Natur zu sein, wollen sie ihr entmystifizierend zu Leibe rücken.
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Weder mit Kirche oder Mystik noch mit Realismus oder Skepsis bin ich zurechtgekommen. Heiklere Kunden wie ich müssen sich eben zu den abgelegeneren Regalen bemühen.
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784)
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Wenn der Mensch sich heutzutage lieber für ein Tier halten will als nach Höherem zu streben, ist das vielleicht eine Rückbesinnung auf seine evolutionäre Kindheit, welche Kirche und Aufklärung vorschnell beendet haben.
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Mag sein, dass übereifriges Erwachsenwerdenwollen einen die nötige Bodenhaftung verlieren lässt und somit erst wieder eine Erdung stattfinden muss, bevor an weitere Aufwärtsbewegungen zu denken ist.
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Dann sollten aber auch die Spirituellen zuerst das enge, alte Bewusstsein in Ordnung bringen, bevor sie nach einem neuen, erweiterten greifen – noch mehr von dem üblichen Durcheinander ist evt. auch der falsche Weg.
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785)
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Missstände werden von den Medien allenthalben breitgetreten – aber immer im betroffenen bis empörten Brustton der Überzeugung, da sei von der besonderen Schattenseite neben der allgemeinen Sonnenseite die Rede.
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Die Verlogenheit des Optimismus besteht also nicht so sehr im Abstreiten von Leid, sondern in der unbeugsamen Behauptung von dessen Besonderheit bzw. in der Implikation, die gute Ordnung sei der Normalfall des Lebens.
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Es würde den Opfern mehr helfen, wenn die Optimisten diese Schönfärberei der Normalität aufgäben. Denn wer begreift, dass sein Lebensleid nicht skandalöse Ausnahme, sondern traurige Regel ist, der wird gleich viel ruhiger.
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786)
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Als Erstes streicht der neue Harte das Leisesein, Bitten, Danken, Bereuen und Entschuldigen.
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Arschloch zu sein funktioniert für das Individuum prima. Auch die neue Psychotherapie rät zu.
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Paramilitärischen Coaches macht es mehr Spaß, Schäfchen zu Wölfen zu machen als umgekehrt.
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787)
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"Gut!" als übliche Antwort auf die Frage "Wie geht's?" dürfte zumeist optimistisch übertrieben bis gelogen sein.
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"Es geht!" oder gar "Es muss!" wagt hingegen schon fast zu viel an pessimistischer Wahrheitsliebe.
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"Schlecht!" jedoch ist tabu. Wer es zugibt, muss sich näher erklären bzw. wird zur Strafe nicht mehr gefragt.
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788)
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Amusiker können mit Musik nichts anfangen, für sie klingt eine geniale Symphonie nicht angenehmer als banales Geschirrgeklapper.
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Forscher versuchen durch Vergleichen dieses spezifisch "defekten" mit dem "intakten" Hirnprozess herauszufinden, wie Musikwahrnehmung funktioniert.
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Gibt's dann nicht auch Asoniker, Asensiker, Asumiker, denen Schall, Sinneswahrnehmung, das ganze Ich-bin-Gefühl gestohlen bleibt?
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(Wir Pessimisten steigen doch noch in der gesellschaftlichen Gunst – wenn sie mithilfe unserer Anomalie herausfindet, wo ihr Optimismus sitzt.)
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789)
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Im Zeitraffer sind Pflanzen ebenso geschickte Kämpfer wie Tiere, immer weiter gerafft kämpfen evt. auch Felsen, Landmassen, Planeten, Galaxien usf.
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Hat der Mensch sich evolutionär gerade weit genug aus alledem hervorentwickelt, um bewusst nach Ruhe und Frieden streben zu können?
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Oder sind Quietismus und Pazifismus nur kleine Aberrationen nach einem großen Krieg – und seine Enkel schon wieder bereit für den nächsten, noch größeren?
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790)
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Höhere Ordnung? Soll das heißen, die Welt sei gut, aber nunmal so komplex, dass einfachere Gemüter sie irrtümlich für schlecht halten müssen?
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Dafür spräche, dass geniale Wissenschaftler geordnete Strukturen erblicken, wo ihre weniger verständigen Vorgänger nur Chaos am Werk sahen.
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Dagegen spricht, dass mit dem Intellekt i.d.R. auch die Verzweiflung am Leben wächst. Intelligenter Optimismus geht nur via Spezialisierung bzw. Tunnelblick.
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791)
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Poesie ist das zweitbeste Schweigen, Musik ist die zweitbeste Stille.
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Schweiger sind die besten Poeten, Stille sind die besten Musiker.
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Aber da schon nicht Nichts sein kann: ab und an schönes Sein.
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792)
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Die östliche Metaphysik gründet sich auf das Nichts, die westliche auf das Sein.
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Damit ist die östliche schon gedachte Antithese, die westliche noch erfahrene These.
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You can imagine the opposite – könnte ich das nicht, würde ich noch verrückt.
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793)
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Totenstille wie auch völlig bedeutungsfreie Schalle machen unruhig, denn unser Wahrnehmungsapparat sucht ständig nach Bedeutung.
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Pareidolie lässt uns selbst noch in völlig zufälligem Rauschen bedeutungsvolle Muster erst erahnen und mit der Zeit immer klarer ausformen.
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Ein beruhigender Hintergrundschall bzw. Maskierer muss möglichst wenig, aber immer noch genug Bedeutung enthalten, um neutral zu bleiben.
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794)
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Jenseits, Himmel und Hölle – Bücher, Filme etc. führen nur zu gerne solche großen Worte im Titel.
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Die Problematik möglichen Lebens nach dem Tod findet jedoch so gut wie nie Eingang in den Inhalt.
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Man möchte fast meinen, echten Interessenten am Thema soll die Suchmaschine verstopft werden.
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795)
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Jenseitsvorstellungen gestalten sich offenbar umso bedrohlicher, je zahlärmer die das Überleben der Gattung sichernden Individuen werden.
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Als die Pest noch ganze Landstriche entvölkerte, glaubte der größte Teil der Christenheit, nach dem Tod in der qualvollen Hölle zu landen.
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Heute, bei globaler Bevölkerungsexplosion und lokalem Arbeitskräfteüberschuss, stirbt man ins freudvolle Paradies oder ins leidfreie Nichts.
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(Zeitigt die Nachricht vom Aussterben der Deutschen einen Religionswechsel? Und die Überalterung? Jenseitsdrohung unter 60 bzw. Jenseitslockung über 60?)
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796)
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Könnte ich das Leben nicht doch noch bejahen? Nein. Wir Lebewesen müssen uns gegenseitig essen, um zu überleben. Diese Situation ist grundsätzlich inakzeptabel.
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Könnte ich nicht doch noch als Materialist leben? Erst Nichts, den Tag bzw. die Vorteile pflücken, dann wieder Nichts? Nein. Als Materialist wäre ich für kollektiven Suizid.
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Die gängigen Philosophien sind nur Varianten jenes Optimismus bzw. Realismus. Einzig der pessimistische Idealismus scheint mir vertretbar. Leiden ohne reale Alternative.
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797)
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Himmel statt Nichts, Spaß statt Stille, Ekstase statt Coolness, Luxus statt Askese, Eile statt Weile, Hedonä statt Ataraxia usf. – der ewige Trend.
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War ruhige Besinnlichkeit schon jemals mehr als eine ausnahmsweise angewandte Therapie für die nicht belastbaren Versager im weltlichen Getriebe?
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Vielleicht nicht – aber wenn die Welt weiterhin exponentiell schneller wird, sind wir dringend Ruhebedürftigen schon bald die ganz große Mehrheit.
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798)
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Glaubte ich noch an Gott und die Schöpfung aus dem Nichts, müsste ich ihm böse sein für die schlechte Welt, die er an Stelle des Nichts gesetzt hat.
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Glaubte ich noch an das materialistische Nichtsein vor und nach dem individuellen Sein, müsste ich Eltern böse sein für Zeugung bzw. Empfängnis.
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Seit ich jedoch mit dem unendlichen Sein rechne, scheint mir, ich habe es momentan vergleichsweise gut getroffen. Um mich herum ist viel mehr Leid.
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799)
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Parmenides sagt, das Sein sei und das Nichts nicht, weshalb man sich vor der Rede über das Nichts von vornherein hüten solle.
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Eine Regel, die er damit zugleich selber gebrochen hat, wie auch die Bibel auf der ersten Seite und fast alle Philosophie sonst.
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Meine wichtigste Lebensregel heute ist ein Entzug des Nichts in dem Sinne, es für alle Zeiten als ideal bzw. irreal anzunehmen.
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(Zuvor war ich dem heiligen Zorn auf das Leben anheimgefallen, da ich das Nichts für einst real verloren bzw. wieder möglich hielt.)
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800)
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Red Herring heißt in der Rhetorik eine provozierend abstruse Behauptung, neben der weitere abstruse Behauptungen noch vergleichsweise akzeptabel wirken. Alle stürzen sich also mit Gegenargumenten auf den Red Herring, der übrige Fisch hingegen passiert die Diskussion unbeschadet.
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Die katholische Kirche z.B. hat die Aufmerksamkeit immer gerne auf die Jungfräulichkeit Mariae und andere Absonderlichkeiten gelenkt, um wirklich tragende Säulen des Glaubens zu schützen, die bei näherer Betrachtung noch viel suspekter oder gar gefährlich sind.
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Modern Denkende amüsieren sich über Himmels- und Höllengläubige, merken aber nicht, dass sie das ebenso realitätsferne Nichts aus der Schöpfungsgeschichte einfach durchgewunken haben. Bei ihnen steht es nicht nur am Weltbeginn, sondern auch am Ende, sowie vor und nach dem eigenen Leben.
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801)
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Wer das Sein schützen will, muss das Nichts für alle Zukunft verbieten – vielleicht ist die Schöpfungsgeschichte so gedacht.
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Halbherzig jedoch, das Nichts in der Vergangenheit zu erlauben – so bleibt es im Zorn auf das leidige Sein ewig zu vermissen.
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Am schlimmsten aber, das Nichts statt als Ideal als reale Alternative denen anzutragen, die von selber gar nicht darauf gekommen wären.
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802)
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Egal ob einer im Tod nun Himmel oder Hölle, All-Einheit oder Nichts, Ewige Wiederkehr des Gleichen oder das Große Unbekannte erwartet – jedenfalls hält er damit den Tod für etwas Ganz Anderes als das Leben.
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Das Leben ist weder nur schön noch nur hässlich, weder ganz noch gar nicht, weder immer das alte noch plötzlich völlig neu – solche Extreme zu konstruieren bedeutet Abstand zu nehmen vom Leben, wie wir es kennen.
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Wahrhabenkönnen des Wahrscheinlichen heißt für mich, nur noch das zu erwarten, was mir das Leben Tag und Nacht in all seinen Facetten zeigt – an mir selber, an anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen usf.; nicht mehr, nicht weniger.
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803)
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Empathie ist für mich inzwischen auch ein Weg, mir versuchsweise auszumalen, was mich in Ewigkeit noch erwartet.
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Bei jedem Gegenüber, und nicht nur dem menschlichen, zu fragen: Wie fühlt es sich an, er bzw. sie bzw. es zu sein?
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Wer sich in andere bzw. anderes hineinversetzt, wird ein besseres Wesen. Wer nur bei sich bleibt, ein schlechteres.
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804)
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Wer seinen Glauben an die Unendlichkeit des Lebens bekennt, dem unterstellt man in der westlichen Kultur automatisch einen Jenseitsglauben.
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Denn unsere religiöse Tradition lässt uns viel schneller an eine jenseitige Verlängerung des endliches Diesseits denken als an ein ewiges Diesseits.
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Aber ist ein ewiges Diesseits nicht naheliegender als ein Jenseits? Letzteres läßt sich nur viel leichter instrumentalisieren. Und einmal angewöhnt...
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805)
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Wer sein Leben als endlich ansieht, fühlt sich evt. als moderner Skeptiker, weil er nicht mehr an das traditionell überkommene ewige Leben glaubt. Vielleicht fühlt er sich sogar als Pessimist, indem er sich die Vergänglichkeit seines schönen Lebens bewusst gemacht bzw. sich damit abgefunden hat.
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Als Seinsmonist, von der Unmöglichkeit des Nichtseins ausgehend, bin ich m.E. aber skeptischer – Sein allein ist weniger als Sein plus Nichtsein. Am Sein leidend, es für hässlich und unvergänglich haltend, bin ich m.E. zudem viel pessimistischer – endloses Leid ist viel schlimmer als das Ende der Freude.
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Wer sein Leben für schön und vergänglich hält, unterstellt evt., dass eigentlich alle so denken. Passiert mir umgekehrt genauso: tief drinnen, so argwöhne ich, gehen doch alle von einem schlimmen und ewigen Sein aus. Anders kann ich mir unsere todesscheue Welt mit ihrem zähen Gesieche nicht erklären.
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806)
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Embodiment – es braucht also einen Körper, um Bewusstsein zu entwickeln? Aus toter Materie bzw. ihrer blinden Rekombination erheben sich Intelligenz und Vernunft zum fortwährenden Kampf ums Dasein?
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Unglaublich: ein selbstlernender Roboter mit Armen und Beinen, Augen und Ohren usw., der nach genügend Trial&Error-Interaktion mit seiner Umwelt bzw. anderen Robotern zu philosophieren beginnt?
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Aber selbst wenn, so wäre damit das Warum nicht geklärt, nur das Wie. Und zum unausweichlichen natürlichen Leidwesen käme das künstliche hinzu. Wissenschaft? Bloß noch Lernen ohne Verstehen!
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807)
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Leiden bleibt im Leben die Regel, Selbstmord hingegen die Ausnahme. Warum? Weil Siechsein immer noch besser ist als Nichtsein? Glaube ich nicht. Echtes Leid macht Sehnsucht nach dem Nichts.
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Intuitiv bedeutet uns der Tod bislang nur eine Einschränkung der Reaktionsmöglichkeiten auf das Lebensleid, nicht seine Beendigung. Tod verheißt nicht Nichtsein, nur völlige Wehrlosigkeit.
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Materialismus könnte uns da allerdings abstumpfen. Selbst Todesangst lässt sich wohl abtrainieren. Glauben wir erst kollektiv ganz fest ans Nichtseinkönnen, werden Todespillen gang und gäbe sein.
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808)
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Maximale und minimale Lebensqualität – so könnte man Himmel und Hölle vielleicht mit zeitgenössischen Begriffen charakterisieren.
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Welche Lebensqualität das Totsein bietet, darüber gehen die Meinungen historisch und geografisch weitestmöglich auseinander.
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Die westliche Moderne prognostiziert leidfreies Nichtsein. Damit bescheinigt sie dem Tod i.d.R. ein höheres Qualitätsniveau als dem Leben.
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809)
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Selbstmord aus Lebensabscheu – nicht im Affekt, sondern mit Überlegung begangen – beweist einen festen Glauben an das Nichts im Tod.
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Seit ich im Tod nur noch den vorübergehenden Verlust aller Reaktionsmöglichkeiten vermute, könnte ich nicht mehr so forsch abtreten.
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Tragisch nur: die meisten Entschlossenen sind keine gläubigen Täter, sondern sich wissend wähnende Opfer des Materialismus.
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810)
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Das Nichts nur wollen statt wirklich tun; lieber das Nichts wollen als Nichtwollen – so spöttisch beschreibt Nietzsche diejenigen, welchen das Nichts über alles geht.
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So wichtig ist ihm das optimistische Ja, dass er jenseits von Gut und Böse rigoros für das Leben und gegen die lebensanklagende bzw. -verneinende Moral streitet.
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Aber sein Hohn ändert für mich nichts daran, dass ich hoch über dem Leben das Nichts als erfundenes Ideal ansiedle, unter dem man durch reales Zerstören nur noch tiefer sinken kann.
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811)
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Extrovertierte kommen mit dem südländischen Temperament viel leichter klar.
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Wir Introvertierten sind die eigentlichen Leidtragenden lauter Nachbarschaft.
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Aber wir würden niemals "Ausländer raus!" skandieren, eher noch selber weichen.
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812)
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Männer streben eher nach körperlicher Dominanz, Frauen nach seelischer.
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Mann und Frau erniedrigen sich wechselseitig, je auf heimischem Terrain eben.
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Nur: die seelische Demütigung geht i.d.R. als Kavalierinnendelikt durch.
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813)
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Viele halten Gott für real, viele halten ihn für irreal und stattdessen das Nichts im Tod für real.
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Aber nach Gott auch noch das Nichts für irreal zu erklären – dafür ist kaum jemand zu haben.
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Religion von Realität trennen, ohne unbescheiden zu werden – mein Nichtsideal erfüllt beides.
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814)
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Ungeübt im Umgang mit Menschen? Dann redet jeder nur allzu gerne auf dich ein.
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Je scheuer, desto öfter Opfer von redseligen Verkäufern, alten Damen usf.
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Bereits der sprachliche Umgang ist ein steter Kampf, alle naslang verliere ich einen.
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815)
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Just be yourself – das Credo amerikanischer Spielfilme um die glückende Liebe glauben die sich ja wohl selber nicht.
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Wenn ich loslassen und einfach nur ich selbst sein wollte, säße ich stinkend und allein im Wald, Urlaute ausstoßend.
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Der Lebensalltag besteht aus Lüge und Verstellung, sogar gegenüber sich selbst. Man nennt das Zivilisation.
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816)
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Akademische Titel und deren hohe gesellschaftliche Achtung machen die Universität zum Magneten für Profilneurotiker.
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Heraus kommen lauter Karrieristen, die sich für das Inhaltliche ihres Fachgebiets kaum interessieren, nur über Formales reden.
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Sie schwenken nach dem Studium auf Fachfremdes oder publizieren nach Schema F – echte Wissenschaft bleibt selten.
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817)
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Wer schweigt, stimmt zu?
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Mir scheint Schweigen eher auf Ablehnung hinzudeuten.
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Aber die Lauten meinen alles zu dürfen, bis ein lautes Nein kommt.
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818)
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Modernes Energiesparen in der Beleuchtungstechnik geht auf Kosten der visuellen Ruhe, von der größeren Schadstoffproblematik bei Herstellung und Entsorgung der Leuchtkörper ganz zu schweigen.
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Glühlampen spenden ein flackerfreies Licht, mit einem gleichmäßigen (zu den kurzen Wellenlängen hin energetisch abfallenden) Spektrum. Sozusagen ein sehr ruhiges, weißes bzw. leicht gelbliches, gemütliches Feuer.
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Leuchtstofflicht ist im zeitlichen Verlauf unruhiger und hat zudem eine ungleichmäßige, auf wenige schmale Frequenzbereiche konzentrierte Farbverteilung; letzteres gilt in verstärktem Maße für Halbleiterlicht (LEDs).
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819)
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Pessimismus auf zwei Kernthesen reduziert:
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1. Das Leben ist im Wesentlichen schlecht.
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2. Das Leben ist im Wesentlichen unendlich.
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820)
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Östliche Weisheit hat die Nichtsidee vorsichtiger etabliert als westliche.
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Zwar gründet alles im Nichts, und man kann bewusst ins Nirvana gelangen.
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Aber das Nichts wird nicht durch Zerstörung real, ganz im Gegenteil.
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821)
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Nichtsglaube ist hypothetisches Verlängern des Ich in ein bewusstloses und damit leidfreies Vorher und Nachher.
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Aber diese Annahme könnte trügen, und statt Bewusstlosigkeit gibt's leider nur Bewusstseinsveränderung.
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Eigenes Sein nurmehr empathisch mit anderem Sein statt mit dem Nichts zu vergleichen, macht mich viel zufriedener.
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822)
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Woran ich nicht glaube, fällt mir leichter zu sagen als woran ich glaube.
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Aber müsste ich es kurz und positiv formulieren: an zufällige Wiedergeburt.
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Untypische Religion, da unmöglich, sich für etwas endgültig Besseres zu halten.
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823)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht.
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Das Sein ist schlecht, das Nichts wäre gut.
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Vielleicht muss jeder nach und nach alles sein?
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824)
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Mein Ich könnte ewig währen und dabei stetig wieder vergessen. Das je gegenwärtige Bewusstsein könnte unveränderlich zugrundeliegen, während die Welt veränderlich hindurchwandert.
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Biologisch ist keine Zelle meines Körpers älter als wenige Jahre. Geistig weiß ich von den meisten Tagen meines Lebens nichts mehr. Alte Fotos von mir zeigen im Wesentlichen einen anderen, fremden Menschen.
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Vielleicht werde ich dieses elende "Ich bin" nie niemals nicht los, wechsle damit für alle Zeiten durch alle Körper und Galaxien, bin der verdammte Fliegende Holländer, Nichtsein meine Sehnsucht.
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825)
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Menschen lieben Geschichten, worin der Held im entscheidenden Augenblick vom Saulus zum Paulus mutiert. Wie bequem!
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Der Himmel: ein Leben lang das eigene Gewinnerdasein feiern und dann in einem besinnlichen Moment etwas Selbstloses tun.
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Die Hölle: ein Leben lang unter diesen Arschlöchern leiden und dann in einem unerträglichen Moment die Rachebombe zünden.
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826)
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Das Leben im Ganzen bejahen oder verneinen – die beiden Optionen sind ethisch m.E. alles andere als symmetrisch.
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Ebenso wie einer, der Auge um Auge vergilt, längst noch nicht aufs Niveau dessen gesunken ist, der angefangen hat.
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Ich würde alles Leben eliminieren, wenn das idealiter ginge. Und handelte damit m.E. ungleich ethischer als sein Schöpfer.
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827)
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Mir unbegreiflich: die meisten Menschen erwarten mit ihrem Tod die Beförderung in eine leidfreiere oder gar völlig leidfreie Zone.
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Monotheisten sehen sich im Paradies, Hinduisten und Buddhisten in einem besseren nächsten Leben, und Realisten im bewusstlosen Nichts.
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Degradierung zu schlimmerem Dasein kommt kaum mehr jemandem in den Sinn. Wieso nicht? Wo gibt die Welt Anlass zu solchem Optimismus?
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828)
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Workaholics sind inzwischen selbst in der Philosophie am prominentesten.
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Wohlstand durch Arbeit hat fast jedes Ideal von Askese und Ruhe verdrängt.
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Wenn selbst Geistesgrößen Wein predigen statt Wasser – quo vadis, munde?
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829)
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Zivilisationskrankheit Aktionismus: in der Nacht nicht einschlafen können, im Alter nicht sterben können.
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Passiv sich den Träumen überlassen – das meiden immer mehr, denn Träume sind dunkel und kafkaesk.
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Esoteriker bleiben da vielleicht noch etwas aufgeschlossener, erwarten sich aber viel zu Rosiges.
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830)
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Fragt man Gernelebende, ob sie den Ungernelebenden zuliebe einverstanden wären mit dem Nichts für alle, verneinen sie.
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Ihnen ist es immer noch lieber, dass andere unglücklich sein müssen, als dass sie selbst nicht mehr glücklich sein dürfen.
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Fragt man nach moralischer Rechtfertigung dieser bewussten Lebensbejahung, grinsen sie. Es gibt keine – Hauptsache geil.
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831)
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Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein Jahr Hölle – z.B. in den Folterkammern der mittelalterlichen Inquisition – auf sich nehmen würde, wenn er dafür ein Jahr Himmel seiner Wahl erleben dürfte.
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Ich jedenfalls würde das Jahr Hölle auch für tausend Jahre Himmel nicht in Kauf zu nehmen wagen. Mir scheint unzweifelhaft, dass Freude nie auch nur annähernd so schön sein kann wie Leid schlimm.
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Wer das Leben trotzdem gutheißt, tut das wohl in der Hoffnung, vom Leiden einigermaßen verschont zu bleiben. Weiß um all die Gräuel, die um ihn herum unweigerlich geschehen, sagt aber ja auf gut Glück.
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832)
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Sartre, Heidegger u.a. haben gesagt, die Angst sei das Gefühl des ins Nichts hinausgehaltenen Seins.
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Seh ich umgekehrt: Angst habe ich da, wo es eben kein Nichts gibt, in dem mein Höllensturz endet.
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Reine Lust spüren die Hedonisten nur, weil sie Epikur mit seinem Nichts im Tod beim Wort nehmen.
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833)
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Unendlichkeit heißt, dass es kein Nichts i.S.v. Außerhalb des Seins gibt, wo das Sein ein sicheres Ende finden könnte.
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Seltsamerweise gelten die Endlichkeitsgläubigen als Skeptiker mit rasiermesserscharf reduziertem Weltbild.
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Geschichtlich gibt das Endlichkeitsbewusstsein aber eher den Anschein einer modernen Sicherheitsmaßnahme.
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834)
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Ich sein, ein anderer sein, nichtsein, ganz anders sein – streng solipsistisch sind die letzten drei bereits Jenseitsformen, aus meiner Sicht die letzten beiden, aus realistischer Sicht nur das letzte.
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Jetzt bin ich ich; vor meiner Geburt und nach meinem Tod meine ich ein anderer gewesen zu sein bzw. zu werden. Nichtsein und ganz anderes Sein gibt es m.E. nicht bzw. ist unwahrscheinlich.
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Der Unterschied zum denkerischen Mainstream ist meine Einstufung des Nichts als unwahrscheinliches Jenseits. Macht aber eine Menge aus, steht schließlich zwischen mir und dem Suizid.
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835)
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Ich denke zwar immer noch wie zu meinen agnostischen Zeiten: was im Tod kommt, ist ungewiss – und dass nichts kommt, ist eher unwahrscheinlich bzw. zu schön um wahr zu sein.
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Aber ich musste feststellen, dass dieses große Ungewisse psychologisch auch als eine Art Jenseits wirkt – man erwartet sich vom Tod etwas ganz und gar anderes als vom bekannten Leben.
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Deshalb habe ich meine Vorstellung vom Tod sozusagen religiös konkretisiert: stelle mir vor, man wird im Tod der andere von nebenan. Suizid als Alternative, wenn man lieber einer der anderen wäre.
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836)
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Lebensverneiner werden die letzten sein, welche von der Gesellschaft offiziell anerkannt werden, indem die Pädagogik Foren gutheißt, wo sie sich wiederfinden bzw. mit anderen austauschen können.
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Solange jedem Amokläufer von vorneherein ein krankhaft verwirrter Geist unterstellt wird, hält sich bei mir der Eindruck, dass noch nicht einmal die Intelligentia das eigentliche Problem begriffen hat.
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Gäbe es z.B. keine schwule Aufklärung, keinerlei Podium für sexuell Andersorientierte, würden diese Männer ebenfalls mit der Zeit krank bzw. verrückt. Kirche ist z.T. wohl ein starkes Indiz dafür.
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837)
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Blockuniversum: alle Zeiten existieren nebeneinander. Vielleicht lebt jeder nach dem Tod das ganze Leben seiner Kinder.
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Und erst wer auf Nachkommen verzichtet, beendet die ewig weit zurückreichende Kette und gelangt so zum erlösenden Nichts.
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Damit wäre ich viel eher einverstanden als mit so manch anderem religiösen Modell. Warum wohl hat es sich nicht etabliert?
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(Oder es geht darum, mit dem Verspeisen anderer aufzuhören. Jeder lebt alle Leben seiner Opfer. Erst wer ein Leben lang nicht mehr isst...)
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838)
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Realisten verbreiten ihren Glauben an die Endlichkeit des Lebens, obwohl Pessimisten ganz anders darauf reagieren als Optimisten.
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Pessimistischer Realismus bedeutet in letzter Konsequenz die individuelle wie kollektive Erlösung durch einen beschleunigten Tod.
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Pessimistischer Idealismus dagegen, wie er von Schopenhauer vertreten wurde, kennt keine Instant-Erlösung durch Mord und Totschlag.
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839)
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Panpsychismus scheint mir sehr plausibel, wenn er bedeutet: keinerlei Materie ohne Bewusstsein, keinerlei Bewusstsein ohne Materie – alles hätte demnach seine Innen- und seine Außenperspektive.
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Dualistische Trennung ist künstlich – materielose Geister und geistlose Materie sind Extreme für die Extremen, herangezogen zur mythischen All-Durchgeisterung bzw. materialistischen All-Ausbeutung.
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Emergentismus, wonach Bewusstsein erst bei großer Komplexität plötzlich auftaucht, tendiert zum zweiten Extrem. Umweltschutz erfordert wenigstens den gleichmäßig mit der Komplexität zunehmenden Respekt.
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840)
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Subjektivistischer oder objektivistischer Monismus? Entgegen dem Zeitgeist hänge ich eher den Idealisten an – hinter das Bewusstsein ist m.E. nicht zurückzugehen.
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Aber warum sich überhaupt von der dualistischen Geschichte in eine der beiden Ecken drängen lassen? Warum nicht einen neutralen Monismus des Seins wählen?
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Der alte Animismus legt noch Leib-Seele-Zweiheit nahe, der Panpsychismus aber verschiebt die Betonung aufs Monistische: Materie und Bewusstsein als untrennbar denken!
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841)
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Bewusstseinsmonismus – sollte ich den meinen weiter konkretisieren, würde ich auf das Prinzip Selbstähnlichkeit tippen. Kann denn Philosophie mehr sein als Analogieschluss von der eigenen Befindlichkeit auf die Welt?
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Demnach bestünde ich also aus kleineren Bewusstseinen und wäre ebenso Teil von größeren. Ein kleinstes Bewusstsein i.S.v. Monade oder ein größtes i.S.v. Gott gäbe es nicht – kein Anfang, kein Ende.
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Bewusstseinsforschung – sollte Optimisten wie Pessimisten interessieren. Erstere wollen ihr Bewusstsein so sicher wie möglich erhalten, letztere so sicher wie möglich loswerden. Bislang tappen wir im Dunkeln.
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842)
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Unmengen Spaß, und bei finaler Erschöpfung ab ins leidlose Nichts – in der Weltanschauung des modernen westlichen Menschen wird das Leid immer effizienter verdrängt.
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Wobei Spaß aber evt. auch heißt, sich das Leid der anderen im Fiction-Format und immer lieber auch im die Kamera voll draufhaltenden Reality-Format von außen anzuschauen.
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Theoretisch bleibt das Leid also im Bewusstsein der Spaßgesellschaft. Was mich fortgesetzt wundert ist, dass die Menschen i.d.R. davon ausgehen, verschont zu bleiben.
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843)
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Die irdische Welt ist ein Jammertal – soweit gebe ich dem Christentum recht.
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Dass die Sanftmütigen selig werden, gilt nicht für das Diesseits. Wer seine Schäfchen nach herrischer Herzenslust fickt und schlägt, der vielleicht schon – Weltverbesserer aber ist ein Scheißjob, man brennt aus.
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Dass die Sanftmütigen nach ihrem Tod im jenseitigen Himmelreich selig werden, ist weder zu bestätigen noch zu widerlegen. Als erfundene Gegenwelt ist der Himmel für mich der Rede wert, als echte jedoch nicht.
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844)
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Den Tod als bedingungslosen Leidbeendiger zu sehen, ist zu bedenkenlos – soweit gebe ich dem Christentum recht.
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Aber als Bedingung den Glauben an Jesus als den Sohn Gottes und andere Seltsamkeiten zu stellen, ist indiskutabel.
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Wäre es nicht grundsätzlich besser, die alten Erlösungsversprechen zu unterlassen? Auch das materialistische!
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845)
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Die Natur – segensreich und vom pervertierten Tier Mensch aufs Übelste bedroht? Im politisch grünen Sinne mag diese Betrachtungsweise z.T. stimmen.
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Das Leben an sich aber ist m.E. die eigentliche Katastrophe, und der Mensch evt. das einzige Lebewesen, das da wenigstens theoretisch oben rausguckt.
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Praktisch sind wir dem Leben zwar weiterhin noch genauso ausgeliefert wie die Tiere, Pflanzen usf. auch. Ein Licht angezündet aber hat der Geist.
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846)
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Das jenseitige Nichts der Materialisten wirkt auf mich wohl in etwa so anziehend wie die jenseitigen Huris auf den Moslem.
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Sobald das Leben Hindernisse vor mir auftürmt, sehne ich mich mit allen Fasern meines Seins danach, nicht mehr sein zu müssen.
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Wievele sprengen sich noch gen Erlösung, bevor ruchbar wird, dass gestrige wie heutige Jenseitsmodelle nur dreiste Hypothesen sind?
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847)
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Wer den Realisten glaubt, dass mit dem Tod alles endet, kann so pessimistisch ja gar nicht mehr drauf sein.
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Cioran empfand es zwar als Nachteil, geboren zu sein, aber der Vorteil, gestorben zu sein, folgte doch auf dem Fuße.
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Echter Pessimismus entsteht m.E. erst da, wo einer fest damit rechnet, glücklos und endlos am Leben zu bleiben.
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848)
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Trauer über Vergänglichkeit bzw. Fragilität des Lebens ist weniger tief als die über seine Unverwüstlichkeit bzw. Penetranz.
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Wer beklagt, dass alles bald aus und vorbei sein wird, gibt damit zu, dass er den Moment ja eigentlich wertschätzt.
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Nach Art der diametral von mir verschiedenen Optimisten gesprochen: Realisten, für Euch geht das Schlimmste doch schnell vorbei!
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849)
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Pessimist wird, wem das Leben in erster Linie wehtut.
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Optimisten glauben nicht, dass es das wirklich könnte.
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Und wem es doch passiert, der fliegt halt aus ihrem Club.
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850)
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Mein Pessimismus lässt mich zurückschrecken vor dem Destruktiven wie vor dem Konstruktiven.
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Vor dem Destruktiven, weil ich nicht an die Möglichkeit echter Vernichtung glaube. Und vor dem Konstruktiven, weil es extremer Vorsicht bedarf, um dabei nicht v.a. destruktiv zu wirken.
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Fürs Bewahren, höchstens noch fürs verständige Ändern im Schneckentempo bin ich. Aber nicht im bejahend-konservativen Lager.
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851)
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Die Spaßgenerationen kriegen mit der Industrialisierung ihrer Bildung ein Riesenproblem: Lernen ohne Verstehen macht einfach keinen Spaß.
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Während des Studiums mögen Belohnungen von ehrgeizigen Eltern bzw. Incentives von absolventenhungrigen Arbeitgebern das noch auffangen können.
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Der Einfallsreichtum im akademischen Beruf aber wird sich darauf beschränken, die Erledigung stinklangweiliger Spezialaufgaben hinauszuzögern.
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852)
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Im Grunde habe ich nichts gegen den Suizid. Jeder darf sich das Leben nehmen – schlimm genug, dass es einem von "Gott", der Gesellschaft, den Eltern ungefragt aufgezwungen wird.
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Höchst bedenklich finde ich allerdings den Suizid, welcher in der unhinterfragten Gewissheit begangen wird, dass der Tod das Leid ein für allemal beendet, welches das Leben mit sich bringt.
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Früher hielten die Menschen alles für beseelt – der Tod vermochte zu verändern, nicht aber auszulöschen. Heute gilt die Bewusstlosigkeit als sicher. Ich fürchte, diese Religion vergrößert das Leid.
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853)
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Schopenhauer sieht im Selbstmord u.a. ein Experiment, das die Antwort auf die Frage erzwingen will, welche Änderung das Dasein und die Erkenntnis durch den Tod erfahre.
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Wer soweit ist, das Experimentelle am Selbstmord zuzugeben bzw. wer begriffen hat, dass die Wirkung auf sein Bewusstsein ungewiss ist, soll ihn meinetwegen wagen dürfen.
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Bewusstlosigkeit wie auch Bewusstseinserweiterung scheinen mir jedoch wenig plausibel. Eher ein großer Schlaf mit großen Träumen – und dann geht das Leben leider weiter...
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854)
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Selbstmord sei widerlich egoistisch, so empören sich viele. Sie gehen aus vom erlösenden Nichts im Tod, sowie von der hauptsächlichen Prägung des Lebens durch die Mühsal gesellschaftlicher Pflichterfüllung.
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Egoistisch? Wer die Plackerei gegen das Nichtsein tauscht, also das Negative gegen das Neutrale, hat sich nichts genommen, was den anderen nicht ebenso freistünde. Oder bleibt man für die Unmündigen?
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Solange ich das Nichts im Tod vermutete, war ich auch suizidal. Jetzt kaum noch, und zwar aus ziemlich egoistischen Gründen: ich fürchte, der Freitod könnte v.a. für mich selbst weitere Verschlechterung bedeuten.
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855)
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Nichtwissenschaftler überschätzen die moderne Technologie. Allgemeine Aufgaben des Lebens löst der übliche Menschenverstand immer noch weit besser als die ausgeklügeltsten Expertensysteme.
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Die sinnvolle Ergänzung eines alltäglichen Bildausschnitts z.B. misslingt den intelligentesten Computeralgorithmen. Aber jedes Kind kann das Bild mit einer Mischung aus Weltwissen und Phantasie fertigmalen.
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Desgleichen auch beim Thema Tod. Selbstähnliche Fortsetzung des Lebens mag naiv anmuten, scheint mir aber naturkundiger als die fachmännischen Thesen aus den lebensfernen Laborwelten des Materialismus.
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856)
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Panpsychismus spricht allem Empfindungsfähigkeit zu. Und Einfühlungsvermögen ins andere wächst mit dessen Ähnlichkeit zu uns.
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Was Hund, Katze, Maus will und nicht will, können wir uns eher vorstellen als beim Elektron oder Sonnensystem.
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Wo keine Kommunikation möglich ist, bleibt immer noch die quietistische Basis: anderes möglichst in Ruhe lassen.
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(À la Nietzsche anzunehmen, das Passive stünde dem Aktiven zur freien Verfügung, halte ich für gefühllos bis boshaft.)
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857)
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Materialismus garantiert die Leidfreiheit allen ausgebeuteten irdischen "Materials" genauso wie die eigene Leidfreiheit nach dem Tod.
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Animisten bzw. Hylozoisten bzw. Panpsychisten bzw. Lebensmonisten wie ich können weder von ersterem noch von letzterem ausgehen.
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Deshalb sind wir vorsichtiger, mit anderem wie mit uns selbst. Kant: "Der Hylozoismus belebt alles, der Materialismus (...) tötet alles."
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858)
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Monotheismus gilt als die Tradition vor der Moderne, liegt aber auf halbem Weg vom Animismus zum Materialismus.
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Jüdisch-christliche Religion hat alles zu geistlosem Material degradiert, was der Mensch sich untertan machen wollte.
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Das Respekt Gebietende der Tiere, Pflanzen und Dinge um uns herum wurde radikal extrahiert, als Gott aus der Welt geschafft.
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859)
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Panpsychismus und Eliminativismus liegen in der Philosophie des Geistes als Lebensmonismus und Todesmonismus in Opposition – ersterer gründet gar alles auf eine lebendige Substanz, letzterer auf eine unbelebte.
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Steht Frau für das Lebensspendende und -behütende bzw. Mann für das Lebenszerstörende, dann wäre der Lebensmonismus resp. Todesmonismus die prototypisch weibliche resp. männliche Stoßrichtung der Philosophie.
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Für mich ist bei Schopenhauer beides perfekt vereint: eine Wohltat, meint er, zum absoluten Nichts zu gelangen, aber der Tod eröffne leider keine Aussicht darauf – nihilistischer Idealismus im alternativlosen realen Leben.
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860)
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Je öfter ich bei Verwandten und Bekannten ein Sterben mitansehen muss, welches den z.T. jahrelangen Niedergang eines selbstständigen Menschen zum hilflosen gegängelten Gemüse beinhaltet, desto idyllischer erscheint mir der von der Gesellschaft unbemerkte Tod in den eigenen vier Wänden.
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Aber die Medien stellen einsam Gestorbene, deren Tod sich der Nachbarschaft erst durch einen strengen Verwesungsgeruch mitteilt, stereotyperweise als bedauernswerte und von ihrer Mitwelt sträflich vernachlässigte Opfer der modernen Zeiten bzw. eines kalten Individualismus hin.
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Ein Nachmittag im Krankenhaus oder Altenheim, wo Regimenter von lauten Weißkitteln hemmungslos ihr Helfer- bzw. Herrschersyndrom an gebrochenen Patienten ausleben, macht mir die Privatisierung meines Abgangs aus diesem Leben zu einem schwierig aber lohnend anmutenden Ziel.
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861)
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Blinder Wille noch im kleinsten Mikrokosmos bzw. größten Makrokosmos? Dem heutigen, naturwissenschaftlich tief geprägten Menschen erscheint diese Weltsicht Schopenhauers vielleicht lächerlich anthropomorph.
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Aber ist es nicht viel abseitiger, alles vom Kleinsten bzw. Größten herkommend erklären zu wollen? Was weiß denn ich, ob Atome mental sind oder nicht? Mein Denken geht vom menschlichen Maß aus und sieht dann weiter.
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Zentral unsympathisch ist es mir, anderem den eigenen Willen aufzunötigen, evt. gar mit hämischem Grinsen. Und von dieser Abneigung ausgehend lasse ich am Ende vielleicht auch Elektronen und Sonnensystemen ihre Würde.
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862)
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Unmündige Missbrauchsopfer, nach Ansicht der Normalos aus purer Bosheit gequält, dürfen und sollen ihre Peiniger auch nach Jahrzehnten zur Rechenschaft ziehen – die Gesellschaft applaudiert.
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Aber was ist mit denen, die über Jahre ihrer Kindheit ebenso beschämende und schmerzhafte Behandlungen ganz offiziell über sich ergehen lassen mussten – z.B. wegen einer Vorhautverengung?
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Bei höherer Gewalt gilt nach wie vor: Mund halten bzw. dankbar sein. Sogar noch das Ventil des Pessimismus i.S.v. abstraktem Schimpfen auf die allfälligen Gräuel des Lebens bleibt geächtet.
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863)
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Kein realer Himmel, kein reales Nichts.
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Es gibt keine Erlösung. Pessimismus.
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Wider den Wahnsinn, wider den Suizid.
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864)
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Himmel bzw. Hölle hat keiner verdient, das Nichts m.E. jeder.
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Abscheu vor dem Nichts hat, wer sich im Sein den anderen gegenüber ständig in den Vorteil setzt. Sehnsucht nach dem Nichts hat, wer ständig in den Nachteil gesetzt wird.
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Im Nichts würde das Sein nicht vermisst – Sein bräucht's nicht.
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865)
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Das Nichts zu wollen heißt für mich, weder zu viel noch zu wenig zu wollen.
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Vielleicht habe ich eh keinerlei Einfluss auf mein Schicksal nach dem Tod.
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Aber falls ich gefragt werde, was ich will, weiß ich eine Antwort: Nichtsein.
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866)
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Christliche Kirchen, die uns Menschen nach dem Tod die Allversöhnung – also ein paradiesisches Jenseits für alle – prophezeien, sind eine winzige Minderheit geblieben.
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Ebenso selten ist Annihilationismus, welcher den Sündern Schlaf bzw. Bewusstlosigkeit gönnt. (Realisten hingegen glauben an die ewige Ruhe für ausnahmslos jeden.)
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Nein, die großen Kirchen drohen den Widerspenstigen mehr oder weniger deutlich mit der Hölle. Ist eben wirksamer als die Verlockung endlosen Hosiannasingens.
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867)
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An Gott glauben hat anscheinend etwas mit Maßstabsverlust zu tun – wieso sonst finden Christen freudvollen bzw. leidvollen Gemüts meinen Wunsch nach dem Nichts viel zu klein bzw. viel zu groß?
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Wer an den freundlichen Gott der Liebe glaubt, hält mein Streben nach dem Nichtsein für unnötige bis krankhafte Selbstkasteiung – wo Gott seine Geschöpfe doch glücklich machen wolle und könne.
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Wer aber den despotischen Herrgott fürchtet, hält mein Streben nach dem Nichtsein für egoistische Vermessenheit – wo Gott seine Geschöpfe doch zu demütigen Dienern bestimmt habe.
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(Das Ideal des Nichts ist m.E. perfekt ausbalanciert – niemand hat einen Vorteil bzw. Nachteil verdient, schon gar nicht auf Dauer, noch nicht einmal den gerechten Wechsel zwischen beiden.)
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868)
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Zuerst bin ich – Bewusstsein. Gibt es eine von mir unabhängige, objektive Realität? Fraglich. Und Nichtsein als Gegenteil von Sein? Noch fraglicher.
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Seltsam, aber die Charts dieser grundlegenden Gewissheiten haben sich im Lauf der Philosophiegeschichte genau andersherum aufgereiht:
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Zuerst wundert sich der Mensch, dass aus dem Nichts überhaupt etwas entstanden ist. Und dann noch mehr, dass die Realität ihn selbst hervorbringen konnte.
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869)
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Skeptizismus in seiner maximalen Ausprägung dürfte ein Solipsismus sein, welcher alles für den Inhalt eines individuellen Bewusstseins hält: Ich = Gott. Denk ich nur selten.
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Als nächstes käme dann ein Idealismus kollektiven Bewusstseins, wobei mein individuelles Bewusstsein mit vielen anderen in Verbindung steht. Seh ich meistens so.
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Der heute übliche Realismus nimmt eine materielle Welt an, aus der Bewusstsein als komplexe Ausnahme hervorgeht und wieder verschwindet. Glaub ich weniger.
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(M.E. weit hergeholt, wenn um das Ich, das Wir und das Materielle herum auch noch das Nichts sein soll. Aber gerade Anhänger dieser Weltanschauung nennen sich Skeptiker.)
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870)
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Für Menschen im Elend wirkt die Versicherung endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod als Aufforderung zu Raubmord und Suizid.
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Die Weltsicht des Materialismus eignet sich also – wenn überhaupt – nur für eine bereits zu Wohlstand gelangte Gesellschaft.
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Dennoch wird jene Erlösungsbotschaft des Materialismus die Armen viel schneller erreichen als der Wohlstand – und dann?
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(Materialismus ist kurzsichtig. Individuelles wie gesellschaftliches Leben ist stabiler in der Annahme seiner Ewigkeit.)
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871)
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Spiritualismus will das Ich vom Weltlichen lösen, Materialismus die Welt vom Ichlichen.
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Beides eskapistisch – was ich befürworte, solange dabei das unerreichbare Ideal betont wird.
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Monistischer Panpsychismus stellt klar: spiritueller wie materieller Reduktionismus ist künstlich.
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872)
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Wer alles für mehr oder weniger empfindsam hält, überlegt sich dreimal, was er mit seiner Umwelt anstellt.
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Vielleicht ist Panpsychismus die wesentliche Triebfeder für ein Denken anstelle des üblichen Handelns.
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Meine Ethik ist die des in Ruhe Lassens. Aktivismus heißt den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
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873)
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Tschlaaand-Grölen, Vuvuzela & Co. – jedes große Fußballfest schickt inzwischen seine eigene Mode des Lärmens in die Welt.
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Die Dezibelwerte liegen im dreistelligen Bereich und gelten den stolzen Fans als Qualitätsmerkmal ihres Treibens.
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Erst schwerhörig sind sie dann evt. lärmempfindlich – Innenohrschädigung senkt die Unbehaglichkeitsschwelle (sog. Recruitment).
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874)
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Materia, lateinisch für Bauholz, trifft die Sache genau: den Materialisten ist alles nur Material für ihre kreativen Vorhaben.
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Panpsychisten wie ich erscheinen ihnen als Spinner, die Bewusstsein vermuten, wo offensichtlich keines sein könne.
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Ich meine, der gezwungenere Akt besteht darin, allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, Empfindsamkeit abzusprechen.
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875)
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Das Christentum fungiert für seine sonnigen Gemüter als Du-Darfst-Religion, für seine verhagelten Gemüter als Du-Darfst-Nicht- bzw. Du-Musst-Religion.
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Die Erlaubnis zur Untertanmachung der Erde, das Verbot von Homo- und Autosexualität, das Gebot der Gottesliebe lässt mir die Haare zu Berge stehen.
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Und was sich aus heutiger physikalistischer, biologistischer, psychologistischer Weltsicht ableitet, ist i.a. schlimmer statt besser. Die Welt bleibt schlecht.
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876)
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Allein wenn ich sehe, was Menschen alles wegwerfen, schäme ich mich für die Gattung.
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Eine hohe Müllsteuer müsste schon beim Wareneinkauf erhoben werden, allermindestens.
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In praxi läuft es eher umgekehrt: je billiger einer einkauft, desto mehr Müll fällt bei ihm an.
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877)
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Panpsychistisch befürchte ich, dass alles leidet, auch die "niederen" Tiere, Pflanzen, Dinge etc. Obwohl der heute übliche Emergentismus den weniger komplexen Organismen Bewusstsein und Willen abspricht.
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Ein weiteres Argument für unser beliebiges Verfügen über denjenigen Anteil der Welt, mit dem wir nicht kommunizieren können: woher wollen wir denn wissen, dass z.B. der Stein nicht gerne geschliffen wird?
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Im Zweifel gehe ich jedoch weiterhin davon aus, dass lieber in Ruhe gelassen werden will, wer nichts sagt oder tut, was auf das Gegenteil schließen lässt. Vergnügen wie Unrecht ist i.a. auf Seiten der Aktiven.
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878)
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Bewusstsein gilt den Bewussten heute als hochspezieller Sonderfall im All, Bewusstlosigkeit als All-Gemeinzustand.
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Ähnlich galt früher das irdische Jammertal seinen Passanten nur als lokales Missgeschick, drumrum Garten Eden.
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Die Menschen wollen nicht einsehen: What you see is what you get. Ihr Leid ist per definitionem hinterm Horizont zu Ende.
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879)
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So oder anders oder garnicht?
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Anders oder garnicht ist nicht.
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Leben ist und bleibt nunmal so.
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880)
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Moderne Ästheten schmücken sich gerne mit nagelneuen Gegenständen, ersetzen die alten nach Modelaune statt nach funktionalen Kriterien.
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Ökologische Bedenken werden belächelt oder in die eigenen Dienste gestellt: neueste Technik sei ja auch in puncto Umweltschutz auf neuestem Stand.
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Solche Luxusmenschen sind eigentlich gar keine Verbraucher mehr – alles wird ausgemustert längst bevor es wirklich verbraucht ist.
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881)
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Streng genommen ist oder wird im Pessimismus bzw. Optimismus alles so schlimm bzw. gut wie irgend möglich.
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Faktisch differenziert sich Pessimismus wie Optimismus aus, in all die Graustufen zwischen Schwarz und Weiß.
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Begriffsverwirrung: jede Position kann optimistisch wie pessimistisch heißen, je nach Bezugspunkt des Betrachters.
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(Das Christentum z.B. gilt der realistischen Moderne als pessimistisch, insofern irdisches Dasein ein Jammertal ist gegen das Paradies.)
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882)
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Ruhe kommt vom Lebensentwurf, zu dem man steht.
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Bäcker ist nur, wer nicht demnächst vielleicht metzgert.
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Der Dynamische & Flexible ist nicht mehr, er wird bloß noch.
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883)
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Die Intelligentia pusht das Nietzscheanische, verankert die postchristliche Härte immer fester in ihrem Menschenbild.
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Dieselbe Intelligentia aber schüttelt verständnislos den Kopf über die verrohte Jugend, die unter ihrer Ägide nachwächst.
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Hü oder hott – entweder penetranter und robuster oder umsichtiger und empfindsamer. Rehabilitiert endlich das Weichei!
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884)
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Oh warum nur? Solch verzweifeltes Hinterfragen unserer Existenz enthält oft implizit die naive Annahme, Nichtsein sei der plausible Urgrund eines unplausiblen Seins.
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Wer begriffen hat, dass das Nichts vielmehr einen gedachten Spezialfall im ansonsten unterhintergehbaren Sein darstellt, ist reif für den idealistischen Pessimismus.
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Das Nichts ist dann unsere beste Idee – nicht mehr realer Defaultzustand, welcher nur ausnahmsweise und damit verwunderlicherweise dem leidvollen Sein weicht.
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885)
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Vor dem Sündenfall ein paradiesischer Garten, vor der Schöpfung überhaupt keine Welt? Das Märchen vom ursprünglichen Guten glaubt heute keiner mehr, das Märchen vom ursprünglichen Nichts aber bleibt Common Sense.
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Die Naturalisten vermuten zwar vor dem allgegenwärtigen Struggle For Life keine verlorengegangene Idylle – aber vor Evolution und Urknall phantasiert auch der Homo Scientificus die beliebig problemfreie Nichtwelt.
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Und so bleibt das Leben weiterhin gezeichnet von der Wut, dass nicht mehr Nichts ist – jeder Selbstmord und jeder Amoklauf singt ein Lied davon. Erst wer nicht mehr glaubt, dass Nichts realiter sein könnte, findet zu innerer Ruhe.
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886)
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Laut Monotheisten hat Gott für alle im diesseitigen Jammertal Benachteiligten jenseitigen Ausgleich vorgesehen.
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Aber warum gilt es nicht schon als Blasphemie ungläubiger Kritikaster, die irdische Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen?
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Menschen mit echtem Gottvertrauen wären sich doch sicher, dass ihnen immer recht geschieht, nicht erst am Jüngsten Tag.
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887)
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Mein Nihilismus besteht darin, dass ich das Nichts für besser hielte als das Sein.
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Weil es im Sein nicht mit rechten Dingen zugeht, weder en detail noch in summa.
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Und wenn nichts mehr existierte, gäbe es auch kein Leid mehr. So einfach, so gut.
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888)
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Sein ist so.
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Kaum anders.
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Nicht nicht.
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889)
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Höherer Gewalt hilflos ausgeliefert sind wir, und alles noch Ohnmächtigere als wir ist uns ausgeliefert.
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Sind wir nun eher Ausgebeutete oder Ausbeuter? Ich werde das Gefühl nicht los: in hohem Maße beides.
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Leider hebt sich das nicht etwa gegenseitig auf, da unsere Quäler und Gequälten nicht dieselben sind.
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(Oder schließt sich der Kreis im Verborgenen? Sind das Größte und das Kleinste identisch? Eso-Beruhigung.)
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890)
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Schlafen bedeutet für mich den Abstieg in eine dunklere, vollere, archaischere Traumwelt.
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Dennoch herrscht dort weniger tiefgründige Verzweiflung, Traumgefühle sind flüchtiger.
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Den Tod stelle ich mir vergleichbar vor, nur eine viel längere Vergangenheit verarbeitend.
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891)
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Träume sind in der modernen naturwissenschaftlich-technischen Denkungsart sowas wie nächtliche Filmproduktionen aus dem Material vergangener Tage.
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Aber zwischen dem kreativen Aneinanderreihen von Filmausschnitten und der Komposition von Lebensepisoden zum Traum liegen Welten.
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Technik ist i.a. nur naiv-kindliche Kopie von Natur und wird es wohl auch bleiben, bis sie sich demnächst versehentlich selber ausradiert.
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892)
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Technisches Verständnis kann überheblich und demütig machen.
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Einerseits verleiht es einem Macht über andere bzw. Ansehen bei anderen.
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Andererseits bleibt technischer Nachbau des Natürlichen in aller Regel ein Witz.
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893)
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Die größere Hälfte der Welt liegt für mich im Eingebildeten.
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Baudrillard hat recht, meine Realität ist primär medial vermittelt.
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Aber seit ich nicht mehr vom Leben erwarte, geht es mir besser.
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894)
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Der männliche Softie hat schlimmer versagt als er es sich in den 70ern irgend hat vorstellen können.
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Nicht nur dass er bei den männlichen Hardlinern auf taube Ohren stieß mit der Abschaffung des Kämpfens.
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Jetzt ist er auch noch von Frauen umgeben, die nichts lieber wollen als Männer besiegen. Traurig.
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895)
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So gerne die Realisten sich selbst als realistisch im Sinne von nüchtern und wirklichkeitsnah begreifen wollen, so sehr sind sie, was den Tod betrifft, eigentlich Idealisten i.S.v. naiv und wirklichkeitsfremd.
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Bemerken gar nicht, wie sie sich mit dem subjektiven Nichts i.S.v. totaler, endgültiger Bewusstlosigkeit ihr eigenes religiöses Märchen warmhalten. Denn wirklich wissen können wir vom Tod nur wenig.
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Wirklichkeitsnäher wäre allenfalls eine lebensnähere Vorstellung, also eine, wo das Leid nicht aufhört und wo es irgendwie zyklisch weitergeht mit allem – halt wie immer und uns nicht anders bekannt.
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896)
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Paradoxie Pessimismus: niemals kann alles maximal schlimm sein, stets lässt sich ein Vorteil konstruieren.
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Wenn alles immer nur schlimmer wird, kann man sich am Jetzt erfreuen – noch hat man es ja vergleichsweise gut.
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Wenn es aber gar nicht mehr schlimmer geht als jetzt, darf man sich getrost zurücklehnen – ist doch eh schon alles egal.
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897)
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Lebensbejaher sind religiös, wenn sie glauben, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.
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Lebensverneiner dagegen sind religiös, wenn sie glauben, dass das Leben mit dem Tod endet.
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Religiös ist, wer glaubt, im Tod treffe die von ihm bevorzugte Möglichkeit ein. Ich also nicht.
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898)
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Dass nach dem Tod nichts mehr kommt wäre mir lieber als dass es danach weitergeht wie zuvor. Dass ich ersteres nicht glaube, ist areligiös.
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Dass es nach dem Tod im Wesentlichen so bleibt wie es ist wäre mir lieber als dass alles ganz anders wird. Dass ich ersteres glaube, ist religiös.
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Religiös sein heißt, daran zu glauben, dass die von einem selbst bevorzugte Vision wahr wird. Demnach bin ich meist areligiös, manchmal religiös.
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899)
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Idealistischer Optimist: Das Leben ist schön und nach dem Tod geht es zum Glück schön weiter. So denken viele, ich nicht.
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Realistischer Optimist: Das Leben ist schön und mit dem Tod ist es leider vorbei. So denken viele, ich nicht.
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Realistischer Pessimist: Das Leben ist hässlich und mit dem Tod ist es zum Glück vorbei. So denken viele, ich nicht.
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(Idealistischer Pessimist: Das Leben ist hässlich und nach dem Tod geht es leider hässlich weiter. So denken wenige, ich schon.)
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900)
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Beim Tod tippe ich eher auf Hölle als auf Himmel, eher auf Alles als auf Nichts, eher auf Bekanntes als auf Unbekanntes.
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Mit den ersten beiden Tipps entscheide ich mich gegen meine Favourites, nur mit dem letzten dafür – bin eher Pessimist.
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Meine drei Todeshypothesen kommen wohl von Traum- und Nahtoderlebnissen – auch da gehts eher dunkel, dicht und irdisch zu.
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901)
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"Amoklauf" ist ein Begriff, der die weltanschauliche Überlegung hinter der Tat negiert, etwa wie "Depression" die rationalen Gründe für Lebenstraurigkeit.
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Selbstmord verhindert nicht, dass immer mehr Menschen ein dem eigenen vergleichbares Schicksal ereilt. Solidarisch folgt: wahlloses Töten gegen das Leben an sich.
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Wo der Tod als leidloses Nichts gilt, findet er leicht Befürworter – und dem Kinderkriegen der Lebensbejaher ist konsequent nur durch vielfachen Mord zu begegnen.
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902)
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Nach der Aufklärung stürzten sich alle Intellektuellen auf die Erkundung des natürlichen Bodensatzes: Physik, Biologie, Psychologie usw.
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Angeblich hat nun alles seine Gründe unterhalb unseres Verstandes, und auch die Kuren der Übel setzen alle dort unten an.
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Nennt mich gestrig, aber ich glaube, "Depressionen" und "Amokläufe" resultieren oft aus der rationalen Einsicht ins Leben.
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903)
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So wie die Liebe intuitiv zur Vermehrung des Lebens führt, indem Nachkommen gezeugt und empfangen werden, so führt der Hass zur Dezimierung des Lebens, z.B. durch Krieg.
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Unsere Gesellschaft empört sich darüber, dass Menschen, die das Leben hassen, anstatt nur sich selber umzubringen ihr Unglück auch Liebenden zum Verhängnis werden lassen.
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Aber jedem Kinderkriegenden sollte klar sein, dass er Krieg führt für das Leben und damit für die Fortsetzung des Unglücks. Wieso sollten da die Unglücklichen den Tod bei sich behalten?
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904)
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So wie Lebensliebende auch ihren Kindern ermöglichen wollen, Freude erfahren zu dürfen auf dieser Erde, so wollen Lebenshassende den Kindern von vornherein ersparen, dass sie auf dieser Erde Leid erfahren müssen.
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Nur selber keine Kinder zu kriegen aber ließe dem Leben den Sieg – wer wirklich einen Rückgang der Weltbevölkerung anstrebt, muss dafür töten. Das Gegenteil von Langeleben plus Kinderkriegen ist Mitnahmesuizid.
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Ballerspiele beruhigen den unmittelbaren Drang, die Menschheit zu dezimieren, ein Stück weit. Statt sie zu verbieten, sollten die Pädagogen mehr über den Tod reden: Zweifel daran wecken, dass er das leidlose Nichts sei.
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905)
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Christliche Tradition lässt Lebensliebe mit kollektivem Altruismus assoziieren, Lebenshass mit individuellem Egoismus – das Leben vs. mein Leben.
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Aber gerade aus ethischen Gründen ist das Leben an sich nach reiflicher Überlegung durchaus abzulehnen, und so geht es vielleicht auch den meisten Amokläufern um ein erlösendes Unschädlichmachen des Lebens als solches.
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Die Medien erklären jedesmal wieder ihre Verständnislosigkeit, wenn ein Amoklauf stattgefunden hat. Individuell betrachtet mag es keinen Sinn machen, wahllos auf Umstehende und schließlich auf sich selbst zu schießen – kollektiv betrachtet aber schon, die herrschende Schulmeinung vom Tod als leidlosem Nichtsein vorausgesetzt.
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(Und wenn ein Amokläufer mit lange gereiftem Plan aufs ganze Leben zielt statt in spontan auflodernder Urwut auf einzelne Gegner, sollte man einen anderen Namen für ihn finden.)
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906)
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Optimismus in Reinform findet Leben wie Tod optimal i.S.v. maximal freudvoll, Pessimismus in Reinform beides pessimal i.S.v. maximal leidvoll. Die meisten Menschen dürften weltanschauliche Zwischenpositionen einnehmen, werden jedoch als Optimisten bzw. Pessimisten bezeichnet, wenn ihre Lebens- und Todesbewertung über- bzw. unterdurchschnittlich ausfällt. Gesellschaftlich etabliert ist heute wohl die Auffassung, das Leben sei schön – wenn auch noch viel schöner vorstellbar – und dem Tod als freud- und leidlosem Zustand bei weitem vorzuziehen.
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Dementsprechend ist die erste Stufe des Pessimismus heute die Auffassung, das Leben sei nichtig und damit dem Tod gleichgestellt. Aus solchem Nihilismus resultiert Seelenruhe, da es nicht mehr so wichtig ist, ob man nun lebt oder tot ist. Absolut gesehen wäre diese Position, wo Leben und Tod auf der Null zu liegen kommen, die neutrale.
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Leben oder Tod, erst recht alle zwei als leidvollen Zustand negativ i.S.v. schlechter als Nichts zu begreifen ist heute – zumindest im Lichte der Öffentlichkeit – so selten geworden, dass dieser mein Pessimismus sich fast schon antiquiert nennen lassen muss.
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907)
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Wenn einer vom Tod totale, endgültige Bewusstlosigkeit erwartet, ist es doch kein Wunder, dass er ihn als bestmögliche Heilung allen irdischen Leides erachtet, welche er am liebsten jedem und allem angedeihen ließe.
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Dann liegt es nahe, solch radikale Kur nicht nur denen zu empfehlen, die schon oder noch eigenverantwortlich Hand an sich legen können, sondern auch den Unmündigen ins schmerzlose Nichtsein hinüberhelfen zu wollen.
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Gänzlich vom bewusstlosen Tod überzeugt muss es gar als schlimmer Egoismus erscheinen, nur sich selber umzubringen und die Welt hilflos leidend zurückzulassen. Wie viele wohl schon die reale Allvernichtung anvisieren?
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908)
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Religiös ist für mich schon mal jeder, der glaubt, dass sein Leid jemals enden wird.
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Da gehören also auch die allermeisten selbsternannten Areligiösen dazu.
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Moderne Skeptiker? Tröster, die Nichtexistenz des furchtbaren Ewigen versichernd.
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909)
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Wer Angst vor seinem Ende hat, leidet noch nicht wirklich.
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Wer wirklich leidet, fürchtet am allermeisten seine Ewigkeit.
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Materialistische Vergänglichkeit: Religion für Fortgeschrittene.
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910)
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Erste Religion: Dass das eigene Leben mit dem Tod nicht enden muss, sondern noch schöner weitergeht.
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Zweite Religion: Dass das eigene Leben und damit auch sein wachsendes Leid mit dem Tod garantiert endet.
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Dritte Religion: Dass das gegenwärtige Leben alles Leid in der Nussschale schon enthält, ewig so bleibt wie es ist.
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(Ohne Religion: Dass das eigene Leid immer schlimmer und noch schlimmer werden kann, in alle Ewigkeit.)
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911)
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Mit Wut und Trauer konstatiert die Moderne, wie Religion durch die Geschichte hindurch in Verteidigung ihrer Dogmen den wissenschaftlichen Fortschritt blockiert hat.
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Und übersieht, wie das naturwissenschaftlich geförderte Konkurrenzdogma – Ende allen Leidens im Tod – die Menschheit noch wesentlich mehr kosten könnte.
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Die Lehre von der absoluten Bewusstlosigkeit als Grundzustand wird die arme Basis schnell vereinnahmen, der Amoklauf von Todesangstbefreiten vielleicht bald kollektiv.
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912)
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Der gebildete Christ hält süffisant lächelnd Distanz zur breitenwirksamsten wie unfrohesten Botschaft des Christentums: zur Höllendrohung. Ebenso bleibt der Naturwissenschaftler agnostisch gegenüber jeder naturalistischen Gewissheit, im Tod warte die endgültige Bewusstlosigkeit.
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Aber solche kleinen Rückzieher der Intelligentia sind ihrerseits nicht breitenwirksam – für die meisten Menschen ist und bleibt die Kernaussage der Religionen, dass es nach dem Tod garantiert weitergeht bzw. die Kernaussage der modernen Naturwissenschaft, dass es dies eben garantiert nicht tut.
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Noch steht der Großteil der Weltbevölkerung unter religöser Fuchtel, fürchtet persönliche Konsequenzen schädlichen Handelns über den Tod hinaus. Das könnte so schnell kippen wie das Weltklima, vielleicht löst die Moderne schon bald einen Run auf den erlösenden Tod aus: kollektiver "Amoklauf".
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913)
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Vorwiegend heiter ist das Leben nur für einen winzigen Teil der Erdenbewohner – die Starken und Skrupellosen. Der riesige Rest leidet eher am Leben und vermag sich nicht aus seinem Elend zu befreien.
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Der Mensch weiß um den Tod und kann ihn beschleunigen, wurde aber religiös konditioniert, das Leben in Ehren zu halten – bei Zuwiderhandlung drohe weitere Verschlimmerung nach dem Tod.
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Setzt sich bei den Unglücklichen der Glaube durch, dass der Tod jegliches Leid für jedermann beende, bahnt sich kollektiver Suizid an. Ihn zu verhindern wurden die alten Religionen u.a. wohl erfunden.
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914)
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Gefühllos oder gar boshaft, gegen Leidende die seit Nietzsche immer nur weiter zum Mainstream werdende Philosophie in Anschlag zu bringen, wonach jeder seines (Un-)Glückes Schmied sei.
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Doppelte Strafe für die Schwachen: Leiden müssen und auch noch selber daran schuld sein. Und doppelter Lohn für die Starken: Freude am Leben haben und diese auch noch sich selber verdanken.
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Widerlich: die Schulen, Heime, Kliniken, Haftanstalten etc. voll mit Bedauernswerten, deren Betreuer ihnen permanent die vorgeblich eigene Verantwortung für ihr Lebensleid unter die Nase reiben.
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915)
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Besonders widersinnig, wenn die Masse der Verlierer auch noch die Philosophie der wenigen Gewinner nachplappert.
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Sich in allen möglichen Institutionen von nietzscheanisch konditionierten Pädagogen, Psychologen etc. indoktrinieren lässt.
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Das Privatfernsehen zeigt rund um die Uhr, wie laute "Coaches" den sozial Benachteiligten elitäre Parolen eintrichtern. Traurig.
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(Von intellektueller Seite wird kein nennenswerter Widerspruch eingelegt. Nietzsche hat alle im Sack, Empathie war gestern.)
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916)
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Es gibt mannigfaltige Vorstellungen vom Zustand des Totseins, aber wenig bis keine Auswahl innerhalb eines Glaubenssystems.
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Für den Monotheisten nur Himmel und Hölle, für den Naturalisten nur Bewusstlosigkeit, für den Hinduisten nur Wiedergeburt usw.
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Allein die Esoterik bietet dem Vielfalt gewohnten modernen Konsumenten ein vergleichsweise individuell zu schneiderndes Jenseits.
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917)
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Wenn schon nicht alles gutsein kann, dann soll wenigstens alles nichtsein – soweit der kindisch-bockige Amokläufer in mir.
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Mit dem Älterwerden jedoch kommt die Einsicht, dass es leider nur folgende Alternative gibt: so lassen oder anders machen.
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Als Pessimist halte ich den Konservatismus i.d.R. für weiser als den Progressivismus: besser schlecht lassen als noch schlechter machen.
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918)
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Wo naive Selbstherrlichkeit schlussendlich in dummdreiste Tätlichkeit mündet, ruft sie bei den Sensiblen blankes Entsetzen hervor.
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Nachvollziehbar, wie Geistesmenschen einst auf die Idee präventiver Einschüchterung durch religiöse Indoktrination verfallen konnten.
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Die Höllendrohung gegen Kinder jedoch treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus, ist noch verheerender als ausgewachsener Übermut.
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919)
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Idealist, Pessimist, Materialist und andere philosophische Bezeichnungen sind in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und dort anders, aber nicht ganz anders besetzt als in der Philosophie.
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Wer ist ein Pessimist? Philosophisch gesprochen: einer, der Leben, Sterben und Tod in summa negativ bewertet; einer, dem das Sein alles in allem lieber gestohlen bliebe vom alternativlosen Nichts.
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Ungläubig statt vertrauensselig, zögerlich statt vorwärtspreschend, traurig statt fröhlich – solch ein Charakter tendiert philosophisch zum Pessimismus, so er sein Lebensgefühl denn zur Philosophie abstrahiert.
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920)
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Grille und Ameise – die Fabel meinte noch, der typische soziale Gegensatz bestünde zwischen arbeitsscheuem Prasser und arbeitsamem Sparer.
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Der heute propagierte Zeitgenosse ist jedoch hedonistischer Workaholic – Arbeiten bis zum Umfallen, dafür in Luxus schwelgen als gäbs kein Morgen.
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Was die Welt stattdessen bräuchte: Muße und Askese – viel bedenken, wenig verbrauchen. Passt prima zusammen, ist trotzdem ganz und gar unpopulär.
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921)
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Oje, dieses schöne Leben geht viel zu schnell vorbei! – Nein, dieses elende Leben geht viel zu langsam vorbei! -- Oje, dieses Elend bleibt ewig so! – Nein, dieses Elend ist erst der Vorhof zur Hölle!
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Auch innerhalb des Pessimismus gäbe es konträre Ansichten, die ausdifferenziert werden könnten und sollten.
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Aber weil immer alle alles weißmalen wollen, gehen der Philosophie ihre verschiedenen Schwarztöne flöten.
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922)
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Den Pessimismus kritisierend meint der Philosoph Simmel, es sei unmöglich zu entscheiden, ob auf der Welt Freude oder Leid überwiege. Höchstens könne man angesichts des Leides überhaupt das Nichts vorziehen – was jedoch subjektiv sei.
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Ich meine, dass die große Mehrzahl der weltweit lebenden Menschen das Nichts dem Sein vorzöge – was spätestens dann objektiv wird, wenn aus dieser Einschätzung Taten resultieren.
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Das praktische Experiment läuft bereits: ob die Menschenwelt weiterhin am Leben bleiben will, wenn sich der feste Glaube an das Nichts im Tod erst mal allgemein durchgesetzt hat?
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923)
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Besser alle dürfen laut sein als alle müssen leise sein?
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Was dabei rauskommt, können viele nicht aushalten.
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Beispiel Schule: Fun für Robuste, Burnout für Sensible.
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924)
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Sich umbringen tut man doch eher nicht.
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Niederer Instinkt oder höhere Konvention?
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Sehen die Konventionslosen da klarer?
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925)
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Die meisten "Ungläubigen" sind heilfroh, dass es im modernen Denken keinen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt.
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Auf die Erwähnung der Möglichkeit hin, dass sich der Materialismus gründlich irren könnte, reagieren sie latent verärgert.
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Falls nach dem Tod doch noch etwas kommt, wollen sie vorher jedenfalls nicht mehr darüber nachdenken müssen.
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926)
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Wer zu den Pessimisten meint, die sollten ihr ungeliebtes Leben doch einfach aushauchen, geht dabei unbewusst weiterhin vom Leben als Geschenk aus.
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Echte Pessimisten empfinden das Leben aber als Zumutung oder gar als Strafe, die sich nur verschlimmert, wenn man ihr auszukommen versucht.
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"Außerdem ist uns vergönnt, morgen zu verrecken." zwinkert Hesse und stellt den erlösenden Tod in eine Reihe mit den Lebenswonnen der Hedonisten.
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927)
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Die Welt ist nicht genug – klingt erst mal melancholisch, taugt jedoch als Lebensmotto eher für hedonistische Aktionisten.
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Echten Pessimisten ist eigentlich alles zu viel. Statt Gier empfinden sie Ekel, sind ablehnend defensiv statt offensiv fordernd.
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Natürlich gilt das nur für ihren Geist. Ihr Körper bleibt ein stures Mängelwesen, gewöhnt sich leichter ans Zuviel als ans Zuwenig.
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928)
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Wie es wohl auf die östlichen Religionen wirkt, dass sich die westlichen so fulminant uneins bleiben?
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Sicher können jene keine wesentliche Verschiedenheit zwischen Judentum, Christentum und Islam feststellen.
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Selbst aus meiner hiesigen Sicht streitet sich der Westen, weil jede westliche Ideologie dasselbe will: Vorherrschaft.
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929)
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Inzwischen sieht sich die Wissenschaft veranlasst, die Pflanzenwelt weg vom Dinglichen hin zum Tierischen zu interpretieren.
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Vielleicht dauert es ja nicht mehr lange und auch bislang als tot erachteter Materie wird Leben angesehen bzw. zugestanden.
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Fragt sich immer dringender, wie die Würde all dieses Lebens zu vereinbaren ist mit seiner kalten analytischen Durchdringung im Labor.
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930)
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Kämpfen für mein Recht? Wie schlecht ist eine Welt, in der ich für das, was mir eigentlich zusteht, kämpfen muss?
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Und wie schlecht erst, wenn zwischen Kämpfen für mein Recht und für meinen Vorteil nicht mehr unterschieden wird?
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Egal, die Nietzscheaner trichtern ihren Kämpferischen Imperativ heutzutage schon den dreijährigen Mädchen ein.
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931)
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Das Nichts – relative Hölle für die einen, für die anderen relativer Himmel.
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Die einen erfüllt ihr nahendes Ende mit Angst, die anderen mit Sehnsucht.
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Das Leben ohne den Glauben an das Nichts im Tod: ein ziemlich anderes.
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932)
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Nichtsein statt Sein wählen zu können stünde uns doch zu.
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Samt seiner schmerzlosen und unzweifelhaften Erreichung.
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Aber Suizid garantiert uns keinesfalls, dass das Leid endet.
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933)
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Das Nichts naht seinen Gläubigen entweder zu schnell oder zu langsam.
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Deshalb kriegen sie es entweder mit der Angst oder mit der Wut.
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Momentan geht der Trend noch zur Seinsverlängerung.
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934)
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Meine Lebensverneinung scheint mir auf der Erkenntnis einer Wahrheit zu beruhen, die andere verdrängen.
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Deshalb wollte ich auch mit keinem, der das Leben bejaht, tauschen – machte es mich doch unwissender.
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Ich glaube, dass die Lebensbefürworter nur nicht wahrhaben wollen, dass sie eigentlich besser nicht wären.
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935)
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In der Pyramide des Lebens auf diesem Planeten rangiere ich wohlstandsmäßig wahrscheinlich ganz weit oben.
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Und doch, wenn ich an den Tod als endgültige Bewusstlosigkeit glaubte, würde ich meinen Platz gern baldigst räumen.
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Da ich aber befürchte, die Lebenspyramide ist ohne dauerhafte Todesalternative, bleib ich mal lieber wo ich bin.
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936)
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Monotheisten geben nicht zu: Gott ist böse. Sie rechnen sich höhere Chancen bei ihrem Schöpfer aus, wenn sie sich ihre wahre Meinung über seine Schöpfung verkneifen.
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Moderne geben nicht zu: Leben ist Leiden. Sie erwarten sich höheren Daseinsgenuss, wenn sie sich ihre wahre Meinung über die Beschaffenheit des Lebens verkneifen.
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Postmoderne geben nicht zu: generell schlechte Befindlichkeit. Sie verpönen Verallgemeinerung, verunmöglichen solcherlei Wahrheiten gleich von vornherein. Doppelt clever.
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937)
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Mitnahmesuizid, z.B. indem einer sich selber mit möglichst vielen anderen in die Luft sprengt, interpretiere ich als konkrete Aktion gegen das Leben bzw. für den Tod, darüber hinaus als Plädoyer mit symbolischer Wirkung.
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Wer fest an den Tod als leidlose Alternative zum gegenwärtigen Leben bzw. als Verhinderung von zukünftigem Leben glaubt, dessen Drang, in größerem Stil etwas gegen das Leben zu unternehmen, kann ich nachempfinden.
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Für mich als Panpsychisten aber reduzieren Mord und Selbstmord nur die komplexeren Formen des Lebens zu einfacheren – die Mörder liefern das Leben nur noch mehr dem Leid aus, welches sie eigentlich beenden wollen.
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938)
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Ich wünschte, das Leben wär mit dem Tod ein für allemal vorbei.
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Ich fürchte aber, dass es immer auf irgendeine Weise weitergeht.
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Immerhin: Nichtsglaube stellte vor hässliche Vernichtungsaufgaben.
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939)
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Das Leid muss aufhören – und gibt es keinen Weg hinab ins bewusstlose Nichtsein, bleibt nur der Weg hinauf ins bewusste Wohlsein.
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Materielles Wohlsein benötigt i.d.R. die Ausbeutung anderen Lebens, fürs intellektuelle Wohlsein genügen philosophische Einsichten.
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Schopenhauer hielt dauerhaftes Nichtsein für unerreichbar, erfreute sich der Reinheit seines intellektuellen Gewissens – eine heute überholte Einstellung?
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940)
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Panpsychismus geht davon aus, dass alles Materielle auch Bewusstsein besitzt.
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Woher der Glaube an Materie ohne Bewusstsein bzw. Bewusstsein ohne Materie?
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Vom Wunsch, Materie bedenkenlos benutzen bzw. dem leiblichen Leid entkommen zu können.
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941)
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Ängstliche Vorsicht ist vielleicht der Urgrund meiner pessimistischen Lebensauffassung, meines Panpsychismus u.a.
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Der Worst Case lässt mich auch dort noch große Bedenken haben, wo anderen die möglichen negativen Konsequenzen ihres Handelns schon unwahrscheinlich genug bzw. weit genug weg erscheinen.
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Ich bleibe am Leben, weil es nach dem Tod noch schlimmer werden könnte. Bin möglichst passiv, weil gar alles unter mir leiden könnte.
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942)
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Kleider machen Leute – ex negativo: keine Würde für nachlässig Gekleidete.
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Nicht den Konventionen genügende Schwache werden regelmäßig gedemütigt.
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Ordnungshüter warten nur darauf, solche Unleute ohne Zeugen anzutreffen.
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943)
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Zum absoluten Nichts zu gelangen wäre für ihn nur eine Wohltat (Lebenspessimismus). Der Tod eröffne aber leider keine Aussicht darauf (Todespessimismus).
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Es gehe wie es wolle (resignativer Quietismus).
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Er habe zum wenigsten ein reines intellektuelles Gewissen (philosophischer Moralismus).
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(Schopenhauers Satz zum Abschied enthält für mich alles Wesentliche. Gwinner dokumentiert ihn nur per indirekte Rede, aber zum Glück dokumentiert er ihn.)
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944)
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Das Leben ist a) leider endlich, b) zum Glück ewig, c) zum Glück endlich, d) leider ewig – so meine gefühlte Hitliste der populären Weltanschauungen.
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Dass es kein Nichts gebe, glauben noch relativ viele – aber dass es leider kein Nichts gebe, hört man nie jemanden sagen. Da bin ich ganz hinten gelandet.
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Die Endlichkeit als Glück findet sich in der populären Kultur hie und da – "Who wants to live forever?" – aber wo ist die Traurigkeit aufgrund vermuteter Ewigkeit?
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945)
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Frechheit siegt – und wer darunter leidet, ist angeblich gehemmt-depressiv, wer sich darüber beklagt, passiv-aggressiv.
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Die schneidigen Gewinner beschönigen alles Unverschämte, ziehen alle Zurückhaltung ins Lächerliche oder gar Kranke.
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HeldInnen in Film und Fernsehen – langsam aber sicher nurmehr Unsympathen, wie sie im Buche stehen. Nietzsche sei Dank.
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946)
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Gut wäre statt der Nietzscheanischen eine Schopenhauersche Psychologie, die den Zurückhaltenden Recht gibt.
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Mit einer Bestätigung ihrer Sanftheit wäre den Patienten wahrlich besser geholfen als mit einer Umerziehung zur Grobheit.
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Aber diese Kehrtwende ist inzwischen fast undenkbar, die Psychologie bemerkt ihren ruchlosen Optimismus gar nicht mehr.
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947)
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Märtyrer halten passiv aus, Revoluzzer greifen aktiv ein – beide ehrt die Gesellschaft.
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Aber wer sein Leid flieht oder sich darüber beklagt, erntet nur Hohn und Verachtung.
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Ich bevorzuge weiterhin letztere beiden Möglichkeiten – Gesellschaft hin oder her.
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948)
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"Sein oder Nichtsein", der vielleicht berühmteste Monolog unserer unermesslichen Literaturgeschichte, konstatiert unmissverständlich: Selbstmord wäre dem Leben vorzuziehen, wenn mit dem traumlosen Schlaf im Tod sicher gerechnet werden dürfte.
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Hamlet beklagt das Leben als etwas, das besser nicht wäre – und den Tod als etwas, dessen Chance auf Bewusstlosigkeit nur dem Tollkühnen genüge. Warum ist diese Botschaft so überaus prominent, wenn ihr Inhalt von so gut wie niemandem geglaubt wird?
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Verbannen die Menschen mit kalter Konsequenz ins kollektive Unterbewusste, was Shakespeare hier so genial auf den Punkt bringt? Wird diese unliebsame Wahrheit deshalb nur auf der Theaterbühne ausgesprochen, statt offiziell zur Conditio Humana erklärt?
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949)
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Als präfeministische Mädchen nach dem 2. Weltkrieg: von Chauvis gejagt.
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Als feministische Mütter der 70er: die eigenen Söhne zu Softies erzogen.
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Als postfeministische Alte heute: selber auf der Jagd nach jungen Softies.
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(Fortschritt ist eine Illusion: Unterdrückte – Revolutionäre – Unterdrücker.)
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950)
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Ist Weltschmerz nur etwas für Prinzen und Privatiers?
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Buddha, Hamlet, Schopenhauer kamen aus gutem Hause.
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Blockiert sonst spezifischer Mangel die allgemeine Moral?
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951)
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Pessimistischer Panpsychismus: Alles leidet ewig.
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Ist dieser mein Glaube überhaupt auszuhalten?
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99 Prozent glauben lieber was anderes.
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952)
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Den Traditionellen gilt das irdische Leben als einmalige Prüfung, das Leben insgesamt jedoch als ewig – und das sei gut so. Denn Gott sorge dafür, dass es seinen Dienern in der Ewigkeit an nichts fehle – und die Unbelehrbaren hätten ewigen Mangel verdient.
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Den Modernen gilt das Leben als endlicher Glücksfall – und rechtzeitig in vollen Zügen genossen müsse das halt genügen. Die Vergänglichkeit befreie schließlich vom immer unbequemer werdenden Körper, jenseits von diesem sei und bleibe – nichts.
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Den Gothics gilt das Leben als endlicher Unglücksfall, jenseits ihrer schwarz gewandeten bleichen Leiber sei und bleibe – nichts. Das Beste an diesem Trauerspiel: dass es in den erlösenden Tod münde. Und den feiern sie so lange und düster wie möglich.
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(Wer glaubt an ein Leid, das alle trifft und niemals endet? Nicht einmal populäre Begriffe für eine solche Weltanschauung gibt es. Die Goten markieren schon das dunkle Ende der Fahnenstange. Suizidieren sich evt. gar, ohne ihren Optimismus bemerkt zu haben.)
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953)
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Gott als pädagogisches Hilfskonstrukt zur leichteren Abnabelung von familiären Bezugspersonen?
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Vielleicht ist es auf Dauer ja besser, nur noch am idealen Rockzipfel zu hängen statt am realen?
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Ersterer wird nicht so leicht weltlich herrisch, verdrückt sich nicht plötzlich bzw. stirbt nicht einfach weg?
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954)
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Sein oder Nichtsein? Lieber Nichtsein.
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Sosein oder Anderssein? Lieber Sosein.
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Moderne verleitete mich zur ersten Frage.
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955)
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Heimliches Motiv der modernen Naturwissenschaft: uns unserer Endlichkeit zu versichern.
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Wir wollen den Urknall – und davor Nichts. Ein emergentes Bewusstsein – und darunter Nichts. Und danach bzw. darüber erst recht.
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Wissenschaftlicher Ehrgeiz als sublimierte Unendlichkeitsangst – so ist auch seine historische Herkunft vom Religiösen kein Wunder.
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956)
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Einer findet mich nett, ich ihn auch.
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Er bringt noch einen mit, den er mag.
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Der ist mir unsympathisch – weil wie ich?
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957)
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Wie viel geistige Arbeit wird durch Bauarbeiten beeinträchtigt oder verhindert? Von wegen Bildungsstandort!
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Ein reicher Lebemann, der seine Dachterrassenwohnung alle naslang vom Innenarchitekten umstylen lässt...
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...lähmt alle armen Kopfarbeiter in seiner Umgebung, die sich bei dem Lärm nicht konzentrieren können.
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958)
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Angst von lateinisch angustus, eng – Benennung eines bestimmten unangenehmen Gefühls von Seiten der Expansiven.
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Aber wird eben dieses Gefühl nicht noch viel intensiver, wenn weit und breit kein Ende des Leids absehbar ist?
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Wissenschaft ist m.E. nur oberflächlich expansiv – im Grunde aber etabliert sie Seinsgrenzen, soll Endlichkeit garantieren.
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959)
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Nachhaltigkeit rührte wohl nur von der Befürchtung, die allewige Zukunft im selbst angerichteten Saustall verbringen zu müssen.
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Carpe diem – Instant-Philosophie für Gewinner, mittlerweile aus allen Medien quellend – hat's nurmehr mit den geilen Momenten.
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Auch die gehobene Autorenschaft schwelgt im vandalistischen Erlebnishunger. Aufhören zu pflücken, stehen lassen, ruhig werden.
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960)
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Zuerst hat mich nur empört, dass die Tradition den Selbstmord verbietet, mit dem ewigen schlimmsten Jenseits im Tod drohend.
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Heute empört mich gleichermaßen, dass die Moderne den Suizid nahelegt, mit dem endgültigen leidlosen Nichts im Tod lockend.
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Beide Verkündungen sind philosophisch betrachtet vorlaut und extrem. Aber damals wie heute erreicht die ruhige Philosophie nur wenige.
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961)
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Dem Tod mit Fassung begegnen zu können – wünscht sich das nicht jeder?
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Den Traditionellen ist das Paradies versprochen, den Modernen das Nichts – mir ist im Lauf meines Lebens beides abhanden gekommen.
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Ich verlasse mich auf das ewige Sosein. Ansonsten käme noch Sich-Einlassen auf das Anderssein in Frage, vielleicht wäre sogar Gewöhnung an den Gedanken der Hölle möglich.
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962)
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Keine Einigkeit in einer Welt, wo die einen das Leben lieben und die anderen es hassen. Wo die einen das Ende fürchten und die anderen es herbeisehnen.
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Liebe zum Leben gibt Kraft – die Lebensbejaher konnten die Lebensverneiner bislang hinreichend einschüchtern. Aber unter den Grinsemasken zuckt Wut.
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Haben die Bejaher schon verloren, ohne es zu wissen? Das moderne Versprechen vom leidlosen Nichts im Tod zuzulassen könnte der Fehler ihres Lebens gewesen sein.
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963)
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Zur Unterhaltung fingieren die Kreativen i.a. extravertierte Helden, denen die Welt ein Raum zum Austoben ist, ein Selbstbedienungsladen, eine Bühne.
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Den extravertierten Hauptfiguren dienen und danken die introvertierten Randfiguren – oder empören sich spießigerweise, zur Schadenfreude des Publikums.
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Mag sein, dass sich Extravertierte ihre Welt so wünschen – aber sind denn Introvertierte mit solcherart Unterhaltung zufrieden? Wären alle Intros lieber Extras?
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964)
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Statt einer Wissensgesellschaft (Know-how) wären wir besser eine Verstehensgesellschaft (Know-why).
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Etwas zu verstehen beruhigt – der Wissenssammler jedoch wird immer hektischer und unzufriedener.
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Wer vom Addieren an nach Schema F lernt, der lernt evt. lebenslang weiter, ohne je Einsichten zu erlangen.
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965)
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Pessimismus heißt streng genommen, dass es nicht mehr schlimmer werden kann.
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Wer bereits in der schlechtesten aller möglichen Welten lebt, darf eigentlich aufatmen.
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Denn noch schlimmer wäre doch, alles würde auf ewig immer noch schlimmer.
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(Dann wiederum könnte man froh sein, dass es noch nicht soweit ist – geht so Optimismus?)
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966)
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Wer hat Ruhe verdient?
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Unsere Filmhelden jedenfalls nicht: machen Krach, wie und wo und wann sie wollen – aber in ihren romantischen Momenten umgibt sie dann eine heilige Stille.
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Überhaupt sind unsere Vorbilder immer solche, die davon profitieren, dass es ihnen die anderen nicht gleichtun. So sind und bleiben wir ein widerlich elitärer Haufen.
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967)
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Den Dreisten ist die nicht bedauernd und leise, sondern fröhlich und laut geäußerte Entschuldigung nur Mittel, um mit Unverschämtheiten durchzukommen, welche ihnen mitnichten leidtun.
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Modernes Selbstbewusstsein betrachtet Schuldgefühle als unnötigen Ballast – bereut nichts, solange das eigene Handeln Vorteile einbringt, trainiert schlechtes Gewissen ab und ölige Jovialität an.
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"Ach, Entschuldigung!" leitet heute zumeist freche Anfragen von extrovertierten Hedonisten ein, die sich in ihrer Welt umsehen mit der drängenden Frage, was ihre Nächsten für sie tun können.
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968)
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Das selbsternannte Gute strebt nach Vernichtung des vermeintlich Bösen.
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Als Ruhesuchender zöge ich es dagegen vor, selber nicht mehr zu existieren.
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Sollen die Ruheverächter weiterleben und weiterkämpfen – ohne uns Unwillige.
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(This was never my world. -- Fighting for peace is like fucking for virginity.)
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969)
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Das Leben terrorisiert uns Menschen.
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Wir geben den Terror nach unten weiter.
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Am bedauerlichsten ist die Schadenfreude.
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970)
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Die Welt wäre besser nicht.
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Ist aber – unverbesserlich schlecht.
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Rückzug, Erdulden, Defensive, Offensive.
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971)
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Pessimismus mache es sich zu einfach, hört man Optimisten oft sagen.
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Tatsächlich ist seine Vertretung jedoch schwer, ganz gegen den Mainstream.
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Sich als Pessimist zu outen heißt, scheele Blicke bis Verachtung zu provozieren.
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(Erst überoptimistische Manie mag gesellschaftlich auf ähnliche Ablehnung stoßen.)
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972)
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Der industrialisierte Mensch ist gerade dabei, sich durch immensen zusätzlichen Energie- und Materialaufwand ein reines ökologisches Gewissen zu erarbeiten.
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Wär doch gelacht, wenn sich durch weitere Steigerung von Entwicklungs- und Erneuerungsanstrengungen nicht sparsamere Technologien realisieren ließen.
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Entschleunigung bis hin zum Produktionsverzicht ist und bleibt zwar der einzig wahre Umweltschutz – aber Müßiggang halten die Hyperaktiven nunmal nicht aus.
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973)
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Lebensverneinung bzw. Lebensbejahung heißt, dass einem die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz angenehm bzw. unangenehm ist.
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Nichtsgläubigkeit bzw. Nichtsungläubigkeit heißt, dass einem die eigene Nichtexistenz vor und nach dem Leben sicher bzw. unsicher scheint.
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Lebensverneinend und nichtsungläubig bin ich – was so selten jemand eingesteht, dass es dafür keine gesellschaftsübliche Bezeichnung gibt.
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974)
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Industrielle überziehen die Welt mit infernalischem Lärm.
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Selber wohnen sie in völlig ruhig gelegenen Residenzen.
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Machen den anderen kaputt, was ihnen selbst heilig ist.
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975)
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Der moderne Mensch kommt nach Heraklit, er glaubt an ein Werden aus dem Nichts und an ein Vergehen ins Nichts.
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Wer noch mit Parmenides argumentiert – Sein ist, Nichts ist nicht – erntet damit nur Lächeln und Kopfschütteln.
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Hie und da sagt es wieder einer: "Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer!" (Büchner, Dantons Tod). Aber es bleibt nicht haften.
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976)
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Jeder müsste – zugleich oder nacheinander – alles sein, das wäre gerecht.
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Aber fast jeder geht davon aus, er müsse nur seinen Teil bestehen.
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Und ums eigene winzige Sein herum warte das eigene riesige Nichtsein.
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977)
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Wenn Gott im Himmel darauf wartet, seine Diener zu verwöhnen, wieso dann nicht ums Verrecken seinen Willen tun?
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Weil kaum mehr jemand daran glauben kann, dass das wahre Leben erst nach dem irdischen Schluss kommt.
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Aber die zweite Kulisse dahinter, worauf das leidlose Nichts im Tod gemalt ist, wirkt für die meisten noch echt genug.
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978)
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Wesentlich gruseliger als Altgewordene sind krampfhaft Junggebliebene.
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Optimisten schminken gefürchtetes Vergehen sogar auf geliebtes Werden um.
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Pessimisten finden sich drein ins leidige Sein und bleiben lieber authentisch.
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979)
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Woher kommt die philosophische Ruhe? Aus der Einsicht: das Sein ist das Sein ist das Sein...
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Die Unwahrscheinlichkeit von Himmel und Hölle erschließt sich heute schon den meisten.
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Aber die Unwahrscheinlichkeit von Nichts und Ganz Anderem noch den wenigsten.
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980)
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Der echte Pessimist hängt an seinem Leben, auch ohne ein Vergnügen, eine Verpflichtung oder einen Sinn darin zu sehen.
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Auch ohne das Schöne, Gute und Wahre bleibt Selbsterhaltung wünschenswert, wenn einer nicht an Erlösung im Tod glauben kann.
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"...ich bin gerad einmal an diese Art des Faulens gewöhnt; der Teufel weiß, wie ich mit einer andern zurechtkomme." Büchners Danton
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981)
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Philosophie traut die größte Problemkompetenz dem Leidenden selber zu und empfiehlt ihm, sich seinen eigenen Reim auf das Leben zu machen. Begreift ihn als denkendes Wesen, sieht seine Problematik hinbezogen auf die gegenwärtig angenommene Lebenseinstellung.
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Psychotherapie dagegen gibt die größere Hälfte der Problemkompetenz in die Hände eines anderen, des Therapeuten. Begreift den Patienten als entwicklungsgestört, sieht seine Problematik rückbezogen auf frühkindlich erworbene, tief eingeprägte Verhaltensmuster.
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Psychomedizin schließlich delegiert die Problemkompetenz gänzlich an den Arzt bzw. die Pharmaindustrie. Begreift den Patienten als Automaten mit fehlerhafter Regelung, sieht seine Problematik rückbezogen auf eine vererbte, fix und fertig vorgegebene Hirnchemie.
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(Verkehrte Welt: bei unpässlicher Stimmung gleich zum Arzt und ein Rezept für Tabletten holen; wenns denn sein muss zusätzlich in Therapie zum Psychologen; zuallerletzt oder nie die gesellschaftsübliche Haltung zu Leben und Tod überdenken bzw. revidieren.)
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982)
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Zeugt es von Pessimismus, wenn sich einer umbringt? Von Optimismus, wenn einer weiterlebt?
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Könnte umgekehrt sein: der Selbstmörder hat Hoffnung auf Erlösung im Tod, der sich ans Leben Klammernde nicht.
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Vielleicht beruht ja gar jeglicher Lebenswille auf unbewusstem Misstrauen gegen den Tod.
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983)
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Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden – ist ärztlicher Grundsatz.
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Passt aber besser als Motto für den Quietisten: im Zweifel passiv bleiben.
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Wo etwas schnell zum Teufel geht, ist in aller Regel Aktionismus schuld.
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984)
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Undogmatisch und gelassen zu sein liegt nicht in jedermanns eigener Hand.
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Wo keine Ruhe und Identität mehr zu finden ist, da staut sich immer mehr Zorn auf.
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Das Explodieren des Selbstmordattentäters ist tätlicher Ausdruck seines Seelenzustands.
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985)
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Fanatische Religiosität macht einen irgendwann zur lebenden Bombe?
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Oft ist sie nur Ausdruck verzweifelter Suche nach Ruhe und Identität.
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Unaushaltbar schneller weltlicher Wandel wirft einen aus der Bahn.
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986)
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In der postmodernen Körperwelt wirft man legale wie illegale Pharmaka ein, unterzieht sich OPs in Kliniken und Piercing-Studios.
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Zur Lebenseinstellung befragt ventiliert man Gemeinplätze wie "Carpe diem!" oder "Fülle die Tage mit Leben, nicht das Leben mit Tagen!".
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Eigene Denkansätze werden nicht weiter angestrebt. Auf unserem Rückweg zum Körper geht der Geist wieder vor die Hunde.
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987)
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Pessimismus bedeutet für mich, den Fehler weiterhin dort zu sehen, wo er ist – auch wenn er sich unmöglich korrigieren lässt.
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Optimisten dagegen suchen das Falsche gerne dort, wo sie es bekämpfen können – auch um den Preis falscher Schuldzuweisung.
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Die Welt kann man nicht ändern, sich selber schon – so haben sie eben Gott zum Guten und die Menschen zu Sündern erklärt.
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988)
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Materialisten vs. Religiöse, Skeptiker vs. Spirituelle etc. – in diesen Streits ist immer nur von ungewollter Endlichkeit und gewollter Ewigkeit die Rede. Nie von ungewollter Ewigkeit.
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Mystizismus sei die Unreife, des Lebens Profanität und Endlichkeit nicht wahrhaben zu wollen. Aber keiner sagt, Naturalismus sei die sublimierte Angst vor Übernatürlichem und Ewigkeit.
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Weder die Körpermenschen noch die Geistmenschen haben die Wahrscheinlichkeit niemals endenden Leides auf dem Schirm. Sie alle sind sich ihrer Erlösung gewiss.
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989)
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Es gibt Leute, die glauben, dass jeder gerne lebt. Und wohl auch Leute, die glauben, dass keiner gerne lebt. Sowie alle Prozentverteilungen dazwischen.
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Es gibt Leute, die sagen, dass sie selbst gerne leben. Und welche, die sagen, dass sie selbst nicht gerne leben. Und das ist wahr oder gelogen.
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Ich denke, die meisten Leute würden sagen, dass sie gerne leben. Und das wäre m.E. meistens gelogen. Wenn auch aufgrund lebenslanger Indoktrination.
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990)
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Den Lauten geschähe es recht, wenn sie unter sich sein müssten, dasein müssten ohne die Leisen.
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Aber wie die Gefängnisgemeinschaft für die weniger Bösen darin die größere Strafe ist, so wären ohne die Leisen die weniger Lauten gestrafter als die Lautesten.
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Diese Welt ist falsch gemacht und richtig noch nicht einmal denkbar.
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991)
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Je materialistischer eine Gesellschaft schon geworden ist, desto kinderärmer ist sie auch – so weit, so klar, was die demographischen Fakten anbelangt.
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Moderne Egoisten wollen eben alles Schöne für sich verbrauchen bzw. genießen – so lautet die übliche, Lebensfreude unterstellende Interpretation. Die üblicherweise übersehene, lebensleidige: im Materialismus ist der Mensch verantwortlicher Schöpfer seiner Nachkommenschaft, d.h. die Kinder sind nicht gottgewollt, sondern die Eltern an ihnen bzw. ihrem Lebensleid schuld.
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Kollektiver Suizid beginnt damit, dass bewusst keine Kinder mehr in diese schlechte Welt gesetzt werden – und zwar auch, wenn nicht gar vor allem den Kindern zuliebe.
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992)
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Suizid ist rational, emotional oder beides: Indoktrination mit einer Erlösungslehre überzeugt vom Tod als leidfreier Alternative zum Leben; Wut und Trotz verführen zum Sich-Luft-Machen in einer Gewalttat gegen sich selbst.
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Aber fast alle entscheiden sich fürs Weiterleben, auch wenn es ihnen noch so schlecht geht – weil der Tod intuitiv als zusätzliche Verschlimmerung der Lebenssituation angesehen wird.
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Und was ist mit der Freude daran, am Leben zu sein? Nur eine gesellschaftliche Konvention, die keiner ernsthaften Überprüfung standhält.
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993)
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Das Sein – abstoßend und fest.
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Das Nichts – anziehend und flüchtig.
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Das ist echter Pessimismus – sehr selten.
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994)
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Wer das Leben negativ bewertet und zudem an das Nichts im Tod glaubt, ist selbstmordgefährdet.
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Unsere Gesellschaft legt Suizidalen dringend und ausschließlich die positive Umbewertung des Lebens nahe.
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Zweifel am Nichts im Tod werden nicht gesät – auch die materialistische Erlösungslehre ist dogmatisch.
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995)
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Früher durfte man nicht offen sagen, mit dem Tod sei alles aus und vorbei, aber das Leben hatte den offiziellen Status eines Jammertals.
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Heute ist das sichere Ende im Tod Common Sense, aber das Leben im Ganzen negativ zu beurteilen kommt gesellschaftlich nicht in Frage.
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Für Pessimisten doppelt schlimm: die Verheißung des Nichts verführt zum Suizid, die Tabuisierung gemeinsamen Bedauerns verhindert Katharsis.
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996)
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Den Menschen muss es gestattet sein, nach getaner Arbeit Missstände zu beklagen, welche nicht zu ändern sind.
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Verheerend, das "Jammern" zu verbieten bzw. stets mit der brüsken Aufforderung "Dann tu doch was!" zu kontern.
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In einer schlechten Welt, die im Wesen bleibt wie sie ist, wird irre, wer alle Schuld an ihrer Schlechtigkeit tragen soll.
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997)
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Wer ist schuld an meinem Elend? Ich selber, andere, "Gott" oder niemand?
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Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, wogegen sich meine Wut richtet.
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Warum z.B. nicht auf Gott schimpfen? Wo er doch das Nichts abgeschafft hat?
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(Die Wut runterzuschlucken hieße auch, sie gegen mich selbst zu richten...)
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998)
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Hauptsache, du hast es versucht?
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Besser nichts getan als Mist gebaut.
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Erst denken, dann handeln – vielleicht.
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999)
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Aktive nötigen die Passiven zum guten Tun, Passive predigen den Aktiven Verzicht.
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Jeder meint, seine persönliche Begabung solle Grundlage einer allgemeiner Gesetzgebung sein.
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Kategorischer Imperativ der Selbstgefälligkeit: Alle so wie ich, dann wird alles gut.
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1000)
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Sein ist Sein ist Sein.
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Vielleicht ganz gleich als was.
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Nichtsein: leider nur denkbar!?
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1001)
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Falls es das Nichts wirklich gibt, wäre es das Beste, gar nicht erst geboren zu sein oder möglichst schnell wieder zu sterben.
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Weil es das Nichts aber wahrscheinlich nur in unserer Phantasie gibt, ist es noch das Beste, die Ruhe im Sein zu suchen.
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Aber die Welt dreht sich mit Fleiß immer schneller und lauter, veranstaltet blutige Wettrennen ohne Sinn und Ziel.
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1002)
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Sein muss. Weil es kein Nichts gibt.
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Sein muss, ohne dass etwas hinter dem Sein es dazu zwänge.
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Aber wie entsteht der Zwang dann? Unentstanden, unvergänglich. Shit.
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1003)
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Optimisten meinen, sogar das Müssen sei gewollt.
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Pessimisten meinen, sogar das Wollen sei gemusst.
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Auch ohne einen Gott dahinter, der das Müssen will.
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(Woher dieser Primat des Wollens? Zwangsvorstellung.)
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1004)
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Parmenides warnte noch davor, mit dem Nichts zu rechnen.
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Epikur benutzte es schon, um dem Tod seinen Schrecken zu nehmen.
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Heute überlegt jeder, wo er noch plündern kann, bevor er auf Null gesetzt wird.
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1005)
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Der moderne Mensch ist nicht nur seinsvergessen, sondern nichtsversessen.
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Dass alles vergänglich sei, ist sein Credo, auch wenn er sich Skeptiker nennt.
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Für seinen vermeintlich letzten Genuss presst er die Welt aus wie Wegwerfware.
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1006)
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Die Natur behandelt uns grausam.
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Wir werden zornig und wollen zurückschlagen.
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Da blickt sie uns so mitleiderregend an, dass wir innehalten.
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1007)
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Noch unter dem bewussten und dem unbewussten Willen liegt das schiere Müssen.
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Im Grunde müssen wir – und dass wir wollten, geben wir nur vor in unserer Ohnmacht.
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Es gibt keinen ersten Beweger, nur das erste Bewegte – das ewig müssende Sein.
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1008)
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Es dürfte kein Leid geben. Gibt es aber.
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Und wenn es das Leid schon gibt, müsste es gerecht verteilt sein. Ist es aber nicht.
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Und wenn das Leid schon nicht gerecht verteilt ist, müsste allgemein zugegeben werden, dass diese Welt schlecht ist. Wird es aber nicht.
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1009)
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Die versagende Theodizee kann nurmehr feststellen, der Schöpfer sei entweder böse oder unfähig.
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Ich fände einen unfähigen Gott sympathischer.
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Das Christentum plädiert auf allmächtige Willkür.
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1010)
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Der Normalfall des Lebens ist sein Misslingen.
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Gelingendes Leben ist die winzige Spitze einer Pyramide aus Leid.
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Jeder, der sich seines Lebens freut, steht auf einem riesigen Berg von Zerquetschten.
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1011)
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Warum ist den Leuten aufgesetzter Frohsinn lieber als echte Traurigkeit?
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Die eingeübten Juchzer und High Fives der Fun-Generation sind gruselig.
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Bei den Schauspielern, die es im TV vorhampeln, wirkt es noch am echtesten.
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1012)
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Action-Freaks protzen gerne mit ihren Taten.
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Was sie nicht können: einfach ruhig bleiben.
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In Klausur würden sie schlicht durchdrehen.
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1013)
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In Ruhe kommen Action-Junkies schnell schlecht drauf.
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Ihre starken Taten sind v.a. Flucht vor dem Trübsinn.
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Der dunklen Wahrheit ins Auge zu blicken wäre stärker.
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1014)
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Pessimismus ist ein Bewusstseinszustand: Gewahrsein des Lebensleids als Hauptsache.
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Optimisten halten die schönen Dinge für wesentlich und bekämpfen den Pessimismus.
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Sind dabei wie Parteianhänger, wollen nicht begreifen, warum nicht alle so wählen wie sie.
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1015)
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Die Aufgeklärten haben sich an ihrer Vergeistigung verhoben und verfallen in postmoderne Retrobewegung.
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Erste Station war das Seelische bzw. Psychologische. Inzwischen sind sie gar beim Wiederentdecken des Körperlichen bzw. Biologischen.
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Identität des Menschen sollte m.E. jedoch das Geistige bzw. Philosophische sein. Nach körperlichem und seelischem Durchgangsstadium.
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(Dumm nur, wenn Körper und Seele so verbogen sind, dass man immer wieder in dumpfes Leiden darunter zurückfällt anstatt sich gescheite Gedanken darüber zu machen.)
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1016)
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In der Hölle ist kein Heulen und Wehklagen.
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Man tut krampfhaft so als wär alles bestens.
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Die Lügerei macht die Quälerei noch schlimmer.
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1017)
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Gibt es nur den realen Himmel, wo die Menschen um ihren gefürchteten Despoten herum so tun, als ginge es ihnen gut?
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Als Alternative zur realen Hölle, wo die Menschen ohne einen solchen Despoten heulen und mit den Zähnen klappern?
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Da war mir die Hölle allemal lieber. Der Jugend wird das Jammern heute wieder verboten – prompt beginnt sie Amok zu laufen.
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1018)
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"Dann heul' doch!" sagen die jungen Hardliner.
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Das tu' ich auch, denk ich mir als alter Softie.
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Immer noch besser als Amok zu laufen wie ihr.
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1019)
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Wer sich von malerischer Landschaft, gutem Essen, netter Gesellschaft etc. mit dem grausamen Leben versöhnen lässt, ist ein amoralischer Hedonist.
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Heutige Philosophen halten es für wichtiger, das Leben bejahen zu können, als sich seiner durch nichts je gutzumachenden Grausamkeit bewusst zu werden.
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Nietzsche hat Schopenhauer gelesen, um dann doch weit zurückzufallen – unsere nun offizielle Amoralität ist sogar schlimmer als christliche Heuchelei.
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1020)
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Das Leben ist schlimm.
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Das Leben ist ewig.
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Just let it be.
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1021)
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Lebe in der Gewissheit, diese Welt niemals verlassen zu dürfen – so lautet der kategorische Imperativ, den es wirklich bräuchte.
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Von wegen dein Handeln als Grundlage allgemeiner Gesetzgebung, von wegen die Erde nur von deinen Kindern geliehen etc.
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Was den einzelnen Menschen nicht selber betrifft, bleibt Nebensache. Gutmenschentum ist Luxus, Menschentum dauernde Quälerei.
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1022)
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Leid hat neben der körperlichen und seelischen auch die dritte, geistige Dimension.
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Kein Denker kann den Eindruck fundamentaler Unstimmigkeit der Weltlogik ehrlich abstreiten.
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Optimisten mögen das als Paradoxie etc. einzuordnen versuchen – aber vergeblich.
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1023)
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Materialismus ist zur Philosophie emporgekommene Technokratie.
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Der Mensch als Tier plus Werkzeug – als Lebewesen, das Unbelebtes mit Unbelebtem zu seinen Zwecken umformt. Und unbelebt heißt: kann nicht schnell genug weglaufen oder eloquent genug Einspruch erheben.
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Schließlich denkt er sich alles aus Unbelebtem gemacht. Einschließlich sich selber.
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1024)
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Der Begriff Überlebenskampf – zynische Positivierung des Kampfes gegen das Leid.
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Jeder wirklich Leidende würde das Sein nur allzu gern gegen das Nichtsein tauschen.
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Darwinismus vs. Christentum? Ach wo, nur die nächste Blüte der Lebensfrömmigkeit.
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1025)
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Eine absolute Wahrheit gibt es vielleicht nicht – aber wesentlich mehr als die allermeisten wahrhaben wollen.
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Deshalb würde ich mit keinem tauschen wollen, der sein Leben liebt: höchstwahrscheinlich macht er sich was vor.
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Denn die Wahrheit des Lebens ist eine grausame: den allermeisten Lebewesen geht es mächtig dreckig.
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1026)
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Allein sterben – die einen hoffen, es nicht zu müssen; solche wie ich hoffen, es zu dürfen.
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Aber sicher werde gerade ich als Leiser beim Sterben von lauten Mitmenschen drangsaliert.
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Kranke und Alte sind schwache Behälter, in die gerne überschüssige Energie abgelassen wird.
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1027)
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Quietismus, Pessimismus etc. – entweder meint man diese Begriffe wörtlich oder sie sind ohne ausführliche Spezifizierung unbrauchbar bis irreführend.
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Ein Quietist ist also erst mal einer, der die Ruhe der Betriebsamkeit vorzieht. Und ein Pessimist einer, der Leben bzw. Welt negativ statt positiv beurteilt.
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Doch wenn ich mich Quietist nenne, denken die Leute gleich, ich sei Wittgensteinianer oder christlicher Separatist oder islamischer Laizist. Lautes Babel.
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1028)
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Lifelong Dying legt der Quietismus nahe, ganz besonders dem hastigen Selbstmörder.
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Sich nach und nach mit allen Jenseitsmodellen befassen bzw. mit ihrer Möglichkeit abfinden.
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Die Moderne verdrängt den Tod oder lässt für ihn nurmehr ein Modell – das Nichtsein – gelten.
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1029)
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Ist Quietismus nur eine hochtrabende Beschönigung der Faulheit?
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Wer das behauptet, gehört wahrscheinlich zu denen, die in der modernen Hektik verlernt haben, zur Ruhe zu kommen.
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Bedächtigkeit, Muße, Träumen, Halbschlaf usw. – diese Seite des Lebensspektrums ist zum erschöpften Tiefschlaf geschrumpft.
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1030)
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Selbst die Wissenschaftler wollen inzwischen gestalten statt verstehen.
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Ersteres macht stolz, letzteres bringt für jedes gelöste Problem zehn neue.
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Under-standing: ohnmächtig feststellen, dass einem die Welt zu hoch ist.
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1031)
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Für Christen gibt es nur Himmel und Hölle, das Nichts bleibt abgeschafft – warum?
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Weil der Vergleich Sein vs. Nichtsein die verfehlte Schöpfung offenbart.
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Diese Welt wäre besser nicht, kann also von keinem guten Gott stammen.
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1032)
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Depression sei gesellschaftlich noch tabuisiert, sagen die Ärzte.
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Es ist umgekehrt: als Depression wird integriert, was als Lebensverneinung ausgeschlossen war. Lebensfromme stempeln krank, was sich vom grausamen Leben zu Recht abwendet.
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Ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre.
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1033)
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Schopenhauer hat die Lebensverneinung für kurze Zeit gesellschaftsfähig gemacht – aus heutiger Sicht unglaublich.
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Nieztsche hat ihn auf unfaire Weise übertrumpft: Bejaht das Leben, vergesst die Moral, lautete sein Gegenangebot.
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Und dabei wird es wohl bleiben – Gemeinheit sticht Trübsinn, so pfeifen es alle Spatzen von allen Dächern.
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1034)
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Das Leid ist abschaffungspflichtiger als das Glück erhaltenswert.
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Ginge es nach mir, das Sein müsste dem Nichts weichen.
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Ungeheuer? Sind für mich die, welche das umgekehrt sehen.
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1035)
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Die Philosophie des Geistes bietet mittlerweile ein beeindruckend differenziertes Spektrum von Bewusstseinsmodellen zwischen Materialismus und Spiritualismus.
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Eines davon zu vertreten und sich gegen die jeweiligen Nachbarmodelle hin zu mehr Leib bzw. mehr Seele schon zu sträuben – dazu sind sie mir allesamt zu spekulativ.
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Tendentiell bin ich Panpsychist, Eigenschaftsdualist, Bewusstseinsmonist – wer an bewusstlose Materie glaubt, ist m.E. ein Metaphysiker, der sich irrtümlich für einen Skeptiker hält.
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1036)
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Möglichst passiv zu leben heißt aus Sicht der Gesellschaft, ihr etwas schuldig zu bleiben.
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Wer nicht offiziell Nachweis führt, dass ihn Krankheit hindert, gilt als notorischer Faulpelz.
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Patienten des Gesundheitswesens dienen der Gesellschaft zumindest als Versuchskaninchen.
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1037)
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Creatio ex nihilo – die Behauptung, das Leben sei von einem Gott aus dem Nichts geschaffen worden, spaltet ihr Publikum in Begeisterte und Empörte.
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Wieso sollte jemals Nichts gewesen sein? Naheliegender, das Sein als unentstanden und in diesem Zuge auch gleich als unvergänglich anzunehmen.
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Ich weiß nicht, was ich früher war und später sein werde. Ich sorge für meine möglichst langsame Veränderung, der Rest der Welt für möglichst schnelle.
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1038)
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Solipsismus stellt jegliche äußere Existenz jenseits des Ichs in Abrede – mit dem unwiderlegbaren Argument, das eigene Bewusstsein sei grundsätzlich unhintergehbar.
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Eliminativismus dagegen hält jegliche innere Begrifflichkeit für überflüssigen bis irreführenden Schein – nur objektive Sachverhalte seien überhaupt aussagefähig.
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Mein kollektiver Subjektivismus allen Seins einerseits oder deine Emergenz irreduzibel komplexer Bewusstseine aus Materie andererseits sind da schon weniger extrem.
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1039)
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Im vollen Ernst vetretene philosophische -ismen sind ja vielleicht nur möglich als Fluchten vor tiefen Kindheitstraumata ins entgegengesetzte Extrem.
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Einen Amoralisten wie Nietzsche versteht wohl erst, wer die vom Pastorensohn erlittene Lebensfeindlichkeit des christlichen Moralismus nachempfindet.
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Auch der Eliminativismus à la Churchland lässt gemäßigtere Denker verwundert nachfragen: mentale Zustände als Hirngespinste neuronaler Automaten – ernsthaft?
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1040)
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Satanismus zeigt sich eher als Label der Jugendkultur denn als eines der Philososophie bzw. Religion, dennoch erinnern die (an)gebotenen Regeln an Nietzsches Antithesen zum Christentum.
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Kein Herdentier sein zu wollen und sich doch auf den Kodex von Ritualen, Kleidung, Musik etc. einzulassen ist ein Paradox. Bleibt dieses unbemerkt oder läuft es wildromantisch der ordentlichen Logik zuwider?
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Widerspruch, Trotz, Rebellion sind offenbar das Hauptbedürnis der Satanisten. Aber auch wenn das Christentum uncool ist, kommt bei seiner Verkehrung ins Gegenteil nicht automatisch was Cooles raus.
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1041)
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Satanisten sind lebensbejahend und verurteilen die herkömmlichen Kirchen als lebensfeindlich.
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Meine Lebensverneinung würden sie als vom Christentum angerichteten Schaden sehen.
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Mag durchaus zutreffen. Dennoch: lustvoll Tier zu sein bleibt für mich kontraindiziert.
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1042)
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Das schlimme Tun des Menschen überwiegt das gute bei weitem.
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Warum also nicht besser ein Tier, eine Pflanze oder ein Ding sein?
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Weil ich als Mensch um das Ideal des Nichtseins wissen kann.
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1043)
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Die Alternativlosigkeit des Lebens anzunehmen befreit mich von nagender Todessehnsucht.
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Bestätigung für Hegels paradox anmutenden Satz, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit?
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Aber der heutige sture Optimismus – "Nichts ist unmöglich!" – wähnt das Nichts im Tod sicher.
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1044)
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Paradoxie ist eine zentrale Eigenschaft der Lebenswelt, nicht nur Folge unkundiger Sprachverwendung.
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Dualität des Ichlichen und Sächlichen ebenso, die naturalistische Reduktion aufs letztere ist donquichottesk.
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Philosophische Probleme lassen sich nicht analytisch lösen, indem man ihre subjektive Seite leugnet.
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1045)
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Solipsismus bzw. Eliminativismus sind extreme Argumente für die individuelle Ewigkeit bzw. Endlichkeit.
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Meine mögliche Ewigkeit betrübt mich am allermeisten, meine mögliche Endlichkeit am allerwenigsten.
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Doch obwohl der moderne Mensch angeblich ewig leben will, geht der weltanschauliche Trend zum Endlichen.
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1046)
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In der sprachlichen Verwendung von Paradoxien hat wohl jeder so seine Dynamik, bleibt zwischen einer oberen und unteren Grenze.
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Hegel finde ich ärgerlich paradox, Schopenhauer repräsentiert die angenehme Mitte, aller Positivismus danach ist mir viel zu trocken.
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Ich mag zwar ein arger Pessimist sein, pendle aber m.E. recht ausgewogen zwischen Metaphysischem und Physischem.
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(Gehen die Skeptics deshalb so ausgiebig auf die Esoteriker los, weil sie dringend Erholung vom spröden Szientismus brauchen?)
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1047)
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Die analytische Schule kämpft verbissen gegen die Metaphysik und verstrickt sich dabei selber in Dualität und Paradoxie.
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Die ganzheitliche Schule ihrerseits verbohrt sich in relativitätstheoretische bzw. quantenmechanische "Beweise" für Spirituelles.
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Ein Schuster, der bei seinen Leisten bleibt, ist überzeugender. Aber kaum ein Skeptiker oder Esoteriker, der das fertigbringt.
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1048)
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Lieber würde ich sterben, als mit irgendjemand zu tauschen, der gerne lebt.
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Andere würden sogar lieber mit irgendjemand tauschen, der ungern lebt, als zu sterben.
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Die jetzt gerade eigene Subjektivität erscheint einem wohl als die objektivere.
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1049)
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Wie es Männer und Frauen gibt, so gibt es auch von Grund auf Frohe und Traurige, die das Leben an sich gut bzw. schlecht finden.
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Echte Frohe und falsche Frohe sind zusammen an der Macht. Sie stilisieren Lebensverneinung zur behandlungsbedürftigen Krankheit.
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Aber die echten Traurigen haben recht: wer dieses Leben wirklich gut findet, muss einen ethischen Defekt haben, Raubtier geblieben sein.
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1050)
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Echte Ethik – nichts und niemand Gewalt antun wollen, das Leben über sich ergehen lassen – macht traurig.
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Falsche Ethik – in einem starken Bündnis arbeiten, gemeinsam schwächeres Dasein ausbeuten – macht froh.
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Die meisten sog. Depressiven sind m.E. einfach nur moralisch empfindsamere Menschen, die ersteres praktizieren.
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1051)
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Stundenlang die Gedanken schweifen lassen, ohne unangenehme Langeweile – wer das kann, weiß auch im hohen Alter noch etwas mit sich anzufangen.
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Denn es kommen evt. Zeiten im Leben, wo nach körperlicher Aktivität schließlich auch Smalltalk bzw. Medienberieselung auf Dauer zu anstrengend werden.
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Der moderne Mensch wünscht sich einen schnellen Tod, sobald er nicht mehr fit ist. Aber nur, weil er glaubt zu wissen, wogegen er sein Leben eintauscht.
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1052)
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Langeweile ist i.a. ein negativ besetztes Wort.
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Dabei ist die lange Weile besser als die kurze.
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Einfach mal bewusst die Zeit vergehen lassen.
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1053)
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Warum entscheiden sich Jugendliche für den Satanismus?
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Weil sie im Moralismus die Ursache ihres Unglücks vermuten.
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Lieber wollen sie glücklich und böse sein als unglücklich und gut.
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(Indiz für die Verlogenheit der moralisierenden Gesellschaft ist deren unermüdliche Verheißung des Glücks für die Guten.)
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1054)
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Sich am Nichts zu orientieren ist m.E. der richtige Mittelweg.
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Glückssucher begehren, was ihnen nicht zusteht; bringen mit ihrer Vermessenheit mehr Unglück über andere als nötig.
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Pflichttuer sträuben sich zu wenig gegen unverdientes Leid; fügen sich drein, wo man sich mit Recht verweigert.
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1055)
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Wer glaubt, wir hätten nur die Wahl zwischen Liebe und Krieg, übersieht, dass man sich mit Bedacht gegenseitig in Ruhe lassen kann.
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Anonymität selbst auf engstem Raum ist eine kulturelle Errungenschaft der Stadt, für die viele ihrem Dorf nur zu gern den Rücken kehren.
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Der Landmann meint halt, sein Nachbar sei entweder für oder gegen ihn. Und kontrolliert das alltäglich mit nervtötender Freundelei.
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1056)
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Hauptsächlich ist die Welt gemusst, nicht gewollt.
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Die Christen bestreiten das kategorisch, und selbst der Pessimist Schopenhauer meinte noch, blinder Wille fände Erlösung in sehendem Nichtwollen.
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Nach heutigem Stand scheint sich unser Bewusstsein den freien Willen nur vorzugaukeln. Dennoch glaube ich an ein wenig geistige Autonomie.
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1057)
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Ewig teilhaben müssen am makroskopisch immergleichen kollektiven Bewusstsein – davon gehe ich aus.
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Weniger als tief und fest gründende Überzeugung, mehr als Worst-Case-Annahme zur Suizidverhütung.
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Jegliche Ankündigung von Veränderung oder Vernichtung im Tod macht das Leben viel zu unruhig.
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1058)
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Von einer asketischen Ethik des Unterlassens wollen die westlichen Aktionisten partout nichts hören.
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Aber genau eine solche Ethik wäre es, welcher die von menschlicher Technik bedrohte Erde bedürfte.
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Negativer kategorischer Imperativ: Lege den größten Wert auf das Nichttun, lass deine Umwelt in Ruhe.
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1059)
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Bewusst ist uns der Seinsteil, wo wir gerade anbauen oder renovieren.
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Alles nicht Bewusste war uns einmal bewusst und wird es wieder sein.
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Sobald es nicht mehr in Ordnung ist, meldet es sich schmerzvoll zurück.
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1060)
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Das Nichtsein anzustreben ist weder altruistisch noch egoistisch, es ist neutral. Am besten wäre die ganze Welt nicht, weder Nachteil noch Vorteil für irgendwen. Die diesen Zustand als ideal erkannt haben, sind vom blinden tierischen Drang zur einsichtigen menschlichen Vernunft fortgeschritten.
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Wer Selbstmörder, welche sich nach moderner Überzeugung ins Nichts verabschieden, für altruistisch hält, sieht das Leben in kämpferischer Tradition als Streben nach Herrschaft – ein jeder möge für sich erringen was irgend geht, statt andern durch den Tod von eigener Hand das Feld zu überlassen.
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Wer Selbstmörder, welche sich nach moderner Überzeugung ins Nichts verabschieden, für egoistisch hält, sieht das Leben in moralischer Tradition als quälende Pflicht – den anderen sei gefälligst mit aller Kraft beizustehen, statt ihnen durch den Tod von eigener Hand Kummer zu bereiten.
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(Wäre Erlösung aber wirklich so einfach, dann sollte moralischerweise der kollektive Suizid durch die ganz große Bombe das Problem ein für allemal lösen, oder? Wenn die Naturalisten weiterhin so erfolgreich predigen, dass im Tod alles Bewusstsein erlischt, wird jene irgendwann gezündet.)
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1061)
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"Alle Dinge sind herrlich zu seh'n, aber schrecklich zu sein", so Schopenhauer.
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Empathielos von außen beobachtend bleibt Objektivismus feiger Optimismus.
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Dabei stellen sich gerade Realisten gerne in den Ruf mutiger Einsichtigkeit.
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1062)
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Postmoderne Intellektuelle changieren zwischen alertem Durchsetzungswillen und ironischem Grinsen.
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Wo ist nur die sich zurücknehmende Ruhe und die aufrichtige Ernsthaftigkeit der Philosophie geblieben?
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Da findet nurmehr der Autodidakt hin – die Akademie produziert aalglatte Talkshow-Nietzscheaner.
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1063)
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Pessimismus und Optimismus sollten in erster Linie Weltanschauungen bezeichnen, welche die Schätzung einer Summe über alles Leid und alle Freude in der Welt für sinnvoll halten und diese negativ bzw. positiv ansetzen.
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Aber die lebensfrommen "Positivisten" tun alles, damit schon die Null als unteres Ende der Skala gilt. Behaupten allen Ernstes, ein Dasein z.B. als lebenslänglich eingesperrtes Folteropfer sei immer noch besser als gar keines.
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Solange nicht einmal Einigkeit darüber herrscht, dass irgendein Leben schlechter als nichts sein kann, wird hier keine begriffliche Klarheit einkehren. Bis auf weiteres markieren die beiden -ismus-Wörter keine festen Positionen.
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1064)
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Nach dem strengen kommt das altersmilde Über-Ich, überlässt einstiges Leid von Ich und Es dem Vergessen.
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Sentimentale Verklärung der eigenen Vergangenheit – eine Form von Selbstausbeutung.
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Lieber nur an den positiven Erinnerungen festhalten – übliche optimistische Missachtung des existentiellen Elends.
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1065)
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Principium individuationis – wir können m.E. niemals endgültig davon loskommen, individuell existieren zu müssen.
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Buddha, Schopenhauer und der heutige Spirituelle meinen, Individuation könne dauerhaft überwunden werden.
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Ich fürchte, auch wer loslässt, um ein für allemal im Ganzen aufzugehen, wird doch immer nur Partikel bleiben.
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1066)
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Bewusstseinserweiterung geschieht schon im reinen Nachdenken.
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Auch ohne Meditation beschleicht mich oft ein ozeanisches Gefühl.
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Doch Grundzustand ist die Individualität, holt mich stets zurück.
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1067)
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Lebensbewältigung bedeutet vielleicht, sich in ein ausreichend breites Spektrum an verschiedenen Bewusstseinszuständen versetzen zu können.
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Der eine bereist seine Außenwelt, der andere seine Innenwelt – Hauptsache, man findet einerseits genug Abwechslung, andererseits genug Halt.
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Äußerliche Menschen mögen den innerlichen Lifestyle als bedauernswerte Armetei abtun – ich jedoch meine, dass er der wesentlich bessere ist.
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1068)
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Reduktionisten halten das Bewusstsein für ein wirkungsloses Epiphänomen, eine innere Leinwand, auf welche die Welt einschließlich des eigenen Körpers letztlich nur projiziert wird. Konstruktivisten dagegen halten das Bewusstsein für die Zentrale, in der mithilfe von äußeren Steuersignalen die Welt einschließlich des eigenen Selbst erst produziert wird.
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Bereits theoretische Überlegungen liefern diese beiden extremen Interpretationen unserer Wirklichkeit – wobei die "eigentliche" Natur des je winzigen inneren bzw. äußeren Restes systematisch im Dunkeln bleibt bzw. als störender Zipfel einer ansonsten stimmigen Weltanschauung missachtet oder gar offensiv für nichtexistent erklärt wird.
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Welche Anschauung praktisch obsiegt, hat wohl mit vom normalen realistischen Bewusstsein wegführenden Erlebnissen bzw. deren Fehlen zu tun. Klartraum, Halluzination, Nahtoderfahrung, LSD-Trip u.a. stellen die Realität eindrucksvoll zur Disposition – aber auch auf dermaßen beängstigende Weise, dass oft gerade sie den verbohrtesten Reduktionismus zeitigen.
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1069)
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Postmoderne Retrokultur versucht, von den geistigen Auswüchsen zu den psychischen und physischen Wurzeln zurückzufinden, wo das Leben vermeintlich noch Spaß machte.
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Wer hinsieht, registriert diesen Trend überall. Beispiel: geistreich-erwachsene Satire regrediert auf kindische Clownerie resp. Physical Comedy: langgezogene Gestik, Mimik, Urlaute.
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Die Moralverächter meinen hinter ihren stets ironischen Grinsemasken allen Ernstes: lieber lebensgetriebenes Fühlen wiederbeleben als lebensverneinendes Denken kultivieren.
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1070)
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Der wissenschaftsgläubige Lifestyle verdankt seine Popularität m.E. in erster Linie der Tatsache, dass er die Erlösung im Tod für alle verspricht.
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Die Religionen versprechen sie ja nur ihren Anhängern und auch denen nur unter schwer erfüllbaren Auflagen – das ist uns Sündern viel zu unsicher.
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So nüchtern die Moderne i.a. auftritt, so verlockend wirkt ihr Angebot, diese Zumutung namens Leben hinter sich zu lassen – ohne Wenn und Aber.
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1071)
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Das Spektrum bekannter Bewusstseinszustände reicht von lebendigster Ekstase einerseits bis zum Nahtod andererseits.
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Gesellschaftlich werden erstere Tagzustände gepusht, letztere Nachtzustände verdrängt bzw. aufs Nötigste reduziert.
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Ist es nicht besser, im Leben bewusst auf den Tod zuzugehen, sich immer weiter mit den Nachtzuständen vertraut zu machen?
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1072)
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Die Reise ins Unbekannte muss nichts Neues ergeben.
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Hinterm schwarzen Vorhang siehts evt. aus wie davor.
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Vom Tod das völlig Andere zu erwarten ist vorschnell.
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1073)
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Würde ein Allmächtiger sich selbst partiell ahnungslos machen, indem er andere, sterbliche Selbste erschafft?
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Weil er sonst niemals überrascht werden könnte, niemals etwas erleben könnte, ohne vorab Bescheid zu wissen?
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Nach einem von Gott für sich selber inszenierten Theater gäbe es nichts aufzuräumen. Wie nach einem Traum.
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(Die Schöpfungsgeschichte erscheint mir solipsistisch noch plausibel, die Geschichte vom Jüngsten Tag nicht mehr.)
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1074)
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Nur wer Höllischem ausgeliefert bleibt, kann Motiv und Werdegang materialistischer Religion verstehen.
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Monotheisten und Spirituelle haben zumeist arge Schlagseite hin zu einer rosigen Version des Ewigen.
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Von da aus mag es dann freilich kaltschnäuzig bis böse anmuten, die Endlichkeit für alle zu postulieren.
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1075)
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Zugleich religiös und realistisch sein? Spirituell und materialistisch? Subjektivistischer Solipsist und objektivistischer Reduktionist?
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Einerseits verwunderlich, wie viele Menschen so ein Doppelleben führen. Andererseits klar, das Leib-Seele-Problem ist halt nicht gelöst.
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Neutraler Monismus i.S.v. Eigenschaftsdualismus bietet da immerhin problembewusste Ausgeglichenheit. Im Zweifel unentschieden.
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1076)
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Unglaublich, wie unterschiedlich das Nichts als leerster aller möglichen Bewusstseinszustände von den verschiedenen Weltanschauungen gewertet wird.
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Für die Buddhisten liegt das Nichts noch über dem Himmel – die mächtigen Götter rangieren unterhalb der Mönche, denn jene können ihre Erlösungsbedürftigkeit nicht erkennen.
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Für die Nietzscheaner liegt das Nichts noch unter der Hölle – heroische Lebensbejaher ziehen ein Dasein in Fülle der Leere vor, und sei es auch voller Schmerzen.
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(Für mich liegt das Nichts genau in der Mitte zwischen echtem Himmel und echter Hölle – weit über dem herrgöttlichen Christenhimmel, denn der wäre kein echter.)
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1077)
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Könnte ich für kurze Zeit in die Vergangenheit reisen und den Menschen etwas mitteilen – was würde ich auswählen?
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So wenig wie möglich, um nur ja an meiner Zeit nichts zu verändern? So viel wie möglich, auf dass es allgemein helfen möge?
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Oder auch nur meine persönliche Weltanschauung, um ihr größere Chancen auf Gültigkeit zu verschaffen?
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1078)
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Biologisch mag die Evolution bislang nur Trial and Error kennen, sowas wie Intelligent Design mag da erst zukünftig kommen, vom Menschen oder Transhumanen – so weit, so schlecht.
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Aber dem Menschen jegliches Verständnis seiner Welt abzusprechen, auch hinter seiner gesellschaftlichen Entwicklung nur Empirie und null Ratio zu vermuten, ist m.E. zu viel der Skepsis.
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Wer je Zeuge echter Intelligenz werden durfte, welche auch für schwierige Probleme elegante Lösungen mit einem Minimum an probierendem Verhalten findet, traut dem Menschen mehr zu.
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1079)
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Menschlicher Selbstmord kann nur stümperhafter Versuch sein, wenig erfolgversprechender Appell ans Universum, das Leid zu beenden.
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Nur göttlicher Selbstmord bedeutete ideal sichere, endgültige Selbstabschaffung – um diese Möglichkeit wäre Gott zu beneiden.
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Wenn er denn noch existiert – anscheinend ist er nach unserer Schöpfung selber drauf gekommen und hat sich annihiliert.
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1080)
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Tolerant sein – das zum gebetsmühlenartig wiederholten Klischee unserer Zeit gewordene Gebot – fällt den Unempfindlichen am leichtesten.
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Dünnhäutige Introvertierte müssen versuchen einzusehen, dass dickfellige Extrovertierte nicht aus ihrer Haut können und ihnen die Übergriffe verzeihen.
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Ist klar, wen von beiden dieser Zeitgeist auf Dauer vor die Hunde gehen lässt – was die nietzscheanischen Hardliner ja auch erst mal begrüßen.
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1081)
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So lang schon nenne ich mich Atheist, da dämmert mir überraschend: etwas hab ich noch übrig für den "lieben Gott".
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Aber diesen rückt der Monotheismus ja nur für die kleinen Kinder raus, allzubald wird Gott herrisch, statt lieb zu bleiben.
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Wennschon sehne ich mich nach Allversöhnung. Der Herrgott mit seiner Höllenstrafe soll mir gestohlen bleiben.
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1082)
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Säkularisierung: das Weltliche hat das Geistliche überrannt, die restlichen Asketen werden von der einigen Luxusgesellschaft gemobbt.
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Bestenfalls bekommen die Mönchshaften noch Toleranz angeboten: duldest du unseren Hedonismus, dulden wir deine Bescheidenheit.
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Konsumistischer Sieg: die Armen mit billigem Tand zu pseudoreichen Verschwendern gemacht, verhindert außer Revolution auch Besinnung.
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1083)
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Sechs Modelle des Todes: Himmel und Hölle, Nichts und All-Einheit, ganz Anderes und ewig Gleiches.
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Ich tippe aufs ewig Gleiche. Ob das einfach daran liegt, dass wir in Zeiten schnellen Wandels leben?
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Intuitiv bedeutet Tod nunmal Gegenteil vom Leben. Ist Quietismus nur etwas für überforderte Reaktionäre?
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1084)
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Im Himmel geschieht nichts mehr gegen unseren Willen?
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Aber die einen mögens lieber aktiv, die anderen lieber passiv.
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Sogar die Himmelsrichtungen sind unterschiedlich. Unerlösend.
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1085)
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Auf den Tod hinleben – die ruhige Alternative zur Todesverdrängung wie zum Suizid.
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Sich geistig mit dem Tod vertraut machen. Sich Sterben und Totsein ausmalen. Mutmaßen.
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Seelische und körperliche Nahtodzustände bewusster erfahren, angefangen beim Schlaf.
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1086)
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Wer sich liebt, wünscht sich den Himmel.
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Wer sich hasst, wünscht sich die Hölle.
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Wer sich gleichgültig ist, wünscht sich nichts.
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(Aber ich wünsch mir das Nichts.)
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1087)
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Die Christenschäfchen mögen nur Körper und Seele sein bzw. bleiben.
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Alles Geistige, zumal die Allwissenheit, lieber dem Herrgott überlassen.
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Evt. aus Nahtoderfahrung: im Angesicht des Jenseitigen regrediert man.
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1088)
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Evolutionär wurde zum Geistigen zwar vorgedrungen.
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Aber dann konnte man sich auch dorthin zurückziehen.
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Und das Körperliche und Seelische wieder verlernen.
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1089)
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Nüchterne Spekulation: ausgehend davon, wie wir das Sein bislang kennen – was könnte uns im Tod erwarten? Todestheoretiker sind vielleicht die letzten, denen die Praktiker den Rang ablaufen werden.
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Wissenschaft hat sich nahezu komplett vom Rationalismus zum Empirismus verlagert – beim irreversibel erscheinenden Tod jedoch sagt kaum einer "Just do it!", da ist Denken noch üblicher als Handeln.
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Nahtodforscher können sich experimentell herantasten: tiefe Trance, Narkose, Flatline. Aber aus den Zuständen, die folgen, ist noch keiner als Pionier des Todes zurückgekehrt, um zu berichten – oder?
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1090)
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Paradies und Nichts sind die allgemein üblichen Vorstellungen vom Totsein.
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Keiner will annehmen, dass er mit seiner verwesenden Leiche identisch bleibt.
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Viele fangen bereits im Leben damit an, sich von ihrem Körper zu distanzieren.
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1091)
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Die Introvertierten gehen niemandem auf die Nerven, die Extravertierten schon. Heute sollen da erstere duldsam sein, Toleranz üben.
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Die postmoderne Toleranzgesellschaft wertet die Freiheit, sich individuell auszuleben, höher als das Recht, in Frieden gelassen zu werden.
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Ruhe als erste Bürgerpflicht ist obsolet, stattdessen: express yourself. Das pluralistische Toleranzgebot favorisiert die Grobheit.
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1092)
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Das Jahr hat vier Jahreszeiten, das Leben vier Lebenszeiten: Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod.
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Vermutlich ist es am besten, keine davon arg verfrüht bzw. verspätet zu beginnen bzw. zu beenden.
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Aber oft neigt der individuelle Charakter zeitlebens zu einer davon. Ich bin ein Todescharakter.
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1093)
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Moralischer Nihilismus: üblicherweise Synonym für Amoralismus.
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Besser fände ich: moralisch motiviertes Streben nach dem Nichts.
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Wäre alles absolut zu vernichten, wir sollten es tun. Gegen das Leid.
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1094)
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Wie lange werde ich mein Totsein spüren?
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Null Sekunden oder unendlich viele Jahre?
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Schmerzkeks-Kompromiss: ne halbe Ewigkeit.
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1095)
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Was ist im Tod? Himmel, Nichts und All-Einheit sind m.E. geistige Modelle für Anfänger.
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Hölle, ganz Anderes und ewig Gleiches sind m.E. geistige Modelle für Fortgeschrittene.
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Trance, Schlaf und Nahtod geben Hinweise für aufs Physische und Psychische Abonnierte.
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Band 4
1096) bis 1461)
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1096)
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Religiöse, Spirituelle, Metaphysiker, Rationalisten, Empiristen und Pragmatiker – in diesem Spektrum fühl ich mich am wohlsten in der Mitte.
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Insbesondere was den Tod betrifft, scheint es mir am sinnvollsten, über die plausibelste Fortsetzung des Lebens systematisch nachzudenken.
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Was einst am Lagerfeuer phantasiert wurde, ist mir zu großspurig, und was heute im Labor analysiert bzw. synthetisiert wird, ist mir zu kleinkariert.
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1097)
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Im speziellen ändert sich eher viel, im allgemeinen eher wenig.
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Immer allgemeiner denken ist (m)eine Vorbereitung auf den Tod.
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Und immer spezieller (nicht)denken die allgemein übliche Flucht.
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1098)
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Bitte wieder eher rationalistisch, deduktiv, allgemein, nachdenklich, verständnisorientiert, ökologisch!
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Bitte wieder weniger empiristisch, induktiv, speziell, tätig, anwendungsorientiert, technologisch!
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Nach kurzer geistiger Versuchsphase ist der Mensch ins Körperlich-Psychische zurückgefallen.
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1099)
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Der Pessimist würde das Sein eintauschen wollen gegen Nichtsein.
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Der Pessimist würde Sosein nicht eintauschen wollen gegen Anderssein.
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Der Pessimist hält Nichtsein im Tod für unwahrscheinlicher als Anderssein.
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1100)
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Als christlicher Pessimist hatte ich viel mehr Angst vor der Hölle denn Hoffnung auf das Paradies.
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Als realistischer Pessimist hatte ich viel mehr Sehnsucht nach dem Todesnichts denn nach dem Lebenssein.
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Als metaphysischer Pessimist fürchte ich irgendein Anderswerden viel mehr denn das schlechte Sobleiben.
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1101)
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Ich wünschte mir, ich bräuchte einfach nicht zu sein.
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Könnte mir so passen, alles den andern aufzuhalsen?
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Ich wünschte jedem, er könnte auf Wunsch nichtsein.
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1102)
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Schläge austeilen, ihnen ausweichen oder welche einstecken – es gibt immer was zu tun.
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Wie also manifestiert sich Lebensverneinung? Erst nur als Theorie, als Geisteshaltung.
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Dann als Traurigkeit, dass die wichtigste Möglichkeit fehlt: durch Loslassen nichtsein.
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1103)
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Chauvinismus abschaffen? Nein, erst mal übernehmen Frauen alle Selbstherrlichkeit männlicher Führer, unter der sie so lange litten.
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Industrielle Umweltzerstörung abschaffen? Nein, erst mal übernehmen Entwicklungsländer alle Technologie, welche sie so lange beneideten.
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Die Vorreiter dieser Welt schauen nicht hinter sich, wo massenhaft Gefolge ihre Fehler zu Regeln erhebt bzw. zu Katastrophen ausweitet.
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1104)
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Not bleibt der Wissenschaft fremd.
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Für das Leid gibt es keine Maßeinheit.
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Labormäßig ist jedes Phänomen positiv.
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1105)
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Ständig hört man: religiöser Selbstmordattentäter explodiert an einem Ort, der ein Dorn in seinesgleichen Vision vom Diesseits ist; für sich erwartet er Lohn im Jenseits.
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Oft hört man: egozentrischer Amokläufer schießt um sich und schließlich auf sich selbst an einem Ort, wo seiner Person übel mitgespielt wurde; an ein Jenseits glaubt er nicht.
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Nie hört man: fürsorglicher Realist begeht Mitnahmesuizid als Beitrag zur Erlösung der leidenden Menschheit an willkürlichem Ort – das soziale Gegenmodell zum Kindermachen.
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1106)
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Wie denkt ein Insasse der christlichen Hölle über seine ewige Strafe?
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Entweder er ist unfähig zu begreifen, womit er sie verdient hat – dann ist er eigentlich auch nicht verantwortlich zu machen für seine Sünden.
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Oder er sieht ein, dass göttliche Gerechtigkeit an ihm waltet – dann geht es ihm aber sicher besser als den meisten während ihres Erdenlebens.
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(Muss man sich den Insassen der christlichen Hölle als glücklichen Menschen denken?)
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1107)
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Erst denken, dann handeln. Oder besser noch: nur denken, das wärs.
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Aber die neuen Harten machen es umgekehrt: erst oder nur handeln.
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Die rationalen Einwände sind verstummt, der empirsche Imperativ schreit.
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1108)
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Gott lässt dem Menschen die Freiheit, zwischen gut und böse zu wählen?
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Ausschlaggebend wäre, zwischen Sein und Nichtsein wählen zu können.
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Unglaublich zynisch, angesichts dieser Unfreiheit jene Freiheit zu betonen.
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1109)
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Der Tod birgt nur drei Möglichkeiten: es wird besser, es bleibt so, es wird schlimmer.
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Das Nichts wär mir lieber als mein Leben, aber mein Leben lieber als eins der anderen.
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Der Glaube meiner Wahl: es bleibt so. Reicht gegen den Suizid und stimmt mich ruhig.
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1110)
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Empirische Wissenschaft sieht Ideelles nur als antiquierte Fassade, sich selbst als moderne Enthüllerin.
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Reell und damit eigentlich sei der Mensch ja nur eine Maschine, der heilige Krieg ja nur ein Raubzug etc.
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Vielleicht hat man sich früher arg aufs Ideelle versteift – aber diese Seite der Welt einfach abschaffen?
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1111)
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Ist Selbstmord feige oder mutig?
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Am ehesten finde ich ihn tollkühn.
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Da hat einer zu viel Todvertrauen.
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1112)
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Meine im Nachdenken über Leben und Tod geformte Drei-Welten-Theorie: so oder anders, gar nicht oder ganz anders, Himmel oder Hölle.
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Erstens meine Welt oder die empathisch erfühlbare der andern, zweitens die bewusslose oder unvergleichliche, drittens die phantasierte.
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Es beruhigt mich, auch im Tod nur noch mit der ersten Welt zu rechnen: dass mein Dasein so bleibt, wie ich es von mir oder andern kenne.
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1113)
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Schizoide vs. depressive, hysterische vs. zwanghafte Angst – also vor Fremdbestimmung bzw. Eigenständigkeit, Starre bzw. Wandel – assoziiert F. Riemann mit planetarischer Rotation um die eigene Achse bzw. um andere Planeten, zentrifugaler bzw. zentripetaler Kraft.
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Auch das Wissen um den Tod scheint mir vier typische Reaktionen zu zeitigen, von denen je zwei antinomisch sind, nämlich das Streben nach individueller Macht und Freiheit resp. nach sozialer Geborgenheit, nach ausschweifender Lust resp. nach ritueller Askese.
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Noch esoterischer und politisch unkorrekt ist dann wohl meine Assoziation zu den Himmelsrichtungen unseres Planteten: nördlich bzw. nordisch (lever dot as Slav), südlich bzw. südländisch (la familia es todo), westlich (have fun or die tryin), östlich (ommm...).
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1114)
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Die Gedanken sind frei – tröstet sich der Leibeigene.
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Nein, sind sie nicht – stöhnt der Zwangsneurotiker.
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Besessen werden bzw. sein kann man auch innerlich.
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1115)
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Die Lebensfreude ist bei den Lauten.
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Der Wohlstand bei den Skrupellosen.
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Dort sagt man gern: Jedem das Seine.
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(Pluralismus ist eine amoralische Idee.)
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1116)
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Meine halbe Erlösung liegt in der Erkenntnis.
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Dass Nichtsein meist besser wäre als Sosein.
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Aber Sosein meist besser ist als Anderssein.
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1117)
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Vier feste Überzeugungen hinsichtlich des Todes haben sich allgemein etabliert.
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Religiöse, Spirituelle, Realisten und Agnostiker leben in der Gewissheit, im Tod warte das offenbarte Jenseits, die mystische All-Einheit, das bewusstlose Nichts bzw. das im Leben grundsätzlich Unerforschliche.
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Wer in puncto Tod am Mutmaßen bleibt, dem fahren die vier unwirsch über den Mund, sobald er darauf zu sprechen kommt. Sie mögen über das Thema nicht mehr nachdenken, haben es geistig ein für allemal abgehakt.
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1118)
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Vielleicht durchleben wir einen ewigen Kreislauf aus Werden, Sein, Vergehen und Nichtsein?
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Kehrte jeder Zustand wieder, sähe meine Hitliste so aus: Nichtsein, Sein, Werden, Vergehen.
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Denn im Nichts müsste ich nicht mehr vergehen und noch nicht werden, im Sein umgekehrt.
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("Gott" als Kreativer, der uns aus dem immer selben Lehm formt und wieder zermatscht?)
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1119)
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Ich lebe, um meinen Todesglauben zu ändern.
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Andere denken nicht an ihren, leben lieber.
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Mein Startglaube Hölle lässt mir keine Wahl.
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1120)
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Jedes Todesmodell ist ein um das Leben herum gedachter Rahmen, jeder Todesrahmen hebt einen anderen Aspekt des Lebens besonders hervor.
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Traditioneller Monotheismus mit Himmel und Hölle lenkt die Sicht auf die eigene ethische Rolle in der Welt, auf Güte und Bosheit. Spiritualität kontrastiert das individuell-partikulare Bewusstsein mit seiner Ergänzung zum All-Einen. Modernes Hinausgehaltensein ins Nichts bzw. ins Unbekannte steigert das Erleben momentaner Einmaligkeit, erhöht die Lebensintensität.
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Der Lebensmonist verzichtet schließlich auf solche Spezialeffekte, sagt sich in beruhigender Eintönigkeit: das Leben ist das Leben ist das Leben...
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1121)
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An der Assoziation vom Tod mit Paradies und Hölle mag doch was dran sein.
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Zurückgeworfen in den Schmelztiegel wird Anfänglichkeit evt. wieder möglich.
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Das erfahrene Individuum hingegen ist nicht mehr offen genug für das Reine.
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1122)
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Nietzsches Ewige Wiederkehr des Gleichen konserviert Macht.
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Die Ersten werden die Ersten sein, und die Letzten die Letzten.
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Arschloch-Religion: glaube fest daran, dass du obenauf bleibst.
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1123)
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Die Religionen sagen, dass es im Tod anders wird.
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Die Westler landen in einer jenseitigen Welt, aber als sie selber. Die Ostler werden als andere wiedergeboren, aber hier im Diesseits.
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Als andere in einer anderen Welt wär allen zu anders.
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1124)
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Skrupellosigkeit macht lebensfroh, moralische Empfindsamkeit lässt einen am Leben verzweifeln. Unwissenheit erlaubt Einfalt, Wissen wimmelt von Widersprüchen.
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Ihr Jenseits imaginieren die Menschen andersrum: dort sind die Guten glücklich, die Bösen unglücklich. Und Bewusstseinserweiterung aufs Ganze macht aus allem eins.
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Auch die moderne Überzeugung vom Enden des Bewusstseins im Todesnichts ist so ein Jenseitsglaube, auch die sich gerne nüchtern gebenden Realisten sind erlösungsmotiviert.
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(Wer sich kein zum Diesseits gegenteiliges Jenseits mehr vorgaukeln will oder kann, lebt schon jetzt im Himmel ewiger Despotie bzw. in der Hölle ewiger Empathie.)
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1125)
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Dieses Leben währt ewig.
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Mitleidlose sind glücklich.
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Mitleidige sind unglücklich.
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1126)
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Sein und Nichts bzw. Nichtsein werden im allgemeinen Sprachgebrauch mit Leben und Tod gleichgesetzt.
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Sofern ich nicht jeden einschlägigen Kommentar mit eigenen Definitionen einleiten will, muss ich mich danach richten.
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Aber eigentlich denke ich, dass Leben und Tod beide zum Sein gehören, wohingegen Nichts reine Theorie ist.
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(Parmendides ist von seinem Antipoden Heraklit vernichtet worden – heute meint jeder, alles sei vergänglich.)
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1127)
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Die meisten haben keine außersinnlichen Erlebnisse.
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Den harten Kern des Realismus stellen aber andere.
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Die mit den höllischen außersinnlichen Erlebnissen.
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(Vgl.: Die militanten Nichtraucher sind Nikotinisten.)
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1128)
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Das Nichts, das Unbekannte, das Jenseits – unsere Todesentwürfe.
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Allesamt nur ausgedachte Gegenteile zum diesseitig bekannten Sein.
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Vergessener Parmenides: zum Sein gibt es nun mal kein Gegenstück.
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1129)
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Das Ideal: Nichts.
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Alle "Freiheit von".
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Keine "Freiheit zu".
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1130)
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Sein oder Nichtsein? Keine Frage: Nichtsein!
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Leben oder Tod – das ist vielmehr die Frage.
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Ich lass mich vorsichtshalber mal am Leben.
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1131)
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Der Himmel das absolut höchste, die Hölle das niederste?
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Bei echtem Lebensekel lockt das Nichts mehr als der Himmel.
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Bei echter Lebensgier schreckt das Nichts mehr als die Hölle.
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1132)
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Der Himmel angenehm aber verhalten, die Hölle qualvoll aber verrucht.
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Das All-Eine bruchlos aber reizlos, das Nichts freudlos aber leidlos.
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Sobleiben heimelig aber starr, Anderswerden gefährlich aber neu.
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1133)
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Die Vorstellung, mit dem Tod sei alles aus und vorbei, ist für die einen unangenehm, für die anderen angenehm.
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Dann gibt es noch die mit ambivalenten Gefühlen, und schließlich die gegenüber Sein oder Nichtsein Gleichgültigen.
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Eine wichtige Frage, wenn ich jemand kennen lerne: "Magst du den Gedanken an das Nichts?". Ich hoffe doch ja.
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1134)
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Optimisten meinen, alles sei oder werde gut. Idealisten meinen, dies solle aufs Ernsthafteste angestrebt werden.
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Realisten halten das für lächerlich bis gefährlich, aber den Tod für des Übels Ende. Pessimisten bezweifeln dies.
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Ich bin Pessimist und Idealist. Das Sein ist ewig schlecht, aber so bleibt das Gute anzustreben, hoffnungslos.
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1135)
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Von mir aufs Ganze schließend unterstelle ich als ernstes Hauptmotiv der Philosophie die Angst vor der Hölle i.S.v. unendlichem Leid.
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Existentialistische Philosophen, die den Urgrund der Angst ins Nichts – meine Sehnsucht! – verlegen, hat das Leben wohl verschont.
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Die existentielle Besorgnis, das individuelle Leben gegen leidlose Bewusstlosigkeit tauschen zu müssen, ist m.E. eine reichselige Petitesse.
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(Und dazu tragen sie auch noch mein Schwarz – beginnt dunkle Philosophie schon knapp unterhalb vom Glauben ans ewige Paradies?)
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1136)
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Monotheisten mögen fest an ihr jenseitiges Paradies glauben, räumen aber evt. ein, dass dies eher ideell bzw. symbolisch gemeint sein könnte.
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Realisten mögen fest mit ihrem subjektiven Ende rechnen, räumen aber evt. ein, dass der Tod unerfahrbares i.S.v. unbekanntes Terrain sei.
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Ich mag davon ausgehen, dass im Grunde alles so bleibt wie es ist, räume aber evt. ein, dass alles anders bis ganz anders werden könnte.
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(Überhaupt sind die Modelle vom Tod oft ambivalent, zumindest eine zweite, entgegengesetzte Möglichkeit bleibt im Hinterkopf.)
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1137)
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Trotz oder gar wegen des Fortschritts wird es immer auch von Leid dominiertes Leben geben.
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Hätten wir die Möglichkeit, sollten wir deshalb aus ethischen Gründen alles Leben beenden.
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Trotz dieser Möglichkeit weiter am individuellen Glück festzuhalten wäre nicht weniger als böse.
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1138)
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Der extravertierte Mensch ist der glücklichere.
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Und der introvertierte Mensch ist der bessere.
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Psychotherapie heute: den besseren umdrehen.
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1139)
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Sog. Messies haben eine der Moderne dringend anzuratende Eigenschaft: sie kaufen weniger und werfen weniger weg.
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Verantwortungsbewusst geben sie noch Brauchbarem ein Heim, während andere damit die Mülldeponien füllen.
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Messies mögen für ein Übermaß an stillen Reserven sorgen – die Entsorger aber sind die wahren Weltvermüller.
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1140)
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Optimismus: alles wird gut.
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Realismus: alles hat ein Ende.
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Pessimismus: das Leid währt ewig...
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(Pessimismus als des Lernprozesses Ende?)
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1141)
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Die Religion sagt: du bist Gottes Geschöpf.
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Die Naturwissenschaft sagt: du bist ein determinierter Organismus.
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Kaum einer hört, wie ernst die Philosophie sagt: entwirf dein Wesen selbst.
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1142)
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Die einen meinen, dass jeder nur für die eigene Wohlfahrt sorgen brauche, die anderen fordern jedermanns Sorge für die allgemeine.
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Ebenso kann sich der Selbstmordkandidat nur um die eigene Vernichtung kümmern oder finden, alle sollten die allgemeine anstreben.
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Ich bin ein Idealist aus dieser vierten Kategorie – m.E. wäre es am besten, gar alles würde irgendwann endlich zum perfekten Nichts.
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1143)
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Vier Arten des Seins, die ich begutachten kann: als ich in dieser Welt, als anderer in dieser Welt, als ich in einer anderen Welt, und als anderer in einer anderen Welt.
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Soweit ich mich eben in einen anderen hineinversetzen kann und soweit z.B. ein anderes Land schon als andere Welt durchgeht.
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Besonders interessant der Traum: da bin ich m.E. schon ein arg anderer in einer arg anderen Welt. Noch extremer im Nahtod. Und im Tod?
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1144)
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Sieh gut hin: das Leid ist die Regel unseres alternativlosen Seins.
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Aber die Christen sehen das irdische Jammertal als Ausnahme zwischen zwei freudvollen Paradiesen, die Materialisten sehen das Sein als Ausnahme im leidlosen Nichts.
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Unsere Kultur gründet sich auf den naiven Glauben an endgültige Erlösung vom Leid – und das gilt für Tradition und Moderne gleichermaßen.
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1145)
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Pessimistisches Glaubensbekenntnis: das Wesen bleibt – gemessen am Nichts – schlecht.
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Nach wenigen Jahrzehnten bin ich nicht mehr dieses Ich, bin nicht mehr in dieser Welt.
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Aber leider schon noch Ich und schon noch in der Welt. Vor- und Nachgeschmack: Träumen.
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1146)
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Wenigstens wissen die meisten Gläubigen, dass sie nur glauben.
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Die meisten Ungläubigen jedoch glauben, dass sie wüssten.
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Fakt: außer bei unwesentlichem Kleinkram mutmaßen wir alle.
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(Kann dieses skeptische Prinzip selber wesentlich und wahr sein?)
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1147)
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Mal angenommen, die eigene ewige Existenz findet bei gleichverteilter Wahrscheinlichkeit an einem von allen Orten des Universums statt.
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Soweit wir dieses bislang kennen, ist zumeist fast Nichts, sehr viel Gas, viel Stein, wenig Leben und in Relation dazu fast kein Mensch.
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Als Pessimist, der das Leben für wesentlich schlechter hält als das Nichts, hätte ich es somit arg schlecht getroffen – wusst ich's doch.
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1148)
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Mit den Satanisten verbindet mich der Hass auf Gott.
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Aber ich hasse ihn für die Erschaffung dieser schlechten Welt.
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Die Teufelsjünger finden seine Welt geil, haben nur keine Lust auf seine Moral.
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1149)
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Eine Schöpfungsgeschichte, in der Satan die böse Welt erschafft und ein guter Gott von ihm abfällt, wäre treffender.
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Die Erfindung des Guten bzw. seine Ausrufung zum primären Ideal ist doch nur sekundär, Reaktion, Widerstand.
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Hier liegt der Grund, warum Nachdenken so traurig macht: in der Erkenntnis der Chancenlosigkeit einer heilen Welt.
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1150)
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Westliche und östliche Religion gleich optimistischer und pessimistischer Spiritualismus.
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Kommunismus und Kapitalismus gleich optimistischer und pessimistischer Materialismus.
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Mein pessimistischer Idealismus nach Schopenhauer ist der östlichen Religion am nächsten.
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(Darauf verfällt kaum je ein Westler, die mögen nur optimistisch verbrämte Eso-Östlichkeit.)
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1151)
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Auch wenn der übermächtigen Optimistenlüge nichts anzuhaben ist – Pessimistenverdienst bleibt das offene Bekennen der traurigen Wahrheit: die Welt ist schlecht.
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Gelangt diese Saat allerdings aus idealistischer Höhe auf realistischen Boden, fühlt sich der enttäuschte Aktivist allzu schnell berufen, tätliche Konsequenzen zu ziehen.
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Ob er dabei als kranker Amokläufer, als extremistischer Terrorist oder als anerkanntes Staatsoberhaupt gilt, hängt einfach von der Größe seiner Gefolgschaft ab.
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1152)
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Die materielle Welt als Welt minus Bewusstsein und insbesondere als Welt minus Leid ist eine künstlich-konstruierte.
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Die Welt ist zuerst Bewusstsein, ist zuerst Leid. Und Bewusstlosigkeit bzw. Leidlosigkeit sind Ideale der Negation.
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Wer das partout andersrum sehen möchte, sollte sich vielleicht nicht ausgerechnet Wissenschaftler nennen.
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1153)
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Die Welt als Wille und Vorstellung? Mir kommts ja vor, als gelte vielmehr: Bewusstsein und Widerwille.
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Ist es denn so falsch, das Passive bzw. Erlittene zuerst zu denken – und alle Aktion als Reaktion darauf?
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Jedenfalls ist es unüblich. Aber ich bestehe darauf, nicht der erste Beweger zu sein – zuerst bin ich bewegt.
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1154)
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Acting Up – in der Postmoderne benimmt sich nun schon seit Jahrzehnten daneben, wer von Tradition und Moderne geknechtet wurde.
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Wie viele Jahrzehnte will es denn noch dauern, bis man endlich das Selbstbewusstsein gewonnen hat, um damit wieder aufzuhören?
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Die Rolle als pain in the ass macht diabolisches Vergnügen, man kriegt scheinbar nicht genug davon. Bitte: Nice Girls, Nice Gays etc.
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1155)
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Monotheismus? Früher hieß es auch, es gäbe nur einen Planeten – unseren.
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Aber sicher ist unserer nur einer von vielen, und einer von den schlechteren.
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"God made the world in six days and was arrested on the seventh." A. Bierce
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(Wir misslungenen Geschöpfe sollten dem Gotteswahn widerstehen und nach dem Nichts streben.)
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1156)
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Sich sicher zu fühlen vor einem herrischen Gott, vor einer Wiedergeburt als leidende Kreatur etc. gilt als areligiös.
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Sich zu ängstigen vor einem leidvollen Bewusstsein über den Tod hinaus wird dagegen zur Religion gezählt.
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Wer ist hier wirklich der Gläubige? Geborgenheit im Nichts, Aufgehobensein in ewiger Bewusstlosigkeit vor und nach dem eigenen Vorzugsleben an der Spitze der Nahrungskette erscheint mir vertrauensseliger.
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1157)
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Als Pessimist befürchte ich, dass alles immer schlimmer wird.
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Versuche halt glauben zu können, dass alles so (schlecht) bleibt.
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Aber zu hoffen, dass alles immer besser wird, scheint mir absurd.
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1158)
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Ein Mann, der offenbar was gegen Frauen in der Runde hat, ist vielleicht fast selber eine.
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Man sehe sich seinen Freundeskreis an: ganze Kerle, die ihre Frauen gern dabei haben.
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Der Misogyne aber bevorzugt ein Treffen "ohne Anhang", d.h. ohne Konkurrenz.
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(Oder er will rationalen Bigtalk statt emotionalen Smalltalk – dann ist es keine Eifersucht.)
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1159)
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Ist ein langer Weg zur Selbstbestimmung des Krankenversicherten – bisher hilft der Arzt noch nach Gutsherrenart.
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Man stelle sich vor, ein volljähriger Patient könnte jederzeit verfügen, im weiteren nur noch palliativ betreut zu werden.
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Heute undenkbar: bis er nicht "konstruktiv" austherapiert ist, bleibt ihm solch schmerzloses Davonschleichen verwehrt.
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1160)
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Kant als Hauptvertreter des deutschen Idealismus hielt die Vernunft hoch und war optimistisch hinsichtlich ihrer Gültigkeit und zukünftigen Geltung.
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Schopenhauer war pessimistisch, sah das irrationale Wesen von Ich und Welt bzw. Wille und Vorstellung, hielt jedoch weiterhin die Vernunft hoch.
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Erst Nietzsche heroisierte das Tier in uns, deutete es optimistisch um und machte dafür umgekehrt den Intellektualismus und die Moral verächtlich.
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(Heute diffamieren die Postmodernen den deutschen Idealismus als Wurzel des Dritten Reichs – kehrt mal lieber vor eurer nietzscheanischen Tür!)
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1161)
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Was ist Todesangst?
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Entweder nur die Angst vor zunehmendem Schmerz, wie wir ihn aus diesem Leben zur Genüge kennen.
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Oder vor etwas Unbewusstem, das wir vor diesem Leben schmerzlich erfahren mussten und dann verdrängten.
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(Angst vor dem Nichts oder Hängen am Leben kanns bei mir nicht sein.)
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1162)
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Was ist Allmacht?
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Schließt sie die Nichts-Macht ein, sich selbst abzuschaffen?
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Wenn nicht, dann ist All-Ein-Sein wohl das Nächstruhigste.
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1163)
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Die Sanften gehen früh ein.
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Spricht aber nicht für die Harten.
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Offenbart vielmehr ihr übles Walten.
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1164)
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Den Sportlern zuzusehen erregt Bewunderung.
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Ihnen in Interviews zuzuhören das Gegenteil.
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Die Dichter zitiert doch auch keiner ans Reck.
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1165)
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Das Nichts ist die Mitte zwischen Himmel und Hölle.
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Quietismus die Mitte zwischen produktiv und destruktiv.
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In Ruhe die Genies verehren und die Vandalen verachten.
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1166)
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Das Leben wäre besser nicht – eine Geisteshaltung, die nur ruhig einnehmen kann, wer sich auch vom Tod keine Erlösung verspricht.
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Latente Pessimisten können offene Pessimisten sogar dafür hassen, dass deren lebensverneinende Äußerungen sie zum Selbstmord reizen.
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Der offene Pessimist sorgt sich besser um seine latenten Kollegen als um echte Optimisten, welche ihm nur Unverständnis entgegenbringen, keinen Hass.
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(M.E. durchaus vergleichbar: die offen Schwulen geraten hauptsächlich mit latent schwulen Homophoben in Konflikt, nicht etwa mit echten Heteros.)
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1167)
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Sind die Postmodernen nun eigentlich neumodisch oder altmodisch?
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Hat Nietzsche ja geschickt eingefädelt mit der gehörnten Retrokultur.
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Ich hab mich entschieden: sanftmütig ist neu, hartmütig ist alt – zu alt.
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1168)
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Moralisch motivierter Nihilismus: den Gedanken ans Nichts für alle finde ich so gut wie ich den an Himmel für die einen und Hölle für die anderen böse finde.
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Des Lebensfrommen Ruchlosigkeit besteht m.E. im Wesentlichen darin, dass ihm das Glück derer an der Spitze das Leid derer an der Basis allemal wert ist.
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Er mag hoffen, dass einst alle auf der Sonnenseite des Lebens ankommen. Oder er glaubt, gerade das Durchwandern dunkler Täler mache ein erfülltes Leben aus. Jedenfalls zieht er die Auslese im Leben der Gleichheit im Nichts vor. Dies gilt als gut oder als jenseits von gut und böse – aber wie gesagt, ich halte es für böse.
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1169)
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Wie ist es, tot zu sein?
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Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von genauso wie jetzt ich sein bis ganz anders sein.
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Ein anderer auf dieser Welt sein, im Himmel oder in der Hölle sein, ganz i.S.v. all-ein bzw. Gott sein oder gar nicht sein – diese übrigen Todesmodelle liegen auf halbem Weg zwischen den beiden oben genannten Extremen.
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1170)
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Beim Tod tippe ich auf: ähnlich wie das Leben, etwas anders.
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Also weder ganz genauso wie das Leben noch ganz anders.
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Wieder zwischen Himmel & Hölle, zwischen Ganz & Garnicht.
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1171)
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Religion – in der Kindheit gelten ihre Erzählungen als Realität, im Erwachsenenalter als Phantasie.
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Aber die philosophischen Ideen dahinter sind weder noch, sondern theoretische Möglichkeiten.
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Wer Bewusstsein im Tod als schlicht unmöglich abtut, ist geistig hinter das Kind zurückgefallen.
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1172)
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Im Realismus hat eben Pech gehabt, wer sich nach dem Nichts sehnt.
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Weil jener ihm den süßen Suizid dermaßen unwiderstehlich anempfiehlt.
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Glaubt man den Realisten nicht, ist es viel leichter, am Leben zu bleiben.
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1173)
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Die Christen meinen, die Weltgeschichte sei mit der Aufklärung falsch abgebogen.
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Die Aufklärer meinen, die Weltgeschichte sei mit der Postmoderne falsch abgebogen.
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Wohin kann die Weltgeschichte noch abbiegen, dass die Postmodernen das Nachsehen hätten?
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(Für mich ist Nietzsche der Falschabbieger – wie konnte das nach Schopenhauer nur passieren?)
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1174)
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Wirklich arm, wie insbesondere der reiche Gutbürger durch winzige bis nurmehr symbolische Öko-Aktionen seine hedonistische Prasserei kompensiert.
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Häuser, Ferienwohnungen, Autos, Flugreisen, Kleider, Sportausrüstung etc. en masse und entsprechend hoher Energieverbrauch bzw. hohes Müllaufkommen.
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Aber umweltbewusst mit neuester Heiz-, Kühl-, und Katalysatortechnik, Ökosprit, Energiesparlampen und biologisch abbaubaren Müllbeuteln im Hunderterpack.
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(Hat was von dem Schluck Wein, den man einst seinem Gott opferte, um sodann die übrigen drei Liter selber zu trinken. Erfolgreich: Selbstbetrug per Gottbetrug.)
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1175)
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Die meisten rangieren zwischen traditionell religiös und modern realistisch. Sind damit aber am wenigsten missionarisch – angenehm.
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Spezieller schon die spirituellen Esoteriker oder die agnostischen Skeptics. Belehren, halten sich für weiser bzw. klüger – unangenehm.
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Wer richtig in die Philosophie einsteigt und eine eigentümlichere Denkrichtung als die obigen vier nimmt, wird evt. zum Prediger – furchtbar.
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(Ich gehöre wohl schon zur letzten Kategorie – aber ich schreibe es lieber raus, um damit niemandem live auf den Sender zu gehen.)
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1176)
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Der Selbstmord wurde von Tradition bzw. Religion zu schwer gemacht.
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Moderne bzw. Naturalismus werden ihn im Gegenzug zu leicht machen.
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Einst um alles am Leben gehangen, nächstens gedankenlos weggeworfen.
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1177)
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Erst wenn er Zeit zur Besinnung kriegt, merkt der Mensch, wie furchtbar unglücklich er eigentlich ist.
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Deshalb schlagen Axtmörder & Co. paradoxerweise am häufigsten unterm Weihnachtsbaum zu.
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Arbeit ist insofern Gottes größtes Geschenk an den Menschen, als Freizeit der Hölle sogar noch näher kommt.
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1178)
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Früher nötigte die Gesellschaft alle fruchtbaren Geiseln so lange, bis sie Nachwuchs in die Welt gesetzt hatten.
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Heute gibt es so viele Menschen auf der Erde, dass man wahlweise auch als kinderloser Workaholic dienen darf.
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Aber wo die Retros nun die nationale Kategorie wiedererweckt haben, wird das nicht mehr lange statthaft bleiben.
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1179)
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Die Drohung der Christen mit der realen Hölle nach dem Tod hat mich als Kind seelisch verkrüppelt. Wenn ich mich heute darüber beschwere, renne ich selbst bei den Christen offene Türen ein. Ab und zu noch berichtet die Presse als Kuriosum von vereinzelten hochbetagten Höllenmahnern, die ihre geistige Entwicklung vor Jahrzehnten einstellten – alle übrigen Christen haben anscheinend zu weniger kriminellen Todesmodellen gefunden.
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Das Versprechen der Realisten vom erlösenden Nichts im Tod lockt zahllose Jugendliche in den Suizid. Nur falls sie sich im Internet verabredet und gemeinsam umgebracht haben, schreibt die Presse darüber – es sei unfassbar und unerklärlich. Ist es nicht, ganz im Gegenteil. So bigott die Erzieher früher als Christen waren, so hörig sind sie heute den "objektiven" Wissenschaften. Unangefochten regiert die Ignoranz der Besserwissenschaft.
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Sogar die Philosophen machen sich schuldig mit ihrem Geheimnis um den Tod. Sie versäumen, das Unbekannte im Tod klar zu differenzieren vom ganz Anderen. Welchen Jugendlichen plagt denn nicht das Fernweh – zumal in einer Welt, die er bis obenhin satt hat. Den Erkenntnisoptimisten widerstrebt es zuzugeben, dass es hinter dem Horizont i.a. aussieht wie davor. Es sollte davor gewarnt werden, sich vom Tod das Gegenteil des Lebens zu erwarten.
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1180)
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In der Ruhe liegt die Kraft? Nein, mir ist aus ganz anderen Gründen an der Ruhe gelegen.
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Meine Sympathie gehört gerade den Kraftlosen, die gar nicht zu den Kräftigen gehören wollen.
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Ich mag es nicht, wenn sich einer dafür nicht mag, nicht stark zu sein. Ruhig schwach sein.
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1181)
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(Kaputter) Körper gleich (kaputte) Basis.
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(Kaputte) Seele gleich (kaputtes) Zentrum.
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(Kaputter) Geist gleich (kaputte) Spitze.
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1182)
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Die Postmoderne sagt mir zu hinsichtlich ihrer skeptischen Haltung, sowohl die traditionellen Religionen als auch die modernen Wissenschaften als Erzählungen zu begreifen, welche als wahr auszugeben vermessen wäre.
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Die Postmoderne sagt mir nicht zu hinsichtlich ihrer eudaimonistischen Haltung – wer schon einsieht, dass es keine Wahrheit gibt, könnte auch einsehen, dass es kein Glück gibt auf dieser Welt – dass sie besser nicht wäre.
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Praktisch gilt: die Tradition hat recht mit ihrem Ideal von Familie, Arbeit, Moral – aber es ist nicht realisierbar; und die Moderne hat recht mit ihrer Abkehr von solchem Gesellschaftszwang, bietet aber keine glückende Alternative.
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1183)
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Über das Böse siegt nur das noch Bösere.
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Guter Zweck heiligt diese Mittel auch nicht.
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Süßer Hedonismus vs. saurer Moralismus.
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1184)
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Psychotherapierte halten sich für fortgeschritten.
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Fortgeschritten i.S.v. stärker? Glaub ich ihnen.
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Fortgeschritten i.S.v. netter? Aber nie im Leben.
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(Psychotherapie verbreitet Nietzscheanismus.)
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1185)
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Nach dem Tod ist vor dem Tod, glaube ich.
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Ewig nur ich wär ja schon schlimm genug.
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Immer irgendein anderer noch schlimmer.
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1186)
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Wenn jeder mal alles sein müsste auf dieser Welt, wäre das gerechter als wenn jeder ewig bleiben dürfte, was er ist.
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Doch hätte ich die Wahl, nach dem Tod wieder ich zu sein oder irgendein anderer, nähme ich aus Angst wieder mich.
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Mit der Verteidigung, dass es eine mehr als gerechte Lösung gäbe, die ich meiner Wiederwahl vorzöge: Nichtsein.
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1187)
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Als Kind musst du.
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Als Erwachsener sollst du dann wollen.
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Ohne mich – meine einzige Alternative zum Müssen ist das leider nur ideelle Nichts(müssen).
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1188)
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Böse sein macht es leider leichter.
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Wenn man im Verborgenen bleibt.
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Der Meister des Sadismus ist Gott.
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1189)
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Das Böse kommt vom leidigen Seinmüssen.
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Wenn ich schon sein muss, dann was Besseres.
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Sprach Gott und schuf sich ein schwächeres Ebenbild.
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1190)
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Optimismus der Schwäche beschönigt das Böse, Pessimismus der Schwäche beklagt es. Diese zweite, schopenhauerianische Option ist meine.
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Optimismus der Stärke bekämpft das Böse, Pessimismus der Stärke bejaht es. Diese vierte nietzscheanische Option ist heutzutage en vogue.
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Sogar eher spießige Labels machen inzwischen Werbung, indem sie Konsumenten ihres Produktes zeigen, wie sie sich weigern, es mit anderen zu teilen. Die Identifikationsfiguren heutiger Mainstream-Movies üben das Brechen aller Regeln. Gleichzeitig wissen Politik, Pädagogik etc. nicht mehr ein noch aus mit den Geistern, die Nietzsche rief. Und keine philosophische Antithese mehr in Sicht.
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1191)
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Wir Moralisten übersehen euer Augenzwinkern in der heutigen Medienpropaganda für Boshaftigkeit und Egoismus?
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Vielleicht ist unsere Empörung ja auch nur aufgesetzt und wir ventilieren unsere schlechte Laune auf eure Kosten?
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In Zeiten heilloser Ironie sagt kaum noch einer was so, wie's gemeint ist. Aber bei all dem verordneten Unernst: wer weiß?
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1192)
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Wer mehr liest als selber nachdenkt, neigt zu vielseitiger aber inkonsistenter Weltsicht.
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Wer mehr nachdenkt als liest, neigt zu stimmiger aber starrer Weltsicht – ich z.B.
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Wer weder liest noch nachdenkt, neigt zum blind drauflos und damit zeitgemäß Leben.
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1193)
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Den Gedanken an ein Leben nach dem Tod empfinde ich als bedrohlich, nicht als tröstlich.
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Viele empfinden ihn wohl als so bedrohlich, dass sie die bloße Möglichkeit negieren.
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Ist die ach so objektive moderne Weltsicht nicht primär Verdrängung dieser Angst?
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1194)
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Physiker erforschen Mikro- und Makrokosmos, verziehen sich an die allerlebensfernsten Ränder.
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Im Alter treiben sie dann Philosophie, indem sie ihrer Physik Kompetenz in zentralen Seinsfragen anmaßen.
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Ärgerlich, wie viel Ehrfurcht noch der nichtssagendste Ausflug in die Quantenmechanik bzw. Astronomie einheimst.
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(Bei Generationen, die nicht mehr live von der Mondlandung indoktriniert wurden, lässt das aber stark nach.)
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1195)
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Seinsverdruss.
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Seinsempörung.
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Pessimismus.
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1196)
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Nicht nur die Himmelsfrohen – auch wer den Tod fürchtet, weil er da für irdische Sünden bestraft werden könnte, hat die willkürliche religiöse Verknüpfung von Ethik und Leben nach dem Tod gläubig geschluckt.
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Wer sagt denn, dass Leiden nach dem Tod überhaupt etwas damit zu tun haben muss, was einer im Leben war oder tat? Das Leben krönt Schuldige und quält Unschuldige – wieso sollte der Tod besser sein?
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Größte Zumutung für den Menschen: im Tod könnte jedem alles geschehen, inklusive ewige Hölle – ganz unabhängig davon, was vorher war. Alles andere ist Religion, auch und v.a. der Hardcore-Materialismus.
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1197)
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Wer im Tod für seine Sünden bestraft würde und diese Strafe als angemessen empfinden könnte, hätte doch noch Glück gehabt.
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Nicht mehr aber, wer auf ewig in der Hölle säße für vergleichsweise geringe weil endliche Schandtaten im kurzen Erdenleben.
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Und erst recht nicht, wer auf ewig in der Hölle schmorte, ohne je etwas verbrochen zu haben. Ist das Leben willkürliche Hölle?
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(An letztere Möglichkeit mag anscheinend keiner denken, geschweige denn glauben. Tiefstensfalls an eine gerechte Hölle.)
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1198)
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Drei senkrecht aufeinander stehende Todesdyaden: Himmel und Hölle, Nichts und All-Einheit, Wandel und Identität. In dieser Reihenfolge hab ich sie durchlaufen, d.h. heute glaub ich, der Tod lässt das Wesentliche gleich.
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Als Glaubenstendenzen statt als Extreme formuliert: dass der Übergang vom Leben zum Tod das Dasein angenehmer oder unangenehmer macht, das Bewusstsein enger oder weiter, die Persönlichkeit anders macht oder sie so lässt.
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Senkrecht aufeinander stehend, d.h. inkommensurabel: Bewusstseinserweiterung ist nicht per se angenehm oder unangenehm, Persönlichkeitsveränderung nicht bewusstseinserweiternd oder -verengend usf.
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1199)
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Himmel, Ordnung, Identität: erwachsen-vernünftig.
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Hölle, Chaos, Wandel: jugendlich-romantisch.
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Früher sollten die Jugendlichen erwachsen werden, heute wollen die Erwachsenen jugendlich bleiben.
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1200)
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Sich bewusst in Vorteil zu setzen ist böse.
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Sich bewusst in Nachteil zu setzen ist gut.
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Sich unbewusst in Vorteil oder Nachteil zu setzen ist dumm.
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1201)
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Erst ewig die alte Lüge von Christentum und Aufklärung: Moral und Glück gingen Hand in Hand. Wo die Spatzen doch seit jeher das Gegenteil von den Dächern pfeifen.
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Dann endlich die neue Ehrlichkeit von Schopenhauer und Nietzsche: warme Empathie geht einher mit unglücklicher Lebensverneinung bzw. glückliche Lebensbejahung mit kalter Dominanz.
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Aber statt dass die Traurigen von heute sich als Schopenhauerianer damit zufriedengeben, aus Güte auf den Raub von Vorteilen zu verzichten, lassen sie sich von Nietzscheanern krankschreiben.
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1202)
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Wenn einer für oder gegen das endgültige Nichts im Tod "objektiv" argumentiert, frag ich ihn gleich, was von beidem ihm persönlich lieber wäre.
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Ob er also zu seinem Glück objektiv bestätigt sieht, was er sich wünscht, oder es widerlegt sieht. Im ersteren Fall ist er Optimist, im letzteren Pessimist.
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Das sagt etwas aus, über ihn nämlich. Dass objektive Argumente für oder gegen das Todesnichts Licht in die Sache bringen, glaub ich weniger.
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1203)
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Wer das Leben liebt und vom Nichts im Tod ausgeht, scheint das Gegenteil von mir zu sein, der ich das Leben hasse und vom Weiterleben nach dem Tod ausgehe.
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Was wir aber gemeinsam haben, ist eine Art von Pessimismus: wir leben in dem Gefühl, dass das Wichtigste, was wir uns wünschen, nicht in Erfüllung gehen wird.
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Ebenso bilden Lebensfreudige, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, unbewusst eine Optimistengemeinschaft mit Lebensleidigen, die an das Nichts im Tod glauben.
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1204)
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Laut Monotheismus ist das Leben gottgewollt.
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Laut Schopenhauer-Atheismus ist das Leben von uns selber gewollt, wenn auch blind gewollt – und wir können uns erlösen, indem wir diesen Willen schließlich verneinen.
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Am pessimistischsten ist m.E. das weder von Gott noch von uns selber gewollte, sondern nur gemusste Leben. Aber auch ich glaube noch an ein wenig Selbstbestimmung.
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1205)
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Zu sagen, die Wissenschaft erkläre die Welt oder habe sie gar schon erklärt, ist nur eine Gutenachtgeschichte.
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Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Sinnträchtigkeit religiöser Schriften etc. noch illusorischer ist.
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Bewusstsein heißt das zentrale Problem bzw. Wunder – wir wissen so gut wie nichts darüber. Evt. gibt es nur meines.
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1206)
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Spaß muss sein – so reden sich die Dominanten heraus, nachdem sie andere mutwillig erniedrigt haben.
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Dass er sein muss, nicht etwa darf, weist bereits darauf hin, dass die sich nicht unter Kontrolle haben.
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Zur Beruhigung sage ich mir dann: Dummheit muss sein und das mit dem Spaß folgt nur daraus.
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1207)
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Spaß muss sein – eine auf seine Opfer zugeschnittene Lüge?
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Welche sich am besten in das dreinfügen, was nun mal muss?
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Täter unter sich würden dann sicher eher sagen: Spaß will sein.
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1208)
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Seit den 60ern und 70ern darf ein Mann auch weich sein.
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Seit den 80ern und 90ern darf eine Frau auch hart sein.
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Aber weder die weichen Männer noch die harten Frauen kriegten die Mehrheit des eigenen Geschlechts auf ihren Kurs.
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1209)
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Wer anmahnt, es müsse mehr getan werden, verschweigt oft, dass es für ihn eh unmöglich wäre, weniger zu tun.
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Aktivisten sind zumeist Getriebene, die es sowieso keine fünf Minuten auf ihrem Hintern sitzend aushalten.
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Was subjektiv getan werden will und was objektiv getan werden soll ist das am liebsten verwechselte der Welt.
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1210)
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Wie Gott ist auch das Nichts nur einfache Idee, vor das Sein bzw. gegenüber dem Sein gesetzt.
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An Gott glauben schon viele nicht mehr, an das Nichts dagegen noch so gut wie alle Atheisten.
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Sicher kann man auch noch das Sein als Ganzes verwerfen, sich nur noch an Partikulares halten.
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(Aber schön eins nach dem anderen – ich behalte das Sein als beruhigende Identität, als Religion.)
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1211)
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Individuell angepasste Religion für den Angsthasen – warum nicht?!
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Aus aller Philosophie was ihm glaubwürdiges, ihn stabilisierendes ausgewählt.
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Ich glaub nicht an Gott oder ans erlösende Nichts – aber an Identität im Sein.
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1212)
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Postmodern wär ich aufgeschlossen fürs jeweils andere.
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Weg von jeder Religion, die mich zügelt und versichert.
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Aber Zügellosigkeit empört mich, Unsicherheit ängstigt mich.
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1213)
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Im Nichts aufgehoben, das wärs. Doch ich fühl mich im Sein gefangen. Aber immerhin aufgehobener als in je neuem Seiendem.
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Anderen gehts umgekehrt: die fühlen sich vom Nichts bedroht, vom Sein gelangweilt und vom je neuen Seienden erregt.
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Ob einer religiös ist, hängt nicht davon ab, worin er sich aufgehoben fühlt, sondern ob er sich aufgehoben fühlt.
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1214)
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Die meisten depressiv Gestimmten mögen sich selber nicht.
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Einige mögen sich dennoch, also trotz depressiver Stimmung.
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Aber wer mag sich schon, gerade weil er depressiv gestimmt ist!
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(Ich zähl mich zu letzteren. Denn depressiv bleibt man aus Nettigkeit.)
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1215)
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Die im Tod mögliche Vernichtung zählt für mich zu den positiven Veränderungen.
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Der im Tod mögliche Persönlichkeitswechsel hin zu anderen Lebewesen, die ich bisher nur von außen kenne, zählt für mich zu den negativen Veränderungen.
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Am ehesten glaube ich aber, dass im Wesentlichen alles so bleibt sprich ich bleibt sprich schlecht bleibt, also dass der Tod weder positive noch allzu negative Veränderung bringt.
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1216)
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Angst vorm Herrgott mit Hölle? Wenig.
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Angst vorm Nichts? Null, im Gegenteil.
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Angst vorm ewig gleichen Sein? Wenig.
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(Angst vorm je neu werdenden Seienden? Ja. Zum Religionslosen tauge ich noch nicht.)
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1217)
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Lieber glücklicher Täter oder unglückliches Opfer? Letzteres.
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Lieber der einzige überhaupt i.S.v. Gott oder gar nicht? Letzteres.
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Lieber ein ganz anderer werden oder derselbe bleiben? Letzteres.
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(Schwarz-weiß? Im Denken lieber Entscheidungen als Mittelwege.)
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1218)
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Am liebsten wär ich gar nicht, dann ich selber, dann erst jemand anderes – und sei dieser andere noch so gut weggekommen.
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Es gibt offenbar viele, die lieber mit einem anderen tauschen würden als sie selbst zu sein – siehe z.B. Fans und ihre Stars.
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Aber dass mancher gar jedes andere Leben dem Nichts vorzöge, ist mir unglaublich – wo es doch im Leben vor Leid nur so wimmelt.
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(Der Grund für meinen Pessimismus: so gut wie alles Leben scheint schlechter als nichts, sofern man wirklich alles Leben betrachtet.)
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1219)
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Wem es so richtig dreckig geht, dem muss man schon mit der ewigen Hölle im Tod drohen, damit er nicht Hand an sich legt.
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Wem es zwar schlechter als nichts geht, aber noch einigermaßen aushaltbar so wie mir, bei dem reicht auswegloses Sosein.
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Mit dem Todesnichts lieber nur den gut Weggekommenen indoktrinieren – und selbst der suizidiert sich fürs verheißene Paradies.
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1220)
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Religiosität zeigt sich m.E. einfach darin, dass einer keine Angst vor dem Tod hat, nur vor dem Sterben.
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Solche Zuversicht resultiert aus dem Glauben an den Zustand des Totseins als schön, leidlos oder erträglich.
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Wissenschaftsgläubigkeit wirkt da ganz genauso, auch wenn sie sich die Bezeichnung Religion verbittet.
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1221)
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In unserer hedonistischen Gesellschaft sieht man Asketen gerne als unehrliche Füchse, die das ihnen Unerreichbare verächtlich machen.
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Nietzscheaner unterstellen diesen "schlecht Weggekommenen", dass sie den Luxus der Starken hinterhältigerweise zum Bösen erklären.
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Tatsächlich aber ist es die Kultur der Bescheidenheit, welche den heutigen Zeiten von Habsucht und Gier am meisten fehlt.
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(Bedächtige Genügsamkeit statt leistungsbesessener Konsumismus – ob der sterbende Planet rechtzeitig zur Vernunft kommt?)
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1222)
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Hundemenschen sind Hierarchisten, immer in Gesellschaft, umschaltend zwischen herrisch-schroff und unterwürfig-zerknirscht – wie die Hunde eben.
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Katzenmenschen mögen für andere weder den Herrn noch den Diener geben, sind eher eigenwillig-distanziert bis einzelgängerisch – wie die Katzen eben.
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Religiöser Kult ist auf jeden Fall mehr was für Hundemenschen – der Pfarrer kriecht gar ostentativ vor seinem Gott, während er seine Gemeinde anführt.
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1223)
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Wie kommt man nach volkstümlicher Ansicht in den Himmel?
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Nur durch Gemeinschaftlichkeit, nur mit sozialer Kompetenz.
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Glück im Winkel ist jenseits hierarchistischer Vorstellungskraft.
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1224)
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In jeglicher Gemeinschaft liegt das Glück bei den Offensiven, Extravertierten, Unsensiblen.
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Sie leben ihre Gelüste hemmungslos aus in der Überzeugung: "Das stört doch keinen."
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Quietistische Antithese: Jede Äußerung stört. Die Betroffenen leiden still oder in der Defensive.
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(Wer glaubt, nicht zu stören, hat eine Schwelle, unterhalb derer das Andere nicht zählt.)
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1225)
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Wer sich seine Leistungsunfähigkeit nicht ärztlich bestätigen lässt, gilt als leistungsunwillig.
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Vor der Bestätigung aber darf der Arzt am Leistungsunfähigen seine Heilkunst praktizieren.
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Einer der nicht arbeitet, soll der Gesellschaft wenigstens zur medizinischen Übung dienen.
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1226)
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"Sei du selbst!", empfiehlt man ihm überall.
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Also traut sich der Traurige das Traurigsein.
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"Nimm Antidepressiva!" sagt man ihm dann.
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1227)
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Was traditionell religiösen Menschen heute häufig unterstellt wird: Angst vor dem Ende des Lebens im Tod.
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Was modern materialistischen Menschen heute selten unterstellt wird: Angst vor einem Leben nach dem Tod.
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Mir schwant aber, dass der materialistische Fundamentalismus seinen Siegeszug v.a. dieser Angst verdankt.
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1228)
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Materialisten sind oft sehr unwirsch gegenüber den traditionell religiös Gebliebenen.
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Gut, soweit dies an ihrer eigenen, als verkrüppelnd erlebten religiösen Erziehung liegt.
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Schlecht, soweit dies an ihrer uneingestandenen Angst vor einem Leben nach dem Tod liegt.
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1229)
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Realismus nimmt einem zwar den Glauben an schöne Phantasiewelten, aber auch die Angst vor schlimmen.
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Die Lebensdynamik zwischen schönstmöglichem und schlimmstmöglichem Realen ist vergleichsweise klein.
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Und nochmal viel kleiner die Lebensdynamik zwischen dem schönsten und dem schlimmsten eigenen Erlebnis.
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(Insofern ist Realismus ganz entgegen seinem Ruf auch und gerade für die Angsthasen: Hölle ausgeschlossen.)
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1230)
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Wer Streit genüsslich provoziert, ist i.a. der fähigere Streiter. Und im seltenen Fall einer anfänglichen Niederlage der ausdauerndere bzw. rachsüchtigere.
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Moralische Filme machen gern Werbung für Zivilcourage – dort werden die bösen Streitsucher dann vom guten Ruhigen ein für allemal kaltgestellt.
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Aus dem echten Leben aber hält sich der im Bösen untrainierte Ruhige besser raus. Und setzt erst recht keine ebenfalls zurückhaltenden Kinder hinein.
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1231)
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Es gibt Dinge, an die woll(t)en wir glauben bis zuletzt: dass Gott, dass die eigenen Eltern, dass die eigenen Kinder keine egoistischen Teufel sind.
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Aber seit dem neunzehnten Jahrhundert gaben sich Ketzer an Religion und Familie die Klinke in die Hand, heute ist der böse Grundverdacht amtlich.
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Bleibt die Frage, wie lange es je dauert, bis das Individuum zu diesem Pudelkern vordringt. Wohl dem, der bis in seinen Tod naiv zu bleiben versteht?
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1232)
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Wer sich chronisch schlecht fühlt, der bekommt gesagt, die Ursache sei eine Krankheit oder im Elternhaus bzw. in der frühen Jugend zu suchen.
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Vielleicht zieht er zur Entlastung der Eltern noch die Schlussfolgerung, dass an diesen wiederum die Großeltern gesündigt haben und so fort.
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Aber dass die Welt von vornherein unheilbar im Argen liegt, diese Wahrheit Schopenhauers wurde schnell und wirksam wieder begraben.
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(Freudianer bzw. Nietzscheaner geben sich so atheistisch – tatsächlich haben sie u.a. die Eltern zur Rettung des guten Urgrundes geopfert.)
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1233)
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Früher haben mich die männlichen Chauvinisten genervt.
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Heute nerven mich zusätzlich die weiblichen Chauvinisten.
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Das nenn ich Fortschritt: wenn jeder Arschloch werden kann.
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1234)
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Erst wer in der Bereitschaft sterben kann, als was auch immer neu zu werden, meint es ernst mit der Gerechtigkeit.
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Wer nach bejahtem, freiwilligem Menschenleben reif für Himmel oder Nichts zu sein meint, hält sich für was Besseres.
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Nach verneintem, unfreiwilligem Leben allerdings wär eher die Welt uns was schuldig. Ist ihr aber sicher egal.
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1235)
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Zuerst sind alle schwach und leidend.
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Darüber werden viele böse und stark.
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Am Ende handeln wenige Starke gut.
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1236)
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Ein von vornherein und unbedingt zur Güte verpflichtetes Kind wird traurig.
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Ein von vornherein und unbedingt zur Wahrhaftigkeit verpflichtetes ebenfalls.
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Nur aus Bosheit und Täuschung erwächst die Kraft, gut und freudig zu handeln.
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(Aber die meisten bleiben machtlos und leidend oder böse und falsch. Das wenige aktive Gute in der Welt kommt von der luxuriösen Spitze der Stärksten, welche all das Leid der Schwächsten an der elenden Basis nicht im Entferntesten lohnt.)
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1237)
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Das wahrhaft konsequente Gute ist, sich von vornherein in Passivität bzw. Leiden zu üben.
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Die Macht des aktiv Guten erlangt nur einer, der zuerst lernt, andere bös zu übervorteilen.
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Auf die paar alten Gangsterbosse, welche mit Tränen in den Augen selbstgestiftete Kinderheime einweihen, sollte die leidende Welt auch noch verzichten.
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1238)
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Das passive Gute ist das primäre Gute, das aktive Gute ist das sekundäre Gute.
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Wer von vornherein darauf verzichtet, andere zu übervorteilen, bleibt ohnmächtig.
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Das aktive Gute, zu dem der Mensch imstande ist, fußt auf Ausbeutung des anderen.
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1239)
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Macht ist neutral, wird immer behauptet: man kann damit Gutes und Schlechtes bewirken.
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Aber wer nicht begabt ist, d.h. seine Macht nicht ausnahmsweise geschenkt bekommen hat, der hat sie sich üblicherweise erstritten, hat dafür andere beraubt.
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Somit gibt es i.a. zwei Arten, gut zu sein: am besten auf Macht von vornherein verzichten oder sie nach dem Raub wenigstens für Gutes verwenden.
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1240)
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Wer zurückhaltend und bescheiden ist, auf Macht verzichtet, wird ignoriert.
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Wer Macht an sich reißt, um sie dann für Gutes einzusetzen, wird gepriesen.
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Unsere Art ist so sehr letzteres, sie begreift ihre ethische Zweitklassigkeit nicht.
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1241)
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Quietismus heißt auch, am meisten Respekt dem zu zollen, der am unaufwändigsten zu leben vermag.
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In den imperialistischen Medien wiederholen sie gebetsmühlenartig, wer nicht kämpfe, habe bereits verloren.
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Tatsächlich aber richten die Kämpfer primär Unheil an, und sei es nur durch eine verheerende Energiebilanz.
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1242)
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Von meiner Seite weiterhin ein entsetztes, generelles Nein zum Leid!
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Mit diesem Nein fühle ich mich weder in der traditionellen, noch in der aufklärerischen, noch in der postmodernen Epoche der Philosophie besonders gut aufgehoben. Die Tradition befreundet sich mit dem Leid als Gottes Ratschluss, die Aufklärung als selbstgewählte Pflicht und die Postmoderne als unabdingbare dunkle Seite der Lebensfülle.
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Vielleicht ist mein generelles Nein zum Leid vorphilosophisch – noch vorphilosophischer als der Versuch, nur individuelles Leid zu minimieren bzw. in Kampf und Sieg auf andere abzuwälzen. So vorphilosophisch wie das Entsetzen des Neugeborenen, das mit jeder Faser auszudrücken scheint: in welche Hölle bin ich denn hier geraten!
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1243)
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Meine Philosophie des Neugeborenen: am Anfang ist das Leid! Nur dass ich reiferweise nicht schreie, sondern schreibe.
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Die Postmoderne geht in ihrer Retrobewegung bis zum Barbaren zurück, der gegen sein Leid und für seine Lust kämpft.
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Aber noch vor dem wild zum Handeln entschlossenen Barbaren ist das vom Weltleid einfach nur entsetzte Neugeborene.
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(Auch die Psychologie sollte noch vor das kämpferische Kind zurückgehen – zum Entsetzen der Entbindung, vor den Urschrei.)
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1244)
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Wennschon der Welt Herr werden, dann v.a. durch Denken bzw. Rechnen bzw. Theoretisieren statt durch Machen bzw. Bauen bzw. Praktizieren. Insofern bin ich Rationalist, im Gegensatz zu den heute wieder allerorten angesagten Empiristen.
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Aber Rationalität im Sinne von tätiger Unterjochung und Ausbeutung der Natur – auch wenn letztere in vorrationalen Zeiten ja uns beherrscht hat – will ich vermeiden, vielmehr Umsicht und Machtverzicht üben. Insofern doch kein Rationalismus, sondern Frankfurter Schule.
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Seltsam, wie man sogar oder gerade in der akribischen Philosophie keinen Terminus stehen lassen kann, ohne ihn mit länglichen Beifügungen abgrenzen zu müssen vom Gegenteiligen. Und selbst mit diesen Kommentaren kommt noch das meiste falsch an.
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1245)
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Auf Nietzsche müssen die Menschen im Dunstkreis seines pietistischen Elternhauses einen bigotten, hinterlistigen, falschen, sozusagen passiv-aggressiven Eindruck gemacht haben, verfemte und deshalb lebenslang unterdrückte Körperlichkeit "sublimierte" sich sicherlich zu derlei Charakterzügen.
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Zur heutigen Zeit wäre jedoch wieder mehr Zurückhaltung und Innerlichkeit wünschenswert, geübt von Kindheit an. Mag sein, in jungen Jahren frei auslebbare Emotionalität wird im Erwachsenenalter bisweilen zu besonderer Charakterstärke – und erst damit aktive, positive Gestaltung der Welt möglich.
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Aber ist die menschliche Tatkraft nicht v.a. destruktiv? Behutsamste Aktivität bis ehrfürchtige Passivität gegenüber dem im Wesentlichen unverstandenen Universum hätten eher Zukunft, daran gemahnen spätestens die Vorhersagen des Club of Rome über die ökologischen Auswirkungen der Industrialisierung.
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1246)
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Philosophie klingt mir zu freiwillig bzw. autonom, Religion zu verbindlich bzw. hörig.
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Körperliche Bewegung ist doch auch meistenteils weder Tanz noch Krankengymnastik.
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Der Mensch lebt wirklich nicht vom Brot allein, ich brauche seelische und geistige Entwicklung bzw. Halt bzw. Trost – ist für mich aber weder willkürlich gestaltbar noch demütig übernehmbar.
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1247)
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Zugleich gut und wahrhaftig sein ist allzu oft eine widersprüchliche Zielvorgabe.
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Ruhig lügen, Hauptsache in guter Absicht? Ruhig böse sein, Hauptsache ehrlich?
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Die Lösung der Postmoderne: ruhig böser Lügner sein, Hauptsache gutaussehend.
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1248)
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Manche Optimisten mögen wirklich verständnislos bleiben gegenüber den Pessimisten – jene sind die wenigen Glückspilze.
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Die meisten Optimisten aber ärgern sich über die Pessimisten, weil diese nicht wie sie gute Miene zum bösen Spiel machen.
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Denn mit dem Drohbild eines zornigen Schöpfergottes hat unsere Kultur den Menschen eingeschärft, Lebensfreude vorzutäuschen.
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1249)
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Alles könnte ewig schlimmer und noch schlimmer kommen – und davor habe ich wirklich nicht wenig Angst.
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Vom jenes annehmenden reinen Pessimisten unterscheidet mich der Glaube daran, es bleibe i.a. gleich schlimm.
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Dass mir auch im Tod nichts dauerhaft Schlimmeres bevorsteht, kann ich mir gerade noch plausibel machen – und tue es.
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(Letzteres ist meine Religion. Der Glaube an ewig gleiches Leid heißt schon Pessimismus – ist aber nicht der schlimmste.)
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1250)
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Ich glaube am ehesten an das ewig Gleiche bzw. ewig gleich Schlechte.
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Das heißt nicht, dass sich das Leben im Tod als ewiges Leid offenbart.
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Nur, dass das Leben im Tod weitergeht und sich langfristig gleich anfühlt.
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1251)
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Ich glaube, die meisten Lebewesen leiden die meiste Zeit des Lebens.
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Aktionismus ist die beliebteste Methode, diese Wahrheit zu verdrängen.
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Und die menschliche Lebensfreude? Hat fast immer was Gezwungenes.
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1252)
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Um nur gut zu sein, müsste man in der Tat allmächtig sein.
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Ansonsten ist das Böse nur durch Passivität zu vermeiden.
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Beides Illusion, abwechslungshalber aber wär letzteres dran.
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1253)
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Die Religionen behaupten listigerweise, man könne sich direkt vom Opfer zum guten Täter wandeln: Hilf und dir wird geholfen.
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Opfer mit dem Willen zum Guten bleiben jedoch in aller Regel Opfer, denn der praktikable nächste Schritt ist der zum bösen Täter.
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Gute Taten der Stützen unserer Gesellschaft sind in aller Regel Imagepflege oder späte Sentimentalität nach Ellenbogenkarrieren.
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1254)
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Den Nachkommen etwas hinterlassen?
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Bislang denkt man dabei noch zuerst an ein mit viel Schweiß der Natur tätig abgerungenes Kulturgut.
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Vielleicht sollte man inzwischen zuerst an ein mit viel Zurückhaltung in Ruhe gelassenes Naturgut denken.
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1255)
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Zu viel Technik verdirbt die Natur, zügeln wir uns!
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Verdirbt schon vorher zu viel Denken die Intuition?
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Kaum befreit von der Herrschaft, tut sie einem leid.
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(Weg von der Rationalität nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie? Also ich als Religionsopfer bin noch viel zu froh über die Denkauswege der Aufklärung, als dass ich gleich wieder mit der Retromode des Nichtdenkens gehen könnte.)
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1256)
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Erst Opfer, dann Räuber, zuletzt Gönner – das ist offenbar die uns vorgeschriebene Entwicklungsgeschichte.
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Vom Individuum über die Nation bis zur biologischen Gattung – zeig mir deren Erfolge, ich zeig dir deren Verbrechen.
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Meine Sympathie gehört nicht mehr den Guten, sondern den Lieben – denn vor dem Gutsein steht die Machtergreifung.
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1257)
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Das Bewusstsein sitzt laut Hirnforschung in der äußersten Hirnschicht.
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Bewusste Prozesse sind angeblich die Ausnahme: nur zum Leben ändern.
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Das meiste läuft unterbewusst, automatisch ab. Doch Denken korrigiert sich.
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1258)
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Eine Religion haben heißt: sich gehalten fühlen.
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Schopenhauer z.B. bietet gleich zweifachen religiösen Halt: erstens ist diese Welt schon die schlimmstmögliche, könnte als noch schlimmere gar nicht bestehen – Pessimismus im wörtlichsten Sinn; zweitens können wir aufhören zu wollen und so uns selbst erlösen.
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Meine Religion besteht darin, mich im Sein gehalten zu fühlen – es macht mich zwar wütend, dass ich mich nicht ins Nichts verabsentieren kann; aber es wirkt u.a. auch beruhigend auf mich, dass ich den Laden in seinem leidigen Wesen gut genug erkannt zu haben meine.
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1259)
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Nettsein – falls nicht vorgetäuscht – ist Luxus, den sich nur wenige leisten können oder wollen.
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Als Öko z.B. wälze ich etwas weniger von meinem Leid auf die Umwelt ab als ich abwälzen könnte. Reise kaum, kaufe und verbrauche weniger ausbeuterisch produzierte Waren. Als Abkömmling einer reichen Gesellschaft mute ich mir etwas Askese zu.
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Dieses Gutmenschentum bleibt jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer von uns kann schon mehr gutmachen als er anrichtet? Menschsein heißt bereits Bösesein. Und je reicher desto böser. Die Bösesten packen ein bisschen Gutsein als Luxus obendrauf.
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1260)
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Gutes ist bedingt durch Böses.
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Leistungsfähigkeit ist bedingt durch ungerechten Vorteil.
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Aber die Guten und Leistungsfähigen halten sich lieber für ihres Glückes Schmied.
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1261)
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Optimisten und Pessimisten halten es für ausschlaggebend, wie das Leben an sich zu bewerten sei: als gut oder schlecht. Vielleicht haben sie damit bei allem Widerspruch etwas Wesentliches gemein.
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Optimisten meinen, dass das Leben i.a. als gut zu bewerten sei. Und dass die grundsätzlich Andersmeinenden heucheln oder selbst an ihrem Unglück die Hauptschuld tragen oder eine seltene Ausnahme seien.
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Pessimisten meinen, dass das Leben i.a. als schlecht zu bewerten sei. Und dass die grundsätzlich Andersmeinenden heucheln oder für ihr Glück unlautere Vorteile beanspruchen oder eine seltene Ausnahme seien.
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1262)
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Wenn es wahr wäre...
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...dass das Leben endlich ist...
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...dann wäre das seine beste Eigenschaft.
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1263)
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Mein Versuch eines Beitrags zur Weltverbesserung: Machtverzicht.
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Mein Versuch eines Beitrags zur Weltvernichtung: Zeugungsverzicht.
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Weltverbesserung und Weltvernichtung: beides illusorisch, fürchte ich.
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1264)
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Die Kapitalisten wollen Gewinner sein, wollen es sich als elitäre Auswahl der Menschheit gutgehen lassen. Die Kommunisten wollen, dass es allen Menschen gleich gut geht. Mir genügt auch letzteres noch nicht. Ich will, dass es allen und allem – Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen – gut geht. Und das ist von vornherein unmöglich.
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Schon einsichtiger ist m.E. das Schopenhauersche Ideal: Nichtsein für alle und alles. Oder zumindest für mich selber, wenn es für alle nicht möglich ist bzw. die anderen diesen Wunsch nun mal nicht teilen. Nach meinem eigenen Nichts kann ich nämlich besseren Gewissens streben als nach meinem wohlständigen Vorteil.
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Bleibt die Frage nach der Vernichtungsmethode. An realen Suizid glaube ich nicht, individuell wie kollektiv – Neo-Schopenhauerianer Horstmann z.B. vertraut ja auf den atomaren Overkill. Ich bleib beim alten Schopenhauer mit seiner Willensverneinung, die aber wohl auch nicht wirklich nichtet. Echter Pessimismus: Das Leid währt ewig.
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1265)
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Weder total gut noch total schlimm.
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Weder null & nichts noch eins & ganz.
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Weder stets anders noch stets gleich.
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(Sowohl das Leben als auch der Tod.)
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1266)
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Den Skandal am Selbstmord sehe ich ganz woanders als die meisten. Würde ich in der Suizidprävention arbeiten, müssten sich die Kollegen sehr über meinen Ansatz wundern.
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Denn sich aus dem leidigen Leben in die endgültige Bewusstlosigkeit zu verabschieden, ohne andere Lebende mit hineinzureißen, dagegen wüsste ich kaum etwas einzuwenden.
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Vielmehr ist m.E. der von den Wissenschaften beförderte Todesrealismus zu hinterfragen. Er verspricht Leidlosigkeit im Tod und liefert damit das ausschlaggebende Suizidmotiv.
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1267)
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Echte Optimisten glauben, das eigene individuelle Leben sei und bleibe viel besser als nichts; echte Pessimisten glauben, das eigene individuelle Leben sei und bleibe viel schlechter als nichts.
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Gegenpolige Anschauungen, vergleichbar mit Himmel und Hölle: auch die liegen in ihrer Wertigkeit weit oberhalb bzw. unterhalb des Nichts, letzteres bezeichnet die von beiden ausgeschlossene Mitte.
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Pessimismus wird zwar gemeinhin gerne mit real drohendem Nichts assoziiert – aber erstens wäre das Nichts für echte Pessimisten die Erlösung schlechthin, und zweitens glauben sie nicht an eine solche.
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1268)
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Subjektiv ist mein Leben die Hölle insofern, als ich zumeist leide und das Gefühl habe, dass dieses Leid niemals endet.
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Objektiv ist mein Leben nicht die Hölle insofern, als es mir doch relativ gut geht bzw. den meisten Lebewesen schlechter.
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Subjektiv wie objektiv: die Hölle ist riesig, der Himmel winzig, das Nichts dazwischen wäre i.a. eine immense Verbesserung.
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1269)
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Wahrscheinlich sehen die meisten Menschen das Leben nicht weiß bzw. schwarz genug, um im engeren Sinn Optimisten bzw. Pessimisten genannt zu werden.
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Mittige Teilung des Kontinuums zwischen den Extremen aber macht alle zu -isten: Optimisten zögen das Sein dem Nichts vor, Pessimisten das Nichts dem Sein.
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Diese Definition ist – Vorstellbarkeit von Sein und Nichts vorausgesetzt – unabhängig vom Glauben an die Realisierbarkeit des Nichts bzw. vom Todesmodell.
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(Wie dem Nullpunkt, welcher willkürlich der positiven bzw. negativen Hälfte zugeordnet wird, geht es hier dem, welchem Sein oder Nichtsein haargenau egal ist.)
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1270)
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Wer das Nichts dem Sein vorzöge, begeht deshalb nicht unbedingt Selbstmord.
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Die einen glauben nicht an das Nichts im Tod, die anderen haben Schützlinge, für die sie dableiben, wieder andere fürchten den gewaltsamen Übergang vom Leben zum Tod.
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Sie alle bleiben am Leben, aber sie leben als Pessimisten unter Optimisten.
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(...um nicht zu sagen unter optimistischer Diktatur – und u.a. deshalb eher leise.)
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1271)
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Alles ist besser als nichts, tiefer runter als bis zum absoluten Nullpunkt geht es nicht – so sehen es "Positivisten". Nicht mal die Hölle wäre demnach etwas Negatives, nur relativ negativ verglichen zum Himmel.
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Umgekehrt sehen "Negativisten" das Nichts dann als die höchstmögliche Marke an: nach Epikur z.B. hat die Lust nichts Eigenständiges, Substantielles, sondern besteht nur in der Abwesenheit von Leid.
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Ich glaube an die gesamte Achse mit positivem und negativem Ast – allerdings gleicht das Leben einer Pyramide: schmale Spitze im Positiven, breite Basis im Negativen, d.h. es liegt schwerpunktmäßig im Argen.
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1272)
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Zufällige Wiedergeburt, engl. random reincarnation.
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Sagt in konkreter Kürze, woran ich abstrakt glaube.
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Gut zu allem sein ist erst zuletzt gut für einen selber.
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(So bleibt das Beste am Gutsein: die Selbstlosigkeit.)
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1273)
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Ob paradiesisches Jenseits, karmisch aufsteigende Reinkarnation oder vom leidlosen Nichts umrahmtes Gastspiel als Evolutionssieger – jede übliche Religion verspricht den Gläubigen die Wahrung ihres Vorteils.
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Also wurde kaum je eine ewige Kette zufälliger Wiedergeburten verkündet, denn die lässt sich nicht durch Wohlverhalten zur Wunschkarriere entwickeln, sondern erlaubt mal diese Existenz und mutet dann wieder jene zu.
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Aber auch solch unübliche Weltauffassung zeitigte wohl zweierlei Reaktion: die einen respektieren alles Dasein, so wie sie an dessen Stelle respektiert werden wollten, die anderen nutzen jede Überlegenheit aus.
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1274)
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Bewusstlosigkeit in Ohnmacht, Narkose oder Koma, gleichmütige Gefühlsleere der Ataraxie, glückliche Gefühlsleere des Nirvana, quälende Gefühlsleere der Depression – um die Null zwischen Himmelsglück und Höllenqual herum tummeln sich eine Menge Bewusstseinszustände.
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Ist einer davon unser Defaultzustand, also das stabile Gleichgewicht, dem alle Ausnahmezustände früher oder später wieder weichen müssen? Oder ist gar einer der extremen Zustände der defaultmäßige? Als Pessimist glaube ich an einen Defaultwert weit im Negativen.
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Keinesfalls aber kann mir ein lebensfrommer Optimist bzw. "Positivist" des Bewusstseins erzählen, alle bewussten Zustände lägen auf der allgemeinen Wunschskala weiter oben als die Bewusstlosigkeit – jeder, der sich für eine Operation narkotisieren lässt, votiert ja wohl dagegen.
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1275)
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Im anthropozentrisch verengten Blick unserer Tradition mag die Welt dadurch in Ordnung kommen, dass sie für die Menschen in Ordnung kommt.
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So mahnt dann Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" korrekterweise an, für die politische Befreiung das Private hintanzustellen.
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Für mich als panpsychistischen Pessimisten aber, der alle und alles leiden sieht, ist das Leben prinzipiell falsch – Glück gibts nur durch Raub und im Winkel.
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1276)
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Die Schuldgefühle der reichen Länder gegenüber den von ihnen ausgebeuteten armen Ländern halten sich sehr in Grenzen.
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"Die würden es umgekehrt mit uns genauso machen," ist ein oft gehörtes Argument.
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Selbst wenn, macht es das aber auch nicht richtiger.
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1277)
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Seit es Modelle der Hirnbotenstoffe und entsprechende Psychopharmaka gibt, achtet man noch weniger auf die naheliegenden Auslöser für negative Gefühle.
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Schon die Verbannung ihrer Gründe in die frühe Kindheit seitens der Psychoanalyse hat sehr geholfen bei der Verdrängung aktueller Missstände.
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Aber seit es jene Tabletten gibt, will erst recht keiner mehr hinschauen bzw. wahrhaben, wie böse wir einander gerade jetzt kränken.
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1278)
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Basislügen der optimistischen Gesellschaft: a) im Leben überwiegt die Freude den Kummer; b) im Tod endet das Leid.
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Wer das alltägliche "Wie geht's?" ernstlich mit "Schlecht!" statt mit "Gut!" beantwortet, macht sich unbeliebt.
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Wer meint, dass der Tod einen nicht erlöst, sogar das Leid evt. weiter verschlimmert, macht sich unmöglich.
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1279)
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Angeblich weiß man sein Glück ja erst zu schätzen, wenn es einen verlassen hat.
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Halte ich für dreist optimistische Beschönigung bzw. Verklärung der Vergangenheit.
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Dass es einem nun schlechter geht, heißt noch längst nicht, dass es einem vorher gut ging.
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1280)
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Je einfühlsamer einer ist, desto größer wird der Kreis, innerhalb dessen er keinem etwas antun will.
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Egoisten, Familienmenschen, Nationalisten und Christen verschonen nur die ihnen nächsten Menschen.
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Wer aber auch mit Tieren, Pflanzen und schließlich mit allem fühlt, muss ganz und gar tatenlos werden.
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1281)
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Asketisch leben wäre die nächste Jugendrevolution.
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Die Welt retten durch Verzicht auf den Technikluxus.
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Kommunizieren lässt sich das am besten per Internet.
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1282)
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Falls man im eigenen Tod sein nächstes Leben selber auswählen darf...
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...und es möglich ist, stattdessen als Nichtwähler endgültig zu verlöschen...
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...so wäre mein jetziges Leben der Schlusspunkt vor meinem Nichts.
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(Falls man aber ein Leben auswählen muss, wäre mein jetziges Leben meine erste Wahl bzw. Wiederwahl. Sofern man im Tod nicht von allem guten Geist verlassen nur dem Affekt gehört.)
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1283)
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Es ist leider ein fataler Widerspruch in sich, das eigene endgültige Nichts voranzutreiben.
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Delegiert man die Wache über die eigene Ruhe doch nur an ein unberechenbares System.
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Furchtbar: Selbstvernichtung verringert das bisschen eigene Seinshoheit noch weiter.
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1284)
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Das eigene Nichts ideell zu wünschen ist das sicherste.
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Das eigene Nichts reell voranzutreiben ist das gewagteste.
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Wenn ich mich umbringe, gebe ich mich "in Gottes Hand".
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(Und mich diesem System zu überlassen ist Wahnsinn.)
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1285)
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Meine Religion: nach dem Tod geht mein Leben leider weiter.
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Müsste ich glauben, dass es im Nichts endet: Suizidalität.
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Der Materialismus beschleunigt den Tod. Der Glaube an eine ewige Lebensschleife dagegen entschleunigt, macht bedächtiger, vernünftiger. Auch wenn heute die Materialisten meinen, die Vernunft gepachtet zu haben.
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1286)
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Das ist es schon.
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Leider schon das Eigentliche.
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Es kommt kein Paradies, kein Nichts.
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(Unreif, die Gegenwart als vorläufig abzutun.)
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1287)
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Lebenspessimismus...
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..plus Todesoptimismus...
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ist gleich Todessehnsucht.
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(Abhilfe: Todespessimismus.)
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1288)
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Suizidmotivation gibt es als körperliche, seelische oder geistige. Alles drei weit verbreitet, gesellschaftlich an der Tagesordnung.
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Als geistiges Suizidmotiv sehe ich den Todesoptimismus – die völlig übliche Überzeugung, dass im Tod alles Leid endet.
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Geistig entschlossener Suizid wird heute ignoranterweise dem seelisch affektiven bzw. körperlich reaktiven zugerechnet.
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(Pessimismus muss den Tod mit einschließen – Lebenspessimismus und Todesoptimismus sind eine tödliche Kombination.)
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1289)
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Eigenschmerz im Leib, Nächstenschmerz in der Seele und Weltschmerz im Geist – alle drei sollten gleichermaßen ernst genommen werden.
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Aber Weltschmerz wird heute belächelt, obwohl rationales Wahrhaben des Lebensprinzips allein schon hinreicht zur existentiellen Verzweiflung.
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Sogar die Philosophie wendet sich ab vom Denken des großen Ganzen, gibt den kollektiven Geist auf, kapriziert sich auf den einzelnen Leib.
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1290)
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Das Nichts und erst recht der Himmel wären mir lieber als mein Leben. Das Nichts nähme ich gleich, auch wenn es nicht allen zur Wahl stünde; den Himmel aber könnte ich dann vor meinem Gewissen nicht verantworten.
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Echtes Nichts: niemand, der ewig über mein Nichts wachen müsste bzw. dem ich meine Verschonung von der Wiedergeburt anvertrauen müsste. Echter Himmel: niemand, der für meinen Himmel in der Hölle schmoren müsste.
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Noch genauer genommen kann es sowieso kein echtes Nichts und keinen echten Himmel geben, denn diese müssten in Richtung Vergangenheit wie in Richtung Zukunft unendlich sein. Kommen sie erst, sind es nur noch halbe.
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1291)
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Weder ist dem Übeltäter zu wünschen, dass er im Tod straffrei bleibt, noch dass er für alle Zeit in der Hölle brennt.
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Aber droht ihm nur eine Vergeltung Zahn um Zahn oder auch um viele Zähne, reicht die Abschreckung nicht.
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Wie auch immer: Religion hantiert ungeniert mit den Extremen – ein Hammer für grobe Klötze, doch Kindern angetan.
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1292)
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Solange die Strafe für gewinnorientierte Übeltaten keine unendliche ist, kann man das Böse ja ruhig riskieren.
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Solange geistige Vernunft nur eine Möglichkeit der Lebensbewältigung ist, kann sie ja ruhig außen vor bleiben.
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Die postmoderne Befreiung von Religion und Rationalismus ist kurzfristig angenehm, aber langfristig unmöglich.
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(Doch letzteres kann dem areligiösen Materialisten egal sein, solange er fest an seine individuelle Vernichtung glaubt.)
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1293)
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Ob einer mit ewigem oder endlichem Leben rechnet, hat auf seine sonstigen Auffassungen einen kaum zu überschätzenden Einfluss.
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Aber dieser Glaube oder Unglaube wird heute kaum noch zur Sprache gebracht, selbst in philosophischen Diskussionen nicht.
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Halten die Zeitgenossen diesen Punkt für unzugänglich, unerheblich, selbstverständlich, oder ist ihnen ihre Grundeinstellung peinlich?
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1294)
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Wenn es die alten, religiösen Philosophen sind, denen es um Understanding geht, und wenn es die neuen, areligiösen Philosophen sind, denen es um Overstanding geht, dann bin ich – zum eigenen gelinden Entsetzen – eher den alten, religiösen zugetan.
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Die Unterstellung der Neuen, auch die Alten seien nur auf Macht aus, teile ich nicht. Gewinnertypen können sich nur schwer vorstellen, dass es anderen um die Einsicht selbst geht. Verstehertypen dagegen sehen leicht ein, dass ihr Anliegen die Ausnahme ist.
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Schon dem alten Sokrates wird nachgesagt, dass er nur kujonieren bzw. dominieren wollte. Auch die Postmoderne sieht im philosophischen Diskurs Machtinteressen am Werk. Ich glaube dennoch weiter daran, dass es guten Denkern ums Verstehen geht.
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1295)
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Die Postmodernen haben leider recht damit, dass religiöse bzw. aufklärerische Tradition nur so strotzt vor allzumenschlichem Dominanzgebaren.
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Als Pessimist kann ich sehen, wie der altruistischen Krankenschwester bzw. dem objektivistischen Wissenschaftler das Vorhaben realiter misslingt.
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Aber ich glaube schon, dass sie die Liebe bzw. dass er die Wahrheit idealiter im Blick behält – und das ist gut. Dem Machtwillen frönen dagegen ist schlecht.
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1296)
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Die Postmoderne setzte die Moderne fort, denn die Postmodernen machten mit der Moderne, was die Modernen mit der Tradition machten: dem Projekt seinen schlechten Kern nachweisen.
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Aber als Pessimist unterstelle ich den schlechten Kern generell.
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Aber Hinwendung zum Ideal – obwohl vergeblich – finde ich gut.
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1297)
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Gewusst warum ist Denkerwissen, gewusst wie nur Macherwissen.
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Schon bei den Grundrechenarten gehts los: Lösen nach Schema F.
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Von klein auf gewöhnt, verbringt man das ganze Leben entfremdet.
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(Auch die Universität macht jetzt mit: formalistische Punktesammelei.)
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1298)
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Im 19. Jahrhundert waren noch viele Physiker Subjektivisten.
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Im 20. Jahrhundert dann schon viele Psychologen Objektivisten.
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Der echte Psychologe bleibt Subjektivist, der echte Physiker Objektivist.
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(Und bleibt bei seinem Thema, der Modellierung von Ich bzw. Welt. Das Subjekt objektiv modellieren zu wollen ist Wahnsinn, ebenso umgekehrt.)
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1299)
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Ich bin Panpsychist, gefangen im Alles-sein-müssen.
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Nur ich sein oder nicht sein wäre zu wenig Wahrhaben.
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Aber Denken i.S.v. theoretische Teilhabe reicht erst mal.
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1300)
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Ich bin pessimistischer Rationalist.
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Rationalist, weil ich glaube, alle sollten den Schwerpunkt vom Handeln aufs Denken verlagern.
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Pessimistisch, weil ich nicht glaube, es kämen viele geniale Ideen dabei heraus. Nur Innehalten.
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(Zynisch gesagt: die Menschen können die Welt nur verbessern, indem sie weniger in die Hand nehmen.)
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1301)
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Nein zum Leben, nein zum Tod.
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Aber ein cooles, gemäßigtes Nein.
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Im Glauben, beides könnte schlimmer sein.
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1302)
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"Wenn du das Leben ablehnst, bring dich doch um!"
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Echte Pessimisten sagen aber Nein zu Leben und Tod.
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Wie auch echte Optimisten Ja sagen zu Leben und Tod.
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(Vgl. Freud, den Nietzscheaner: Lebens- und Todestrieb.)
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1303)
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Lebensekel und Todessehnsucht sind genauer betrachtet zwei unterschiedliche Motive für den Suizid.
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Ersterer hat das Leben im Blick, lässt einen eher blindlings bzw. rückwärts in den unreflektierten Tod stolpern.
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Letztere hat den Tod im Blick, lässt einen im unhinterfragten Vertrauen auf Leidbefreiung darauf zueilen.
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(Ein reiferes Bild vom Tod lässt einen dann weder rückwärts reinstolpern noch vorwärts hineilen.)
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1304)
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Echte Sozialwissenschaftler sind subjektive Idealisten.
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Echte Formalwissenschaftler sind objektive Idealisten.
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Echte Naturwissenschaftler sind Materialisten bzw. Realisten.
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(Im Moment jedoch fallen alle Richtung Materialismus um.)
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1305)
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Bewusstsein ist ein System mit der Empfindung als Eingangspfeil und dem Willen als Ausgangspfeil.
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Empfindung und Wille haben je wiederum eine helle und eine dunkle Seite.
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Meine pessimistische Größenschätzung: 1) leidige Empfindung, 2) böser Wille, 3) freudige Empfindung, 4) guter Wille.
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1306)
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Das Seelische, die persönliche Essenz ist das, was Familie, Freunde, Partner etc. üblicherweise voneinander wollen. In den zahllosen Romantikmedien wird nichts anderes künstlich zur Verfügung gestellt.
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Wer zu Seelenärzten und -therapeuten rennt, möchte seine übrige Umwelt evt. vor dem eigenen Seelenmüll schützen, indem er die Wildfremden dafür bezahlt, bei dessen diskreter Entsorgung zu helfen.
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Aber vielleicht wird der seelisch derart Gereinigte damit ja wesentlich uninteressanter für sein Umfeld, oder schlimmer, betrügt es sogar ums Private, welches an ihm gerade zu lieben gewesen wäre.
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1307)
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Die Schöpfung lässt sich schon daran falsifizieren, dass man seine Ohren nicht nach Belieben verschließen kann.
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Wo immer du dich niedergelassen hast, kann sich gleich nebenan ein Lauter hinpflanzen, dem deine Ruhe egal ist.
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Oder der deine stille Zone sogar sucht und schätzt, und zwar als Puffer zwischen sich und dem nächsten Lärmer.
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(Ebenso mit gut und böse: die Bösen alleine kämen nicht zurecht, Gott schuf die Guten als ihre Deppen. Danke.)
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1308)
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Meine Ohren hören auf alle und alles rundherum, dem Schall entkommt man nicht – das Gehör als Sinnesorgan der Abhängigkeit.
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Meine Augen schauen in die gewünschte Richtung oder sperren das Licht ganz aus – das Gesicht als Sinnesorgan der Unabhängigkeit.
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Vielleicht ermöglicht die Technik mal ein Gehör-Upgrade, das auch unabhängig ist. Aber daraus werden sich andere Nachteile ergeben.
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(Als Pessimist bezweifle ich eine wesentliche Verbesserung durch Lösung von Teilproblemen. Das Übel des Seins als solches bleibt.)
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1309)
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Besser oder gar nicht – so lautet das Versprechen heutiger Glaubensformen in Bezug auf den Tod.
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Zumindest ans Erreichte anknüpfen möchten die Menschen – bloß nicht auf ein tieferes Niveau sinken.
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Zur Not ginge Religion aber auch umgekehrt: halte dich ans Leben, nach dem Tod wirds schlimmer!
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1310)
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Der Jugendliche verzehrt sich nach der Freiheit des Erwachsenseins.
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Hat er sie aber erreicht, heißt es: nun beginnt der Ernst des Lebens.
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Und Jahrzehnte später endlich im Ruhestand: ihr Jungen habts gut.
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(Das Schöne liegt entweder vor dir oder hinter dir – so lügt Optimismus.)
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1311)
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Wie viel weniger Musik wohl gehört (und auch gemacht) würde, wenn Stille genauso leicht zu haben wäre?
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Selbstgewählte Musik in den Ohren ist oft Verdeckung, die machbarste Flucht vor allem anderen Schall.
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Wie schön wäre es, der Dschungel käme überein, Ruhe zu geben – aber von den Groben her bleibts laut.
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1312)
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Uns jungen Kirchgangverweigerern unterstellten die Kirchgänger von damals umstandslos Faulheit, unseren Atheismus taten sie als billige Ausrede ab.
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Auch den jungen Schulverweigerern geht es heute so – dass das Ende der Aufklärung im Sturm gegen die Schulpflicht gipfelt, will keiner wahrhaben.
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Die Universitäten wagen gar den Rückschritt vom Wahlfach- zum Pflichtfachstudium – so ist Autodidaktik (z.B. im Internet) erst recht die klügere Wahl.
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1313)
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Erst selbständig denken lernen und dann auch wirklich selbständig denken – das ist eigentlich die anzustrebende Entwicklung.
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Aber Frühentwickler scheitern wegen Autoritätsproblemen schon an der Schule und Spätentwickler erstarren als Professoren im Habitus der Väter.
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Tragisch: auf den Selbstmordforen der Teenager wird wesentlich authentischer gedacht als in den altehrwürdigen Akademien.
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(Wobei durch die altehrwürdigen Akademien ja heute ein frischer Wind bläst: Selberdenken wird nun auch offiziell gestrichen.)
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1314)
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Suizid muss, meine ich, eine größere Verlockung für die sein, welche sich niemals alternative bewusste Existenzen als Tier, Pflanze oder Ding ausmalen.
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Vegetarier sind sicher weniger selbstmordgefährdet, denke ich, weil sie stets noch unfreieren Formen von Bewusstsein eingedenk sind als der eigenen.
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Das buddhistische Gefühl, als Mensch eine selten unabhängige Position im leider unausweichlichen Bewusstsein zu bekleiden, ist im Westen kaum verbreitet.
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1315)
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Selbstmord – ist das Selbst wirklich mordbar?
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Die meisten meinen sich die Welt ohne sich selbst vorstellen zu können.
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Zu wenig bedenkend, dass sie sich diese dabei ja weiterhin selbst vorstellen.
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1316)
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Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe (Prediger 9,4)? Keine Ahnung.
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Aber fürs Erste lieber ein kranker Mensch sein als ein gesundes Legebatteriehuhn.
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Zieh die richtigen Vergleiche und du bist den ganzen Tag nurmehr am Jubeln.
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1317)
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Ich schau in mich, es geht mir schlecht. Traurig, ich zu sein.
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Ich schau um mich, es geht mir gut. Froh, nicht ihr zu sein.
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Käme es etwa auf die Einsicht an, Anderssein zuzulassen?
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1318)
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Je gestylter die Medien, desto enttäuschender die Realität.
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Die Homepage als Werbehinweis auf meine echte Person?
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Umgekehrt: die Homepage als mein besserer Stellvertreter.
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1319)
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Gradueller Panpsychismus? Je komplexer die materielle Struktur, desto ausgeprägter Empfindsamkeit bzw. Bewusstsein?
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Wenn ich überzeugt wäre davon, dass einfachere Strukturen weniger fühlen, würde ich die meinige brachial reduzieren.
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Aber ich bin mir ganz unsicher, ob z.B. Amorphes oder Kristallines wirklich viel weniger leidet oder vielleicht sogar viel mehr.
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1320)
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Ist die evolutionäre Differenzierung nicht v.a. durch Leidvermeidung motiviert?
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Sind ältere Formen des Daseins also die leidvolleren – Tier, Pflanze, Ding?
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Bedeutet unser Tod vielleicht ein Zurückgeworfenwerden ins größere Leid?
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1321)
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Absoluter Optimismus bzw. Pessimismus: das Sein ist besser bzw. schlechter als das Nichts.
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Relativer Optimismus bzw. Pessimismus: das Sein entwickelt sich zum Besseren bzw. Schlechteren hin.
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Ich bin absoluter und relativer Pessimist: das Sein ist schlecht und entwickelt sich zum Schlechteren hin.
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(Meine Religion besteht darin, am plötzlichen Fall in die Hölle zu zweifeln: es wird gemächlich schlechter.)
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1322)
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Grob gerundet kenne ich eigentlich nur Monotheisten, Materialisten und Buddhisten.
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Die einen freuen sich auf den Himmel, das Nichts oder eine bessere Wiedergeburt.
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Die anderen fürchten sich vor der Hölle, dem Nichts oder einer schlechteren Wiedergeburt.
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(Ich bin sozusagen ein dunkler Buddhist: Leben ist m.E. langsam zunehmendes Leiden.)
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1323)
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Verständlich wurde mir, dass der Mensch aus Angst vor dem Ungewissen im Tod widerwillig mit dem leidigen Leben vorlieb nimmt.
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Unverständlich bleibt mir, wie der Mensch erst das Leben als Geschenk preisen kann und dann auch noch den Tod als Erlösung.
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Lebens- und Todesverneinung halte ich für ehrliche Traurigkeit, Lebens- und Todesbejahung für gelogene Fröhlichkeit.
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1324)
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Wäre seelisch krank und geisteskrank nicht auseinanderzuhalten? Unter letzteres fiele z.B. unbeirrbares Festhalten an bzw. Handeln nach fragwürdigen Philosophien.
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Zur Geisteskrankheit wird sich m.E. noch die heute übliche materialistische Überzeugung auswachsen, sich selber und andere mit dem Tod erlösen zu können.
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Aber vielleicht ist ja auch mein Pessimismus eine Geisteskrankheit, ein denkerisches Hereinfallen auf die angeblich unabänderliche Schlechtigkeit der Welt.
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1325)
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Körperkrank bin ich sowieso, ständig erschöpft.
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Seelenkrank bin ich auch, sozial inkompetent.
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Geisteskrank ist vielleicht mein Pessimismus.
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1326)
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Aus Angst vor einem schlimmeren Leben nach dem Tod nimmt der Mensch mit dem schlimmen Leben vor dem Tod vorlieb.
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Das ist die grausame Wahrheit des Lebens, dichterisch formuliert im berühmten Monolog von Shakespeare's Hamlet.
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Für die i.a. klareren Ausdrucksformen von Philosophie und Wissenschaft ist diese Wahrheit wohl entschieden zu grausam.
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1327)
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Leiden vor dem Tod.
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Leiden im Tod.
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Leiden nach dem Tod.
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(Der echte Pessimist fürchtet alle drei.)
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1328)
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Leiden vor dem Tod fürchte ich aus Erfahrung.
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Auch Leiden im Tod, aus Nahtoderfahrung.
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Und vor Leiden nach dem Tod hab ich Angst.
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1329)
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Viele Christenhirten glauben selber längst schon an das Ende im Tod, verkünden ihren Christenschäfchen aber weiterhin die frohe Botschaft vom Leben nach dem Tod.
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Wenn ich in einer Runde dieser Hirten und Schafe erzähle, dass ich an ein Weiterleben glaube, mir jedoch das Nichts wünsche, sind die Hirten kurz brüskiert und werden dann spöttisch.
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Mein Atheismus ist einer, auf den sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Sie kennen nur die eine alte Front: den offenen Materialismus der anderen gegen ihren verheimlichten.
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1330)
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Eigentlich gibt es neben dem himmlischen und dem höllischen Nahtoderlebnis noch ein drittes: die absolute Bewusstlosigkeit.
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Religiöse Menschen sagen gerne, wer ohne jede Erinnerung vom klinischen Tod rekonvalesziert, hätte eben keine NDE gehabt.
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Aber ein aus tiefster Bewusstlosigkeit Erwachter ist sich seines Nichts im Tod oft so sicher wie die Religiösen ihres Weiterlebens.
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1331)
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Klingt naheliegend und ist bei vielen auch der Fall, dass sie nach einer himmlischen NDE sich auf den Tod freuen, nach einer höllischen NDE sich vor dem Tod fürchten oder nach einem Wiedererwachen aus tiefster Bewusstlosigkeit dem Tod gleichgültig gegenüberstehen.
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Möglich sind aber auch die anderen Kombinationen zwischen den genannten drei Typen von Nahtoderlebnissen und den daraufhin zum Tod eingenommenen Haltungen.
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Ich hatte eine himmlische NDE, habe seitdem jedoch große Angst vor dem Tod. Andere sind heilfroh über ihre Aussöhnung mit dem Tod nach einer höllischen NDE. Wieder andere macht das im Nahtod verheißene endgültige Nichts hoch glücklich bzw. tief unglücklich.
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(Wobei es vom Nichts genau genommen auch zwei Versionen gibt: bewusste Leere und Bewusstlosigkeit. Von jeder wiederum sind die einen begeistert, die anderen schockiert und wieder andere unbeeindruckt. Meine Liebe gehört der endgültigen Bewusstlosigkeit.)
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1332)
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"Eigentlich willst du doch leben!"
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Kommt drauf an, was ich eigentlich bin.
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Der Körper will, der Geist nicht.
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(Und ich identifiziere mich mit letzterem.)
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1333)
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All die selbsternannten Weltverschönerer hören ein paar Stufen unterhalb ihrer Position in der Hierarchie auf hinzuschauen.
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Was sie mit ihrem blinden Aktionismus denen antun, die jenseits ihres engen Sichtfeldes vegetieren, kümmert sie nicht.
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Ihre Lebenslüge ist die Win-Win-Situation. Der Quietist aber begreift: immer gewinnen wenige weniges und verlieren viele vieles.
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1334)
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Musik ist sicher viel schöner als Sprache.
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Aber dafür ist Sprache viel wichtiger.
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Und Geräusch viel grundsätzlicher.
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(Stille wäre sowieso das Beste.)
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1335)
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Ist Achtsamkeit wichtiger als Nachdenklichkeit?
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Im Straßenverkehr sicher, aber nicht im Leben.
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Fitnessraum-Daoisten missachten die Vernunft.
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1336)
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Mein Quietismus ist panpsychistisch motiviert.
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Ruhiger werden bedeutet weniger Leid zufügen.
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Der Rest maximiert die Tätlichkeit für das Glück.
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1337)
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Was wäre härter: wenn diese leidige Welt zufällig entstanden ist oder wenn sie absichtlich gemacht ist?
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Was wäre härter: wenn dieses leidige Leben irgendwann vorbei ist oder wenn es für die Ewigkeit ist?
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Die Materialisten sehen sich als Künder harter Wahrheiten – im Kern aber stehen sie allemal für die weichen.
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1338)
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Im besten Fall kann einer Diener, Herr, Solist.
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Im schlechtesten Fall kann einer nichts davon.
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Alle üben eifrig das zweite, ich gleich das dritte.
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1339)
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Ist Suizid mutig?
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Kommt darauf an, welche körperlichen und geistigen Erfahrungen sich einer davon erwartet.
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Für den mit Betäubung bis Erlösung Rechnenden ist er nicht mutig, für den mit Todesqual bis Hölle Rechnenden ist er tollkühn.
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1340)
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Für Selbstmord mit der Hölle drohen geht auch nach hinten los.
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Wie viele haben sich wohl schon im Zorn auf Gott umgebracht?
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Um eben das mit Fleiß zu tun, was er am strengsten verbietet?
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1341)
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Suizid verführt auch die zwischen Extremen Hin- und Herfallenden.
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Suizid könnte das Beste sein, Suizid könnte das Schlimmste sein.
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Je unsicherer einer ist, desto mehr reizt ihn das Zwiespältige.
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1342)
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Prüft das Leben evt. die Einsicht in seine eigene Unrechtmäßigkeit ab?
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Durchgefallen: wer eines natürlichen Todes stirbt, wird wiedergeboren.
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Bestanden: erst wer sich umbringt, erlangt die ewige Bewusstlosigkeit.
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1343)
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Christentum und Aufklärung sind ja so vorbei.
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Ihre besseren Hälften Altruismus und Rationalismus blieben fromme Wünsche.
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Wir waren und sind nur egoistische Empiristen.
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1344)
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Gott liebt sein Geschöpf. Das Geschöpf rebelliert.
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Für Gott ist alles gut, für sein Geschöpf alles arg.
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Und so identifiziert sich das Opfer mit dem Täter.
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1345)
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Biologische Verhaltensforschung sieht das kindliche Spiel als Vorbereitung auf den erwachsenen Ernstfall.
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Aber könnte nicht das kindliche Spiel die Hauptsache sein, und der erwachsene Ernstfall nur ein Nachklapp?
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Der Mensch ist ein Tier mit superlanger Kindheit – vielleicht ist das evolutionäre Ziel nur noch Kindheit bzw. Spiel?
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1346)
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Mancher wird seine quälenden Rückenschmerzen auf einen Schlag los, indem er sich vom Sofa erhebt und begeistert die Bewegung für sich entdeckt.
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Ebenso mag manch alteingesessener Atheist späte und umso dramatischere Heilung von seinem Weltschmerz durch religiöse Erweckung erfahren.
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Ist Religiosität – wie körperliche Bewegung – für uns vielleicht sogar elementare Notwendigkeit, oder ist man ohne sie eben nur wie ein Fisch ohne Fahrrad?
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(Areligiosität – wie Unmusikalität bis Amusie – als Behinderung, als tragisches Abgeschnittensein von einem oder gar dem zentralen Lebensnerv?)
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1347)
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Religionsunterricht ließ und lässt mich i.a. nur mit dem Kopf schütteln.
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Was Glaubensbekenntnisse ernsthaft bekräftigen, erscheint mir gaga.
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Aber evt. braucht ein völlig Unbegabter dann halt genialen Unterricht?
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1348)
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Schall – insbesondere Musik – steht in engem Zusammenhang zum Herrgott.
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Die einen fürchten seine Abwesenheit, die andern seine Unentrinnbarkeit.
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Wesentlicher Gegensatz: Erschaudern vor bzw. Sehnsucht nach der Stille.
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1349)
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Das Nichts als Todesmodell verdankt seine Popularität evt. der so lange währenden Entbehrung einer neutralen Möglichkeit.
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Gruselig kompromisslos, dieser alte Dualismus von Himmel und Hölle: maximale Belohnung oder Bestrafung, tertium non datur.
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Verdankten Himmel und Hölle ihre Popularität wiederum dem maximalen Abstand zum bis dahin alternativlosen Nichts im Tod?
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1350)
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Der Tod birgt ebensolchen Scheiß wie das Leben.
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Hilft nichts, sich großartig anderes zu erhoffen.
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Eher noch, großartig anderes zu befürchten.
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1351)
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Die Leute sagen Tod und meinen Sterben.
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So wird der Tod dann endgültig Tabuthema.
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Er soll halt das Nichts sein und damit basta.
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1352)
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Memento mori heißt heutzutage, rechtzeitig für die richtige Sterbebegleitung vorzusorgen.
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Seinen Willen den Ärzten in genauen und juristisch haltbaren Verfügungen kundzutun.
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Wünschenswerter scheint mir, mein Sterben ohne Gesellschaft auf die Reihe zu kriegen.
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1353)
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Glaub bloß nicht, in Elend, Sterben und Tod deine Ruhe haben zu dürfen.
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Viele Helfer wünschen sich genau solche Gesellschaft zum Beherrschen.
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Wenn es dir schlecht geht, kannst du dich vor guten Hirten nicht mehr retten.
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1354)
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Du bist traurig?
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Liegts am kranken Hirnstoffwechsel, an der früh gekränkten Seele?
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Wär halt tröstlicher als einzusehen: es liegt am kerngesunden Geist.
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1355)
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Die Erzieher werden immer manipulativer.
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Kein Glücksmoment verstreicht ungenutzt.
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Die Undisziplinierten verbleiben im Unglück.
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1356)
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Der Druck, ethisch verantwortlich zu leben, ist durch die monotheistische Todesvorstellung vom ewigen Himmellohn und ewiger Höllenstrafe viel zu hoch. Schlechteste These.
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Der Druck, ethisch verantwortlich zu leben, ist durch die realistische sprich materialistische Todesvorstellung vom bewusstlosen Nichts im Tod viel zu niedrig. Schlechteste Antithese.
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Beste populärreligiöse Synthese der beiden ist m.E. die Todesvorstellung östlicher Religionen von der Wiedergeburt, also vom unabwendbaren Erleben der Konsequenzen eigenen Handelns.
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1357)
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"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." (Jesus) – aber auch in der Kirche treiben die Egoisten die Altruisten vor sich her.
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"Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (Kant) – aber auch an der Universität treiben die Empiristen die Rationalisten vor sich her.
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Und als wär es nicht schlimm genug, dass in Herz und Kopf selber dieses Ungleichgewicht bleibt, wird auch noch beides vom Bauch überwogen.
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1358)
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Wann ist der Tod besser als das Leben? Wann gilt es, andere bzw. mich selber zu töten?
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Die Religion verbietet dem Menschen geradezu Werke, Worte und Gedanken zu dem Thema.
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Aber auch die Philosophie hält sich eher bedeckt, stürzt sich lieber auf weniger wichtige Fragen.
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1359)
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Optimisten glauben, man könne ja immer noch die Resettaste drücken.
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Pessimisten glauben, dass es keinen grundsätzlichen Neustart geben kann.
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Und richtige Pessimisten glauben, dass das Alte bleibt, niemals vorbeigeht.
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1360)
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Optimisten wie die Christen kultivieren die Vorfreude aufs ewige Paradies.
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Pessimistische Realisten wie Lütkehaus kultivieren die Vorfreude aufs endgültige Nichts.
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Als pessimistischer Idealist freut mich höchstens mal das Nicht-Mehr der vorigen Hölle oder das Noch-Nicht der nächsten.
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1361)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht (Parmenides).
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Ich lese das auch als Religion für Suizidgefährdete.
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Etwa: Glaub bloß nicht, dass du im Tod vergehst.
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1362)
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Die Hölle kommt.
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Aber es eilt nicht.
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So ist Quietismus.
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1363)
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Old-School-Suizidprävention geht ohne Tabletten und Psychotherapie.
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Der Traurige lebt für andere oder kultiviert seine Scheu vor dem Tod.
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Mir liegt letzteres näher: den naiven Glauben an Erlösung begraben.
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1364)
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Nachhaltiger Umweltschutz erfordert nicht zuletzt eine entsprechende Vorstellung vom eigenen Tod.
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Für die Monotheisten hat Gott die Erde nur als Vorhof zum Paradies erschaffen, den sich sein Lieblingsgeschöpf Mensch untertan machen darf. Für die Materialisten ist eh alles vergänglich.
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Wer sich hingegen höchstselbst im Rad irdischer Wiedergeburt mitdreht, muss besser auf diesen Planeten achten.
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1365)
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Vielleicht gibt es, wenn man die großen menschlichen Mehrheiten betrachtet, nur drei Epochen: die präreligiöse, die religiöse und die postreligiöse.
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Epochen wie Antike bzw. Moderne wären nur vergleichsweise kleine Übergangsphasen von präreligiös zu religiös bzw. religiös zu postreligiös.
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Partikulare Stämme verbinden sich zu riesigen Religionsgemeinschaften und zerfallen nach der Globalisierung wieder in partikulare Stämme.
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1366)
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Der Monotheist stellt sich ein Paradies vor, an dessen Eingang Gott die Guten von den Bösen trennt, um erstere mit Milch und Honig und Jungfrauen zu belohnen.
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Der Aufklärer hat schon andere Wünsche: etwa einen Ort, an dem der Lebensfilm mit alles erklärenden Untertiteln abläuft – die Auflösung des großen Warum eben.
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Was kommt nach Monotheismus und Aufklärung? Wie stellt sich der Nachaufklärer den Himmel vor? Als einzig irdisches Leben ohne all diese Phantasmen?
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1367)
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Präreligiös waren wir analog miteinander kommunizierende Tiere.
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Religiös waren wir denkend mit Gott kommunizierende Menschen.
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Postreligiös sind wir digital miteinander kommunizierende Tiere.
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1368)
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Nationalsozialistisches Gedankengut finde ich zutiefst verachtenswert.
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Nicht automatisch auch nationalsozialistisch denkende Menschen.
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Für mich sind sie fehlgeleitet, sie einfach zu ächten ist m.E. falsch.
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(O.k., wenn von ihnen Geächtete nicht mit ihnen reden. Andere sollten.)
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1369)
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Fast Living bewirkt paradoxerweise, dass die Leute ihren Reifeprozess hinauszögern.
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In meinem langsamen Leben dagegen beginnt die Altersruhe vergleichsweise früh.
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Meist glauben die Schnellen, im Tod Ruhe zu haben. Das nicht zu glauben entschleunigt.
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1370)
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Das Leben ist vor allem Vorspiel des Todes.
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Der Todesglaube bestimmt die Lebensweise.
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Sage mir, was du dir unter dem Tod vorstellst, und ich sage dir, wie du lebst.
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(Z.B. wen du wählst: auch die politische Landschaft unterteilt sich entsprechend in konservative Christen, progressive Materialisten, alternative Spirituelle und postmoderne Agnostiker.)
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1371)
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Im Fernsehn zeigen sie am liebsten die, denen es viel besser geht und die, denen es viel schlechter geht als uns Zuschauern.
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Um einerseits Ziele oder zumindest schöne Träume zu erzeugen, andererseits die Gewissheit, dass es uns relativ gut geht.
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Ob es uns Menschen aber gemessen am absoluten Nichts gut oder schlecht geht, wird niemals verhandelt. Höchst verdächtig.
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1372)
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Das monotheistische und das materialistische Todesmodell sind gleichermaßen extrem und unvernünftig.
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Die Verlockung bzw. Drohung mit Himmel, Hölle oder Nichts bagatellisiert das Irdische und ist damit ein Vernunftkiller.
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Schopenhauer hat als letzter großer der Vernunft zugetaner Philosoph mit dem buddhistischen Reinkarnationsglauben einen besseren Vorschlag gemacht.
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1373)
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So albern die Esoterik zumeist leider ist – es steckt die vernünftige Erkenntnis darin, sich als Mensch in die Natur reintegrieren zu wollen.
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Mit gutem Recht hat der Mensch sich von der gnadenlos quälenden Natur emanzipiert, aber er droht es endgültig zu übertreiben.
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Schon der Monotheismus war Größenwahn in Bezug auf die menschliche Gattung, inzwischen macht sich gar der Einzelne zum Gott.
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1374)
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Man stelle sich vor, der monotheistische und der materialistische Todesglaube würden durch den Wiedergeburtsglauben abgelöst.
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Dann würden Pessimisten wie ich z.B. an eine zufällige und damit höchstwahrscheinlich schlimmere Wiedergeburt glauben.
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Und die Optimisten würden an ihre stete Beförderung per moralisches Verdienst, per Gnade oder Ordnung der Natur o.a. glauben.
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1375)
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Viele Atheisten schütteln überheblich den Kopf über das Phantasma Gott.
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Und merken dabei gar nicht, dass sie dem Phantasma Nichts aufsitzen.
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Der Glaube an absolute Bewusstlosigkeit ist kaum reifer als der an Gott.
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(Das Ideal der absoluten Bewusstlosigkeit hingegen ist m.E. das reifste.)
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1376)
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Die meisten kommen mit dem Standardangebot traditionelle Religion bzw. materialistischer Realismus zurecht.
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Fast der ganze Rest kommt mit dem aktuellen Update Spiritualität bzw. skeptischer Naturalismus zurecht.
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Die wenigen, die mit allen vieren scheitern, müssen sich genauer mit Philosophie befassen.
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1377)
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Wer ist ein Philosoph?
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Im weiteren Sinne einer, der ausgiebig übers Allgemeine nachdenkt.
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Im engeren Sinne einer, dem die Entwicklung der Philosophie näher ist als die der Religion bzw. Wissenschaft.
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(Letztere Philosophen werden zumeist von ersteren Philosophen mit Religion bzw. Wissenschaft belämmert.)
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1378)
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Der Religöse versucht in praxi, mit Allem in Einklang zu sein.
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Der Philosoph stellt sich dem Ganzen denkend gegenüber.
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Und der Wissenschaftler forscht spezialisiert bzw. partikular.
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1379)
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Bewusstlosigkeit im Tod am wahrscheinlichsten? Haltlos.
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Wissenschaftlich Haltbares gibt es in dieser Hinsicht nicht.
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Wissenschaft wird überschätzt und überschätzt sich selbst.
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1380)
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Sich von Gott und der Welt ausgeschlossen zu fühlen ist der verschwiegene negative Anlass für Religion, Philosophie und Wissenschaft.
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Der Religiöse betet sich zurück in Gottes schönen Garten, der Philosoph nimmt die Welt als ein Rätsel und der Wissenschaftler als viele.
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Weniger Sensible drehen den Spieß um, beuten die schnöde Welt aus – doch längst vor ihrer aller Befriedigung hätten sie alles ruiniert.
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1381)
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Die Kirche lebt gut mit dem Widerspruch, Gottes Wille und Wege seien einerseits unergründlich, andererseits von ihr darzustellen bis durchzusetzen.
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Ebenso zaubert die Wissenschaft mit Agnostizismus und Realismus: über den Tod könne einerseits niemand etwas Verlässliches sagen, andererseits sei jede Annahme von Bewusstsein im Tod unhaltbarer Nonsens – womit faktisch behauptet wird, der Tod bedeute endgültige Bewusstlosigkeit.
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Am verwunderlichsten ist, wie all die Anhänger in ihrem Denken an einer solchen Spaltung festhalten können – doch sie tun es unerschütterlich.
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1382)
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Lieber Gott und Herrgott – geht das in eins?
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Oder lebt jeder Monotheist mindestens den Dyotheismus? Mit einem lieben Gott für den himmlischen Garten und einem Herrgott gegen den höllischen Dschungel?
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Muss Gott auf ewig gespalten bleiben und mit seiner harten Hälfte heimlich die Höllenzäune in Schuss halten für die ungetrübte Einheit seiner guten Schäfchen?
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1383)
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Sich zwischen gestrigem Monotheismus und heutigem Realismus entscheiden heißt immerhin zustimmen, dass der Böse für immer qualvoll in der Hölle brennt oder zusammen mit dem Guten leid- bzw. straffrei ausgeht.
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Seltsam und sicher höchst schädlich, dass es außer Spuren von esoterischem Rosarot und agnostischem Grau bis heute keine andere Glaubensfarbe bei den westlichen Zeitgenossen in die engere Wahl geschafft hat.
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Muss wohl daran liegen, dass die Menschen so wahnsinnig ungern über den Tod nachdenken. In Lebensdingen differenzieren sie die allerfeinsten Farbnuancen, in Todesdingen bleibt es beim brutalen Schwarzweiß.
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1384)
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Wer braucht eine Religion? Was ist eine Religion?
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Wer in seinem Leben primär Angst statt Aufgehobensein fühlt.
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Glauben können, dass das Sein oder das Nichts einen aufhebt.
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(Lässt sich das auch als Erwachsener noch lernen? Die meisten bevorzugen ein sich Festhalten an anderen Menschen, Therapeuten oder Medikamenten.)
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1385)
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Selbstmörder haben kein Vertrauen mehr ins Leben.
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Aber Selbstmörder haben noch Vertrauen in den Tod.
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Was macht der, dem beides abhanden gekommen ist?
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(Sucht hilfreiche Menschen, Substanzen oder Dogmen.)
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1386)
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Armut muss nicht unbedingt materieller Natur sein.
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Z.B. einer hat sehr viel Geld, aber sehr wenig Zeit.
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Oder kaum religiösen Halt, d.h. Angst vor dem Tod.
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(Ich meine Angst vor dem Tod, nicht vor dem Sterben. Anders gesagt: ich habe Angst vor einem Tod, der ewiges Leben bzw. Sterben ist.)
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1387)
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Wenn man von der nächsten Wiedergeburt nie sicher weiß...
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...dann heißt ewiges Leben auch ewiges Sterben.
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Na vielen Dank!?
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(Während des gerade andauernden leidvollen irdischen Lebens ist dem sehnsüchtig auf das Nichts wartenden Materialisten die Vorfreude genauso wenig zu nehmen wie dem sehnsüchtig auf den Himmel wartenden Monotheisten.)
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1388)
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Ich bin uneins mit der Welt.
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Wer lieb und vernünftig sein will und glaubt, die Welt sei im Kern lieb und vernünftig, der kann eins sein mit der Welt (positive Religiosität). Und auch wer böse und unvernünftig sein will und glaubt, die Welt sei im Kern böse und unvernünftig, kann eins sein mit der Welt (negative Religiosität).
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Echte Philosophen sind nur solche wie Schopenhauer: er sah die Irrationalität die Welt, wollte selber aber Rationalität und war deshalb weltverneinend eingestellt. Seit Nietzsche geht es eigentlich erneut um Religion, diesmal aber um negative: ums Einssein mit der irrationalen Welt, ums Bejahen des Chaos.
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1389)
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Zwei Arten von Einssein mit der Welt: zusammen mit der Welt in Ordnung bzw. Unordnung sein.
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Zwei Arten von Uneinssein mit der Welt: gegen die Weltordnung bzw. das Weltchaos aufbegehren.
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Die Welt wurde als irrational enttarnt – und nun wollen die Menschen eins werden mit der chaotischen Welt.
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1390)
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Die Biologie selbst des Mikrokosmos macht ihrem Betrachter noch eine Heidenangst: auch auf der Skale der Milben z.B. tobt ein Krieg Tier gegen Tier, ein Fresswerkzeug gruseliger als das andere.
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Ruhe und Harmonie strahlt wenigstens noch die Physik des Mikrokosmos aus: die Korpuskel wirken ganz zufrieden in ihren Bahnen, und die Superstrings erklingen gar als leise Sphärenmusik.
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Als Pessimist frage ich mich: könnte das Bewusstsein der Materie noch viel leidvoller sein als das der Lebewesen? Ist die feste Ordnung des Materiellen evt. die freiheitsberaubteste Seinsweise?
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(Vielleicht ist es überall wie bei uns Menschen: ob das Ritual quält oder beglückt, hängt vom Betrachter ab. Ist alles solange bewusst, bis es aus ganzer Seele höllisch gehasst oder himmlisch geliebt wird?)
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1391)
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Ob Friede oder Krieg der Vater aller Dinge ist, hängt seit der Neuzeit davon ab, welche Naturwissenschaft gerade die Deutungshoheit innehat.
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Kepler und Newton stehen noch für ein Weltbild von Harmonie und Ewigkeit, Darwin dann aber schon für eines von Kampf und Vergänglichkeit.
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Vielleicht kann ja die Chemie einst wieder zwischen Physik und Biologie vermitteln – die Nicht-Naturwissenschaften scheinen eh abgemeldet.
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1392)
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Positive Religiosität: sich identifizieren können mit der im Kern für lieb und vernünftig gehaltenen Welt; negative Religiosität: sich identifizieren können mit der im Kern für böse und unvernünftig gehaltenen Welt.
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Positive Areligiosität: sich nicht betroffen bzw. befreit fühlen von einer als negativ i.S.v. lebensfeindlich empfundenen Religiosität; negative Areligiosität: sich lebensuntüchtiger fühlen als die Religiösen aufgrund fehlender religiöser Erziehung oder Begabung.
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Und die negative Areligiosität ist noch steigerungfähig, wie bei mir: sich am Leben schwer gehindert, ja sich schwerbehindert fühlen durch Erziehung mit der Höllendrohung, die den Menschen seelisch unheilbar verkrüppelt.
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1393)
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Auch wenn das absolute Nichts die vernünftigste Lösung des Lebensleids wäre, so ist doch zuzugeben: ubiquitäre Lebensfreude ohne dafür auszubeutende Opfer – obwohl logisch undenkbar – wär die schönste Lösung.
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Der positiv Religöse hats am angenehmsten: schätzt das Diesseits, freut sich aufs Jenseits. Der Lebensfrohe mit realistischer Aussicht aufs leidlose Nichts hats schon schlechter; noch schlechter der Lebensmüde mit Nichtsaussicht.
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Aber erst unterhalb von Paradies- und Nichtsaussicht wirds richtig düster: der Lebensmüde mit Angst vor noch Schlimmerem im Tod ist weltanschaulich schwerstbehindert. Ecclesiogener Kollateralschaden.
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1394)
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Religion als Wiederanbindung an die Natur ist sinnvoll.
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Mit anderem Sein respektvoll statt despotisch umgehen.
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Monotheismus ist veralteter menschlicher Narzissmus.
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1395)
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Glaubt niemand daran, unweigerlich in der tiefsten Hölle zu landen?
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So eine Glaubensrichtung kriegt höchstens pathologische Namen.
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Gottesopfer gründen selber wohl keine Glaubensgemeinschaften.
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1396)
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Meine Überzeugung: als Seiender am Sein teilhaben ist alternativlos.
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Das Sein ist meist ein leidiges, und das ersehnte Nichts bleibt ideell.
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Würde erlangt man selbst, indem man allem anderen Achtung zollt.
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1397)
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Das Gegenteil von der Allversöhnungslehre fehlt.
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Eine Religion, die alle in die Hölle kommen lässt.
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Schwarze Zukunft lässt Gegenwart hell scheinen.
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(Relativ ähnlich: Carpe Diem befeuert vom Nichts.)
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1398)
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Gott schuldet uns viel, aber es ist ihm egal.
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Und am Schluss wird er auch noch wütend.
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Zum Trost bräuchte es traurige Religionen.
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1399)
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Versprechen von Leidfreiheit im Tod sind leer und lebensgefährlich.
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Töten, Nächste wie sich selbst, ist oft praktizierte Erlösungsreligion.
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Wer vom Tod nichts mehr anderes als vom Leben erwartet, hält inne.
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1400)
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Die Angst vor dem Tod ist eigentlich Angst vor dem Leben?
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Soll mir recht sein.
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Solang die vor dem Tod nicht kleiner wird als die vor dem Leben.
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1401)
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Suizidalität heißt oft nur, dass die Angst vor dem Leben viel größer geworden ist als die vor dem Tod.
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Wie kann das passieren? Weil Tradition und Moderne Leidfreiheit im Tod um die Wette behaupten.
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Eine Gegenbewegung, welche Erlösung als Wunschvorstellung enttarnt, ist jedoch nicht in Sicht.
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1402)
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Idealismus vs. Realismus – Überzeugung, dass wir alle dem Sein bzw. dem Nichts gehören.
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Einer der fundamentalsten Gegensätze, zu denen es das menschliche Denken gebracht hat.
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Eine der grundsätzlichsten Veränderungen, von der einen zur anderen Fraktion zu wechseln.
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(Selten, dass sich ein Idealist wünscht, die Realisten hätten recht – bei mir aber der Fall.)
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1403)
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Realistische Pessimisten rechnen mit einem schlimmen Ende.
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Idealistische Pessimisten rechnen mit einer schlimmen Ewigkeit.
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Relativ zu den idealistischen sind die realistischen optimistisch.
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(Die Frage, ob man im Tod wohl Ruhe findet, beantwortet Schopenhauer mal mit Ja, mal mit Nein. Sein Ja hat sich als wesentlich publikumswirksamer erwiesen, aber nur sein Nein ist wirklich pessimistisch.)
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1404)
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Die drei wichtigsten philosophischen Dyaden für mich: Optimismus – Pessimismus; Individualismus – Kollektivismus; Realismus – Idealismus.
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Zu gerne könnte ich das Leben bejahen, von anderen unabhängig werden und dann ins Nichts eingehen oder gar in Ewigkeit als ich selbst glücklich sein.
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Aber ich lehne das Leben grundsätzlich ab und glaube nicht an die Möglichkeit echter Abnabelung von der Gemeinschaft, sondern an ewige Gefangenschaft.
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1405)
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Unabhängigkeit ist eine Illusion, dem Philosophen bleibt nur Einsicht in die Unabänderlichkeit.
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Soweit bin ich ausnahmsweise einverstanden mit Hegel.
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Aber jene Einsicht führt bei mir zu Schopenhauerscher Resignation statt zu Hegelschen Tätlichkeiten.
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1406)
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Als Pessimist befürchte ich nun mal...
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...ein schlechtes Leben vor dem Tod...
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...und ein noch schlechteres danach...
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1407)
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Was ist Religion?
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Was ist Wissenschaft?
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Musst du die Philosophie fragen.
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1408)
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Die meisten Leute glauben partout an ihren Himmel oder ihr Nichts, aber nicht an ihre Hölle.
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Die meisten Leute sehen das Leben partout als Wunder oder Zufall, aber nicht als Unfall.
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Nur die Pessimisten gestehen sich ein: das Leben ist unerhörtes Pech, wenn nicht Folter.
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1409)
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Leben nach dem Tod? Ist ja nur Religion, oder?
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Kein Leben nach dem Tod? Ist genauso Religion!
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Aber letztere Annahme gilt als wissenschaftlicher.
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1410)
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Was ist Bewusstsein?
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Gibt es verschiedene Grade von Bewusstsein?
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Gibt es gar ein Allbewusstsein und ein Nullbewusstsein?
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(Mein Hauptmotiv für all diese Fragen ist meine ewige Nichtssehnsucht.)
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1411)
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Wenn es im Grunde zwei Menschentypen gibt, aktiv und passiv i.S.v. dominant und rezessiv, so vielleicht auch zwei Typen von Religion.
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Die Religion der Willigen zieht dann vorwärts in Richtung Allbewusstsein, die Religion der Unwilligen zurück in Richtung Nullbewusstsein.
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Nichtssehnsucht als eine Art von Atheismus anzusehen wäre also schon richtig – falsch wäre nur die Unterstellung von Areligiosität.
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1412)
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Wer meint, dass es mehr Freud als Leid gibt, wird das Bewusstsein insgesamt eher bejahen und nach Allbewusstsein streben.
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Wer meint, dass es mehr Leid als Freud gibt, wird das Bewusstsein insgesamt eher verneinen und nach Nullbewusstsein streben.
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Schließlich mag es noch die Ausnahmen geben, welche trotz überwiegenden Leids bejahen bzw. trotz überwiegender Freude verneinen.
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(Nicht zu vergessen die, welche das alles im Gleichgewicht sehen und sowohl bejahen als auch verneinen oder weder noch.)
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1413)
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Ruhe braucht man, um dem Leben andächtig bis nachdenklich ins Gesicht zu sehen, damit man sich stattdessen nicht überarbeitet.
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Das Ora steht vor dem Labora, damit man sich nicht durch unablässiges Schaffen davon ablenkt, dem Tod ins Auge zu schauen.
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Der Workaholic auf dem Weg zum Burnout flieht vor einer Wahrheit, welche aber zugegebenermaßen fast ebenso irre macht.
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1414)
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Der Erfolg empirischer Naturwissenschaften setzt die Machtergreifung über den zu untersuchenden "Gegenstand" voraus.
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Die Verlagerung von der Physik zur Biologie bedeutet, dass statt "toter" Materie nun v.a. lebende Tiere in der Laborhölle leiden.
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Der nächste Schritt ist klar: die Welt der Menschen wird aufgespalten in den Untersucherhimmel und die Untersuchtenhölle.
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1415)
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Für Nietzscheaner ist immer nur Morgenröte, Neubeginn, Ars Vivendi.
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Von Abendgräue, Ausklang, Ars Moriendi will da niemand was wissen.
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Doch seht genau hin, ihr Jungen: Jungbleiben ist ja sowas von peinlich.
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1416)
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Dem Tod begegnen heißt nach meiner Nahtoderfahrung leider: das Bewusstsein für die eigene Erlösungsbedürftigkeit verlieren.
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Verständlich, dass die buddhistischen Mönche sich dem Nirvana erst mal per Meditation annähern statt gleich Suizid zu begehen.
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Ob man so viel Gefasstbleiben in Todesnähe einüben kann, dass es auch noch im Sterben gelingt, das Nichts zum Hauptziel zu haben?
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1417)
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Ich bin mir nicht sicher genug, statt Himmel nur Nichts zu wollen.
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Und wem das Zweitbeste nicht gut genug ist, der verdient es nicht.
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No risk, no fun, no pain – das wärs doch! Aber nur für den Weisen.
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1418)
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Die Unruhigen wollen immer nur aufwärts und dann schnell tot umfallen.
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Die Ruhigen wissen: das Leben geht nach der Hälfte eher wieder abwärts.
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Und am coolsten ist es, das ganze Leben als Weg in den Tod zu begreifen.
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1419)
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Sich in ärmere Menschen hineinversetzen, in Tiere, Pflanzen, Dinge.
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In der Ahnung, dass man im Tod wieder ins Einfachere zurück muss.
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Vielleicht gilt es beizeiten zu lernen, schwindelfrei hinabzuschauen.
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1420)
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Es gibt grob gesagt drei Schwierigkeitsgrade auf dem Sterbeparcours.
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Abschied in Erwartung von Besserem, Vergleichbarem, Schlimmerem.
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War mein Aufwachsen mit der Höllendrohung evt. doch für etwas gut?
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1421)
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Genauer besehen wirkt Lebensfreude meist gewollt i.S.v. aufgesetzt.
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Darunter liegt große Angst, vor dem Leben genauso wie vor dem Tod.
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Demaskiert wird evt. der Einzelne, aber das schlimme Ganze ist tabu.
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1422)
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Sich sorgen um alles oder nichts – wo liegt die vernünftige Mitte?
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Eine Schlüsselrolle spielt m.E. der Tod – wer sich keinerlei Sorgen mehr darum macht, was im Tod aus ihm werden könnte, für den sind alle Sorgen des Lebens nur noch vorläufige. Wenn die Naturalisten ihre Vorstellung von der endgültigen Bewusstlosigkeit im Tod durchsetzen, lockt bzw. droht dann nicht völlige Sorglosigkeit nach dem Motto: geht eh vorbei!?
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Mir zumindest würde es so ergehen: erst meine ernsthafte Sorge um die Seinsweise im Tod bewirkt meine ernsthafte Sorge um die Seinsweise im Leben.
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(Mag durchaus sein, dass ich erst ohne Todesgedanken das Leben als Eigentliches kennenlernen könnte – da fehlt mir der Vergleich. Aber in der Beobachtung, dass die Naturalisten sorgloser mit dem Leben umgehen, irre ich mich glaube ich nicht.)
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1423)
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Mein Leben ist m.E. schlechter als nichts.
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Leben i.a. ist m.E. schlechter als meines.
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Mein Tod wird m.E. so wie das Leben i.a.
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1424)
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Wer sich seines Nichts im Tod sicher ist, kann sowohl echt egoistisch als auch echt altruistisch leben – das steht ihm frei.
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Glaubt einer aber an ewige Vergeltung seines Verhaltens im Jenseits, ist ihm freier Egoismus wie Altruismus unmöglich.
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Wer noch im mindesten bei Trost ist, muss dann einfach Gutmensch werden – Schlechtmensch bleiben wäre Wahnsinn.
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1425)
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Wer sich vormachen kann, ein guter Mensch zu sein, bleibt halt Monotheist.
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Wer sich seine unabänderliche Schlechtigkeit eingesteht, wird halt Realist.
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Wer auch damit nicht hinkommt, muss eine weniger wohlfeile Position finden.
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1426)
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Eltern halten sich verglichen mit Kinderlosen für die besseren Menschen.
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Dabei nimmt ihre Rücksicht gegenüber der Allgemeinheit tendenziell ab.
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Übers Kind gebeugt geht ihnen alle Welt wortwörtlich am Arsch vorbei.
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1427)
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Als Kind fröhlich-egoistischer Christ; als Jugendlicher dann der Sündenfall vom traurig-altruistischen Christen zum fröhlich-egoistischen Realisten; und als Erwachsener schließlich traurig-altruistischer Realist.
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Diese in unserer Kultur recht übliche Laufbahn klappt aber nur für diejenigen mit einem im Grunde eher sonnigen Gemüt – für die übrigen wird der Suizid in jenem vierten Stadium eine allzu verlockende Alternative.
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Als pessimistischer Idealist steht es mir im Gegensatz zum Christen frei, Gutes oder Schlechtes zu tun, da ich vom Jenseits keine Vergeltung erwarte. Und im Gegensatz zum Realisten winkt mir kein Todesnichts.
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1428)
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Wer an das Nichts im Tod glaubt und ein Leben schlechter als nichts hat, wird dieses Leben so lange riskieren, bis es besser als nichts ist.
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Wer an das Nichts in Tod glaubt und ein Leben besser als nichts hat, mag durchaus Güte zeigen, d.h. für andere auf Vorteile verzichten.
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Weil das Leben der meisten aber schlechter als nichts ist, bewirkt der grassierende Nichtsglaube tollkühne Kämpfe um ein besseres Leben.
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(Wogegen ich weniger hätte, wenn das Nichts im Tod sicher wäre. Da es aber nur ein Glaube ist, handeln seine Missionare unverantwortlich.)
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1429)
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Das Nichts ist ein modernes Märchen.
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Unser Leid hört auch im Tod nicht auf.
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Wär einfach zu schön um wahr zu sein.
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1430)
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Pessimismus: Es wird immer schlimmer.
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Quietismus: Aber so langsam wie möglich.
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Moralismus: Leide nicht nur für dich selbst.
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1431)
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In puncto Hölle gibts nichts Endgültiges.
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Sonst würde es ja nicht mehr schlimmer.
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Hölle ist, wenns immer schlimmer wird.
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(Der Pessimismus-Superlativ ist paradox.)
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1432)
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Gottesmärchen: Glück ist ewig.
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Atheistentröster: Nichts ist ewig.
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Pessimistendrama: Leid ist ewig.
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1433)
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Tolerant gegen alles außer Intoleranz!?
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Aber wer darf rein in die Gesellschaft?!
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Bei Tierverwertung steht es schon patt.
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1434)
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Den definitiven Pessimismus kann keiner konkretisieren.
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Weil auch das Schlimmste noch Geschmackssache ist.
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Z.B. die Hölle des Immerselben vs. des Immeranderen.
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1435)
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Vielleicht besteht die Kunst des Lebens darin, auf den Geschmack zu kommen.
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Als Masochist gar Angst zu kriegen, die nächste Erlösung könnte die letzte sein.
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Dann versichert der Tod: auch größte Lebenskünstler könnten noch scheitern.
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1436)
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Der pessimistische Realist, welcher das Leben für schlechter als nichts hält und an das Nichts im Tod glaubt, gehört früher oder später dem Suizid.
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Meist versucht er verzweifelt, sich zum optimistischen Realisten zu bekehren, also das Leben besser als nichts zu finden. Doch es ginge auch anders.
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Als pessimistischer Idealist halte ich das Leben zwar für schlechter als nichts, aber das Nichts im Tod für ein Ideal, dem mich Suizid nicht näher brächte.
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(Pessimistischen Realisten kommt es nicht in den Sinn, den Glauben ans Nichts im Tod aufzugeben, sie halten es für unumstößliche Gewissheit.)
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1437)
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Wie ist es, tot zu sein? Auf diesem Gebiet gibt es nur Glauben, kein Wissen.
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Es steht uns gewissermaßen frei, eine glaubwürdige Überzeugung zu finden.
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Aber an Verbesserung im Tod zu glauben und sich umzubringen ist tollkühn.
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1438)
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Beneidenswert scheint mir der pessimistische Realist, der sich auf das Nichts im fernen natürlichen Tod freuen kann.
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Bedauernswert dagegen scheint mir der pessimistische Realist, der sich auf das Nichts im nahen Suizid stürzen muss.
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Als pessimistischer Idealist ohne Vorfreude auf den Tod und ohne den Drang zum Suizid fühl ich mich da etwa in der Mitte.
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1439)
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Monotheisten halten sich für was Besseres in alle Ewigkeit, für Gottes Schöpfungskrone.
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Realisten sind fast ebenso hochmütig, geben nur ein einziges Gastspiel an der Evolutionsspitze.
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Ich halte mich zwar momentan auch für was Besseres, aber den Tod für einen großen Mittler.
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(Falls der Tod wirklich mittelt, werden wir m.E. nach dem Tod wieder mehr leiden.)
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1440)
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Realisten sehen die Bewusstlosigkeit im Tod als Lebensbedrohung oder als Lebenserlösung an, je nachdem, ob sie das Leben noch optimistisch oder schon pessimistisch bewerten.
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Hegen kaum Zweifel an ihren Grundfesten von der im Wesentlichen leeren Raumzeit und der leblosen Materie darin, aus der alles Leben wird und in die alles Leben vergeht.
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Zu kontern, dieses Märchen vom neutralen Stoff im Nichts leiste der Tollkühnheit gegenüber dem Tod sowie der Ausbeutung des Planeten bösen Vorschub, wirkt sehr sonderlich.
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1441)
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Gradueller Panpsychismus mal umgekehrt...
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Man stelle sich vor: Festkörper sein ist empfindungsmäßig die Hölle, Pflanze sein schon weniger unangenehm, Tier sein noch weniger, Mensch sein bislang am himmlischsten.
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Und mit dem Tod stürzt jeder wieder in die Hölle...
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(Von so einer Philosophie hört man nirgends. Weil in unserer aktivistischen Welt alles so lange als empfindungslos gilt, wie es nach unseren Maßstäben passiv bleibt. Weil wir ein flehentliches Nein erst zu erhören gewillt sind, wo es sich unüberhörbar artikulieren kann.)
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1442)
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Ich definiere mich über mein Gedachtes.
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Über mein Gesagtes schon weniger.
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Über mein Getanes am wenigsten.
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(Schon eher über mein Unterlassenes.)
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1443)
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Traurig leben.
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Ohne Todessehnsucht.
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Angekommen.
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1444)
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Glaube oder Unglaube, guter Gott oder kein Gott, Summe über alles positiv oder null – der Streit darum kommt mir vor wie ein Ablenkungsmanöver.
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Damit keiner bei all dem Theater an den dritten Fall denkt: böser Gott, Summe über alles negativ – denn erst das wäre die eigentliche Katastrophe.
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Die Pascalsche Wette auf den guten Gott kann nämlich doch verlieren – indem ein böser Gott die Guten in die Hölle und die Bösen in den Himmel schickt.
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1445)
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Realismus, objektiver Idealismus und subjektiver Idealismus kennzeichnen eine, wenn nicht gar die philosophische Grundentscheidung.
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Ob alles im Wesentlichen Dinglichkeit, Wirklichkeit oder Vorstellung sei.
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Ich meine: unwillkürliche Empfindung. (Was ist das – subjektiver Realismus?)
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1446)
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Dem Leben zugrunde liegt die unwillkürlich-passive Leidempfindung.
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Alles folgende ist Reaktion, mag sie noch so selbständig-aktiv wirken.
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Mit ihr das Leben zu echter Freude umzudrehen gelingt den wenigsten.
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1447)
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Leben ist erst Leiden und dann die dagegen unternommene Notwehr.
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Aber fast alle Notwehr ist kurzsichtig und macht alles nur schlimmer.
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Spricht sich aber nicht herum, weil die Aktiven die Botschaft übertönen.
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1448)
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Etwas hinterlassen, damit wir nicht umsonst gelebt haben?
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Diese Ansicht stammt aus einer Zeit, als es noch galt, der Natur Kultur abzuringen.
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Heute sollten wir im Gegenteil möglichst spurlos leben, statt noch mehr unserer natürlichen Lebensbedingungen zu zerstören.
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(Stolz werden auf Konsumverzicht statt auf Kulturschöpfung wäre angezeigt – aber seit die Menschheit an das Nichts im Tod glaubt, stirbt sie lieber als auf die Asketen zu hören.)
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1449)
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Die Menschen teilen sich für mich in drei Gruppen, nach ihrer Annahme einer Verbesserung, Neutralisierung oder Verschlechterung ihrer Situation im Tod.
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Ich wünschte mir Neutralisierung, rechne aber mit Verschlechterung.
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Und treffe nirgends auf Kollegen.
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1450)
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Das mögliche Nichts im Tod zieht Pessimisten an, stößt Optimisten ab.
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Das mögliche Unbekannte zieht Optimisten an, schreckt Pessimisten ab.
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Die Gesellschaft lanciert den Nichtsglauben, um die Optimisten zu halten.
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1451)
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Typische Monotheisten: bezeichnen sich selbst als lebensbejahend; disziplinieren sich im irdischen Leben mit dogmatisch vorgegebener Moral; werden von den Atheisten als lebensverneinend bezeichnet; meinen, das Beste komme erst noch, als jenseitiger Lohn.
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Typische Atheisten: bezeichnen sich selbst als lebenbejahend; streben ohne oder mit eigener Moral nach dem Besten für sich und die Ihren im Hier und Jetzt; werden von den Monotheisten als unmoralisch bezeichnet; meinen, das Leben ende im bewusstlosen Todesnichts.
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Jede der beiden Gruppen schlägt Abweichler gern der jeweils anderen zu, ich halte mich aber für weder noch: bezeichne mich selbst als lebenverneinend; stehe für eine weniger speziesistische und mehr quietistische Moral; meine, im Tod gehe es leidvoll weiter.
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1452)
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Ewiges Leiden ohne Erlösung.
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Pessimismus ohne Suizidalität.
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Brauchst nicht glücklich werden.
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1453)
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Goodbye suizidaler Realismus.
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Tieftraurig ohne Todesneigung.
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Mit dem Nichts als Ideal leben.
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1454)
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Prunksucht ist was für Neureiche – man stellt sein Heim heute nicht mehr voll, erzielt mehr Wirkung mit edlem Minimalismus.
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Aber zeig mir den Erfolgsmenschen, der keinen eng gedrängten Terminplan hat – mit Zeitknappheit lässt sich sogar prahlen.
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Die meisten Formen von Reichtum sind den Menschen noch gar nicht bewusst, sind noch nicht mal fernes Ziel im Kopf.
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1455)
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Eine Wohnumgebung, die für Auge, Ohr, Geruchs- und Tastsinn i.d.R. einigermaßen neutral i.S.v. störungsfrei bleibt – wer hat die heute noch?
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Bei Wohnungsbesichtigungen kommt alles Mögliche zur Sprache – außer unerwünschter Dauerreizung durch nachbarschaftlichen Aktionismus.
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Stroboskob-Leuchtreklamen gegenüber von deinem Fenster, Surroundsound-Heimkino hinter deiner Schlafzimmerwand, diskrete Abluftklappen für Fleischbratereien neben deinem Balkon bis hin zu Großmaschinen, die deine ganze Wohnung zum Vibrieren bringen – aber die Maklerin erzählt dir was vom schönen Farbenspiel deiner Badezimmerkacheln.
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1456)
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Wir alle kommen aus dem Sozialen.
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Problemfälle flüchten sich ins Sprachliche.
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Und aussichtslose Fälle bis ins Mathematische.
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(Fühl mal als Autist, du müsstest ins Soziale zurück.)
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1457)
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Als Pessimist erwarte ich keinen Sieg des Guten oder auch nur Gerechtigkeit, glaube nicht an Himmelslohn, Höllenstrafe, Karma usf.
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Das ewige Leben verläuft m.E. leider so wie vom endlichen Leben her zu vermuten – keine Gegenwelt bzw. andere Seite im Tod.
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Echt moralische Menschen wählen das Gute eh aus Abneigung gegen das Böse, nicht weil sie auf langfristige Vorteile spekulieren.
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1458)
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Die Feuerprobe echter Moral ist m.E. die Annahme eines ewigen Lebens, in dem es nur so zugeht wie im uns bereits bekannten.
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Nicht bestanden ist sie dann, wenn einer daraufhin den Willen zur Macht entwickelt, um immer Hammer, nie Amboss zu sein.
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Bestanden dann, wenn einer dennoch die Sanftmut wählt, ohne sich von einer wie auch immer gearteten Gegenwelt Lohn zu erhoffen.
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1459)
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Wenn du sagst, du seist lebensverneinend, dann denken gleich alle, du hättest Todessehnsucht.
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Wenn du sagst, du seist auch todesverneinend, dann denken gleich alle, du hättest nen Knall.
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Doch das Nichts zu wollen ist in dieser Welt ebenso naheliegend wie an seiner Erreichbarkeit zu zweifeln.
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1460)
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Für mich heißt Quietismus: selber in Ruhe sein und andere(s) in Ruhe lassen.
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Aufhören, uns die Erde untertan zu machen.
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Aufhören.
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1461)
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Band 5
1462) bis 1826)
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1462)
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Mein Schwarzgekleidetsein soll Lebensverneinung und Traurigkeit ausdrücken.
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Es stört mich, dass Schwarz auch für Todessehnsucht und Bosheit steht.
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Aber vielen Traurigen, besonders den jüngeren, ist diese Mehrdeutigkeit gar nicht so unrecht – unbewusst oder bewusst kommt den oft schüchternen bis wehrlosen Traurigen eine einschüchternde Wirkung ihrer schwarzen Kluft auf andere durchaus gelegen. Von der allgegenwärtigen postmodernen Ironie ganz zu schweigen.
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1463)
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Don't break bad, better stay sad.
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Pursuit of happiness ist oft böse.
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Therapie macht Opfer zu Tätern.
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1464)
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Das Schönste am Christentum ist m.E. sein sanftmütiges Lebensideal.
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Das Schönste am Naturalismus ist m.E. sein bewusstloses Todesideal.
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Trotzdem kapriziert sich ersteres auf den Tod, letzterer auf das Leben.
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1465)
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Dark Lifestyle hat drei Flavours.
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Die Entscheidung fällt mir leicht.
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Besser traurig als böse oder tot.
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1466)
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Liebe weder deinen Nächsten noch dich selbst.
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Hasse weder deinen Nächsten noch dich selbst.
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Das scheint mir die richtige Mitte, alles in Ruhe.
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1467)
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Tradition: Finde die Balance zwischen Eigennutz und Wohltätigkeit.
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Moderne: Finde die Balance zwischen Handeln und Denken.
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Postmoderne: Finde so weit wie nötig zurück zum eigennützigen Handeln.
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1468)
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Frage zwischen Schopenhauer und Nietzsche.
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Wie viel Glücksstreben ist moralisch vertretbar?
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Darf ich egoistisch sein bis zur Lebensbejahung?
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(Und ja, Glück und Moral widersprechen sich.)
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1469)
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In Zeiten des Leids habe ich zum Trost das Nichts als theoretische Orientierung, als für mich gesichertes Wissen, was idealiter sein sollte.
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Darüber hinaus gibt es die, deren Leid durchdrungen wird von der Vorfreude realistischer Erwartung, im Tod kehre endgültige Bewusstlosigkeit ein.
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Und schließlich diejenigen, welche in ihrem Leid ganz praktisch Hand an sich legen.
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(Das Leid der Tiere vor diesen drei Stufen des Nichts ist noch ein unmittelbares.)
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1470)
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Echte Optimisten sagen Ja zum Leben und zum Tod.
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Echte Pessimisten sagen Nein zum Leben und zum Tod.
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So bleibt beiden nichts als beizeiten leben und sterben.
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1471)
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Dunkles Denken à la Schopenhauer sitzt zwischen allen Stühlen.
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Davor hat man noch hell gedacht, danach wieder dunkel gefühlt.
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Vernünftig sein wollen gegen jede Chance bleibt meine Methode.
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(Sogar meine Gründe am Leben zu bleiben sind v.a. vernünftige.)
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1472)
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Wir wissen nicht, was nach dem Tod kommt.
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Um uns ist noch größeres Leid als das eigene.
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Also bleiben wir am Leben – zähneknirschend.
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1473)
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Gott bzw. das Leben fragt dich immer und immer wieder: bist du nun bereit, dich bzw. dein Lebensleid zu verleugnen?
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Je schlechter es dir geht, desto eher bist du es.
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Die Finalen reißen als Erste die Mundwinkel hoch, wenn der Chefarzt reinkommt und fröhlich fragt, wie es uns heute geht.
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(Die jammernden Kinder sind nicht schon verwöhnt, sondern noch ehrlich. Erfolg der Erziehung: geheuchelter Frohsinn.)
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1474)
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Atheist bin ich aus moralischen Gründen.
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Gegen einen Gott, der absichtlich diese leidige Welt geschaffen hat, muss man was haben.
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Außerdem spekuliert echte Güte nicht auf das eigene Seelenheil im göttlichen Paradies.
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1475)
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Wer sagt das Wesentlichste über diese Welt?
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Die Religion nicht, die Naturwissenschaft nicht.
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Für mich erst und immer noch die Philosophie.
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1476)
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Pessimismus heißt, davon auszugehen, dass das Leid ewig währt.
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Wer Erlösung in Aussicht stellt, ist vom Pessimismus abgekommen.
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Passiert jedem Pessimisten mal, siehe Schopenhauer bis Horstmann.
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1477)
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Wahrnehmen, Denken, Handeln – mein Schwerpunkt liegt noch im Denken.
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Sinnesfrohe und Aktionisten wissen schon, warum sie das Denken meiden.
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Die Aufklärung führte in die Depression und jetzt wollen alle nur noch retro.
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1478)
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Weiter innerlich leben – vor der Natur in die Klausur fliehen.
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Oder wieder äußerlich leben – heroisches Ja bzw. Trotzdem.
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Wie auch immer – das Sein behält etwas zutiefst Vergebliches.
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1479)
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Pessimismus könnte durchaus ein menschliches Naturell sein.
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Und alle von den Optimisten verordnete Therapie diskriminierend.
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Vergleichbar mit dem Heilen von Weiblichkeit durch Vermännlichung.
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1480)
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Als pessimistischer Softie meine ich...
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...dass besser alle so hätten sein wollen...
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...wie die Frauen früher mal sein wollten.
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1481)
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Schopenhauer ist Opfer-Philosophie.
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Nietzsche ist Täter-Philosophie.
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Nietzsche hat gewonnen.
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(Leider.)
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1482)
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Als Pessimisten, der die Welt verneint, halten mich die Optimisten für krank.
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Dafür halte ich die Optimisten, die die Welt bejahen, für unsensibel bis böse.
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Dass mein Pessimismus einst vor dem Arzt in die Knie geht, erscheint aber auch mir viel wahrscheinlicher als dass optimistische Ruchlosigkeit einst vor dem Richter steht.
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1483)
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Die einen brauchen das Zusammensein als Regel und das Alleinsein als Ausnahme; bei den anderen ist es eben umgekehrt.
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Weil erstere scheinbar in der großen Mehrheit sind – "der Mensch ist ein soziales Wesen" – gelten letztere tendentiell als krank.
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Aber das geht noch – schlimmer ist, von dieser Möglichkeit des Andersseins und damit vom eigenen Anderssein erst gar nichts zu erfahren.
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1484)
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Mit Kindern zusammen zu sein bedeutet einerseits, sich in ihre Kinderwelt ziehen zu lassen, andererseits, sie in die eigene Erwachsenenwelt zu ziehen.
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Ich fühle mich bei beidem unwohl.
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Heißt das, ich mag keine Kinder?
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(Wer auf eine schöne Kindheit oder Erwachsenenzeit oder gar auf beides zurückblicken kann, hat da leicht reden. Oder hat sich ans Lügen gewöhnt.)
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1485)
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"Die Öffentlichkeit rätselt über die Motive des Amokläufers..."
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...und ich verstehe nicht, was daran so schwer zu verstehen ist.
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Pessimismus plus Materialismus als weltanschauliche Grundlage, charakterliche Entschlossenheit zur Aktion mit großer Signalwirkung, evt. aktuelle persönliche Kränkung.
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(Vorstellbar, dass so einer nach seiner Tat das wohltuende Gefühl hat, die Welt dem zur endgültigen Leidbefreiung notwendigen kollektiven Selbstmord ein Stück näher gebracht zu haben.)
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1486)
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Den Nihilismus gibts von realistischer und idealistischer Art.
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Selbstmord, Amoklauf etc. sind nihilistische Anfängerfehler.
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Die Kehre hat erreicht, wer das Nichts als Inneres erkennt.
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1487)
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"Zuerst entstand die anorganische Materie, dann die organische, dann das Leben, dann das Bewusstsein..."
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Diese Theorie gilt heute als Wissen, als Gewissheit – und wird in der Schule gelehrt wie eine Religion.
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Kein Wunder, wenn Leidende auf die Idee verfallen, dass man o.g. Reihenfolge besser umkehren sollte.
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1488)
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Amokläufer und Attentäter – streng unterschieden von Justiz wie Presse.
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Erstere sind Einzelgänger, letztere religös und/oder politisch organisiert.
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So meinen die Leute, ersteren sei spontan die Sicherung durchgebrannt.
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(Ist nicht auch der realistische Nihilismus religöser bzw. politischer Plan?)
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1489)
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Goethes Mephisto ist realistischer Nihilist – den Monolog vom "Geist, der stets verneint" haben sich viele nihilistische Schwarzkutten zum Motto erkoren.
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Schopenhauer erkennt darin das Prinzip der äußeren, realen Welt schlechthin wieder, dem er seinen inneren, idealistischen Nihilismus entgegensetzt.
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Es gilt schon zuerst, sich einzugestehen, dass die Welt eine Hölle ist – dann aber, sich von ihr abzuwenden, sich eine innere "feuerfeste Hütte" zu bauen.
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1490)
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Die Errungenschaft der Vollnarkose als Indiz für die endgültige Bewusstlosigkeit im Tod?
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Nicht viel schlüssiger als gute und schlechte Drogentrips als Indiz für Himmel und Hölle.
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Meinem pessimistischen Subjektivismus sind das alles nur Ausnahmen vom regelmäßigen Leid.
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1491)
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Meine wesentliche philosophische Erkenntnis: Sein ist Grund, Nichts nur Figur – auch wenn der naive Realismus das Gegenteil nahelegt.
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Dem Lebensbejaher kann die Bekehrung zum Idealismus eine große Erleichterung sein; mir als Lebensverneiner eher im Gegenteil.
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Subjektivismus ist übrigens nicht etwa rückwärtsgewandt, war er doch – mit kleinen historischen Ausnahmen – nie Mainstream.
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1492)
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Monismus als Realismus: alles ist Körper.
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Monismus als objektiver Idealismus: alles ist Geist.
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Monismus als subjektiver Idealismus: alles ist Seele bzw. Bewusstsein.
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(Meine Position ist der generelle Subjektivismus: primär ist Bewusstsein kollektiv.)
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1493)
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Man flieht vor der Hitze der Gefühle.
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Die meisten zur kühlen Materie.
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Ich zu den kühlen Ideen.
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(Realismus wie objektiver Idealismus heißt für mich, nicht wahrhaben zu wollen, dass der subjektive Idealismus die trefflichste Weltanschauung ist.)
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1494)
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Selbstmord fällt leicht, wenn man sich Totsein als ein seelisch subjektives, himmlisches Sein bzw. als ein körperlich oder geistig objektives, gefühlsneutrales Sein vorstellt.
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Mir fiele Selbstmord schwer, denn wir sind m.E. primär arme Seelen, und müssen fürchten, im Tod noch ärmere zu sein.
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Die christliche Höllendrohung hat mich im Kern erwischt!?
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1495)
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Was fühlt, denkt, tut man im Tod?
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Eigentlich ist nur ersteres wichtig.
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Gefühlsneutrales Sein wäre egal!?
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1496)
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Philosophie des Geistes? Ich stehe beim Psychomonismus mit Eigenschaftspluralismus.
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"Objektiv" ideelle wie materielle Eigenschaften als scheinbar gefühllose Ränder der Weltseele.
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Meine Sehnsucht: das Gegenteil. Tot nur noch Geist oder gar nur noch Materie sein, das wärs!
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1497)
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Desillusionierende Erlösung: die angstvolle Seele als Kern akzeptieren.
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Wahrhaben können, dass sie am objektiven Körper und Geist Halt sucht.
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Und dass dieser Halt nur temporär ist – im Tod stürzt sie ins Ungewisse.
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1498)
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Allverdammnis scheint mir plausibler als Allversöhnung.
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Wie ein Herrgott wahrhaftiger wirkt als ein lieber Gott.
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Trotzdem glaubt keiner, dass alle in die Hölle kommen.
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(Missionierenden Christen die Allverdammnis predigen!)
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1499)
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Christen heute lieben den Schöpfer des Himmels und der Erde.
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Und sind auf die atheistischen Einwände längst gut vorbereitet.
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Auf den Schöpfer der Hölle angesprochen reagieren sie einsilbig.
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(Wird die Flucht vor diesem zu jenem eingestanden? Verarbeitet?)
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1500)
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Der Naturalist sagt, es gebe nichts Übernatürliches, alles sei Natur – und damit alle Weltanschauung naturwissenschaftlich zu fassen.
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Aber wenn man sich naturwissenschaftliche Modelle von Bewusstsein, Moral, Schöngeistigem betrachtet, muten diese doch eher absurd an.
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Naturalisten mögen einwenden, dass die Ausweitung naturwissenschaftlicher Methodik auf schier alles halt noch in den Kinderschuhen stecke.
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(Ich halte den objektivistischen Vorstoß zur Erklärung bzw. Abschaffung des Subjektiven für einen Kategorienfehler, wenn nicht für Größenwahn.)
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1501)
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Alles ist subjektiv.
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Auch der Grund für die objektivistische Gegenposition.
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Das Leid macht die Menschen irre – im ach so nüchternen Licht der heutigen Wissenschaft betrachtet sei das Bewusstsein marginal bis nicht existent.
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1502)
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Gibt es wesentliche Aussagen über die Welt? Und wenn ja, welche Methodik führt zu diesen hin?
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Ich meine: die philosophische Dialektik, denkendes Aufspannen und Bewerten von Gegensätzen.
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Die "wissenschaftlicheren" Methoden sind überschätzt – wo sie funktionieren, ist die Welt unwesentlich.
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1503)
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Im Wesentlichen sind wir doch arme Seelen.
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Viele hoffen, im Leben, spätestens aber im Tod, ihr Seelisches hin zum gefühlsneutralen Körperlichen oder Geistigen überwinden zu können.
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Vergebens, fürchte ich, wir sind arme Seelen.
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1504)
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Die in der Gesellschaft kursierenden Todesvorstellungen sind körperlich, seelisch oder geistig.
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Als Toter ist man demnach nur noch verwesender Körper, gestimmte Seele oder reiner Geist.
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Trotz aller materialistischen und idealistischen Einflüsse – ich bin "Psychist" geblieben, arme Seele.
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1505)
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Körper und Geist sind m.E. zu Recht Widersacher der Seele.
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Aber sie haben nur im Leben eine gewisse Chance.
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Spätestens im Tod obsiegt dann wieder sie!?
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1506)
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Meine zwei Todesgleichgewichte:
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Erstens: Im Tod geht es m.E. mit Gleichem i.S.v. zum Leben Vergleichbarem weiter – zwar fände ich Nichts oder gar Paradies besser, aber völlig Anderes oder gar Hölle schlimmer.
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Zweitens: Von den vier Gegensätzen im Tod liegen je zwei zu meinen Ungunsten bzw. Gunsten – ich rechne mit zunehmendem Leid, hätte aber lieber abnehmendes; ich rechne mit abnehmendem Verstand, hätte aber lieber zunehmenden; ich rechne mit selbstähnlicher Fortsetzung und die ist mir auch lieber als andersartige; was im Tod ist, bleibt im Leben ungewiss und das finde ich auch besser so.
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1507)
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Meine zwei Todesparadoxien:
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Erstens: Im Tod wartet das Unbekannte – und das Unbekannte beinhaltet das Bekannte. Nicht etwa unwahrscheinlich, dass es hinter dem blickdichten Vorhang genauso aussieht wie davor.
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Zweitens: Um das Leid hundertprozentig sicher zu beenden, d.h. das Bewusstsein endgültig auf Null zu verengen, wäre jede Möglichkeit zu kontrollieren, d.h. das Bewusstsein auf Eins zu erweitern.
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1508)
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Theorie des Totseins.
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Vordenken: Was kommt nach dem Sterben?
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Früher erhoffte man sich ewiges Glück bzw. fürchtete ewiges Leid und nannte sich religiös. Heute rechnet man unbeirrbar mit dem Ende des Glücks bzw. Leids und nennt sich realistisch.
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1509)
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Todesvorstellungen sind meist mit einem -ismus wie Materialismus, Idealismus etc. verbunden, mit einer Reduktion auf das vermeintlich Zugrundeliegende.
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Man erwartet sich die Erfüllung des eigenen -ismus, indem die verwirrende Vielfalt des Lebens schlussendlich der -istischen Einheit des Todes weicht.
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Materialisten bzw. Idealisten glauben an den neutralen Stoff bzw. die neutrale Form, ich als pessimistischer Psychist glaube an das Leid als Weltwesenskern.
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1510)
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Der Wille ist ja doch nur Reaktion auf das Leid.
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Macht es kurzfristig leichter, langfristig schlimmer.
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Schöpfungsverzicht mit Gott als warnendem Beispiel.
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1511)
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Materialismus und Idealismus halten die Sprache fest im Griff.
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Das Fundamentalste sei die Realität bzw. die Wirklichkeit, also tote Dinge bzw. aktiver Geist.
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Für mich ist das Fundamentalste aber passives Bewusstsein.
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(Schwierig zu erklären, wenn man eigentlich zuerst die Sprache korrigieren müsste.)
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1512)
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Materialismus und objektiver Idealismus sind die beiden leidlosen Seinsränder, zu denen sich die Gepeinigten flüchten.
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Bewusstlosigkeit bis körperliche Emotionalität am einen Rand, neutrale Form bis geistige Schöpfermacht am anderen.
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Seinsmitte ist aber nunmal das bewusste Ausgeliefertsein – Erlösungsphantasie, den Rand als das Zentrum zu wähnen.
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(Siehe z.B. die Gnosis: fatal sei die Verbindung von Materie und Geist, die arme Seele befreie sich durch beider Trennung.)
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1513)
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Ich bin eine Seele, die sich eine innere geistige Lebenswelt baut.
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Halte die alte Ratio in mir hoch, wirke dadurch evt. logozentrisch.
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Aber ich hänge nicht dem Glauben an die Ratio als Weltprinzip an.
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(Vgl. Freud: der größte Seelenkundler war überzeugter Materialist.)
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1514)
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Im Tod gehts mit Körper und Geist dahin...
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...aber das Seelische, so fürchte ich, bleibt.
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Teilhabe an der Weltseele – nicht loszuwerden.
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1515)
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Omnia mea mecum porto – der Bauarbeiter am eigenen Denkpalast trägt diesen seinen wertvollsten Besitz immer bei sich.
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Und das ist auch dringend nötig, muss er ihn doch dauernd Richtung Ruhe forttragen, weil Lärm der anderen den Bau stört.
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Auch körperlich und seelisch bedingte Probleme hindern am dauerhaften Raufbeamen ins Geistige, und im Tod bleibt eh nur die Seele.
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1516)
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Elektrophilosoph:
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ersinnt Begriffe für die Welt...
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...und googelt bzw. postet sie dann.
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1517)
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Der Mittelweg...
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...zwischen ausbeuterischer Industrialisierung und Zurück-zur-Natur...
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...ist die rationalistische Wissenschaft: Denken, nur notfalls Handeln.
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(Rationalisten sind die wissenschaftlichen Asketen, Empiristen die wissenschaftlichen Hedonisten.)
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1518)
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Anthropozentrismus und Logozentrismus – noch Oldschool-Philosophie.
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Biozentrismus, Pathozentrismus, Physiozentrismus – schon Ökobewegung.
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Und Psychozentrismus hat sich gar die Tourismusbranche (!) gesichert.
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(Trotzdem, ich nenn mich mal jenseits von Steiners Weltanschauungen psychistisch und jenseits von Plogs Urlaubertypen psychozentristisch.)
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1519)
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-ismen sind die Ergebnisse der philosophischen Suche nach Einheit in der Vielfalt.
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Ich bekenne mich dazu, diese Suche und ihre Begriffe nach wie vor für sinnvoll zu halten.
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Aber es ist klar, dass wir in postphilosophischen Zeiten leben: -ismus ist sowas von out.
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1520)
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Ist nur das Materielle, das Seelische, das Geistige eigenständig?
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Ich bin Monist, aber ein untypischer – ich tippe auf das Seelische.
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Allein schon deshalb, weil das m.E. der Worst Case schlechthin ist.
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1521)
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Das Recht auf endgültiges Nichtsein...
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...müsste für jeden und jedes gelten...
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...ohne damit verbundene Pflichten.
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1522)
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Lebewesen verbringen ihre Zeit meist mit Handlungen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu kriegen.
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Der Mensch kann es schaffen, stattdessen mehr sein Denken i.S.v. Als-Ob-Handeln anzustrengen.
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Man muss das erst lernen, die meisten haben das nie, und oft geht es im Alter wieder verloren.
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1523)
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Panpsychismus i.S.v. alles ist beseelt ist mir zu schwach formuliert.
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Panpsychismus i.S.v. alles ist Seele macht den Kern schon klarer.
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Die Qualia sind kein Randphänomen, sie machen unser Wesen aus.
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1524)
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Panlogismus scheint mir im Gegensatz zum Panpsychismus übertrieben.
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Ich spreche keinem Sein das Bewusstsein ab, die Vernunft im Wesentlichen schon.
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Umgekehrt ist m.E. ja sogar des Menschen Vernunft nur schwach ausgeprägt.
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(Dennoch ist sie unser höchstes Gut und gegen jede Chance zu befördern.)
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1525)
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Gibt es Seele ohne Körper, Seele ohne Geist?
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Könnt ich mir vielleicht als Extreme vorstellen.
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Regel: Körper und Geist als Ränder der Seele.
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1526)
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Während meines zweiten Nahtoderlebnisses hatte ich weder Körper noch Geist mehr zur Verfügung.
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Deshalb gehe ich weltanschaulich davon aus, dass sich der Mensch im Tod auf seine Seele reduziert.
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Im Aufwachsen entwickeln wir körperliche und geistige Fertigkeit, im Alter bzw. Tod verlieren wir sie wieder.
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1527)
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Der Freitod soll Unabhängigkeit schaffen von einem als zu einschränkend erlebten Körper oder Geist.
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Mir aber scheint, Körper und Geist ermöglichen im mittleren Lebensalter die Flucht vor der Seele.
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Ich rate jedem vom Suizid ab, der mit seinem Körper oder Geist noch was Eigenes zustande bringt.
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(Bevor er im Tod von der Weltseele absorbiert und als einzelner Anfänger wieder abgesondert wird.)
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1528)
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Zu neunzig Prozent sehe ich Gott als einen Herrgott, dem ich abgeneigt bin.
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Zu zehn Prozent sehe ich Gott als einen lieben Gott, dem ich zugeneigt bin.
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Zu hundert Prozent sehe ich Gott als ein persistentes Relikt aus der Kindheit.
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(Ein weiter Atheismusbegriff trifft auf mich m.E. zu. Der enge Atheismusbegriff moderner Materialisten ist selber kindisch, ohne dass die es merken.)
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1529)
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Mein Pessimismus kommt daher, dass ich das bzw. mein Leben mit dem bewusstlosen Nichts vergleiche und letzteres vorzöge.
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Die Wertschätzung meines Lebens kommt daher, dass ich statt mit dem Nichts im Tod mit einer weiteren Verschlechterung rechne.
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Es kommt eben auf die Wahl des Bezugspunktes an: theoretisch das Nichts, praktisch die mittlere Qualität allen mitgefühlten Seins.
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1530)
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Pessimistische Materialisten meinen, das Leid im Leben überwiege die Freude bei weitem und das Leid habe im Tod ein Ende.
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Wenn sie dazu auch noch Tatmenschen statt Wortmenschen sind, liegt es nahe, mit dem Töten als Erlösungswerk zu beginnen.
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Der m.E. falsche Materialismus ist heute schon gesellschaftlich etabliert, das Töten wird nur vom m.E. falschen Optimismus verhindert.
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1531)
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Amoklauf gedeiht m.E. auf einer materialistischen und pessimistischen Weltsicht.
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Den Glauben an das Nichts im Tod verstehen und teilen bereits sehr viele Menschen.
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Die negative Wertung des Lebens verstehen und teilen sie angeblich nie und nimmer.
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(Ist letztere so unverständlich oder ist die mediale Ratlosigkeit bei Amokläufen gespielt?)
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1532)
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Wenn einer sich durch Selbsttötung vom Leid des Lebens erlösen will, sagen ihm die anderen Materialisten gerne, er mache es sich zu leicht.
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Wenn einer aber selber im Leid des Lebens ausharrt, um andere daraus zu erlösen, indem er sie tötet, ist die Empörung noch viel größer.
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Der Materialismus verpflichtet gewisserweise zum Optimismus – wenn nicht zum ehrlichen, dann zum gelogenen. Ein schlechter Trend.
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1533)
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Als pessimistischer Idealist treffe ich regelmäßig auf optimistische Materialisten – in meinem Bekanntenkreis m.E. die Mehrheit.
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Mein Bekenntnis zum Pessimismus als primäres Bestimmtsein des Lebens durch Leid lässt sie längst nicht so ungläubig dreinschauen wie mein Bekenntnis zum Idealismus als Annahme des im Tod fortgesetzten Bewusstseins. Umgekehrt lässt mich ihr Bekenntnis zum Materialismus als Annahme endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod längst nicht so ungläubig dreinschauen wie ihr Bekenntnis zum Optimismus als primäres Bestimmtsein des Lebens durch Freude.
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Vielleicht weiß intuitiv jeder: pessimistischer Materialismus wäre am naheliegendsten, führt jedoch zum kollektiven Selbstmord.
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1534)
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Ein Bewusstsein wie z.B. meines ganz sicher auf immer zu vernichten...
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...also dafür zu sorgen, dass kein Fünklein davon jemals wiederkehrt...
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...kommt mir auch nicht machbarer vor als es auf immer zu erhalten...
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(...solange wir übers Woher und Wohin des Bewusstseins nichts wissen.)
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1535)
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Der Glaube, dass das Leid im Tod endet, ist völlig unbegründet.
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Trotzdem sind Religiöse und Realisten in dieser Annahme einig.
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Die Vorstellung ihrer ewigen Hölle ist den Menschen die fernste.
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1536)
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Ein Unendliches kann nur theoretisch ein Ganzes sein.
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Schon mathematische Konzepte wie z.B. die Menge der natürlichen Zahlen gewöhnen uns ans Paradox-religiöse.
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Wenn ich an die ewige zufällige Wiedergeburt glaube, ist diese erst nach einer Ewigkeit gerecht, die nie erreicht wird.
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(Oder reicht eine halbe Ewigkeit? Gibt es mich schon immer, müsste mir rein zufällig schon heute alles recht sein.)
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1537)
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Die Aussicht auf das Nichts im Tod ist dem lebensfrohen Materialisten die Hölle.
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Die Aussicht auf das Nichts im Tod ist dem lebensleiden Materialisten der Himmel.
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Beide sind religiös auf das Nichts im Tod als Jenseits fixiert, ohne es zu bemerken.
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1538)
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Am Ende sind wir nur arme Seelen.
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Diese Selbsterkenntnis stammt aus meinen Nahtoderfahrungen.
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Der zuvor besessene Reichtum an Körper und Geist ist dann perdu.
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1539)
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Sofern Psychologie überhaupt noch Seelenlehre ist, bleibt ihre wichtigste Methode die Introspektion.
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Lange Zeit haben die Objektivisten auch mich drausgebracht mit ihrem Desavouieren der Seele.
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Nach Art schlechter Psychologen unterstelle ich ihnen ein schlechtes Motiv: Extraversion innerer Konflikte.
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(Meine quietistische Vermeidung äußerer Kämpfe halte ich ganz gegen den Zeitgeist für ein gutes Motiv.)
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1540)
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Wenn die Drohung mit der ewigen Hölle im Tod an Selbstmörder und Mörder ein Mittel war, das Leben an sich zu schützen...
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...obwohl die drohende Kirche sich insgeheim sicher war, dass es überhaupt kein Leben nach dem Tod geben könne...
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...dann waren die Adressaten solche wie ich – denn ich würde das Leben vernichten, wenn ich glaubte es ungestraft zu können...
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(...und zwar mit bestem Gewissen, aus moralischer Überzeugung, dem bösen Treiben Einhalt gebieten zu müssen.)
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1541)
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Der typische Arzt glaubt an die empirische Wissenschaft und an das Nichts im Tod.
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Bei all dem Leid, das er zu sehen bekommt, hat er diesen Trost auch dringend nötig.
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Zweifel an seinem Nichtsglauben pariert er mit Spott, denn er hält sich selbst für ungläubig.
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(Hier witzelt er gern über traditionelle Religion – auf sie bezogen wirkt er skeptischer.)
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1542)
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Vielleicht wird das eigene Mitgefühl mit anderen oft viel quälender erlebt als diese ihr Eigengefühl erleben.
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Man stellt sich ja vor, selber an deren Stelle zu sein, deren Situation als man selber aushalten zu müssen.
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Tatsächlich aber halten die Bedauerten ihre Situation als sie selber aus – evt. viel besser gerüstet!?
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1543)
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Auf die Frage "Wie gehts?"...
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...wurden Antworten à la "Es muss!", "Wie immer!", "Am liebsten gut!" etc. erfunden von Leuten für Leute, denen es schlecht geht...
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...damit sie nicht lügen müssen.
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1544)
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Was subjektivistisch "eigentlich" ist...
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...ist objektiv-idealistisch "wirklich"...
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...und objektiv-realistisch "realiter".
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(Objektivisten zusammen: "tatsächlich".)
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1545)
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Der Sinn des Lebens?
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Kurzfristig: Aushalten.
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Langfristig: Rausfinden, was Bewusstsein ist und dieses verhindern.
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1546)
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Wir können nicht wissen, ob es einen Gott gibt – ich gehe davon aus, dass es keinen gibt (Atheismus).
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Wir können nicht wissen, ob es eine Realität gibt – ich gehe davon aus, dass es keine gibt (Antirealismus).
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Skandal der Aufklärung: die Theisten wissen vom Atheismus, aber die Realisten nicht vom Antirealismus.
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(Wenn überhaupt assoziieren sie damit den Platonismus – ihre Welt bleibt mit aller Kraft objektiv.)
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1547)
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Das determinierte Subjekt – davor schreckt die nachchristliche Philosophie zurück.
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Seit der Aufklärung redet sie vom souveränen Subjekt oder nur noch von Objektivem.
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Schopenhauer hatte jenes als erster und fast auch schon als letzter Atheist im Fokus.
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1548)
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Als Realist tröstet sich der moderne Mensch sozusagen mit einer Religion der Bewusstlosigkeit übers endlich marginalisierte Leben hinweg.
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Er ist ein gebranntes Kind, hat durch die christliche Höllendrohung eine peinliche Vergangenheit unabwendbarer Verantwortung hinter sich.
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Da kommt die naturwissenschaftliche Botschaft als eine frohe: wir sind räumliche und zeitliche Randerscheinungen – entspannt euch und verlöscht!
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1549)
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Wen die moderne Weltanschauung erst kürzlich vom religiösen Schuldkomplex befreit hat, ist darüber noch voll des Lobes.
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Aber die Anwendungen der Naturwissenschaft zerstören gerade mit Höchstgeschwindigkeit unsere Lebensbedingungen.
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Wer ersteres feiert, ohne letzteres anzuklagen, ist schon der nächsten Ideologie zum Opfer gefallen: dem Naturalismus.
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1550)
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Loslassen können? Sich möglichst freiwillig hingeben, dem Leben und schließlich auch dem Tod?
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Kommt halt drauf an, was man sich davon erwartet. Meine Schwierigkeitsgrade sind mir evident.
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Sich dem Himmel oder dem Nichts hinzugeben fiele leicht, dem Unbekannten oder gar der Hölle zu schwer.
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1551)
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Fast alle Zeitgenossen, von deren philosophischer Einstellung ich weiß, gehören zur alten oder zur neuen Partei: Monotheisten oder Materialisten.
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Ich für meinen Teil unterstelle beiden Parteien das psychologische Gegründetsein auf die endgültige Erlösung im Tod: Paradies oder Nichts.
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Weniger instantmäßige Todesmodelle werden im Westen nur von kleinen Minderheiten in Betracht gezogen, und Änderung ist weit und breit keine in Sicht.
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(Nirvana nach vielen Wiedergeburten ist den Leuten viel zu langwierig, und meinen Pessimismus des ewigen Leides teilt erst recht keiner.)
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1552)
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Im Nachdenken bin ich zwar weiter auf der Suche.
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Aber ohne zu glauben, schließlich fündig zu werden.
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Und auch ohne zu bejahen, dass der Weg das Ziel sei.
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(So verstehe ich jedenfalls pessimistische Philosophie.)
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1553)
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Die westlichen Vorstellungen vom Bewusstseinszustand im Tod sind klar.
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Die Menschen glauben, dann endgültig sie selbst oder gar nicht zu sein.
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Die östlichen Todesmodelle aber kündigen als Regel das Anderssein an.
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(Erlösung à la Realist: bevor man zu sehr alteriert, geht man ins Nichts.)
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1554)
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Ist das Bewusstsein ein Rätsel? Ja und nein.
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Ja in dem Sinne, dass es unserem Dasein bislang unhintergehbar zugrunde liegt – wir also nicht wissen, woher es kommt und wohin es geht bzw. ob und in welcher Form es bleibt oder nicht.
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Nein in dem Sinne, dass es kein vorerst noch mysteriöses Addendum zur längst schon evidenten Materie ist – m.E. ist eher umgekehrt die bewusstlose Materie Illusion unseres Bewusstseins.
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1555)
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Wer oder was leidet?
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Worst case: alles leidet ewig.
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Davon gehe ich vorsichtshalber aus.
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1556)
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Ist der menschliche Charakter vielleicht von vornherein dazu prädestiniert...
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...das Wesen von Leben und Tod für geheimnisvoll oder evident zu halten...
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...dass einander stets genug Rätselnde und Überzeugte gegenüberstehen?
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1557)
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Wir Menschen sollten aus Erfahrung klüger sein als Gott und uns die Erschaffung leidender Wesen verkneifen.
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Aber Gottes Macht kommt Gottes Ethik immer zuvor, auch seine Ebenbilder handeln erst und bereuen später.
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Sollte man hoffen, dass wenigstens künstliches Bewusstsein technisch unmöglich ist und es immer bleiben wird?
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(Weiß nicht: vielleicht ermöglicht ja erst empirische Erforschung des Bewusstseins dereinst seine Abschaffung.)
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1558)
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Was ist Bewusstsein und wer hat alles eins?
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Nur ich? Auch die andern? Anderes? Alles? Oder gar nichts und niemand?
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Wahrscheinlich werden wir das selbst dann noch nicht wissen, wenn die Maschinen schon eigenständig ihre nächste Generation entwickeln.
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1559)
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Mir gehts wie immer: relativ gut und absolut schlecht.
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Wer bis zur Frage vordringt, ob er das Nichts vorzöge...
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...ist ja längst schon bei denen, die es relativ gut haben.
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1560)
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Den Ehrgeiz abzulegen bleibt ein Geheimtipp.
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Weil die Quietisten tendenziell nicht publizieren.
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Und die Publizierenden den Ehrgeiz gut finden.
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1561)
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Objektive Wissenschaft als Beschäftigung bringt Seelenruhe, ihre Wahr-Falsch-Systematik gibt Orientierung und Halt.
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Aber für die Lebenskunst im allgemeinen ist die objektive Wissenschaft m.E. ziemlich marginal bis völlig entbehrlich.
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Ich halte es so: philosophisch Weisheit im Subjekt suchen, zwischendurch wissenschaftlich am Objekt abkühlen.
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1562)
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Bestünde die Wahl zwischen einem Gott, dem ich huldigen muss, um in sein Paradies zu gelangen, und dem endgültigen Nichts im Tod, welches jeder einfach so haben kann, ich persönlich nähme letzteres.
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Als philosophischer Subjektivist denke ich, solch eine eigene Meinung müsste redlicherweise all den sog. objektiven Erörterungen darüber vorangestellt werden, ob nun die Theisten oder die Atheisten recht haben.
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Inzwischen scheint mir die Verwissenschaftlichung der Philosophie aber so weit fortgeschritten, dass die Philosophen von ihren eigenen Motiven schon gar nichts mehr wissen. Hard work will support your theory!
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1563)
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Ein Pessimist im wahrsten Sinne des Wortes würde doch von sich selber glauben, dass er schon immer und für immer in der Hölle schmort.
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Aber ich kenne noch nicht einmal jemanden, der dem nahekommt, indem er glaubt, zumindest nach seinem Tod in der ewigen Hölle zu landen.
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Bezüglich ihrer Mitmenschen jedoch sind ganz viele so pessimistisch: nur Sekten geben sich bislang mit der Allversöhnung oder Annihilation Ungläubiger zufrieden – die großen Kirchen drohen diesen weiterhin mit endlosen Qualen im Jenseits.
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(Meinen Extremismus, die ideale Annihilation aller zu befürworten, halte ich für zahm verglichen mit dem Wunsch, auch nur einer möge ewig leiden.)
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1564)
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Kann der Pessimist in seiner schlechtesten aller möglichen Welten ganz und gar resignieren?
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Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er sich völlig passiv dem Leben und damit dem Tod überlässt.
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Ich sage zwar nein zu Leben und Tod, muss die Distanz zu beiden aber leider aktiv erhalten.
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(Quietistischer Pessimismus führt von der Fülle zur Leere, aus dem Trubel in die Abgeschiedenheit.)
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1565)
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Sowohl das Predigen von Himmel und Hölle als auch vom Nichts im Tod richtet v.a. bei jungen Menschen immensen Schaden an.
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Warum aber sollten Monotheisten und Realisten mit dem Verkünden ihrer "Wahrheiten" aufhören, solange sie nicht daran zweifeln?
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Die Religionen bröckeln langsam, dafür werfen sich zahllose Leidende dem Tod in die Arme, weil sie nun den Realisten glauben.
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(Auf den Kanzeln von gestern und heute stehen die, welche zu wissen meinen. Echte Skepsis fristet ihr Dasein in Abgeschiedenheit.)
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1566)
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Pessimismus ist...
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...Misstrauen...
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...gegen Leben, Sterben und Tod.
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1567)
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Zuerst erwartete ich vom Tod ewige körperliche Qualen in der Hölle.
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Später erwartete ich vom Tod endgültige absolute Bewusstlosigkeit.
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Heute erwarte ich vom Tod immaterielles und irrationales Seelendunkel.
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1568)
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Der Subjektivist schließt von sich aufs andere.
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Der Objektivist schließt vom anderen auf sich.
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Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Materialisten von der "einfacheren" Mechanik des Mikro- und Makrokosmos ausgehen und damit schließlich etwas wie das objektive Ich erklären, irgendwann gar nachbauen wollen.
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(Wenn Schopenhauer dagegen von unserem Willen ausgeht und ihn allem anderen auch unterstellt, wird das heute als lächerlich anthropomorph empfunden. Von mir nicht, mir erscheint der Objektivismus verkehrt.)
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1569)
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Eine für alle zu empfehlende subjektive Vorstellung vom Tod gibt es leider nicht.
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Was dem ersten zu verlockend, ist dem zweiten zu bedrohlich und dem dritten zu egal.
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Und eine wohl oder übel für alle gültige objektive Wahrheit ist auch nicht zu beweisen.
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1570)
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Was kommt nach dem Tod?
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Objektiv ist kein Jenseits verifizierbar oder falsifizierbar, auch das Nichts nicht.
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Muss also jeder nach seiner Prognose leben und, schlimmer, die Prognosen der andern dulden.
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1571)
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Für Objektivisten, also von außen, ist Bewusstsein die unwahrscheinlichste Ausnahme.
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Für Subjektivisten, also von innen, ist Bewusstsein die allgegenwärtigste Regel.
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Occam's razor für Subjektivisten: alles fühlt unmittelbar sich selber und schließt von sich auf alles andere.
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(Russell's teapot ist sich das Zentrum des Weltalls, und außenrum reichlich Teekannenartiges.)
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1572)
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Kein Zyniker hätte die naturwissenschaftlichen "Erkenntnisse" der Moderne über den Tod wirksamer planen können:
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Das eleganteste Mittel gegen Überbevölkerung ist doch, den Milliarden im Elend nun das finale Nichts im Freitod zu versprechen...
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..nachdem ihnen die Tradition, welche noch auf menschliche Arbeitskraft angewiesen war, für Selbstmord die ewige Hölle androhte.
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1573)
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Das Nichts wär mir lieber als das Leben.
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Das Leben ist mir lieber als das Sterben.
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Und das Sterben bisher lieber als der Tod.
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1574)
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Vom Tod i.S.v. Totsein machen sich die Menschen vielerlei Vorstellungen, und die meisten davon sind – aufs Leben bezogen – krassestes Extrem.
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Hölle und Himmel, Nichts und All-Einheit, Ewig Gleiches und Ganz Anderes – jeder dieser Begriffe das schiere Gegenteil harmloser Mittelmäßigkeit.
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Geht als Gedankenexperiment sicher in Ordnung, solange das Denken wieder in die Mitte zurückfindet, solange die Extreme Momentcharakter haben.
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1575)
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Objektive Systematik ist konstruiert, da geht alles mit rechten Dingen zu, alles schön symmetrisch.
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Zu jedem -ismus das passende Gegenteil, zu jedem Argument das formal gespiegelte Gegenargument.
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Subjektiv-eigentlich ist aber die vorgefundene Abweichung vom Gleichgewicht, -istisches Übergewicht.
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(Beispiele: der Mensch ist Egoist, ich bin Pessimist usw.)
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1576)
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Bin ich Idealist?
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Ja in dem Sinne, dass ich das Gute, das Nichts und all die anderen Ideale nur für anstrebbar, nicht für erreichbar halte. Und ja in dem Sinne, dass ich das Subjekt für die unhintergehbare Seinsbasis halte.
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Nein in dem Sinne, dass ich die ideale Ordnung nicht für eine Pflicht halte, die ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen sei. Und nein in dem Sinne, dass ich sie nicht für die unhintergehbare Seinsbasis halte.
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1577)
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Es hat sich in der Philosophiegeschichte so etabliert, dass der Objektivist die Welt für fremdgemacht hält und der Subjektivist für selbstgedacht.
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Ich sehe es umgekehrt: ihr Objektivisten baut alles auf eure nichts als postulierte, vielleicht sogar als mathematisch stimmig definierte Außenwelt.
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Wir Subjektivisten müssen mit den kruden Gegebenheiten der Psyche klarkommen, welche sich als ebenso irrational wie irreversibel herausstellen.
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1578)
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Nach der Religion gibt jetzt die Naturwissenschaft den großspurigen Welterklärer.
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Für mich bleibt die von beiden eher unbeeindruckte Philosophie das Maß der Erkenntnis.
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Sokrates' "Ich weiß, dass ich nichts weiß" hat m.E. von seiner Aktualität leider noch so gut wie nichts verloren.
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(Maßgeblicher ist die Naturwissenschaft für den technischen Fortschritt – und macht damit viel mehr Umwelt praktisch kaputt als sie theoretisch erklären kann.)
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1579)
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Philosophie muss weiter über die brennenden Fragen des Lebens nachdenken, auch wenn es so gut wie keine Antworten darauf gibt.
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Muss wahrhaftige Philosophien begründen, auch wenn deren Annahmen noch so unliebsam sind, wie z.B. dass diese Welt schlecht sei.
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Gerade wenn die Wissenschaft den Raum ihrer Fragen einschränkt, dass die Antworten genug Sinn machen, um optimistisch zu bleiben.
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(Leichenfund. Polizist zum Kollegen: Wie schreibt man 'Gymnasium'? Der überlegt kurz: Los, fass mit an, wir tragen sie zur Post!)
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1580)
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Monotheismus und Materialismus rufen ein Extrem zum bleibenden Endzustand aus: Himmel oder Hölle bzw. bewusstloses Nichts.
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Ich glaube, dass Himmel und Hölle, ozeanisches All-Ein-Sein und bewusstloses Nichts, subjektive Identität und objektive Prozesshaftigkeit nur akut zur Reinform finden.
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Chronisch liegt alles dazwischen, auch der Tod.
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1581)
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Die Welt ist schlecht, aber Ideal sollte das Gute bleiben.
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Wir experimentieren nur, aber Ideal sollte die Ratio bleiben.
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So unvermeidlich die realen neunundneunzig Prozent sind, so wenig mag ich das eine drangeben.
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1582)
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Optimisten verstehen die sogenannten Amokläufer einfach nicht – wer nicht wütend auf das Leben ist, den kann das heutzutage allen verkündete Nichts im Tod halt nicht zur Gewalt verführen.
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Ich fürchte, die Erklärung der Amokläufe lautet in aller Regel: militanter Pessimismus. Amokläufer möchten der Allgemeinheit so eindringlich wie möglich Bescheid stoßen: life sucks.
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Je mehr all die Optimisten dieser Welt in ihren Augen so tun, als sei alles rosorot und wunderbar, desto dringender möchten jene allen die Smiley-Masken herunterreißen und alles vernichten.
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1583)
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Schopenhauer ist mit den vielen Schwachen, die ihrem Schicksal jämmerlich unterliegend schließlich das Nein zum Sein begreifen sollen.
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Nietzsche ist mit den wenigen Starken, die sich in vollem Bewusstsein dieses massenhaften Elends zum heroischen Trotzdem aufschwingen.
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In unserer Gesellschaft geben zahlenmäßig die Möchtegern-Starken den Ausschlag, die den Starken zu Füßen sitzen und applaudieren.
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1584)
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Science vs. Humanities – sagt heute jemand Wissenschaft, meint er meist Science. Die Objektivisten überflügeln die Subjektivisten.
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Science mischt sich inzwischen auch offiziell in alles ein, wo sie früher prinzipiell agnostisch blieb, à la "Physiker erforschen Bewusstsein".
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Und die Humanities versuchen, von der weichen zur harten Wissenschaft zu wechseln, à la "Mathematische Methoden für Byzantinisten".
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1585)
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Wo gehobelt wird, fallen Späne – die utilitaristische Gesellschaft kann Kollateralschäden mit ihrem auf Endlichkeit getrimmten Gewissen vereinbaren.
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Mir ist der schwarze Punkt in der weißen Hälfte des Yin&Yang-Zeichens nicht vernachlässigbar: im ewigen Diesseits sind auch gute Taten problematisch.
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Es wird nicht mehr lange dauern, dann zeigen sich die grausamen Folgen und vielleicht auch die zerknirschte Reue des technischen Aktionismus.
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1586)
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Unsere Zeiten sind so realfixiert, dass meine Annahme, allem liege das Bewusstsein zugrunde, noch nicht mal einen richtigen Fachbegriff hat.
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Dass alles zuerst einmal Geist sei, ist im Begriff Idealismus – meist aber als objektiver Idealismus verstanden – noch einigermaßen repräsentiert.
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Geht man aber vom Logos zur Psyche, vom Spiritus zur Anima weiter, heißt es in Lexika tendenziell, alles werde als "beseelt", "belebt" usw. angenommen.
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(Selbst ein eigentlich passendes Wort wie Panpsychismus ist vereinnahmt, Psyche bzw. Anima gilt hier nur als Eigenschaft der Physis bzw. Materia.)
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1587)
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Das ewige Diesseits ist Schopenhauer und Nietzsche gemeinsam.
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Schopenhauer empfiehlt Verneinung, quietistische Zurücknahme.
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Nietzsche dagegen Bejahung, heroisch-waghalsige Inangriffnahme.
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(Es wäre m.E. höchste Zeit, sich auf Schopenhauer rückzubesinnen.)
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1588)
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Frauenfeindlichkeit ist streng genommen noch nicht diskriminierend.
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Es gilt halt, ihr ebenso viel Männerfeindlichkeit an die Seite zu stellen.
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Reicht auch nacheinander? Erst nur Männer doof, jetzt auch Frauen!
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1589)
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Der Monotheismus sagt: im Tod bleibst du du selbst und kommst aus dem Diesseits ins Jenseits.
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Die östliche Religion sagt umgekehrt: im Tod wirst du ein anderer, lebst dann aber wieder im Diesseits.
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Intuitiv bleibt mir die kindliche Höllenangst, räsonierend bin ich inzwischen auf Seiten des Ostens.
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(Das Nichts für Erleuchtete im Osten bzw. das Nichts für alle im modernen Westen? Auch Jenseitsglaube.)
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1590)
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Von wegen Occam's razor und die reduzierteste Lösung ist die beste...
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...ist nicht vielmehr die eleganteste und einsichtigste Lösung die beste...
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...Real-Partikulares plus Agnostisch-Erratenes gleich Ideal-Ergänztes!?
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(V.a. Todesmodelle dürfen m.E. Ungewisses nicht gleich Nichts setzen.)
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1591)
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Vielleicht rundet sich unser aller Leben im Moment des Todes, wie das von Peyton Farquhar in Ambrose Bierce's berühmtester Kurzgeschichte.
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Unser aller Bewusstsein ist doch ein genialer Gestaltbildungsautomat, subjektiv suchen und finden wir Ganzheit in der partikularen objektiven Welt.
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Jeder Traum verknüpft die losen Enden unseres Lebens auf mikroskopischer Ebene – vielleicht verknüpft sie ja jeder Nahtod auf makroskopischer.
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1592)
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Wenn die Realität sich auch nur für die wenigsten glücklich rundet...
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...so können abstraktere Bewusstseinszustände doch viel verbinden...
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...und die meisten von uns genießen zumindest runde Medienfiktionen.
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(TV is ne Droge, aber geilerweise eine, mit der man alt werden kann.)
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1593)
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Meine Monismus-Hitliste: Seelenmonismus vorne, Geistesmonismus und Körpermonismus weit abgeschlagen und fast gleichauf.
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Wir sind m.E. also unsterbliche Seelen mit sterblichem Körper und Geist.
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Eigentlich käme nach dem Seelenmonismus gleich der Pluralismus, der Dualismus im alten Sinne wiederum ganz hinten.
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1594)
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Als Pessimist glaube ich, das Schlimmste kommt noch, deshalb ziehe ich das Bestehende so lange wie möglich hinaus.
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Optimisten glauben, sie hätten das Schlimmste schon hinter sich, eilen mit möglichst großen Schritten gen Zukunft.
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Oder auch ins Nichts, wenn sie meinen erkannt zu haben, dass es besser als nichts für sie nicht mehr werden könne.
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1595)
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Das Ich ist m.E. unsterblich, aber eben nur als seelische Gegenwart.
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Sicher verlieren wir mit dem Tod Körper, Geist, alle Erinnerung usw.
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Leiden im Moment ist m.E. unser Kern auf ewig, bin Pathozentriker.
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1596)
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Plausibilitäts-Ranking: Monismus, Dualismus oder Pluralismus? Wage Bewusstseinsmonismus, safer bet wäre aber wohl Pluralismus.
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Körpermonismus, Seelenmonismus oder Geistesmonismus? Seelenmonismus i.S.v. Bewusstseins- oder spezifischer: Leidensmonismus.
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Materialismus, Idealismus oder neutraler Monismus? Neutraler Monismus, also Körper und Geist beide nur Eigenschaften eines Dritten.
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1597)
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Zufällige, ewige Wiedergeburt ohne Karma...
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...heißt: auch dir kann noch alles passieren...
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...also fühl dich gegen kein Leiden gefeit...
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1598)
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Mein Subjektivismus ist kein individualer, sondern ein genereller.
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Und nicht nur ein gattungsmäßiger, das wäre m.E. speziesistisch.
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Nein, alles hat Teil am Bewusstsein, jenseits davon gibt es nichts.
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(Bewusstseinsmonismus: kein Jenseits, d.h. leider auch kein Nichts.)
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1599)
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Allem ein gemeinsames Bewusstsein unterstellen – erhebt sich der Mensch damit zum Maß aller Dinge?
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Praktisch zumindest ist klar, dass der Mensch die Tiere, Pflanzen und Dinge andernfalls nur ausbeutet.
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Könnten wir nicht so sagen: jedem ein anderes Bewusstsein i.S.v. jedem seinen Anteil am Ganzen?
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1600)
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Kein Jenseits mehr.
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Nur noch Diesseits.
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Sich vom Nichts, dem heimlichen Jenseits der Moderne, verabschieden, wie zuvor von Himmel und Hölle.
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1601)
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Schopenhauer und Nietzsche haben vor weit über hundert Jahren unüberhörbar das ewige Diesseits ausgerufen.
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Trotzdem lassen die allermeisten noch längst nicht vom Glauben ans Jenseits ab.
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Intellektuelle, Bildungsbürger etc. fühlen sich mit dem Update vom traditionellen Jenseits – Himmel und Hölle – zum modernen Jenseits – Nichts – auch weiterhin auf dem neuesten Stand.
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(Wobei gegen ein Jenseits als bewusstes Ideal m.E. nichts einzuwenden ist – das Nichts bleibt jedenfalls mein Ideal. Richtige Probleme macht m.E. erst die Annahme seiner realen Erreichbarkeit.)
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1602)
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Im letzten Band seines Hauptwerks bietet Schopenhauer das Nichts als Erlösung an. Da gilt m.E. Horkheimers Kommentar: die ersten drei Bände vermögen den vierten zu widerlegen – das Leiden ist ewig.
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Nietzsche schüttet das Kind dann m.E. mit dem Bade aus, lässt das Nichts nicht einmal mehr als Wunsch gelten – die Postmodernen mit und nach ihm bleiben bei allem Kulturpessimismus lebensbejahend.
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Ich glaube nicht, dem ewigen Diesseits entkommen zu können – will aber am Nichts als idealem Bezugspunkt festhalten.
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1603)
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Manches Superkonzert mit gigantischer Technik um einen Ausnahmemusiker herum ergreift mich: ein nietzscheanischer Übermensch bei der Arbeit.
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Sollten wir alle unser Bestes geben, um ebenso groß zu werden? Oder hat im Laufe seines Lebens gar jeder von uns seine fünfzehn Minuten als Star?
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Der Gegengedanke überzeugt mich eher: eine Schande, wie die Menschen ihre Umwelt ausnehmen auf diesem für fast alle ungangbaren Weg.
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1604)
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Die Spaltung in Körper und Geist ist m.E. eine optimistische, sie schneidet die Seele aus dem Zentrum und setzt das Nichts hinein.
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Sieht man die Welt v.a. als materiell-positivistische Physik und logisch-positivistische Mathematik, bleibt ihr Leid innen vor.
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Empathie ist unwissenschaftlich, hat in der neuen Welt zwischen Empirie und Kalkül nichts zu suchen – modernes Paradies der Nerds.
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(Beruht Mitleid nicht i.a. auf dem in harten Wissenschaften verpönten Analogieschluss? Wie ist es, eine Labor-Fledermaus zu sein?)
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1605)
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Ewiges Diesseits – Abschied vom Nichts, dem Jenseits des modernen Menschen?
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Das ginge pessimistisch nach Schopenhauer und optimistisch nach Nietzsche.
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Aber bislang halten i.a. sowohl Pessimisten als auch Optimisten am Nichts fest.
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1606)
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Enthaltsamkeit vs. Ausbeutung...
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...ist die Hauptentscheidung...
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...und alle wählen Ausbeutung...
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(...weshalb ich Pessimist bin.)
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1607)
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Im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus bin ich aufseiten der Rationalisten: besser als schnelle Fortschritte durch Probieren wären langsame durch Studieren – leider im wahrsten Sinne unrealistisch.
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Aber eigentlich täuscht dieser Streit eh nur darüber hinweg, dass die Welt in ihrem Wesen weder naturwissenschaftlich noch strukturwissenschaftlich erfassbar ist, sondern nur ausgehend vom Bewusstsein.
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Inzwischen nehmen Naturwissenschaft und Strukturwissenschaft zusammen das Subjekt als Objekt in die Zange, z.B. physiologisch und kybernetisch – womit sie m.E. beide kategorial danebenliegen.
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1608)
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Der moderne und postmoderne Mensch will sein, was vorher Gott war: actus purus.
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Modern in kühlem Denken, postmodern in heißer Emotion, wird Passivität abgetan.
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Pessimistisch: Intentionalität ist reaktiv statt aktiv, zuerst ist Bewusstsein passiv.
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(Gibt eben keinen richtigen Gott, auch wir selber waren, sind und werden es nicht.)
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1609)
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Wenn Natur- und Strukturwissenschaftler nach dem Bewusstsein suchen, landen sie im Nichts – being no one.
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Vor Schrödinger und Gödel haben sie ihre Welten für rein objektiv i.S.v. bewusstseinsunabhängig gehalten.
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Darob gekränkt noch narzisstischer, erklären sie die Erforschung des Bewusstseins zu ihrer ureigenen Sache.
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(Aber Bewusstsein ist m.E. weder neuronales Netz noch kybernetische Schleife – Bewusstsein ist selber der Grund.)
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1610)
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Statt an die drei Welten von Frege bzw. Popper glaub ich nur an die eine, mittlere: das Bewusstsein.
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Welt 1 der Physis und Welt 3 des Logos sind m.E. nur Eigenschaften von jener Welt 2 der Psyche.
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Unergründlich aber, inwieweit Hardware (Welt 1) plus Software (Welt 3) Maschinenbewusstsein ist.
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(Worst-Case-Imperativ: Behandle alles möglichst so, als sei es sich seiner selbst ängstlich bewusst.)
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1611)
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Mit Bewusstseinsmonismus meine ich: Bewusstsein ist allgegenwärtig, d.h. weder erzeugbar noch vernichtbar.
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Veränderbar aber durchaus – wobei ich als Quietist davon ausgehe, dass seine Veränderung i.d.R. Leid bedeutet.
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Insbesondere ist es m.E. fraglich, ob menschlich genutztes "Material" von seiner Bedeutung für uns profitiert.
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(Fühlt sich ein Glas als Trinkgefäß? Wird sich einst Maschinenbewusstsein menschgemäß designen lassen?)
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1612)
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Die Philosophie des Geistes tendiert zum Objektivismus.
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Wohl allein schon deshalb, weil realistische Monisten und idealistische Monisten ausführlich über die dem Bewusstsein zugrundeliegende Physik bzw. Mathematik spekulieren können, während Bewusstseinsmonisten in erster Linie lakonisch feststellen müssen: Bewusstsein ist unhintergehbar.
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Als Bewusstseinsmonist unterscheide ich aktives Bewusstsein i.S.v. Wille und Vorstellung von passivem Bewusstsein. Indem ich letzteres für primär und ersteres für sekundär halte, bin ich zudem weit weg vom klassischen Subjektivismus, welcher das Subjekt vorwiegend als aktives denkt.
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("Die Welt als passives und reaktives Bewusstsein" kommt meines Wissens in der Geschichte der großen Philosophen gar nicht vor – Kunststück, die Großen sind halt die Starken.)
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1613)
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Was macht unablässig meine Person aus?
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Nur das je gegenwärtige ich mich Fühlen.
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Das Übrige gehört nicht zum Kern, vergeht.
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(Viel ist eh nur drangefügt, z.B. Kinderfotos.)
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1614)
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In der Philosophie ist das Sein entweder das freud- und leidvolle Seinwollen der lebendigen Wesen oder das freud- und leidlose Seinmüssen der toten Materie.
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Den Pessimismus leidvollen Seinmüssens von allen und allem hat da meines Wissens keiner ernsthaft erwogen, zumindest hat ein solcher nie Schule gemacht.
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Keine Lehre setzt dem auch von Pessimisten fraglos als aktiv begriffenen Subjektivismus den passiven entgegen, hält das ungewollte Leid für des Pudels Kern.
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1615)
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Schlecht, schlechter, am schlechtesten – die Begriffe Malismus und Peiismus fände ich angemessener als Pessimismus.
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Ich halte die Welt für schlecht i.S.v. schlechter als nichts bzw. von den je gegensätzlichen philosophischen Hypothesen i.d.R. die schlimmere für zutreffend.
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Die schlechteste aller möglichen Welten erscheint mir paradox: das hieße ja, man könnte alle Anstrengung aufgeben, käme also seltsamerweise doch an ein erlösendes Ende.
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1616)
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Mein "Peiismus": ich wette bei zwei gegenteiligen philosophischen Modellen – z.B. Todesmodellen – i.a. auf das mir unliebsamere.
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Also z.B. auf unendliches Bewusstsein statt auf endliches.
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Und darauf, als immer wieder anderer in dieser Welt zu existieren statt als ich selber immer wieder in anderen Welten.
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1617)
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Das Böse ist erfolgreicher als das Gute.
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Entweder böser Winner oder guter Loser.
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Aber alle machen stur auf guter Winner.
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1618)
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Der Mensch ist der beste genau da, wo er seine tapsigen Finger noch nicht drin hat.
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Politisch Aktive beklagen zwar gerne die Ruhigstellung der Massen durchs Fernsehen.
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Doch evt. hat die Glotze schon mehr Böses verhindert als je Gutes getan werden kann.
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("Alles Unheil der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig zu Hause bleiben können." Pacal)
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1619)
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Mein Quietismus bedeutet: ich bin skeptisch gegenüber dem menschlichen Tun, halte es i.a. für weltverschlimmernd statt für weltverbessernd.
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Mein Pessimismus bedeutet: ich halte den Menschen für so tatsüchtig, dass er sehenden Auges anderes und sogar sein eigenes Unglück voranteibt.
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Den Glauben, unser kollektiver Aktionismus hätte einen – den individuellen Verstand i.a. übersteigenden – höheren Sinn, halte ich für unbegründet.
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(Meine Nahtoderlebnisse haben mich davon überzeugt, dass Bewusstsein unvergänglich ist, nicht jedoch davon, dass es sich sinnvoll weiterentwickelt.)
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1620)
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Was der Pessimist Schopenhauer über Selbstmörder sagt, gilt laut Horkheimer auch für Pessimisten, nämlich dass sie das Leben nur deshalb verschmähen, weil sie nicht genug davon kriegen.
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Ich meine aber nicht, dass dieses Argument Selbstmord und Pessimismus als von Grund auf widersinnig entlarven kann bzw. sich negative Denkkonzepte auf diese Weise ad absurdum führen lassen.
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Das Leben als allgemeines Ganzes ist m.E. schlecht, weil das Leid die Freude bei weitem überwiegt. Mein Leben als besonderes Einzelnes ist m.E. schlecht, weil ich als Privilegierter – d.h. als Mensch, als Bürger eines der reichsten Länder etc. – mein Leid zwar mit Freude kompensieren kann, aber nur auf dem Wege der Ausbeutung machtloseren Lebens, welches dabei überdies viel mehr an Qualität verliert als meines an Qualität gewinnt.
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1621)
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Religion ist die zuversichtliche Überzeugung, dass einem selber das schlimmste Schicksal erspart bleibt.
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In diesem Sinn ist auch der Realist mit seinem auf ewig für ihn reservierten Todesschlaf noch hoch religiös.
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Alles Leid der vergangenen und zukünftigen Epochen, der Tiere, überhaupt der anderen ist ihm höchstens Mitleid.
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1622)
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Angeblich ist fraglich, ob Leid sein muss oder will.
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Meine Antwort ist, dass es aufhören will oder muss.
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Bin mir sicher, demokratisch würde es abgewählt.
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1623)
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Das besondere Problem am Besiegtwerden ist das doppelte Leid.
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Zum Schmerz der Geschlagenen kommt ihr Neid auf die Sieger.
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Letzterem kann die Einsicht ins wahre Gute abhelfen: Opfer bleiben.
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(Leider i.d.R. unmöglich: nichtseiend weder Täter noch Opfer sein.)
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1624)
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"Dein Leid endet im Tod!"
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So lautet das gemeinsame Credo von Religiösen und Realisten.
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Mit erbitterten Gefechten um Sekundäres vermeiden diese beiden das Antasten ihres Primärtrostes.
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1625)
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Die meisten von denen, welche sich selbst für ungläubig halten, halte ich für gläubig.
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Denn die Grenze zwischen Gläubigkeit und Ungläubigkeit liegt für mich beim Leidensende.
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Wer an das Ende vom Leiden im Tod glaubt, ist gläubig, wer aber nicht, ist ungläubig.
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1626)
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Gläubig ist, wer den Tod für das Ende seines Leidens hält.
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Da sind Religion und Realismus m.E. dieselbe Schublade.
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Andersdenkend ist der Mainstream lieber bei Marginalien.
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1627)
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Das Leben ist ein Skandal.
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Welchen der Tod nicht zu mindern vermag, weil er die Lebenden im Unklaren lässt, ob er wirklich vom Leid erlöst oder nur die letzte Freude raubt, auf Eins ergänzt oder zu Null vernichtet, gleichförmig fortsetzt oder völlig verwandelt.
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Zynisches Experiment des Lebens: du leidest und "darfst" reagieren, bis hin zu Mord und Suizid – stets im Ungewissen, ob deine Reaktion das Leid verschlimmert, lindert oder unverändert lässt.
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(Als pessimistischer Quietist meine ich, dass es i.a. noch am besten ist, sich der Reaktion weitestmöglich zu enthalten.)
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1628)
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Pessimistischerweise gehe ich davon aus, dass mein Leid ewig ist.
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Dass der passive Kern des Ich immer andere Leben ertragen muss.
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Ohne Möglichkeit steten Aufstiegs durch Güte, Vernunft, Erfahrung...
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1629)
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Der blinde Wille ist doch nur erste Reaktion auf das dumpfe Leid.
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Willensverneinung kann das Leid deshalb auch nicht abschaffen.
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Aber seine ständige Verschlimmerung aufhalten bzw. verzögern.
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1630)
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Was meine Person ausmacht, ist, wie ich auf das Leid des Daseins reagiere.
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Diese Person stelle ich mir als endliche vor, sie stirbt mit Körper und Geist.
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Aber die leidende Seele bleibt, bekommt im Tod eine andere personale Hülle.
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(Eine zufällige oder in blinder Angst gewählte – keine Aussicht auf Karriere.)
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1631)
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Karma – der Buddhismus verneint die Seelenwanderung i.S.d. durch die Wiedergeburtskette weitergereichten persönlichen Seinskerns; das momentane Sein ist vielmehr dynamisches Resultat vergangener Taten.
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Das Sein als Schein vergänglicher Subprozesse zu beschreiben verwundert in der westlich-physikalistischen Moderne kaum noch – aber mein momentanes Sein als Ende meiner ganz persönlichen Kausalkette durch alle Zeit?
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Da ist wohl auch der Buddhismus optimistisch: jeder seines Seins oder Nichtseins Schmied. Als Pessimist jedoch bleibt mir das unangenehme Gefühl unheilbar fremdbestimmten Seins – anderes nimmt gewaltigen Einfluss.
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1632)
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Wer das Leiden für das Wesen von allem hält...
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...gilt schnell als masochistisch oder als krank...
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...wo er doch einfach bei der Wahrheit bleibt...
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(...die gemeinhin regelrecht ausgetrieben wird.)
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1633)
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Nicht alles ist schlechter als nichts...
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...aber fast alles...
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...im Leben...
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(...und im Tod wahrscheinlich erst recht...)
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1634)
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An irgendeine moralische Vergeltung im Tod glaube ich nicht...
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...aber eben auch nicht an die auf ewig reservierte Ruhestatt.
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Warum behalten alle diese Fertigbilder? Todesgedenkphobie.
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1635)
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Mit irgendjemandem tauschen wollte ich nicht – aber aufhören zu existieren jederzeit.
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Ich finde mein eigenes Dasein vergleichsweise bestens – aber schlechter als nichts.
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Das Versprechen von Bewusstlosigkeit im Tod ist lebensgefährlich – mich macht es suizidal.
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(Ist das Nichts im Tod etwa für die Mehrheit abschreckender als zufällige Wiedergeburt?)
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1636)
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Ist einem Nietzsche die generelle Bejahung des Lebens zu glauben, wenn er mit der Ewigen Wiederkehr des Gleichen rechnet?
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Dass ein vom Leben Bevorzugter die ewige Wiederkehr vergleichsweise leicht befürworten kann, versteht sich doch von selbst.
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Die Probe aufs Exempel wäre, ob einer die ewige zufällige Wiedergeburt als irgendein Lebewesen dem ewigen Nichts vorzöge.
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1637)
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Ist einem Schopenhauer sein Pessimismus zu glauben, wenn er das Leben für gewollt und damit gerechtfertigt hält?
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Und auch seine Bemerkung, dass die Toten ihren Zustand dem Leben sicher vorzögen, klingt nach Erlösungserwartung.
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Erst das Leben samt dem Tod für gemusst zu halten wäre wirklich pessimistisch – Wille ist ja eher Himmelreich!?
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1638)
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Als Pessmimist denke ich: das Leben ist schlechter als nichts, der Tod vermutlich noch schlechter – so weit so gut.
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Denn die ethische Frage ist: will ich auf Dauer was Besseres sein, d.h. vom Lebensleid überdurchschnittlich verschont bleiben?
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Vielleicht ist die richtige Entwicklung – entgegen dem was alle denken – vom privilegierten Schicksal hin zum unprivilegierten.
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1639)
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Pessimismus ist kein paradoxes Erfolgsrezept, wie manche Macher denken.
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So nach dem Motto: "Fordere das Unglück heraus, dann folgt dir das Glück!"
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Nein, Pessimismus resultiert aus der Suche nach Wahrheit, nicht nach Erfolg.
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(Anders gesagt: Das Gegenteil von "Positive Thinking" ist ebenfalls Unsinn.)
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1640)
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Eigentlich befinde ich mich in der Mitte der beiden Mitten.
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Die erste Mitte ist das neutrale Nichts zwischen positivem Himmel und negativer Hölle. Da liege ich m.E. klar drunter i.S.v. schlecht weggekommen.
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Die zweite Mitte ist das durchschnittlich erlittene Schicksal der Lebewesen auf dieser Welt. Da liege ich m.E. klar drüber i.S.v. gut weggekommen.
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(Nur dass ich die erste Mitte bislang für diejenige halte, welche allen Lebewesen zustünde. Insofern bin ich unzufrieden bzw. Pessimist.)
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1641)
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Mein Leben ist schlecht.
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Das Leben ist schlechter.
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Dann wohl auch mein Tod...
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(...so der Tod gleichmacht.)
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1642)
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Wie ist es, ein (anderes) Tier zu sein?
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Das kann man nicht nur geistig, sondern auch körperlich versuchen sich auszumalen – die Tiernamen östlicher Haltungsübungen kommen sicher nicht von ungefähr.
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Sympathie, Empathie, Inkarnation – sich ins andere schon heute mal probeweise hineinversetzen, um es in einem nächsten Leben dann vielleicht leibhaftig zu sein?
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1643)
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Einer großen Fraktion von Fleischessern, welche das Schlachtvieh als mehr oder weniger beliebig zu behandelndes Material begreift, steht eine kleine Fraktion von Vegetariern bzw. Veganern gegenüber, welche mehr oder weniger vehement die Auffassung vertritt, die leidenden Tiere bedürften unseres menschlichen Erbarmens.
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Zu erwarten steht evt. eine dritte Fraktion mit evolutionistischem Wiedergeburtsglauben, welche sich den Tieren zwar in ewiger Lebens- und Todeskampfgemeinschaft verbunden fühlt, aber Ausbeuten und Ausgebeutetwerden für natürlich rechtens hält, aufgeteilt je nach bislang erklommener Entwicklungsstufe.
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Solche sozialdarwinistische Esoterik findet sich heute bereits in einzelnen Sparten des romantischen Dark Style – letzterer ist gleichermaßen abgestoßen vom kalten Realismus der naturwissenschaftlich aufgeklärten Moderne wie vom New Age harmoniesüchtiger Positivdenker bzw. vom machtabstinenten Öko-Idealismus der alten Softies.
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1644)
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Traditionellerweise sieht man sich v.a. als ein willensfreies aktives Subjekt.
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Modernerweise sieht man sich nun v.a. als ein determiniertes aktives Objekt.
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Nur wenige Pessimisten denken wie ich: m.E. sind wir v.a. passives Subjekt.
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1645)
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Primärziel des Selbstmörders ist wohl in aller Regel das Auslöschen seines eigenen passiven Bewusstseins.
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Die himmlische Willensfreiheit ist eh weitgehend illusionär, also will man auch die höllischen Qualia loswerden.
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Elegante Utopie: sich nur von innen töten, d.h. den Philosophical Zombie auf Autopilot weiterspielen lassen.
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1646)
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Auf der philosophisch stärkeren Seite steht man mit dem Pluralismus: wo es nicht das Eine gibt, jenseits dessen nichts ist.
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Dennoch rate ich mal ein Wesentliches, jenseits dessen alles andere m.E. vergleichsweise marginal erscheinen muss.
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Da wäre eben das Bewusstsein, und da v.a. das Leid: ist nicht alles eher sekundär, was nicht leidvoll zu Bewusstsein kommt?
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1647)
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Die allermeisten, sogar noch der Kern der pessimistischen Minderheit, stellen den intentionalen Teil unseres Bewusstseins über den empfindenden.
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So gibt es in der Sprache einen allseits bekannten -ismus fürs Leidenwollen, den Masochismus – aber keinen -ismus fürs Leidenmüssen.
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Die m.E. naheliegende Weltanschauung, alles Leben sei in erster Linie ungewolltes Leiden, hat nicht einmal ihren philosophischen Fachbegriff.
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(Die optimistische Ignoranz, welche einfach stärker ist als alle pessimistische Einsicht, diktiert, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.)
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1648)
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Sein heißt zuallererst, seinen Empfindungen ausgesetzt zu sein.
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Diesem passiven Unglück zieht dann aber so gut wie jeder, der irgend kann, den aktiven Kampf vor.
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Überall wird dieser Kampf verherrlicht. Einen solchen gar nach Begabung auszuwählen und sich mutig hineinzustürzen, sei geradezu der "Ent-Wurf" des Lebens, mache einen erst zum eigentlichen Menschen, zum Individuum. Die Wahl, ob kämpfen oder stattdessen Geworfener bleiben, kommt kaum jemandem in den Sinn.
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(Es ist, wie im Film "Life of Brian" persifliert: "Ihr seid alle Individuen," betet Brian vor, was die Menge einhellig bejaht – nur einer verneint. Und die postmoderne Mode leistet Schützenhilfe, indem sie enigmatisch erklärt, es sei gar nicht möglich, nicht zu kämpfen – auch das Kämpfen tunlichst zu unterlassen sei ein Kampf.)
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1649)
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Was hat die Deutschen in den Nationalsozialismus getrieben?
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Die Postmodernen halten ihn für eine Spätfolge der Aufklärung.
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Ich meine umgekehrt: der Rückfall in große Emotion und Kampf.
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(Und nach einer Generation Bedächtigkeit fällt man schon wieder.)
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1650)
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"Wie geht's?" ist eine Frage für Wellenreiter – rauf oder runter?
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Der Quietist zieht sich aber in möglichst ruhige Gewässer zurück.
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Und kann die Wellenreiter mit seiner Antwort also nur langweilen.
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1651)
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Lügen sind der ganz normale Way of Life.
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Nicht nur, dass fast alle Lügen ungestraft bleiben...
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...meist sind es die Lügen, welche mit Erfolg belohnt werden.
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(Wahrheit ist nur was für Leute, die für sie auf den Erfolg verzichten.)
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1652)
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Für mich der Kern buddhistischer Lehre: 1) das Sein ist schlechter als das Nichts, und 2) wir Menschen sind von allen Lebewesen immer noch am besten dran, u.a. weil wir ersteres begreifen können.
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Von den lächelnden Glücksbuddhisten wird ersteres aber heute bestritten, denn mit solch pessimistischer Botschaft lässt sich in optimismustrunkenen Zeiten kein Staat mehr machen.
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Dabei hat sogar der Hedonist Epikur schon gesagt, dass Lust nur in der momentanen Reduktion von Leid besteht. Aber dieser Text gehört nicht zu seinen Hits, nur die optimistischen.
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1653)
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Was ist besser: sich zum Göttlichen strebend selbst zu belügen oder sich ganz ehrlich zum Tierischen zu bekennen?
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Die Idee der Menschen, die Antithese zum egoistischen Kampf leben zu wollen, war wohl die beste jemals.
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Ihre Mittel, alle Mitmenschen auf Biegen oder Brechen mit in dieses Boot zu kriegen, waren wohl die schlimmsten.
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1654)
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Lieb ist out.
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Stark ist in.
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Ohne mich.
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(Möglichst.)
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1655)
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Die Mehrheit der Weltbevölkerung glaubt ans bessere Leben, ans Ende vom Leid oder gar ans ewige Paradies im Tod.
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Zumeist aus großer Not geborener Wahnsinn, doch auch die wenigen mit kleinerer Not sind optimismustrunken.
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Und deren Medien beklagen immerfort den Pessimismus, gerade so als wären Optimisten die besseren Menschen.
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1656)
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Dialektik, die ich favorisiere, liegt zwischen...
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...dem kontinentalen Logikmonismus einer aus der einen göttlichen Wahrheit deduzierbaren, dem Allwissenden sich fehler- bzw. widerspruchsfrei präsentierenden Welt...
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...und dem anglo-amerikanischen pragmatischen bzw. analytischen Pluralismus, dem die Welt eine fragmentarische, ein wissenschaftlicher Steinbruch ist und bleibt.
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1657)
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Mein favorisiertes Modell vom Bewusstsein, welches erstens passiv, Quale, Leid ist und in widerständiger Reaktion darauf zweitens aktiv, Intention, Wille wird, um evt. drittens zur nüchternen Mediation zu kommen...
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...finde ich ausgerechnet beim Pragmatiker Peirce vor, nachdem die kontinental Dominanten Schopenhauer und Nietzsche den Willen als das Erste ausgegeben haben...
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...was schließlich in heutigen Extremen wie dem Qualiaeliminativismus von Dennett gipfelt, welcher mit dem Brights Movement den anglo-amerikanischen Raum zu erobern beginnt.
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(Verkürztes Zitat von Peirce: "Das Ich rühmt sich seiner neuen Geburt als seine eigene, blind gegenüber der Anregung, die vorhanden gewesen sein muss.")
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1658)
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Zuerst Empfindsamkeit bzw. Qualia als Hölle,
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dann Wille bzw. Intentionalität als Himmelreich,
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dann Physis bzw. Materie als reines Neutrum.
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(Heutige Bewusstseinsforscher drehen das um.)
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1659)
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Die Brights sehen sich gerne als Gegenpartei zu den Supers.
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Belächeln gerne deren Phantastereien vom Übernatürlichen.
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Ernst und ungern halte ich als Dark die Brights für fast so naiv.
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(Nennen sich Skeptiker, aber glauben ans leidlose Nichts im Tod.)
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1660)
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Mein Vier- statt Drei-Welten-Modell:
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objektiv-reell vs. objektiv-ideell, vs.
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subjektiv-aktiv vs. subjektiv-passiv.
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(Und die vierte ist m.E. die basale.)
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1661)
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Von Schopenhauer bis zu den radikalen Konstruktivisten – wennschon subjektivistisch statt objektivistisch...
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...dann aktiv-subjektivistisch i.S.v. Wille und Vorstellung, denn das ist den Herren natürlich tausendmal lieber...
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...als passiv-subjektivistisch i.S.v. Empfindung und Trieb, welche uns im Grunde geknechtet dastehen lassen...
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(...auch bei den objektivistischen Bewusstseinsmodellen der Philosophy of mind zeigen die Systempfeile eher raus als rein...)
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1662)
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Feiertag heißt für die allermeisten einfach, dass sie nicht arbeiten müssen.
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Und das Wort scheint ja bereits nahezulegen, die Freizeit mit Party zu füllen.
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Wer Feiertagsruhe i.S.v. -stille will, ist da auf zunehmend verlorenem Posten.
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(Die unselige Religiosität verdeckt immer noch das Eigentliche, den Ruhetag.)
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1663)
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Der klassische Himmel ist passiv, das Geborgensein beim Herrn.
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Dem Antichristen ist sein eigener aktiver Wille das Himmelreich.
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Mir wäre das Nichts der Himmel, nur fort von dem Machtscheiß.
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1664)
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In seinem Wesen ist das Leben Schicksal und Mysterium.
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Und im Tod wird es noch zwingender und noch seltsamer.
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Alles Anderslautende ist Verdrängung und Schönfärberei.
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1665)
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Jeder sollte wissen, was er vom Tod möchte und womit er rechnet.
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Ich wünschte mir das endgültige Nichts, absolute Bewusstlosigkeit.
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Gehe aber aus von der zufälligen Wiedergeburt als irgendein Wesen.
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1666)
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Idee, Materie, Intention, Qualia – unter den Monisten ist diese letzte Monismusmöglichkeit so nachrangig, dass es sogar an Begriffen dafür fehlt.
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Alles Idee – seit Plato ein zeitloser Klassiker. Alles Materie – sehr zeitgemäße Denkweise. Alles Wille – da versammeln sich die Subjektivisten.
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Aber alles passive Empfindung? Davor schreckt selbst der Ur-Perzeptionist Berkeley zurück, zu sehr ist er seinem Gott als actus purus verhaftet.
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(Und nach dem objektiven bzw. subjektiven Idealismus auch den objektiven bzw. subjektiven Realismus zu unterscheiden ist ebenfalls unüblich.)
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1667)
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So wie die Idee als bloße Abstraktion des Materiellen gesehen werden kann, so sehe ich die Intention als bloße Reaktion auf die Qualia.
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Zuerst die Physik, passive Materie, von uns unabhängige, stoffliche Außenwelt – dann die Mathematik, von uns aktiv abstrahierte Form?
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Zuerst die Empfindung, meine ich, auf uns einströmende Gefühlswelt – dann der Wille als Reaktion auf jenes grundsätzlich Unvermeidbare.
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1668)
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Dass ich dazu tendiere, alles auf die passive Empfindung zu gründen...
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...liegt evt. am mich prägenden Erziehungsinstrument Himmel-und-Hölle.
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Aber Aktionismus-Philosophie flieht m.E. die Wahrheit unserer Ohnmacht.
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(Ist Selbstüberschätzung nicht doch schlimmer als Selbstunterschätzung?)
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1669)
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Vielleicht sieht man heute alles von vorneherein als aktiven Regelkreis.
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Nur metaphysische Naivität, dem Kreis Anfang und Ende anzudichten?
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Und doch komme ich von der Systemtheorie immer zur Dialektik zurück.
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1670)
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Sind wir Lebewesen primär aktiv, ist auch die bloße Wahrnehmung schon komplexeste Aktivität?
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Sogar ein Pessimist par excellence wie Schopenhauer geht davon aus, dass zuerst der Wille sei.
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Mein "subjektiver Realismus": leider ist zuerst passive Empfindung – und das beste Wesen m.E. reaktionslos.
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1671)
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Jeder kennt einzelne Gründe, das Leben zu hassen und den Tod zu fürchten.
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Dem Pessimisten aber vermittelt das Dasein insgesamt den Eindruck von Hölle.
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Und was ist Hölle? Hölle ist, das Schlimmste auf ewig noch vor sich zu haben.
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(Dem Optimisten scheinen Gräuel hauptsächlich von gestern oder für andere.)
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1672)
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Pessimisten befürchten ein schlimmes Ende?
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"Schlimmes Ende" ist ein Widerspruch in sich!
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Denn Ende wäre für die Leidenden das Beste.
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1673)
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Die Welt ist also gewollt, aber wir können den Willen ja verneinen?
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Sie ist empfunden, und wir können das Empfinden nicht verneinen!
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Unserem Fühlen zwischen Himmel und Hölle auf ewig ausgeliefert...
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(Nur die in mir gründlich festsitzende Vorstellung der Monotheisten?)
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1674)
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Bewusstsein ist die Krankheit.
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Ein Teufel, nur mit dem Beelzebub auszutreiben?
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Irgendwann bei vollem Bewusstsein angelangt sein und das Bewusstsein dann ein für alle Mal abschaffen, das wärs.
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(Wahrscheinlich unmöglich, wie jede andere dauerhafte Erlösung auch.)
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1675)
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Nicht geboren zu sein oder schon gestorben zu sein...
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...ist nur in den Augen von halben Pessimisten ein Vorteil...
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dem es nachzutrauern oder auf den es sich vorzufreuen gilt...
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1676)
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Sicher bin ich Kulturpessimist...
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...aber noch mehr Naturpessimist.
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Misstraue dem Leben, noch mehr dem Tod.
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1677)
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Ist die Angst vor dem Tod eine Art von Xenophobie?
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Sollte man dem Unbekannten mit Offenheit begegnen?
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Sobald das Bekannte meiner Umklammerung entkommt...
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1678)
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Natur vs. Kultur, Gefühl vs. Verstand, Chaos vs. Ordnung, Anarchie vs. Gesetz, Freizügigkeit vs. Moral etc. – eines von beiden ablehnen ist nur halber Pessimismus.
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Insbesondere gilt das m.E. für Leben vs. Tod: ein ganzer Pessimist ist sowohl lebens- als auch todesverneinend.
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Das Nichts ist sein weder im Leben noch im Tod erreichbares Ideal.
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(Im Negativen kann dann auch der ganze Pessimist weiter differenzieren, eines von beiden vorziehen: ich ziehe das Leben vor, die Kultur, den Verstand, die Ordnung, das Gesetz, die Moral...)
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1679)
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Findet der wahre Dialektiker immer zum Ausgleich bzw. zur Gleichgültigkeit?
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Beantwortet er alle Entweder-Oder-Fragen mit Sowohl-Alsauch bzw. Weder-Noch?
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Ich sage immer erst mal Weder-Noch, aber im Negativen entscheide ich dann doch.
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1680)
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Nihilisten unterscheide ich schon mal mindestens drei verschiedene.
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Die, welchen alles schon gleichgültig ist. Und die, welche meinen, dass alles über kurz oder lang gleichgültig sein wird.
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Und die, welche wie ich pessimistischerweise davon ausgehen, dass leider niemals alles gleichgültig sein wird.
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1681)
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Zuerst und zuletzt bin ich Leidensmonist.
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In besserer Stimmung geht auch ein bisschen Dialektik.
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Und im besten Ausnahmefall treibe ich ein bisschen Systemtheorie.
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(Etwa entsprechend der Firstness, Secondness und Thirdness von C. S. Peirce?)
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1682)
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Wer als Objektivist nur an das Dingliche glaubt, hält den Tod für eine Art Vernichtung.
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Wer als Dualist an Inneres und Äußeres glaubt, hält den Tod für eine Art Verinnerlichung.
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Wer als Subjektivist nur an das Bewusstsein glaubt, hält den Tod für eine Art Veränderung.
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(Ich als Subjektivist, der nicht an große gute Veränderungen glaubt: zufällige Wiedergeburt.)
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1683)
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Antirationalistischer Pessimismus: das menschliche Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft zurückdrängen zugunsten des ganz gegenwärtigen natürlichen Seins.
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Mein rationalistischer Pessimismus meint: es gilt, das Bewusstsein insgesamt ständig zu erweitern, bis es sich auch selbst gänzlich verstehen und abschaffen kann.
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In diesem Sinne ist das "Zurück zur Natur" von Rousseau m.E. der falsche Weg – wir Menschen hatten und haben allen Grund, der grausamen Natur die Kultur entgegenzusetzen.
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1684)
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Antinatalismus? Voluntary Human Extinction Movement?
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Reales Aussterben der Menschheit ist noch keine Lösung.
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Nein, disziplinierte ideale Annihilation allen Bewussteins!
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1685)
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Zwar weiß ich, dass ich das Nichts i.S.v. endgültiger Bewusstlosigkeit will, weiß aber mitnichten, wie ich es je erreichen könnte.
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Glaubte ich ganz sicher zu wissen, wie das Nichts zu erreichen ist, würde ich es evt. sogar der ganzen leidigen Welt verordnen wollen.
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Umgekehrt würde ich die Annihilation aber nicht delegieren wollen i.S.v. mich bei eigener Unfähigkeit auf fremde Fähigkeiten verlassen.
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(Egozentrischer Nihilismus: bei eigener Gewissheit auch andere vernichten, aber die eigene Vernichtung nicht anderen anvertrauen.)
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1686)
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Philosophie statt Therapie.
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Pessimismus statt Depression.
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Höllenleben statt Suizid.
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(Selbst ist der Leidtragende.)
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1687)
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Erst erzählt man den Menschen: ihr seid nicht allein und alles wird gut.
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Dann merken die Menschen: sie sind doch allein und alles wird schlecht.
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Schließlich rennen sie zum Therapeuten, weil sie meinen, sie seien krank.
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(Früher lief es genauso, nur halt mit Priestern und von Gott Verlassenen.)
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1688)
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Erstens: Leben ist Leiden. Monistisch bin ich Pessimist.
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Zweitens: Alles hat zwei Seiten. Widerwillig wirds dialektisch.
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Drittens: I am a strange loop. Erst der Regelkreis als Ur-Teil.
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(Nulltens: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Mystisch mit Betonung auf dem ersten Halbsatz, skeptisch mit Betonung auf dem zweiten.)
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1689)
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Patientenverfügungen sind i.a. motiviert von der Überzeugung, dass uns die Medizin weit mehr antun kann als der Tod.
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Die beiden großen "Gegenparteien" unserer Kultur – Paradiesgläubige und Nichtsgläubige – sind sich da recht einig:
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Lieber früher loslassen bzw. losgelassen werden und Erlösung im Tod finden als aussichtslose Therapien erdulden.
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(Ich bin mir da längst nicht so sicher: lieber das unabsehbare Leid im Tod als das absehbare Leid im Leben?)
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1690)
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Empathie zahlt sich offenbar nicht aus – das zeigt der Vergleich von lokal herrschenden Weltanschauungen mit Bruttosozialprodukten genauso wie die Betrachtung von sozialen Entwicklungsstrukturen in den Kindergärten oder auf den Schulhöfen.
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Im Westen wähnt man sich – von Gott oder vom evolutionären Zufall – ein für allemal auserwählt, das Los der Armen, Tiere, Pflanzen und Dinge niemals teilen zu müssen; die östliche Wiedergeburtslehre hingegen legt es nahe, sich in andere(s) hineinzuversetzen.
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Natürlich (sic!) sind die Selbstherrlichen erfolgreicher. Religionsstifter haben wie Erzieher hauptsächlich die Wahl, eher gefühllose Gewinner oder gefühlvolle Verlierer zu produzieren – der allenthalben propagierte sensible Sieger bleibt ein rarer Glücksfall.
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(Paradox: erst wer die Leiden "niederer" Wesen mitempfindet, kann die Erlesenheit des Menschseins wirklich ermessen. So schwindet aber dessen Selbstverständlichkeit – und mit ihr evt. der als Selbstsicherheit erzieherisch angestrebte Optimismus.)
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1691)
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Moderne Menschen verstehen ihr Dasein gerne als mehr oder weniger glückliches Ergebnis der "Eierstocklotterie".
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Mit provozierendem Blick auf die Religösen, welche da statt Zufall ja Bestimmung bzw. Gottes Willen am Werk wähnen.
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Dabei übersehen sie aber ihre eigene Religion: sie glauben felsenfest daran, dass diese Ziehung für jeden nur einmal stattfindet.
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(Richtig schockierend ist das Modell der genetischen Lotterie doch erst, wenn jeder im Tod wieder aufs Neue ziehen muss.)
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1692)
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Ob es echten Zufall nun realiter gibt oder ob alles einem für uns grundsätzlich undurchschaubaren Plan folgt, ist subjektivistisch verstanden egal.
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Wenn ich von zufälliger Wiedergeburt bzw. fortgesetzter genetischer Lotterie spreche, meine ich einfach ein auf ewig unvorhersagbares Lebenslos.
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Und zwar mit entsetzt-gequältem, nicht etwa mit freudig-gespanntem Unterton. Tröstlich allenfalls, dass es gerecht wäre, wenn jeder mal alles sein müsste.
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(Wie ich das Leben kenne, will ich für alle Zeit drauf verzichten. Ausstieg aus dem ewigen Lebenskreislauf ins endgültige Nichts: ja, ohne Zögern.)
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1693)
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Suizid bedeutet nach meiner Weltanschauung den vorzeitigen Übergang in irgendein anderes irdisches Dasein.
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Vernünftigerweise erst zu erwägen, wenn mir das Schicksal der meisten Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge beneidenswert erscheint.
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Viele Leute bringen sich jedoch um, weil sie sich nach idealen Zuständen wie dem Paradies oder dem Nichts sehnen.
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(Diese Sehnsucht habe ich schon, seit ich denken kann. Bezüglich der üblichen Todesmodelle bin ich suizidal.)
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1694)
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Wenn ich sage, dass ich so gut wie jedes Leben schlechter bewerte als das Nichtsein, ernte ich bloß Kopfschütteln.
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Eher Zögern aber auf die Frage, wer nach Ablauf seines Lebens freiwillig ein zufälliges Lebenslos dem Nichts vorzöge.
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Denn so gesehen ist es tollkühn, sich lieber auf beliebige "real" existierende Leben einzulassen als zu verlöschen.
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(Das gilt schon für die gegenwärtigen sieben Milliarden Menschenleben, erst recht aber fürs irdische Leben insgesamt.)
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1695)
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Wennschon Utilitarismus, dann negativer.
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"The least suffering for the least number" erscheint mir ethisch ehrlicher als "The greatest happiness for the greatest number".
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Und Paradise engineering nochmal weltfremder als (ein von mir hier mal dagegen gesetztes) Nothingness engineering.
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("Engineering" ist zu aktionistisch. Nietzsche variierend könnte man spotten: sogar das Nichts wollen sie noch machen.)
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1696)
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Überwiegen bei den Aktionisten die guten oder die bösen Konsequenzen? Ich meine: die bösen.
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Schon Pursuit of happiness ist falsch, der Schade der anderen i.d.R. viel größer als der eigene Nutzen.
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Flucht bis maximal Notwehr sind m.E. die ethisch richtigen Methoden – Angreifer sind keine Guten mehr.
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1697)
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Der positive bzw. negative Utilitarismus ist eine auf die kollektive Glücksvermehrung bzw. auf die kollektive Leidvermeidung ausgerichtete Ethik – so weit so gut.
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Aber das positive Paradise engineering klappt nicht, weil die in den Himmel wachsende schmale Pyramidenspitze eine in die Hölle sinkende breite Pyramidenbasis erzeugt bzw. (ver)braucht; das negative Nothingness engineering klappt auch nicht, weil mit dem kollektiven Seinwollen aufzuhören noch nichts am kollektiven Seinmüssen ändert.
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Lauter traurig zurückhaltende Wesen sind m.E. besser als lauter freudig kämpfende, deshalb favorisiere ich den negativen Weg.
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1698)
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Laut Schopenhauer ist das Dasein gewollt und somit gerechtfertigt – auch wenn ich zwar tun kann, was ich will, aber nicht wollen kann, was ich will.
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Geschieht mir mein Leben also ganz recht? Das scheint mir trotz allem Schopenhauerschen Pessimismus wieder auf eine Theodizee rauszulaufen.
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Ich fühle mich jedenfalls unschuldig mit dem Sein gestraft – zugleich erleichtert und erschüttert, wie andere noch unschuldiger und noch gestrafter sind.
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1699)
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Über mir zum Besseren hin das Nichts, das Nirvana und das Paradies, unter mir zum Schlechteren hin das Andere, das Unbekannte und die Hölle.
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Als Todesmodell tippe ich auf zufällige diesseitige Wiedergeburt, zwischen der Ewigen Wiederkehr des Gleichen und der Ewigen Wandlung zum Anderen.
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In dem Wort Wiedergeburt steckt diese Paradoxie drin: Wiederkehr und Neugeburt – Lebenskreislauf zwischen Ewiggleichem und Ewiganderem.
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1700)
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Der Tod ist das Ein- bzw. Untergehen in das Eine, das einfach Leid ist.
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Im Todesmoment hat man dem Leid gar nichts mehr entgegenzusetzen.
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Mit der Wiedergeburt beginnt die nächste vergebliche Verteidigungsphase.
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1701)
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Ein gutes Wesen wäre aktionslos.
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Das beste Wesen zudem reaktionslos.
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Tot bleiben, d.h. ganz im Leid resignieren.
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1702)
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Die wenigsten sind noch dazu bereit, unglücklich zu bleiben.
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Lieber macht man Therapie, lässt sich zum Täter umschulen.
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Ewiges Ideal ist Actus purus, der Unsympath bzw. Unempath.
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1703)
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Mein Himmel ist das endgültige Nichts.
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Meine Hölle ist die ewige zufällige Wiedergeburt.
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Bei einem echt Lebensbejahenden wäre das gerade umgekehrt.
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1704)
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Der religiöse Trick des einen Prozents der am besten weggekommenen Menschen...
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...ist das Beklagen der Kürze des Lebens bzw. seines endgültigen Erlöschens im Tod.
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Sie gestehen sich nicht ein: das Leben ist i.a. quälend und droht auch ihnen auf ewig.
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1705)
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Ich glaube zwar an ein wenig "freien" Willen, aber fast nur in Form des vorm Dilemma Stehens, des Wählenmüssens zwischen Übeln.
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Wir segeln im Leben v.a. zwischen Skylla und Charybdis, meist stellt sich bloß die Frage, ob wir Erhängen oder Erschießen vorziehen.
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Die Double-Bind-Situation selbst will jedoch m.E. so gut wie niemand, auch wenn das die lebensbejahenden Willensjünger unterstellen.
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(In der kognitiven Verhaltenstherapie etwa diagnostiziert man neurotisch Depressiven schmunzelnd einen Hang zur "musturbation".)
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1706)
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Todes- bzw. Jenseitsvorstellungen haben oft was gespaltenes, um nicht zu sagen schizophrenes – ihre Anhänger vertreten oft zwei Haltungen zugleich, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen.
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Bei den Monotheisten wundert einen das noch nicht allzu sehr, das Paradoxe wird von ihnen ja aufs Herzlichste umarmt – sie sind evt. sogar stolz auf die Begabung, etwas glauben zu können, was alles Wissen vor den Kopf stößt, und so eben auch an die Existenz von Himmel und Hölle.
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Spätestens bei den Realisten aber darf es einem doch komisch vorkommen, dass selbst die Gebildetsten unter ihnen einerseits immer wieder offensiv behaupten, der Tod bedeute endgültige Bewusstlosigkeit, andererseits immer wieder defensiv einräumen, der Tod sei nicht erfahrbar und man könne deshalb systematischerweise nichts über das Totsein aussagen.
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(Die Schizophrenie meiner eigenen Todesvorstellung liegt nicht mehr zwischen Himmel und Hölle, Nichts und Unbekanntem, sondern mittlerweile zwischen Ich und Anderem: mein Bild von der zufälligen Wiedergeburt im Tod ist paradox, weil dabei sowohl alles in allem so bleibt als auch alles in allem sich ändert. N.B. ...aber nur zum Anderen, nicht zum Ganz Anderen.)
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1707)
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Ewige diesseitige Wiedergeburt ohne Ausweg in irgendein Jenseits ist m.E. die "realistischste" Todesvorstellung.
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Die Realisten selbst aber halten sich mit ihrem evidenten Nichts im Tod ein garantiert endgültig leidloses Jenseits warm.
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Und mit der Unerfahrbarkeit des Todes, dem absolut Unbekannten ein jenem Jenseits widersprechendes zweites.
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(Evt. können die Abendländer nicht aus ihrer Haut: wo einst Himmel und Hölle war, ist nun Nichts und Unbekanntes.)
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1708)
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Erst vom Subjekt abstrahierend, dann vom Objekt abstrahierend, folgt drittens das Nichts.
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Stimmige Entwicklung der Todesvorstellung: ich bleibe, werde ein anderer, verlösche.
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Mir scheint östliche Philosophie da richtig herum, westlicher Realismus verkehrt herum.
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1709)
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Schön wärs, wenn die Realisten recht hätten und im Tod wär alles aus.
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Aber ich glaub eher, wir werden zufällig wiedergeboren, i.d.R. leidender.
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Schlimmstenfalls gehts in die Hölle, weil ich den Foltergott nicht lieb hab.
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1710)
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Warum haben wir intuitiv einen Horror vor dem Tod? Und wird jener bei vernünftig-philosophischer Betrachtung wirklich hinfällig?
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Die gängige Antwort: Wir wollen sein und lehnen es intuitiv ab, nicht mehr zu sein. Erst mit dem Bewusstsein, dass wir nichtseiend nichts mehr vermissen können bzw. solchen Verlustschmerz nur fälschlicherweise antizipieren, können wir dem Tod gegenüber gleichmütig werden.
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Meine Antwort: Im wahrscheinlichen Mittel ist das Leben an sich wesentlich härter als unseres für sich. Intuitiv gehen wir davon aus, durch den Tod andere, schlechtere Schicksalskarten zu erhalten. Und diese Sorge weicht auch keinem gründlichen Nachdenken, im Gegenteil.
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(Der Horror vacui ist am Ende ein Märchen der Lebensbejaher – der Fall ins Nichts wäre für die allermeisten doch nur eine Erlösung. Es ist der scharfe Schmerz des höllischen Aufpralls im noch schlimmeren Sein, dessen Befürchtung uns völlig zu Recht die Nackenhaare aufstellt.)
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1711)
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Warum erschaudert der Selbstmörder vor dem Tod?
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Packt ihn am Schluss eben doch der Horror vacui?
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Nein, unwillkürlich fürchtet er die Verschlimmerung.
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(Das Leben legts halt nahe: schlimmer geht immer.)
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1712)
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Auf das Leben, auf den Tod freudig gespannt oder beidem gegenüber gleichmütig – das sind m.E. meist nur sozial eingeübte Lügen.
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Im Leben, im Tod primär Leid vermuten, vor beidem Angst haben – das bleibt dagegen stets meine individuelle Wahrheit.
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Als authentischer Pessimist gesellschaftlich außen vor oder als neurotischer Patient brav integriert? Noch gelingt mir ersteres.
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1713)
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Das individuell passende Todesmodell sollte einen möglichst weder zu arg in Todeshorror noch zu arg in Todessehnsucht versetzen.
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Für mich bislang die beste bildliche Vorstellung vom Tod, auf die ich v.a. durch Nachdenken gekommen bin: zufällige Wiedergeburt.
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Brächte andere aber evt. dazu, sich krampfhaft an ihr jetziges Leben zu klammern oder es leichtherzig für ein nächstes dranzugeben.
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1714)
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Würdest du lieber dein Leben behalten oder gegen ein zufällig ausgewähltes tauschen? Die Privilegierten nähmen sicher ersteres, aber m.E. viele Elenden letzteres.
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Lieber dein Leben behalten oder gegen das bewusstlose Nichts tauschen? Die Privilegierten nähmen evt. immer noch ersteres, aber m.E. die meisten Elenden letzteres.
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Dein Leben behalten ginge nicht – dann lieber ein zufällig ausgewähltes Leben oder das Nichts? Spätestens jetzt zöge es m.E. auch die Privilegierten zum Nichts.
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(Wonach sie sich aber m.E. nicht mehr lebensbejahend nennen dürften – das eigene privilegierte Leben zu lieben heißt eben noch nicht, das Leben an sich zu lieben.)
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1715)
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Ich bin Pessimist. Meine momentane Definition: Pessimist ist, wer das Sein im Großen und Ganzen negativ beurteilt, also glaubt: das Sein wäre besser nicht.
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Ich bin lebensverneinend. Meine momentane Definition: lebensverneinend ist, wer das endgültige bewusstlose Nichts im Tod der ewigen zufälligen Wiedergeburt im Tod vorzöge, d.h. einer unendlichen Reihe von aufeinander folgenden, nach dem Zufallsprinzip ausgewählten irdischen Leben.
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Ich bin areligiös. Meine momentane Definition: areligiös ist, wer nicht glaubt, gegen ein auch und gerade im Tod immer weiter zunehmendes Leid gefeit zu sein.
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(Ich bin Atheist. Meine momentane Definition: Atheist ist, wer im Allgemeinen nicht an Götter und im Besonderen nicht an den monotheistisch verkündeten Schöpfergott glaubt, welcher gutwillig und allmächtig zugleich ist.)
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1716)
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Zentral: Lebensbejahung oder Lebensverneinung?
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Die Frage nach Gott u.v.a.m.: Ablenkungsmanöver.
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Funktioniert aber, weil die Wahrheit so schlimm ist.
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1717)
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Leben ist Leiden.
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Tod ist Mysterium.
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Evt. mehr Leiden.
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(Traurig aber wahr.)
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1718)
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Gar nichts über den Tod zu wissen bedeutet für viele wissenschaftlich-statistisch Denkende, dass die Wahrscheinlichkeit für eine angenehmere oder unangenehmere Fortsetzung des eigenen bewussten Erlebens – wie gering auch immer eingeschätzt – gleich groß ist.
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Unser Unbewusstes "denkt" da anders: es hat Angst vor dem Tod, und das m.E. aus gutem Grund.
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Denn wenn wir reichen Menschen das Leben auf diesem Planeten betrachten, stellen wir fest, dass es uns zwar nicht unbedingt gut, aber von allen Lebewesen mit am besten geht. Und so befürchten wir zu Recht, als nächstes wahrscheinlich ein schlechteres Los zu ziehen.
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(Unser Mitgefühl straft die wissenschaftliche Annahme Lügen, dass sich alles zu Null ausmittelt.)
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1719)
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Alles positiv, überm absoluten Nullpunkt?
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Im Mittel alles neutral?
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Nein: Leid.
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(Die Axiome von Positivismus bzw. Wahrscheinlichkeitsrechnung sind auch nur optimistische Auswüchse.)
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1720)
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Die einen Optimisten wollen gerettet werden.
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Die anderen Optimisten wollen (sich) selber retten.
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Und Pessimisten wie ich glauben halt nicht an Rettung.
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1721)
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Dass im Tod das Nichts sei, ist eine zunehmend unwidersprochene Annahme, und dass Todesangst identisch mit Nichtsangst sei, leitet sich daraus ab.
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Doch weder steht fest, dass im Tod diese Bewusstlosigkeit auf uns wartet, noch dass wir unterbewusst so dumm sind, diese Leidlosigkeit zu scheuen.
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Gründlich bedacht ist es so einleuchtend wie schlimm: wir müssen tatsächlich mit Qualen nach dem Tod rechnen, welche die vor dem Tod übertreffen.
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(Solche Ratio hält aber nur vor, bis wir uns im Affekt aus einem unerträglichen Lebendigsein in ein mögicherweise noch unerträglicheres Totsein stürzen.)
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1722)
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Dem Tod mehr misstrauen als dem Leben, weil er den Lebenden nichts von sich preisgibt, und im Dunkel evt. das Schlimmere lauert?
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Oder dem Leben mehr misstrauen als dem Tod, weil einen das Leben im Gegensatz zum Tod immer wieder bitter enttäuscht hat?
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Den Spagat versuchen, dem Tod gegenüber schön aufgeschlossen zu bleiben, aber ihn erst zu treffen, wenns nimmer anders geht.
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1723)
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Sonderlinge halten es mit den Extremen statt mit der Mitte.
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Hängen am Jenseitigen, traditionellerweise an Himmel und Hölle, modernerweise am Nichts und Unbekannten. Eingenommen von rück- bzw. randständigen Theorien über Gott und Satan, Mikro- und Makrokosmos.
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Immerhin kreisen meine Gedanken inzwischen hauptsächlich um eine dritte, zentralere Dyade: Ich und Andere(s), wie immer mit Betonung auf dem Schlimmeren – nach der Hölle und dem Unbekannten also nun der/das Andere.
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(Ist die Vorstellung vom Tod als das Ganz Andere nicht auch so eine Seinsflucht für Nerds? Fehlt es nicht eher an dem Bewusstsein dafür, einst wieder der/das schon jetzt um mich herum wimmelnde Andere zu sein?)
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1724)
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Ich war Staub und werde wieder zu Staub?
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Mag sein, aber das klingt mir unkommentiert zu sehr nach der Aussicht auf endgültige Leidlosigkeit, nach materialistischer Erlösungsreligion.
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Ich bin skeptisch hinsichtlich eines Ausstiegs aus dem ewigen Kreislauf diesseitigen Leidbewusstseins, bin subjektivistischer Pessimist.
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1725)
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Was die moderne Luxusgesellschaft mit aller Kraft versucht abzutun, ist der langfristige Vorrang von Bescheidenheit vor Großzügigkeit.
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Was man mit viel Arbeit i.S.v. Ausbeutung von Mensch und Natur auf der Welt anstellt, ist auch mit viel Charity nicht wieder gutzumachen.
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Aber ganz zu verwerfen ist Technologie nicht – irgendwann müssen wir evt. mitsamt unserer Ethik auf den nächsten Planeten umziehen.
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1726)
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Man nimmt an, der Tod sei gleich dem Nichts.
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Und leitet daraus her, wir hätten Nichtsangst.
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Und dass das Leben besser sei als das Nichts.
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(Wahrscheinlich ist aber alles drei grundfalsch.)
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1727)
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Nichts ist wohl leider unmöglich.
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Der echte Pessimist befürchtet das ewige Diesseits.
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Und die Realisten merken i.a. nicht, dass ihr Nichts ein erhofftes Jenseits ist.
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1728)
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Das Nichts gehört für mich zusammen mit dem Paradies zu den verlockenden Jenseitsvorstellungen.
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Und das völlig Unbekannte zusammen mit der Hölle zu den bedrohlichen Jenseitsvorstellungen.
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Auch wenn der Objektivismus jeweils erstere als neutral bzw. wertfrei definiert und etabliert.
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1729)
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Mein Quietismus ist gewissermaßen als das Gegenteil von Industrialisierung gedacht.
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Der Mensch soll aufhören, sich für den Nabel der Welt zu halten und (sich) Gutes zu tun.
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Echt gut täte der Welt erst das Unterlassen gigantomanischer menschlicher Eingriffe.
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(Gilt v.a. fürs Materielle. Stattdessen besser Geistiges bzw. Geistiges besser angehen.)
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1730)
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Der Tod ändert an meinem Leben entweder nichts, einiges oder alles.
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Ich denke, er ändert einiges – und ich rechne da mit Verschlechterung.
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Ich ändere mein Leben zum Guten, und der Tod dann zum Schlechten?
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1731)
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Sein ohne Nichtsein.
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So oder anders sein.
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Schlecht, schlechter.
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1732)
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Der pessimistische Monotheist kennt keinen gütigen Gott – seiner triezt ihn erst das ganze Leben lang und wirft ihn dann am Jüngsten Tag in die Hölle.
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Der pessimistische Hinduist bzw. Buddhist geht von einer i.d.R. schlechteren Wiedergeburt aus – dem Lebenskreislauf auszukommen ist i.a. unmöglich.
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Der pessimistische Realist glaubt nicht an das endgültige Verlöschen seines Bewusstseins im Tod – es ist auf ewig dem leidigen Zufall ausgeliefert.
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(Der pessimistische Esoteriker sieht die Welt voll von bösen Geistern und verschwörerischen Mächten, denen er hoffnungslos unterlegen bleibt.)
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1733)
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Schlimm, wie die Tradition schwache Menschen unter Androhung drakonischer Bestrafung im Jenseits zum Altruismus drängt.
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Schlimm, wie die Moderne schwache Menschen unter Zusicherung endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod zum Suizid verführt.
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Gestalter der Geschichte sind starke Menschen, welche keine Skrupel haben, die schwachen auszubeuten oder loszuwerden.
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1734)
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Die Naiven glauben an das Paradies, die Kritischen rechnen mit dem Nichts im Tod? M.E. ist das einen Gedanken zu kurz.
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Wann schaltet dieser Reifeprozess endlich eins hoch? So wie in anderem doch auch? Dass man gemeinhin zum Schluss findet:
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Die Supernaiven glauben an das Paradies, die Naiven an das Nichts im Tod, und die Kritischen rechnen mit Schlimmerem.
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(Ich weiß schon: weil nicht alte Pessimisten wie ich als kritisch gelten, sondern Naturalisten im Besitz der neuesten Wahrheit.)
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1735)
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Das Subjekt ist die Basis bzw. Bühne von allem, wie sein Name schon sagt. Das Bewusstsein ist unhintergehbar. Das Bewusstsein ist das Bewusstsein ist das Bewusstsein. Bewusstseinsmonismus.
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Während materielle Monisten und Dualisten trefflich über die Zusammenhänge von Materie und Geist streiten können, liefert der Bewusstseinsmonismus keinen produktiven Ansatz für eine Philosophy of mind.
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Mein Bewusstseinsmonismus passt also zu meinem Pessimismus, auch der ist ja passiv statt produktiv und begreift das Materielle als Randeigenschaft: wir sind und bleiben Bewusstsein, leider nix dran zu machen.
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1736)
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Die Philosophie des Pessimismus: Einsehen, dass wir uns bereits in der Hölle befinden. Und dieser schlimmste Ort wäre nicht der schlimmste, hätten wir nicht stets vor Augen, dass schlimmer immer geht.
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Solche Philosophie ist schwer zu kommunizieren, i.a. teilt sich das Denken nurmehr zwischen den Optimisten und den Realisten auf. Erstere umgeben vom Paradies, letztere vom Nichts. Hölle? Fehlanzeige.
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Entweder die aktive positive Achse Richtung plus Unendlich oder die nüchterne neutrale Endlichkeit zum Nullpunkt hin – die passive negative Achse Richtung minus Unendlich will keiner wahrhaben.
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1737)
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Mich treibt...
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...kein Lebenswille...
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...sondern Todesangst...
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(...und das gilt ja vielleicht ganz allgemein: Lebenswille als optimistischer Euphemismus für Todesangst. Allenthalben konfrontiert das Leben mit bislang Unbekanntem, welches dann bitter enttäuscht – so steigert das Leben ständig die Angst vor dem größten Unbekannten, dem Tod.)
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1738)
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Am glücklichsten...
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...ist der böse Mensch...
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...welcher sich für einen Guten hält.
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1739)
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Himmel, Hölle und Nichts – diese üblichen Todesmodelle erscheinen mir zunehmend unwahrscheinlich bzw. naiv.
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Ich, Anderer/Anderes und ganz Anderer/Anderes – inzwischen denke ich mir eine Veränderung im Tod innerhalb dieses Kontinuums.
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Das ewige unveränderliche Ich wäre dabei ebenso extrem wie der/das völlig Andere – am plausibelsten ist mir der/das Andere.
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(Im Tod ein Anderer/Anderes werden meint etwa, im Tod an von außen bereits Bekanntem nun von innen beginnen zu laborieren – da kann man nicht mit Epikur sagen: der Tod geht uns nichts an. Eher empfehlen, sich per Empathie auf die im unvergänglichen Sein bevorstehenden Perspektivenwechsel einzustellen.)
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1740)
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Bewusstsein als Evolutionsvorteil? Solche Erklärungen zur Entstehung von Bewusstsein gehen m.E. von hinten durch die Brust ins Auge: Bewusstloses ist nie im Nachteil.
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Aber ist schon klar, dass jede Theorie an irgendeinem Punkt in Erklärungsnot gerät – und o.g. Beispiel ist eben eine große Schwachstelle des Realismus.
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Als idealistischer Panpsychist winde ich mich ganz ähnlich z.B. bei der Frage nach Anzahl und räumlicher Verteilung meiner Bewusstseine vor und nach dem Tod.
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1741)
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Negativisten sind auch untereinander sehr verschieden:
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Negative Monotheisten halten sich für Gottes Geschöpfe im irdischen Jammertal, die erst im himmlischen Jenseits belohnt werden; Satanisten halten sich für abtrünnige Geschöpfe, welche die Macht schon hier im Diesseits an sich reißen und ihrer Lust sofort frönen wollen; Atheist Schopenhauer hält uns selber für die Schöpfer unseres eigenen Jammertals, welche mit dem Schaffen aufhören und verlöschen sollten...
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Ich halte mich für ein Geschöpf, welches das Lebenmüssen einerseits nicht durch Übernahme tätiger Verantwortung zum Lebenwollen wenden will, andererseits keinen Ausweg aus der elenden Position des Verweigerers ins ersehnte Nichts sieht und so in traurigem Trotz verharrt – wobei ich mich als Opfer für besser halte als die Täter, welche fast alle fast alles außerhalb von ihrem Fokus noch schlimmer machen.
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1742)
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Zuallererst ist das Leid.
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Und nicht etwa der Wille.
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Und auch nicht das Nichts.
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1743)
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Pessimismus: leider steht uns die Hölle bevor; aktiver Pessimismus: so aggressiv wie nötig oder gar so fies wie möglich kämpfen; mein passiver Pessimismus: Leid als ewiges Schicksal begreifen und erdulden.
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Nihilismus: zum Glück steht uns das Nichts bevor; aktiver Nihilismus: destruktiv sein – alles, was ist, wäre besser nicht; passiver Nihilismus: einfach den Tod abwarten – dann vergeht alles von selber.
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Realismus: leider steht uns das Nichts bevor; aktiver Realismus: so lange wie möglich das Beste aus dem Leben rausquetschen; passiver Realismus: das Gute genießen und als vergänglich hinnehmen.
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(Optimismus: zum Glück steht uns das Paradies bevor; aktiver Optimismus: streiten und siegen im Namen des Guten; passiver Optimismus: vertrauensvoll hinwarten auf Gerechtigkeit oder gar Allversöhnung.)
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1744)
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Die meisten objektivistischen Atheisten meinen, in der Natur gehe schon alles mit rechten Dingen zu.
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Selbst wer nur an statistische Gleichverteilung im Unbekannten glaubt, hat m.E. einen Gott 2. Ordnung.
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Subjektiv wissen wir jedoch alle: lieber nicht von einer dunklen Höhle in die nächste rennen...
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(...denn es steht eben nicht fifty-fifty, ob dort Verbesserung oder Verschlimmerung wartet.)
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1745)
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Wer bzgl. des Todes meint, wir Lebewesen hätten da Angst vor dem Nichts, der bringt unbewusste und bewusste Ebene durcheinander.
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Unsere Angst vor dem Tod ist vielmehr die vor dem im Dunkeln lauernden Unbekannten, das in der Natur fast immer Schlechtes bedeutet.
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Den Tod für das Nichts zu halten ist dagegen etwas Bewusstes, nur auf der Höhe unserer modernen Kultur als Theorie Weitergegebenes.
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(So dumm ist das Unbewusste nicht, sich vor dem Nichts zu ängstigen. Eher ist das Bewusste dumm, den Tod für das Nichts zu halten.)
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1746)
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Wenn der Tod das schlechthin Unbekannte ist...
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...steht es dann etwa fünfzig-fünfzig, ob wir im Tod...
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...bewusstlos oder bei Bewusstsein, glücklich oder unglücklich sind?
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(Auch an solch unparteiischen Zufall glauben hat m.E. etwas Religiöses.)
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1747)
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Warum denn ein trauriges Leben weiterleben?
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Erstens, weil man fürs Glück Arschloch werden müsste.
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Zweitens, weil an die Erlösung im Tod nur Naive glauben können.
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1748)
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Wer wirklich gut sein wollte, wäre bald tot.
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So böse sein, wie man muss, um zu überleben.
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Nicht so böse, wie man müsste, um gern zu leben.
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1749)
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Ruhig traurig sein, sei es auch verpönt...
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...denn das Leben ist eigentlich schlimm...
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...und der Tod ist wahrscheinlich schlimmer...
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1750)
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Keine Frage – die alte Höllendrohung gegen alle Lebensunfrommen hat unzählige Seelen verkrüppelt.
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Aber was bewirkt das Versprechen des neuen Jenseits, d.h. des endgültig leidlosen Nichts für alle Toten?
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Zuerst Suizid der depressivsten und Amoklauf der aggressivsten Individuen in den reichsten Ländern...
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(...und zuletzt epidemieartige Kollektivsuizide und -morde der letzten Konvertiten in den ärmsten Ländern?)
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1751)
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Atheismus ist doch tröstlicher...
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...als vom leidigen Zustand der Welt...
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...aufs Motiv eines Schöpfers zu schließen...
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1752)
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Mathematisches Idealisieren hin und physikalisches Reduzieren her...
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...so marginalisiert die Moderne unser eigentlich psychisches Wesen.
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Insbesondere den Tod fasst sie in formale und materielle Kategorien.
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(Schwer zuzugeben, aber sogar Himmel und Hölle trafen da mittiger...)
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1753)
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Atheist?
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Ja schon, aber metaphysischer Atheist, nicht materialistischer Atheist.
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Denn ebenso wie ein erfundenes höchstes liebendes Wesen ist eine erfundene von unserem Bewusstsein unabhängige Dinglichkeit nur Ignoranz gegenüber dem Leid.
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1754)
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Dass ich mein Leben für weit schlechter als nichts halte, und fast alle anderen Leben für weit schlechter als meins...
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...lässt mich fürchten, dass uns mit dem Wechsel der vorherrschenden Religion vom Monotheismus zum Materialismus...
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...langsam aber sicher eine kollektive Mord- und Selbstmordwelle ungekannten Ausmaßes bevorsteht.
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(Aber vielleicht irre ich mich, und mein Leben ist doch besser als nichts, oder das der anderen ist doch besser als meins, oder es lässt gar alte Gewohnheit die Menschen ihr miserables Leben bis zum natürlichen bzw. medizinisch immer weiter hinausgezögerten Ende ertragen und noch mehr miserables Leben in die Welt setzen – trotz des neuen Glaubens an das Nichts vor dem Leben und nach dem Tod.)
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1755)
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Wenn Gott das Nichts abgeschafft hat, sollten wir es "tunlichst" wiederherstellen.
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Wäre einfach nur unsere unwillkürliche Reaktion auf seine willkürliche Aktion.
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Als Leidender zu reagieren ist m.E. viel legitimer denn als Liebender zu agieren.
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1756)
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Mephisto und die andern Nihilisten haben in ihrer destruktiven Wonne übersehen, dass es nicht die körperliche Welt (Welt 1) ist, die es zu vernichten gilt.
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Wäre ihr Mitleid mit der Kreatur echt gewesen, hätten sie eingesehen: es ist die seelische Welt (Welt 2), deren Ende ein jeder herbeisehnt, der das Leid kennt.
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Die körperliche und auch die geistige Welt (Welt 3) könnten ebenso gut intakt bleiben – ohne fühlendes Bewusstsein würde sich ja niemand mehr daran stören.
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(Nietzsche aber wuchtet das bei Schopenhauer bereits subjektive Nichts wieder ins Objektive zurück: der echte Nihilist tue das Nichts, statt es nur zu denken.)
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1757)
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Warum zwar selber möglichst lange weiterleben, aber keine Kinder wollen? Widerspricht sich das nicht?
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Nicht, wenn man selber ganz anders denkt und glaubt und lebt als die Gesellschaft um einen herum.
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Würde mir mein Kind sehr ähnlich, wollte es selbst im Fall großen Leids trotzdem leben, aus Todesangst.
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(Materialistisch indoktriniert aber würde es mir seine Zeugung bzw. unsere Lebensweise nur übelnehmen.)
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1758)
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Früher wurden die Kinder religiös indoktriniert...
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...heute werden sie realistisch indoktriniert...
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...ich würde sie philosophisch indoktrinieren...
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(...so ich mich nicht mehr raushalten könnte...)
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1759)
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Optimisten glauben, die Summe über alles sei positiv.
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Realisten glauben, die Summe über alles sei null.
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Pessimisten glauben, die Summe über alles sei negativ.
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1760)
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Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?
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Auch ein echter Pessimist wird man nur von klein auf.
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Zwecklos, Erwachsenen die Lebensmisere zu erklären.
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(Dem Optimisten ist die Liebe lieber als die Wahrheit.)
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1761)
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Sinn des Lebens?
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Streng genommen braucht der Pessimist keinen.
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Er bleibt möglichst am Leben, weil es im Tod noch schlimmer kommen könnte.
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1762)
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Fühlen wir uns als Menschen, Erdenbürger etc. zu Recht elitär?
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Ob nun Priester zu Orgelmusik mit erhobener Stimme dem uns vor allem anderen bevorzugenden Schöpfer huldigen oder Astronomen zu Synthesizerklängen mit gesenkter Stimme über die einmalig günstige Position unserer Erde im Universum räsonieren – dürfen bzw. müssen wir Gott danken bzw. froh sein über solch unglaublichen Zufall?
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Und wer sich nun stattdessen umbringt – will der etwa die Elite dieser Elite werden, versteigt der sich zu dem wahnhaften Anspruch, auch noch den allerletzten Nachteil loszuwerden? Bei gegebener Auserwähltheit wäre das gegenteilige Suizidmotiv plausibler: sich mit dem üblichen Schöpfungsmüll bzw. Sternenstaub gemein machen, zurücktreten.
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(Dem ging's zu gut – sagt man das nicht vom Suizidenten aus guten Verhältnissen?)
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1763)
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Evangelium 1: wir sind auserwählte Seelen, bald wird alles auf ewig gut.
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Evangelium 2: wir sind begünstigte Körper, und dann wird alles zu nichts.
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Dysangelium: wir sind nur immer weiter zunehmendes Leidbewusstsein.
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1764)
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Mag sein, man bringt sich um, wenn das Leben zu schlimm wird.
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Aber man sage sich nicht: dann ist es gut, oder: dann ist es vorbei.
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Sondern ohne falsche Hoffnungen: ab hier lieber das Fragezeichen.
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1765)
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Alt werden ist nichts für Feiglinge?
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Kommt ganz aufs Todesmodell an.
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Für Höllengläubige ist es das wohl.
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(Auch ich bin am feige alt werden.)
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1766)
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Dauerhaft bewusstlos sein...
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...gibts m.E. ebenso wenig wie...
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...dauerhaft bei Bewusstsein sein...
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(...Tod ist auch nur Unterbrechung...)
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1767)
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Wer mit Zangen ins Leben geholten und gehaltenen Kindern...
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...beibringt, dass der Tod das süße, auf ewig leidlose Nichts sei...
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...darf sich doch über Schulamokläufe nicht ernsthaft wundern...
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(Angesichts des Nichts wäre der Tod zu lieben statt das Leben.)
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1768)
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Mord bzw. Mitnahmesuizid gilt als der extremstmögliche Übergriff...
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...Kinder in die Welt zu setzen hält man für gerechtfertigt bis geboten.
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Falls jedes individuelle Leben einmalig und endlich ist, bleibt Lust und Leid aber höchst ungerecht verteilt – wer also ein gutes Los zieht, lässt gewissermaßen die, welche ein schlechtes ziehen, die Zeche zahlen.
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(Heutzutage wird angeblich alles ausdiskutiert – diese Übergriffigkeit der sich munter vermehrenden Lebensbejaher aber bleibt selbstverständlich, verständnisloses Entsetzen über Einhalt gebietende Todesjünger die Regel.)
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1769)
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Leben nach dem Tod darf m.E. insbesondere Kindern gegenüber...
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...weder dogmatisch-religiös behauptet...
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...noch dogmatisch-realistisch ausgeschlossen werden...
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(...sondern sollte undogmatisch-philosophisch in der Schwebe bleiben...)
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1770)
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Für leidende Menschen ist es m.E. sehr wichtig zu lernen...
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...das eigene Leben nicht mit dem Paradies oder dem Nichtsein...
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...sondern mit der großen Mehrzahl aller anderen Leben zu vergleichen...
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(Random Reincarnation als dritte Religion nach Monotheismus und Materialismus?)
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1771)
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Tiere haben nur das Sein, in dem es für sie auf und ab geht.
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"Lebenswille" i.S.v. Seinsbejahung? Optimistische Projektion.
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Tiere meiden Leiden, und auch Sterben ist für sie nur Leiden.
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(Angst vor dem Nichts? Absurde Konstruktion der Menschen.)
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1772)
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Interessanter als zu räsonieren, ob es Gott gibt oder nicht, finde ich es, die unterschiedlichen Götter der Monotheisten zu vergleichen.
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Zum Beispiel die drei Versionen allversöhnender Gott, vernichtender bzw. annihilierender Gott und in die Hölle verdammender Gott.
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Es ist traurig, aber bestätigt meinen Pessimismus: die allermeisten Monotheisten glauben nicht, dass Gott allversöhnt oder annihiliert.
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("Unter mir in den Himmel oder ohne mich in die Hölle" – wenn Gott nicht wenigstens auch das Dritte, das Nichts anbietet, ist er m.E. böse.)
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1773)
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Selbstmörder, die mit dem endgültigen Nichts im Tod rechnen...
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...verlassen sich dabei gleichsam auf einen barmherzigen Gott...
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...der ihr Nichtsein ganz selbstlos auf ewig behütet und bewacht...
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(...so kommt es zumindest eternalistisch Geprägten wie mir vor...)
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1774)
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Keep smiling? Es herrscht die nahezu einhellige Meinung, dass bessergestellte Menschen gefälligst nicht zu jammern haben.
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Die mit mehr Glück in ihrem Leben sollen so tun, als ginge es ihnen gut – um derentwillen mit weniger Glück in ihrem Leben.
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Aber die Welt ist nun mal schlecht. Authentischerweise würden so gut wie alle Mundwinkel nach unten zeigen. Keep weeping!
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1775)
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Ewigkeit ist die Religion derer, die das Leben lieben.
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Endlichkeit ist die Religion derer, die das Leben hassen.
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Die meisten Menschen glauben, was sie sich wünschen.
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1776)
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Als pessimistisch Geprägter rechne ich nach meinem jetzigen Leben mit einem schlechteren, z.B. per zufällige Wiedergeburt.
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Das war und ist für mich der Grund, mein jetziges Leben weiterleben zu wollen, obwohl ich überhaupt nicht gerne lebe.
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Der mittlerweile realistisch indoktrinierte Nachwuchs aber nimmt sich das Leben, wenn er es für schlechter als nichts hält.
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1777)
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Bewusstsein heißt für mich zuerst (seelisches) Sein...
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...noch nicht (geistiges) Denken oder (körperliches) Wahrnehmen.
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Cogito ergo sum bzw. Esse est percipi sind also noch nicht der Kern.
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(Und dieses primäre seelische Sein halte ich für leider unhintergehbar.)
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1778)
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Wiedergeburt klingt paradox: ich als ein anderer.
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Aber ich bin ich, ein anderer ist ein anderer, oder?
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Auch für weniger mystisch veranlagte Leute, denen wie mir die Coincidentia oppositorum ein Graus ist, wird die Wiedergeburt zumindest denkbar, wenn man zwischen einem bleibenden Kern des seelischen (Bewusst-)Seins und einer sich verändernden Peripherie des persönlichen (Selbst-)Seins unterscheidet.
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1779)
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Sein oder Nichtsein? Nichtsein, da bin ich mir sicher: mein Sein endlich loswerden.
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Aber die Frage stellt sich in praxi ja gar nicht. Denn das Sein ist, das Nichts ist nicht.
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Bleibt nur: Sosein oder Anderssein? Und da ist es umgekehrt: mein Sein noch nicht loslassen.
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1780)
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Es gibt objektivistische "Monotheisten", die schon längst nicht mehr an die reale Existenz ihres Schöpfers glauben, aber weiterhin am gesellschaftlich installierten Gottesideal festhalten.
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Ich bin subjektivistischer "Nihilist", der die Hoffnung auf eine gesicherte Alternative zum bewussten Sein längst aufgegeben hat, sich aber weiterhin am Ideal des bewusstlosen Nichts orientiert.
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Dieses Hängenbleiben an der größtenteils überwundenen Weltanschauung "eine Stufe zuvor" ist Sentimentalität bis Konservatismus, Zögerlichkeit bis Skeptizismus, Angst bis Pessimismus.
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1781)
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Mens sana in corpore sano?
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Also ich fürchte ja, Körper und Geist sind nur vergängliche Anhängsel...
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...der auf ewig leidenden Seele.
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(Nicht etwa als Aufstockung vom Dualismus zum Trialismus gemeint, vielmehr als Behauptung eines Seelen- i.S.v. Bewusstseinsmonismus.)
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1782)
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Wohin stirbst du?
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Stirbst du ins paradiesische oder ins höllische Jenseits, in ein besseres oder in ein schlechteres Diesseits, ins bewusstlose Nichts oder in die allbewusste Einheit, ins ewig Gleiche oder ins endlich Andere – erscheint dir jedes oder keines der Vorgenannten plausibel, oder stirbst du erst gar nicht?
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Also ich gehe zur Zeit davon aus, dass ich in ein schlechteres Diesseits sterbe.
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(N.B. Bei Suizidenten ignoriert die materialistische Wissenschaft deren subjektive Heilserwartungen an den Tod; obwohl oder gerade weil man selber eine davon – das bewusstlose Nichts – in der Welt verbreitet, zieht man nur objektive Fehlfunktionen des Lebens in Betracht.)
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1783)
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Na gut, könnt schon sein, dass ich depressiv bin.
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Aber Psychotherapie ist mir zu nietzscheanisch.
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Und Psychopharmaka sind mir zu objektivistisch.
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(Meine Krankheit muss sich wohl selber heilen.)
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1784)
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Der Idealist Schopenhauer ist m.E. das winzige – um nicht zu sagen nichtige – Zentrum der abendländischen Philosophie. Dem christlichen und aufklärerischen Ja setzt er das buddhistische Nein entgegen...
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...und Nietzsche samt allen Postmodernen versuchen seither, dieses Nein wieder ins Ja retro zu drehen; m.E. ohne Chance, da unser Leid auch mit aller aufgebotenen Ironie nicht zur Erfindung eines Lügners wird...
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...sondern die erste Wahrheit bleibt, wovon aber nicht einmal Schopenhauers spärliches Gefolge – Mainländer, Horstmann, Lütkehaus – etwas wissen will: realistisch bekehrt versichern alle, das Leid ende im Tod...
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1785)
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Realismus und Materialismus bestehen in der Behauptung, die Welt sei von vornherein Ding bzw. Materie plus x...
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...wobei auch jegliches x auf heute noch nicht nachvollzogene Weise real bzw. materiell zusammengesetzt sei...
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...und damit auch Leidbewusstsein als komplexes Konglomerat schließlich wieder in einfaches Neutrales zerfalle...
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(Warum merkt keiner, dass das Erlösungsreligion ist? Weil der Gedanke ans ewige Leid das Denken lähmt.)
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1786)
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Lebensverneinung – ein Begriff, den ich bisher v.a. mit Schopenhauers Philosophie im Sinn recht gerne verwendet habe – kommt immer missverständlicher rüber.
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Denn "das Leben wäre besser nicht" (ein Satz, dem ich zustimme) und "der Tod ist besser als das Leben" (ein Satz, dem ich nicht zustimme) klingen für Realisten gleich.
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Je realistischer die gesellschaftsübliche Weltanschauung, je synonymer also Tod und Nichtsein, desto genauer müssen Andersdenkende wie ich ihre Worte wählen.
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1787)
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Die Erinnerung an meine Nahtoderlebnisse macht mich – in den eher seelisch-spekulativen als geistig-disziplinierten Momenten – zu einer Art pessimistischem Buddhisten.
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Den Tod sehe ich dann als eine Phase fast völliger Ohn-Macht (sic!) bei vollem Bewusstsein... N.B. Klingt erst mal paradox, aber ganz gegenwärtig stellt sich das Bewusstsein im Tod als primär passiv bzw. reaktiv heraus, wo es der Naive im Leben zuvor – seine Ohnmacht möglichst ignorierend – doch für primär aktiv gehalten hat.
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...währenddessen man – in ängstlich-affektiver Reaktion unfähig zu zeitlichem und räumlichem Weitblick – einfach irgendwie und somit i.a. leidender reinkarniert.
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(Optimistische Buddhisten versuchen durch meditative Praxis zu lernen, ihre – zudem karmisch wohlgeregelte statt hektisch-zufällig ablaufende – Reinkarnation in dieser Bardophase zu verhindern.)
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1788)
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Der Gesellschaft etwas zurückgeben?
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Die einen arbeiten und kriegen Kinder.
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Andere randalieren oder laufen Amok.
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(Meint die Gesellschaft es denn gut mit uns Individuen? Und ist gut gemeint gut genug? Konsequentialistisch gesehen zählt Kollateralschaden genauso.)
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1789)
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Ob ich mich für einen guten Menschen halte?
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Weder für einen guten noch für einen schlechten.
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Frondienstverweigerung und Herrschaftsenthaltung.
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1790)
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Stets die zwei gegenteiligen -ismen samt typischen Argumenten dafür finden...
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...und sich möglichst für einen von beiden entscheiden bzw. dahin tendieren...
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...ist mir nach wie vor der beste Wegweiser durch diese verwirrende Welt...
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1791)
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Wer oder was bin ich...
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...und wer oder was von meinem Leben wird wer oder was in meinem Tod?
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Hauptfrage: Endet mein Leiden im Tod?
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(Die beiden Weltanschauungsparteien, die ihren Anhängern das in Form von Paradies bzw. Nichts versprechen, bleiben führend.)
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1792)
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Die Monotheisten wollen endlich nicht mehr mitleiden müssen.
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Anders lässt sich ihr Vorhaben einer endgültigen Aufteilung der Lebensgemeinschaft in Himmel und Hölle kaum deuten.
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Die in der Hölle leiden weiter, die im Himmel leiden nicht mehr mit.
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(Mein Glaube an die zufällige Wiedergeburt verneint diese Flucht.)
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1793)
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Ich glaube weder an Gott noch ans Jenseits.
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Aber auch nicht ans Ende im Tod, da zu schön um wahr zu sein.
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Zur Zeit glaub ich an zufällige Wiedergeburt im ewigen, in aller Regel miserablen Diesseits.
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1794)
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Pessimistischer Wiedergeburtsglaube ja....
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...aber optimistischer Karmaglaube nein...
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...weil letzterer annimmt, jeder sei für sein Schicksal selbst verantwortlich bzw. niedrigere Wiedergeburt sei vermeidbar.
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1795)
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Früher glaubten wir, die Erde sei eine Scheibe, und der Tod sei das ewige Paradies.
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Heute "wissen" wir gar, die Erde ist eine Kugel, und der Tod ist die ewige Ruhe.
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Die Hoffnung stirbt zuletzt? Ich fürchte, wir entsterben ihr nicht, sondern werden enttäuscht.
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1796)
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Zufällige Wiedergeburt ist die Vorstellung von immer wieder nur endlicher Kontingenz in alle Ewigkeit.
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Und damit das Gegenteil von Himmel und Hölle als ewig währender Konsequenz aus einmalig Endlichem.
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Seit meiner christlichen Indoktrination denke ich v.a. todwärts, doch auch möglichst fort vom Prophezeiten.
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1797)
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1. Alles wird gut: Allerlösung.
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2. Alles geht vorbei: Allvernichtung.
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3. Alles bleibt miserabel: Allverdammnis.
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(Wir pessimistischen 3er sind die wenigsten.)
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1798)
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Zufällige Wiedergeburt werte ich nur als Glück im Unglück, genauer gesagt als eine Gerechtigkeit 2. Ordnung in der Ungerechtigkeit 1. Ordnung.
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Ungerechtigkeit 1. Ordnung, überhaupt dasein zu müssen. Und Gerechtigkeit 2. Ordnung, immer wieder blind ein anderes Dasein zugelost zu kriegen.
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Jedenfalls ist zufällige Wiedergeburt in unserer Welt m.E. viel ungerechter als das Nichts für alle. Näher an der Allverdammnis als an der Allvernichtung.
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(Aber doch besser als Allverdammnis, weil ein kleiner Prozentsatz ein recht schönes Dasein hat? Hm, gerade das könnte der Höllentreibstoff sein...)
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1799)
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Monismus ist praktisch immer übertrieben, denn auch das Gegenteil trifft immer ein wenig zu; aber Dualismus ist i.a. viel untertriebener.
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Im wesentlichen reicht es mir daher, von zwei Gegenteilen das viel zutreffendere zu wählen und mich zum entsprechenden -isten zu erklären.
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Mein Pessimismus z.B. ist ein Opfermonismus – frei agierende Täter sind extrem selten. Passiv sein, höchstens Reagieren ist die Regel.
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1800)
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Nach der christlichen Religion kam bei mir der naturalistische Realismus, nach etwas mystisch-holistischem New Age etwas skeptisch-partikularistische Postmoderne. Soweit meine weltanschauliche Zeit im Mainstream. Schon damals mit jeweils pessimistischem Schlag, aber die negativen Versionen der vier genannten Richtungen sind zumindest noch allgemein bekannt, sozusagen Abweichlerei für Anfänger.
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Ich meine, es war Schopenhauer, evt. trug auch der Zeitgeist von The Matrix dazu bei – jedenfalls kam bei mir dann der subjektive Idealismus, dessen Ausformulierungen von Berkeley bis zu den radikalen Konstruktivisten mich aber noch in der Spur des "aktiven Subjektivismus" hielten. Die subjektivistische Minderheit der Philosophen, seltsamerweise auch die Pessimisten, begreifen das Subjekt alle als primär aktives.
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Inzwischen habe ich aber in die Minderheit der Minderheit gewechselt, nenne mich "passiver Subjektivist" oder auch "subjektiver Realist", soll bedeuten: Bewusstseinsmonist mit Betonung auf den Qualia statt auf der Intentionalität. Subjekt also im wörtlichen Sinne von unterworfen, von Opfer. Dem seelischen Fühlen ausgesetzt, ohne Ende; z.B. durch zufällige Wiedergeburt i.S.v. wieder und wieder anders Geworfensein.
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1801)
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Im Tod ein freudigeres oder leidigeres Sein (bis hin zu Himmel und Hölle).
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Im Tod ein kleineres oder größeres Sein (bis hin zum Nichtsein und Gottsein).
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Im Tod Selbst- oder Anders-Sein (bis hin zum Ganz Einen und Ganz Anderen).
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(Den Tod ignorieren, bestreiten oder sich an eine von o.g. Prognosen halten.)
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1802)
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Was ist üblich? Thanatophilie, Thanatophobie? Beides oder keines davon?
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Himmelserwartung macht thanatophil, Höllenerwartung macht thanatophob.
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Erwartung des Nichts und auch des Ganz Anderen kann je beides machen.
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1803)
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Mein Dasein ist schlechter als nichts, doch es ist über dem Durchschnitt.
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Kaum ein Dasein ist besser als nichts, die Hälfte unter dem Durchschnitt.
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So wäre das Nichts im Tod zwar höchst ungerecht, mehr Gerechtigkeit z.B. durch zufällige Wiedergeburt aber zum Fürchten.
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1804)
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Wer sich umbringen will...
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...ist zwar Lebenspessimist...
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...aber noch mehr Todesoptimist.
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1805)
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Ich glaube, im Tod ein anderer zu werden...
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...aber eben kein ganz und gar anderer.
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Vgl. vormals unzugängliche Natur!
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1806)
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Religiös: Zum Glück ist das Schlechte endlich und das Gute ewig.
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Realistisch: Zum Glück ist das Schlechte endlich.
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Pessimistisch: Leider ist das Schlechte ewig.
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1807)
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Die Pessimisten des 20. Jahrhunderts wie z.B. Adorno hatten ihr stärkstes Argument in den Gräueln des Dritten Reichs.
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Aber evt. ist alles noch viel schlimmer, denn selbst eine harmonische Menschheit quält unweigerlich den Rest der Welt.
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Und kann dabei evt. gar keine Ahnung haben, welches Leid sie diesem Rest wirklich zufügt – ja, auch Pflanzen, auch Dingen!
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(Wie einig nur alle darin sind, dass das Leid zur "niederen Kreatur" hin abnimmt – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.)
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1808)
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Antirealismus, eliminativer Phänomenalismus, Bewusstseinsmonismus...
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...zum Glück bin ich alt genug, diese Mindermeinung offen vertreten bzw. danach leben zu können.
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Aber wer gesellschaftlich dazugehören will bzw. muss, hats ohne Bekenntnis zu unser aller materieller Verfasstheit recht schwer.
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1809)
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Schon das Nichts im Tod wär der Himmel: ein für allemal im bewusstlosen Jenseits verbleiben dürfen.
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Schon die Gerechtigkeit im Tod wär die Hölle: jedes mögliche Los im bewussten Diesseits ziehen müssen.
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Sich nach diesem Leben das Nichts zu wünschen ist also Hybris, sich Gerechtigkeit wünschen ist Wahnsinn.
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1810)
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Das Nichts wär so ein prima Jenseits.
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Aber fürchtentlich gibts kein Jenseits.
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Das Diesseits ist eine ewige Quälerei.
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1811)
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Man redet über den Tod als Vorgang.
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Man redet über den Tod als Ereignis.
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Aber nicht über den Tod als Zustand.
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(Also ich fänd ja den am wichtigsten.)
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1812)
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Was verändert der Tod an mir?
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Mein innerstes Ich kommt in einen anderen Körper – z.B. Wiedergeburt im Diesseits als Tier – oder in eine andere Außenwelt – z.B. als arme Seele im höllischen Jenseits. Oder mein altes Ich verschwindet ganz, und ich muss auch im Innersten ein anderer werden.
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Selbst dann bleibt der eigene Tod zumindest noch pluralistisch-partikular denkbar: Ich als multiple Persönlichkeit mit vielen Teilen und Eigenschaften, die an je verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten entstehen und vergehen – Ich in ewiger und totaler Wandlung.
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1813)
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Was kann mir wohl noch alles passieren, wenn ich tot bin?
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Nicht jeder Mensch verträgt jede überlieferte Todestheorie.
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Evt. ist die eigene Überzeugung v.a. Flucht vor den fremden.
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1814)
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Das Gegenteil von Platos immer klüger gewähltem neuen Lebenslos...
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...ist das blind gezogene alte, schon von den Ahnen hilflos erduldete.
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Das muss man sich mal vorstellen. Runter vom hohen Ross der Väter...
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(...oder eben auch zurück bzw. hinab unter deren Knute, je nachdem.)
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1815)
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Um den Todeszustand weder zu sehr zu fürchten noch zu sehr zu ersehnen...
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...muss man sich die für einen passende Todestheorie evt. selber aussuchen...
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...oder sich sogar seine eigene ausdenken dürfen – die eine für alle gibts nicht.
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1816)
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Die das Leben für ein Gut halten, halten sich oft auch noch zugute, den Tod als endgültiges Ende des Ichs akzeptieren zu können...
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...und belächeln alle, die immer noch nicht modern genug seien, Epikurs Feststellung zu teilen, der Tod ginge uns nichts an.
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Sie bedenken nicht: für uns, die wir das Leben für ein Übel halten, ist es der schwerere Weg, vom unendlichen Leben auszugehen.
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1817)
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Wenn ich Nikolaus von Kues' Idee mal ernst nehme, dass sich in der Ewigkeit jeder genau im Zentrum befindet...
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...dann bedeutet mein individualistischer, intuitiv für mich gewählter Glaube an ewige, zufällige Wiedergeburt...
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...dass jeder die eine Hälfte aller Seinsmöglichkeiten schon hinter sich hat und die andere Hälfte noch vor sich...
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(Das ist gerecht, überhaupt nicht elitär-fortschrittsgläubig, und auch das Nichtsein kann einen riesigen Anteil haben: fast aller Raum bzw. alle Zeit ist bzw. sind wir nichts, nur leider nützt uns das nichts, weil wir davon eben nichts mitkriegen.)
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1818)
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Nach meiner Theorie läuft jedes Leben vergleichsweise deterministisch ab...
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...und dafür wird man im Tod dann vergleichsweise zufällig ein anderer...
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...und ganz zeitgeistgemäß ist somit der freie Wille weit abgeschlagen.
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1819)
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Dass Leben hauptsächlich Leiden ist, schließe ich daraus, dass es mir kaum mal gut geht, aber mir kaum mal das Leben eines andern besser vorkommt.
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Da ich ansonsten eher an den Zufall als an einen Deus Malignus glaube, fragt sich: woher diese einseitige Statistik, dieser negative Mittelwert des Seins?
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Anscheinend rauscht nur der Mikrokosmos richtig, schon im Mesokosmos ist die Annahme von gleichmäßigem Zufall nur noch ein dicker Kategorienfehler.
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1820)
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Die Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und Heiliger Geist steht m.E. auch für eine Hierarchie, welche sich besonders im Kirchenpersonal widerspiegelt.
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Wo es nicht dominieren kann, fügt es sich ebenso lustvoll in Schuldigkeit bis Zerknirschung – und weit hinter diesem Sado-Maso kommt endlich die Klausur.
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Ich mags umgekehrt: erst mal halte ich mich möglichst raus – Machtverzicht und Dienstverzicht. Dann erst helfen. Herrschaft nur als letzter Ausweg.
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1821)
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Ganze Pessimisten glauben an...
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...ein unerwünschtes Leben...
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...vor und nach dem Tod...
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1822)
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Nach mystischem Zauber bzw. wissenschaftlicher Methode...
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...und deren Vermählung im postmodernen "Anything goes"...
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...kommt evt. das "Weder-Noch" des resignativen Quietismus...
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(...wo man die Heiler jeder Couleur nach Möglichkeit meidet.)
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1823)
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Der vorgestellte Todeszustand ist (zumindest mein) maßgeblicher Lebensrahmen.
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Ein Riesenunterschied, ob man religiös auf Himmel bzw. Hölle, mystisch auf Einheit bzw. Leerheit, modern auf Nichts bzw. Unbekanntes oder subjektivistisch auf Gleiches bzw. Anderes hinlebt, äh hinstirbt.
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Ich sehe den Tod inzwischen als Übergang zur nächsten – wiederum nur endlich andauernden – anderen Existenz, wie sie mittels Empathie für die Umgebung in all ihren Facetten schon jetzt näherungsweise vorstellbar ist. Zufällige Wiedergeburt also, Perspektivwechsel im Diesseits, evt. sogar i.S.v. Rollentausch: nicht nur einen beliebigen bzw. missliebigen anderen von innen, sondern gewissermaßen auch mich von außen erleben müssen.
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1824)
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Die evt. areligiös gemeinte Todesanzeige in der SZ vom 24.7.13 "Ich bin nicht mehr"...
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...müsste m.E. ganz anders lauten, wollte sie denn wirklich areligös sein:
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"Jetzt, da ich dies schreibe, weiß ich nicht, was mit mir ist, wenn du dies liest"...
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1825)
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"Schlafen kannst du, wenn du tot bist?"
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Ich sehe mein Leben eher als die Ruhe...
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...vor dem Sturm im Tod – Pessimist eben.
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1826)
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Zufällige Wiedergeburt: das Modell lenkt die Erwartung an den Tod...
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...weg vom alt-ganzheitlichen "immer mehr Teilhabe an der Weltseele"...
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...hin zum neu-partikularen "immer andere Teilhabe an der Weltseele"...
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Band 6
ab 1827)
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1827)
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Modelle des Todeszustands...
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...angeordnet nach Wünschbarkeit aus meiner Sicht: Himmel, Bewusstlosigkeit, Nichts-Bewusstsein, Ich, Anderer, All-Bewusstsein, Unbekanntes, Hölle.
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...angeordnet nach Wahrscheinlichkeit aus meiner Sicht: Anderer, Ich, Unbekanntes, Bewusstlosigkeit, Nichts-Bewusstsein, All-Bewusstsein, Hölle, Himmel.
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(Himmel&Hölle heißt: was mir zu Bewusstsein kommt, ist nur angenehm bzw. nur unangenehm; All-Bewusstsein heißt: alle Bewusstseine werden (m)eines; Nichts-Bewusstsein heißt: leeres Bewusstsein bzw. bewusstes Nichts; Bewusstlosigkeit heißt: bewusstloses Nichts; Unbekanntes heißt: unmöglich mit bisherigem Bewusstsein abschätzbar; Ich heißt: mein Bewusstsein ist nach dem Tod ähnlich wie vor dem Tod; Anderer heißt: im Tod immer wieder ein anderer oder anderes werden, wie man ihn oder es im Leben evt. schon von außen kannte – statt des parallelen All-Bewusstseins also ein serielles All-Bewusstsein.)
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1828)
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Eine lebensverneinende Pessimistenkollegin sagte mal zu mir, dass ihr die Wissenschaft zumindest für den Tod genau das verspreche, was sie sich eh am meisten wünsche, nämlich die endgültige Bewusstlosigkeit.
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Aber ist diese Übereinstimmung wirklich Zufall? Wenn man schaut, was die Gesellschaft von ihren Mitgliedern will – siehe z.B. Stellenanzeigen – findet sich genau eines niemals: lebensverneinender Pessimismus.
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Und zahllose Pessimisten, in früheren Zeiten von der für Selbstmörder ausgesprochenen Höllendrohung am Leben erhalten, entsorgen sich heute bereitwillig selbst – günstig für die Leistungsgesellschaft!?
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(Verschwörungstheorie: die moderne Gesellschaft lehrt, es sei wissenschaftlich erwiesen, der Tod bedeute unwiderrufliche Auslöschung des Selbst – um Pessimisten in den Tod und Optimisten zur Eile zu treiben.)
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1829)
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Mystik ist subjektivierte Religion, statt Schaf in Gottes Herde ist der Mystiker selber das Universum.
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Postmoderne ist subjektivierte Moderne, statt prädizierbarer Naturprozess ist der Postmoderne Autopoiet.
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Ich kann mich weder passivem Realismus noch aktivem Idealismus anschließen, bin passiver Subjektivist.
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1830)
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Als ich noch Christ war, hatte ich in erster Linie Angst vor der Hölle, seit ich modern denke, befürchte ich irgendeine Zufallsscheiße.
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Aber so gut wie alle andern Christen sind sich des freudvollen Himmels sicher, die Modernen des leidlosen Nichts. Woher dieser Optimismus?
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Wie auch immer, die Mehrheit überzeugt mich nicht. Religion und Wissenschaft wissen m.E. kaum etwas, unsere Zukunft bleibt dunkel.
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(Stelle eigene Vermutungen an zum plausibelsten Szenario im Tod, z.Zt. zufällige Wiedergeburt im Diesseits als anderer/anderes.)
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1831)
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Mein passiver Subjektivismus ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil vom radikalen Konstruktivismus...
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...denn letzterer setzt zwar auf die aktive Autopoiesis, aber eben doch aufs Gehirn als deren reale Basis...
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...während ich mit ersterem vom materiellen Wesen weg bin, aber ein passives Erlebenmüssen annehme.
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1832)
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Objektiv und gemusst, oder subjektiv und gewollt?
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Ich meine aber, die Welt ist subjektiv und gemusst.
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Weder gibts ne tote Außenwelt noch ist der Wille frei.
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(Nur andere Innenwelten, alle zwingend wie meine.)
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1833)
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Meine Ichs von innen fühlen...
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...und die Ichs anderer von außen mitfühlen...
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...und unbekannte Ichs ganz anderer ängstlich vermuten...
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(...mehr Möglichkeiten bietet mein passiver Subjektivismus nicht an.)
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1834)
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Viele Realisten sind noch religiös, behalten ihren Gott im Hinterkopf.
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Viele Skeptiker sind noch realistisch, vertrauen auf ihr Ende im Tod.
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Ich bleibe auch als Subjektivist skeptisch, Objektivismus könnt sein.
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1835)
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Partikularer Subjektivismus: Bewusstsein ist ubiquitär, aber nur als je defizitäre Teilhabe an der Welt.
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Weder gibt es ein All- und Einsein noch ein Null- und Nichtsein – nur leidig Unvollständiges dazwischen.
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Der heute übliche Materialismus aber sieht Bewusstsein als ausnahmsweise aus Bewusstlosem hervorgehend.
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(Mir Pessimisten ist das Nichts bewusstlose Besonderheit, das Bewusstsein unendlich schwer loszuwerden.)
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1836)
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Realismus von lat. res, die Sache, das Ding...
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...ist der feste bis unbeirrbare Glaube an den Grundzustand der Bewusstlosigkeit...
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...sowohl von allem, was der Realist guten Gewissens ausbeutet, als auch des eigenen Selbst vor und nach dem Leben.
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1837)
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Über- und Unterpersonen – ich könnte mir vorstellen, dass ich aus vielen Unterpersonen bestehe und Teil einer oder vieler Überpersonen bin.
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Aber eine ultimativ kleinste, völlig bewusstlose Person bzw. eine ultimativ größte, völlig bewusste Person eher nicht, höchstens zeitlich begrenzt.
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Zusammen mit meinem Glauben an die zufällige, ewige Wiedergeburt würde das dann heißen: jeder ist evt. auch mal nicht bzw. ist evt. auch mal Gott.
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1838)
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Meine Welt besteht nur aus Subjekten, die an ihr teilhaben. Altmodisch gesagt aus Seelen, ich bin subjektiver Idealist bzw. Subjektivist.
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Heutzutage besteht die Welt aber angeblich nur aus Körpern, aus Objekten im Nichts. Die Menschen sind Realisten bzw. Objektivisten.
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Oder sie sind noch altmodischer als ich und glauben an Gott als den Geist bzw. das Überwesen schlechthin, sind objektive Idealisten.
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(Ich meine, dass die Welt als tote Fitzelchen überdifferenziert beschrieben wird, und als Ausdruck der einen Riesenidee überintegriert.)
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1839)
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Misstraue dem Leben...
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...doch mehr noch dem Tod!
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Echte Pessimisten bringen sich nicht um.
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1840)
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Als Subjektivist bestreite ich Objektives, d.h. unabhängig von den Subjekten Existierendes.
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Aber ich bin kein Solipsist, sonst könnte ich einfach alles zum Ich rechnen bzw. mir aneignen.
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So partikular die Subjekte, so verschieden ihre Wahrnehmung – m.E. gibt es intersubjektiv Gültiges.
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(Z.B. will alles und jedes unversehrt bleiben, in Ruhe gelassen werden. Ich nenne das Quietismus.)
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1841)
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Pessimismus: die Welt lässt nur die Wahl zwischen...
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...dem schlimmen Zustand Leben und...
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...dem wahrscheinlich noch schlimmeren Zustand Tod...
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(...mit dem Nichts als nicht gegebenem Dritten.)
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1842)
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Obwohl der offizielle Kanon diese Unterscheidung nicht vorsieht, würde ich als Subjektivist...
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...mich eher als subjektiven Realisten denn als subjektiven Idealisten bezeichnen wollen...
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... weil ich meine, dass die Subjekte sich und die anderen eher als gegeben vorfinden denn sich selbst konstituieren...
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(...und es auch besser dabei belassen sollten, da sie – sich v.a. aktiv wähnend – alles stetig verschlimmern...)
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1843)
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Mal angenommen die Realisten haben recht, dann bin ich die Ausnahme der Ausnahme.
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Denn nur sehr wenig Materie hat Bewusstsein, und sehr wenig Bewusste sind depressiv.
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Ich jedoch schließe von mir auf alles und sage: es gibt nur Subjekte, und v.a. leiden sie.
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(Der realistische Ausweg ist sonnenklar: erst antidepressive Therapie, dann Suizid.)
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1844)
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Eine pessimistische Annahme, die mich mein Leben schätzen lässt:
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Im Leben darf ich noch ich bleiben, im Tod muss ich ein anderer werden.
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Denn Himmel, Nichts und Ich rangieren über Anderes, Unbekanntes und Hölle.
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1845)
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Mein Lebensgrund ist Todesangst – und zwar keine Angst vor dem Nichts, sondern ganz im Gegenteil vor dem weiteren Sein.
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Es fasziniert mich, wenn Leute partout weiterleben wollen, trotz eines angeblich festen Glaubens an das endgültige Nichts im Tod.
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Denn dann müssten sie ihr Leben ja für sich selber oder zumindest für andere als überwiegend angenehm bzw. sinnvoll empfinden.
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(Ist der moderne Nichtsglaube nur aufgesetzt? Die leidende Kreatur klammert sich auch weiterhin ans letzte bisschen Leben.)
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1846)
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Let's talk about death, baby...
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...let's talk about you and me...
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...let's talk about all the good things and the bad things that may be...
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1847)
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Zufällige Wiedergeburt – mit am gelungensten an diesem meinem momentanen Todeszustandsmodell scheint mir, dass...
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...es die Todesvorstellung aus den üblichen Extremen rausholt: Himmel, Hölle, Nichts, All-Einheit, Ganz Anderes – sie alle verkünden...
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...anders als die zufällige Wiedergeburt das Ende jeglicher Normalität. Doch schlimmerweise bleibt wohl auch im Tod alles normal...
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(Apropos Tod und Extrem: Adler sieht die Motivation junger Selbstmörder im dialektischen Umschlag von Minderwertigkeitsgefühl in Großmannssucht.)
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1848)
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Wie um Himmels willen ich darauf komme, dass im Tod die nächste von zahllosen zufälligen Wiedergeburten auf mich wartet?
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Zum einen haben mir Nahtoderfahrungen den Eindruck vermittelt, dass im Tod Körper und Geist gehen, die Seele leider bleibt.
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Zum anderen traue ich mich, mit meinem Alltagsverstand etwas für mich selber Plausibles zu raten und mich daran zu halten.
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(Von religiöser Offenbarung, meditativer Erfahrung, naturalistischem "Wissen" und skeptischer Distanz bin ich abgekommen.)
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1849)
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Find ich gut, dass der Tod in künstlerischen Kreisen thematisiert wird...
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...wenngleich er auch dort weniger als beängstigendes Fragezeichen...
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...denn als evidenter Schlusspunkt gilt, der das Leben v.a. aphrodisiert...
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1850)
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Wie viel Bewusstseinserweiterung ist wünschenswert?
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Den Optimisten ist das All-Bewusstsein sozusagen der Himmel für Fortgeschrittene, in der Unio Mystica wird der Weise eins mit Gott.
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Für mich als Pessimisten dagegen rangiert die Vorstellung, mir sei gar alles bewusst, nur knapp über der Hölle und dem unvorstellbaren Ganz Anderen.
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(Allerdings strebe ich nach dem sicheren Nichtsein – und für dessen Verwirklichung bräuchte es evt. die Bewusstmachung von allem. Nicht zu verwechseln mit der Behauptung der Erleuchteten, Alles und Nichts seien in Wahrheit ein- und dasselbe.)
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1851)
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Wenn ich holistischen Subjektivismus mal die z.B. im Hinduismus vertretene Ansicht nenne, dass Ich und Welt eins sind...
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...dann nenne ich partikularen Subjektivismus meine Ansicht, dass die Welt ausschließlich aus Teilbewusstseinen besteht...
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...und jedes Teilbewusstsein wieder aus Teilbewusstseinen usf. – alle ohne Aussicht auf Ganzheit, in alle Ewigkeit...
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(...wobei ich als Pessimist mir eh recht sicher bin, dass All-Bewusstsein vielmehr die Hölle wäre als der Himmel...)
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1852)
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Ich bin Subjektivist bzw. Bewusstseinsmonist...
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...aber partikularistisch statt holistisch, pluralistisch statt solipsistisch, passivistisch statt aktivistisch...
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...d.h. Teilbewusstseine statt Allbewusstsein, ich und andere statt nur ich, stimmungsvoll statt absichtsvoll...
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1853)
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Wenn ich loslasse, drifte ich ab zum Anderen, verkomme gar zum bösen Berserker.
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Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es evt. kurzzeitig bis zur bewussten Ruhe.
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Ideal wäre erst die ewige bewusstlose Ruhe – dazu bräuchte es aber einen Gott, der sich für mich anstrengt, sie mir zu sichern.
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(Unter mir das niedere Andere, über mir das bewusste Nichts i.S.v. Nirvana – eigentlich bin ich ein moderner Buddhist, ohne Karmaglaube halt.)
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1854)
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Die zwei großen Lügen: "Das Leben ist schön" und "Der Tod ist endgültige Bewusstlosigkeit".
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Die zwei großen Wahrheiten: "Das Leben ist hässlich" und "Der Tod ist unbekanntes Terrain".
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Wer die erste Lüge durchschaut und die zweite nicht, ist leider besonders suizidgefährdet...
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(...was auch dem Kollektiv passieren kann – evt. sind wir Menschen die nächsten Lemminge.)
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1855)
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Warum wird das Leben schöngelogen? Warum ist es so üblich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
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Eltern belügen ihre Kinder, weil die Kinder viele Jahre lang sorgsam vom Ernst des Lebens abgschirmt werden müssen, wenn sie keinen Schaden nehmen sollen. Kinder belügen ihre Eltern, weil sie spüren, wie sehr das Glück der Eltern vom Glück oder vermeintlichen Glück ihrer Kinder abhängt.
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Die Bessergestellten belügen die Schlechtergestellten, weil diese ihrer Hoffnung und ihrer Vorbilder nicht beraubt werden sollen. Die Schlechtergestellten belügen die Bessergestellten, weil jene sich ihres Unglücks schämen und nicht als Miesmacher gemieden werden wollen.
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1856)
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Es ist naiv, keine Angst vor dem Tod zu haben. Auch wenn Priester, Philosophen, Ärzte, Pfleger, Therapeuten etc. vom Gegenteil gemeinhin noch so überzeugt sind.
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Ich habe viel mehr Angst vor dem Tod als Angst vor dem Sterben, viel mehr Angst vor dem Sterben als Angst vor dem Leben – und schon genug Angst vor dem Leben.
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Und mir graut vor all den selbsternannten Todeskennern und -tröstern, die mir diese meine Angst werden ausreden wollen, wenn ich ihnen schließlich in die Hände falle.
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1857)
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Die starken und gesunden Kinder hoffen auf ein Weiterleben nach dem Tod.
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Als schwache und kranke Greise hoffen sie dann mal genau das Gegenteil.
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So stehen sich Religion und Realismus in der Gesellschaft stets gegenüber.
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(Ein schlechteres Afterlife traut man sich heute nicht mal mehr zu fürchten.)
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1858)
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Erfreulich, wenn eine Theorie ihren i.a. sowieso unvermeidlichen wunden Punkt der Widersprüchlichkeit in sich, ihren auch bei guter Denkarchitektur benötigten Schlussstein gleich durch ihren Namen preisgibt, statt ihn abzustreiten bzw. zu verstecken.
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Der heute in der Philosophie des Geistes oft vertretene antireduktionistische Materialismus beispielsweise – man fragt sich gleich: wie kann der Geist dort bitte materielle Eigenschaft sein, wenn er sich prinzipiell nicht aufs Materielle reduzieren lässt? Die sog. starken Emergentisten – der Geist taucht ohne Vorstadien völlig wesensfremd aus der Materie auf – wollen dennoch zusammen mit den schwachen Emergentisten, die von einer zukünftigen Reduzierbarkeit ausgehen, zu den Monisten gehören.
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Oder mein passivistischer Subjektivismus – besteht das Wesentliche des Subjekts nicht darin, dass es als Geistiges bzw. Seelisches aktiv und freien Willens statt passiv und determiniert ist? Nein, bei mir ist es v.a. letzteres. Trotzdem bin ich Antirealist, glaube nicht an eine vom Subjekt unabhängig existierende Außenwelt. Nenne mich Bewusstseinsmonist, während die starken Emergentisten m.E. Dualisten sind, ihre tote Erstwelt ein das unhintergehbare Bewusstsein hintertreibender Mythos.
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1859)
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Der Realismus – von lat. res, das Ding – ist eine als ihr glattes Gegenteil verkannte Illusion und des Depressiven Tod.
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Wer sich ständig mit einem ganz gefühllosen Ding vergleichen muss, wird über kurz oder lang anfangen, es zu beneiden.
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Und das passiert gerade uns Menschen, die wir verglichen mit allen anderen Lebewesen fast überall im Vorteil sind.
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1860)
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Gibt es – verglichen mit dem bewusstlosen Nichtsein – ein nicht wünschenswertes Leben? Ist es nicht gar die bittere irdische Regel?
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Wer das zugibt, muss auch zugeben, dass der Realismus mit dem Nichts im Tod einen nicht weniger als religiös zu nennenden Charakter hat.
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Was dem Enkel die himmlische Wolke, auf der Oma bald wohnt, ist der Oma die realistische Bewusstlosigkeit, die sie bald erlöst.
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1861)
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Schlimm: geht es in Ordnung, jemand Jungen, der ein (noch) wünscheswertes Leben hat, mit dem Objektivismus i.S.v. endgültigem Nichtsein im Tod zu bedrohen?
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Schlimmer: geht es in Ordnung, jemand Alten, der kein wünschenswertes Leben (mehr) hat, mit dem Subjektivismus i.S.v. ewigem Diesseits ohne Tod zu bedrohen?
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Falls der Realismus irgendwann wieder abdankt, gibt es vielleicht eine doppelt betroffene Generation: in der Jugend mit dem Ende und im Alter mit der Ewigkeit bedroht.
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1862)
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Die um einen Neugeborenen Herumstehenden wollen ihn davon überzeugen, dass es schön wird hier.
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Die um einen Sterbenden Herumstehenden wollen ihn davon überzeugen, dass es schön wird dort.
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Beide Situationen sind v.a. beklemmend – und zwischendurch ist es leider auch nicht viel besser.
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1863)
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Es ist allgemein bekannt: nach einem Unfall, Trauma, Schlaganfall etc. ist oft nichts mehr wie vorher.
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Aber auch nach einer profunden NDE – nur sagt einem das i.d.R. keiner, man muss selber drauf kommen.
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In gewisser Weise zu vergleichen mit wieder Geborenwerden: alles anders, fremd, beängstigend.
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(Erster Lebensrahmen ist, was man sich unter dem Tod vorstellt. Ohne NDE bleibt jener i.a. unverändert.)
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1864)
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Den Übergang vom Nichts zum Sein und zurück gibt es m.E. nicht, weder unwillkürlich noch willkürlich.
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Auch nicht beim objektivierten Bewusstsein; an Emergenz und Submergenz glaube ich so wenig wie an Gott und Satan.
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Ansonsten wäre ich für Selbstvernichtung des Kollektivs, gegen Schöpfung und Vernichtung anderer Individuen.
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1865)
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Nichts über etwas zu wissen – soll das etwa heißen, alle Ja-oder-Nein-Fragen stehen fünfzig-fünfzig?
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Zu sagen, es stehe für einen echten Skeptiker fünfzig-fünfzig, ob das Leben im Tod endet oder nicht...
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...ist m.E. wie zu sagen, es stehe fünfzig-fünfzig, ob ein namentlich Unbekannter Paul heißt oder nicht.
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1866)
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Wie schaut die gesellschaftlich gängige Vorstellung vom Todeszustand aus, im vorigen Jahrhundert und in diesem?
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Im Monotheismus sollte gegenüber vom Paradies die Hölle liegen, im Naturalismus gegenüber vom Nichts das Unbekannte.
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Doch zunehmend wurde die Hölle nur noch für die je anderen warmgehalten, und heute wird das Unbekannte marginalisiert.
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(Insbesondere die Presse erstattet einhellig Bericht über die wissenschaftliche Aufklärung vermeintlich letzter Rätsel.)
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1867)
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Für die heute führenden Realisten liegt allem in der Welt das Körperliche zugrunde, für die opponierenden Spiritualisten das Geistige.
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Für mich als Panpsychisten, Bewusstseinsmonisten, Psychomonisten, Seelenmonisten, Welt-2-Monisten das Seelische.
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Statt mich runter zum Ding bzw. rauf zum Gott zu flüchten, identifiziere ich mich – ungern – mit der anima bzw. dem Animalischen.
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(Körper und Geist sind meiner ewigen Seele die vergänglichen Werkzeuge zur Herstellung der leider vergänglichen Seelenruhe.)
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1868)
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Der Körper und der Geist weiser Männer geht an die Nachkommen, in Form konservierter Leichen und kultureller Werke.
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Die Seele, so unterstellt meine pessimistische Philosophie, werden sie im Tod nicht an uns los, die bleibt ihnen selber erhalten.
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Zahllose Reinkarnationen später entwickelt sie vielleicht sogar wieder Geist, um vorübergehend Ruhe in der Weisheit zu finden?
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1869)
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Das Sein ist, das Nichts ist nicht – zumindest würde einem das unbewusste Nichts nicht bewusst. Und nur das ewige unbewusste Nichts wäre das wahre Nichts, das absolute Nichts, ansonsten isses halt nur Nirvana.
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Zwischen den zufälligen Wiedergeburten als je anderes Bewusstsein, an die ich momentan glaube, könnte sogar "objektiv" viel bewusstlose Zeit vergehen – subjektiv aber nicht, subjektiv exisistiert man ununterbrochen.
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Anders gesagt: solange das bewusstlose Nichts nicht endgültig ist, macht es nur Pausen in die leidige Existenz, von denen man nichts mitkriegt. Schon am nächtlichen Tiefschlaf fehlt ja die Genugtuung, gerade nicht da zu sein.
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1870)
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Eigentlich gibts m.E. nur mich und die anderen Tiere – wenn ich mich als partikularen Seelenmonisten bezeichne, dann meine ich mit Seele die anima animalis, nicht die amima rationalis oder den animus spiritualis.
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Sowohl die bewusstlosen Dinge des Realismus als auch der ewige Geist des Idealismus sind theoretische Abstraktionen, die m.E. nicht eigentlich existieren.
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Ich bin zwar ein Fan des Rationalismus i.S.v. Denken statt Handeln zwecks Leidvermeidung, aber im Tod vermute ich weder Abstieg zur Materie noch Aufstieg zum Geist – nur Transformation in ein anderes Tier.
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1871)
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Keine Angst vor einem schlechteren Leben nach dem Tod? Weil der Mensch ein für allemal das bessere Los gezogen hat?
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Materialismus und Spiritualismus haben in scheinbarem Widerstreit gemeinsam den Animalismus auf Eis gelegt.
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Die einen sehen dem Nichts, die anderen dem All-Einen entgegen. Dem Schicksal der Tiere fühlen sich beide enthoben.
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1872)
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Descartes' Dualismus spaltete die Welt in eine materielle und eine denkende Substanz, um dann die Tiere recht umstandslos den Sachen beizuordnen und die Menschen dem Gott.
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Auch der Streit um den wahren Monismus wird zwischen Materialisten und Spiritualisten ausgetragen; doch diese Monismen sind beide künstlich, ruhige Häfen am Rande der wilden See(le).
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Im Stadium des Anim(al)ismus hingegen wussten wir noch: wir alle sind und bleiben Tiere; heute ist dieser ursprüngliche Monismus dem Menschen anscheinend nicht mehr zuzumuten.
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1873)
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Die Theoretiker der Endlichkeit haben u.a. das Problem, dass alles ja auch mal angefangen haben muss.
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Und so wirds entgegen ihrer eigentlichen Absicht der Entmystifizierung dann doch recht wunderlich.
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Die Materie entsteht mit dem Urknall, und auch das Bewusstsein emergiert plötzlich, vorbedingungslos, irreduzibel.
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(Meinem Psychomonismus stellt sich dieses Problem nicht; Bewusstsein war und bleibt einfach immer – leider.)
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1874)
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Philosophische Begriffe auf die Endung -ismus stehen für Ist- und für Sollzustände.
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Die Welt ist alles andere als vernünftig – insofern bin ich Irrationalist – und sollte doch vernünftig sein – insofern bin ich Rationalist.
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Philosophische Begriffe können nie für sich alleine stehen, sie sind und bleiben kommentarbedürftig. Ist aber evt. Absicht.
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1875)
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Bezüglich Materie und Geist bin ich Eigenschaftsdualist, zugrundeliegende Substanz dieser beiden endlichen Werkzeuge ist m.E. die ewige Seele – ich bin Seelenmonist.
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Begründen muss ich diese Haltung wohl u.a. mit meinen als wesentlich empfundenen Nahtoderfahrungen, während derer das Physische und Logische wie weggeblasen waren.
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Und selber Miserabilist, unterstelle ich den anderen, die Materie oder Geist oder beide als zugrundeliegende Substanz annehmen, dass v.a. deren Leidneutralität sie anzieht.
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(Dürfte ebenso auf die neutralen Monisten zutreffen, wenn sie die Substanz mit den Eigenschaften Materie und Geist ins Unerkennbare bzw. Unerfahrbare legen.)
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1876)
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Der Trick am Streit zwischen Materialisten und Spiritualisten ist, dass die Erlösung auf jeden Fall stattfindet – denn ob wir im Tod zur Materie oder zum Geist zurückkehren, beidenfalls hat unser irdisches Leiden sein Ende.
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Für Materialismus wie Spiritualismus ist das leidende Bewusstsein ein Unfall, nur durch Kontamination mit dem jeweiligen Gegenteil entstanden – ein irregulärer Zustand, der in absehbarer Zeit wieder bereinigt wird.
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Sogar die Seelenlehre selber wurde von diesem unseligen Dualismus gründlich in der Mitte gespalten – kein psychologisches Paradigma, das sich Geist und Materie als leidfremde Abstraktionen des Seelischen abzutun traut.
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(Denkerisch auf die Materie-Geist-Dichotomie abonniert, bildet der heutige eliminative Materialismus einfach das Gegenstück zum alten Gnostizismus: der Weg zur Wahrheit sei die Elimination aller immateriellen Fiktion.)
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1877)
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Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, hat schon Aristoteles gesagt.
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Noch vor wenigen Jahrzehnten, als die Gestaltpsychologen und Systemtheoretiker diesen Gedanken aufgriffen, schnaubten die Objektivisten, er sei unwissenschaftlich.
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Erst nachdem ihn die Physikalisten Supervenienz, Emergenz, Fulguration etc. tauften, darf er sich anscheinend auch in den "echten" Wissenschaften blicken lassen.
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1878)
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Es gibt nicht nur keinen Gott, dem wir Anfang und Ende vertrauensvoll überlassen könnten...
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...es gibt auch kein Nichts, aus dem alles gekommen ist und in das alles wieder verschwinden wird...
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...sondern nur die eine ewige Natur, welche als alternativlos anzusehen m.E. der einzig echte Monismus ist.
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(Wir können uns der Natur zwar ausnahmsweise entfremden bzw. uns von ihr emanzipieren, aber sie holt uns wieder ein. Falls es im Dschungel des ewigen Diesseits überhaupt eine wesentliche Wahl gibt, dann die zwischen böser Machtausübung und gutem Machtverzicht.)
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1879)
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Dass wir als Seiende ins Nichts gehalten seien, dass unsere existentielle Angst die vor dem Nichts sei usf., halte ich für romantische Entfremdung von der Natur, wie vorher schon die religiöse eine war.
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Das Animalische in uns kennt nämlich gar kein Nichts bzw. hat dieses noch gar nicht erfunden, unterscheidet nur eigenes und anderes Sein – Angst ist immer die vor Verschlimmerung, nie vor Vernichtung.
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Und die Beruhigung von Epikur ist so gesehen doppelt falsch: Erstens haben wir allgemein gar keine Angst vor dem Nichts, zweitens ist speziell die Angst vor dem Tod gar keine Angst vor dem Nichts.
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1880)
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Psychoanalyse ist für mich gewissermaßen die wesentliche Philosophie.
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Programmatisch jedenfalls trifft jene m.E. den Kern des Wissenswerten.
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Leider waren Freud & Co. halt Nietzscheaner, keine Schopenhauerianer.
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1881)
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Nichts, Ding, Pflanze, Tier, Mensch, Gott, All-Einheit.
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Nach dem Ebenbild-Gottes-Paradigma hat uns nun das Maschinenparadigma im Griff, zentral wär jedoch m.E. das Tierparadigma.
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Pflanzen und Menschen würden sich zunehmend als animalisch entpuppen, Dinge und Götter als Illusionen wie Nichts und All-Einheit.
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1882)
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Moral ist m.E. eine Erfindung wider die Natur...
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...i.S.v. einem freien Willen entstammend...
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...welcher aber winzige Ausnahme bleibt.
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1883)
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Zwar glaube ich, Epikur widersprechend, auch an die positive Qualia-Achse...
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...also dass Freude über die Abwesenheit von Leid hinaus steigerbar ist...
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...moralische Priorität jedoch muss das Aufhören allgemeinen Leids haben.
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1884)
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Es gibt nur mich und die anderen, keine tote Materie und kein Nichts.
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Wir sind partikulare und plurale Subjekte, ohne Ganzheit und Einheit.
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Das Ich bleibt nicht identisch – v.a. im Tod werden wir zufällig andere.
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1885)
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Im Tod...
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...wird Mitleid zu Leid...
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...und Leid zu Mitleid...
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1886)
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Gewinnt Himmel oder Hölle? Leider gewinnt Hölle.
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Triumphiert also das Nichts über das Sein? Nein, leider triumphiert das Sein.
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Heißt das wenigstens, dass ich ich bleiben kann? Nein, leider muss ich immer wieder irgendein anderer werden.
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(So sieht jedenfalls meine pessimistische Spekulation aus.)
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1887)
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Traditionelle Demut: Für das Glück sorgt am Ende Gott, wenn es ihm gefällt.
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Aufklärerische Tugend: Für das Glück müssen wir gemeinsam selber sorgen.
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Postmoderne Kontingenz: Sorge dich um dich selbst, mal gelingt auch was.
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(Meine Individualmeinung: Maßvolle Notwehr steht mir zu, Glück ist unmoralische Übertreibung.)
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1888)
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Im Tod muss man nicht nur das Materielle, sondern m.E. leider auch das Intellektuelle loslassen.
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Auch wer sich im Leben in die körperliche bzw. geistige Welt zurückgezogen hat, muss in die seelische zurück.
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Träume, Räusche, Nahtoderlebnisse etc. wahrnehmen bzw. ernstnehmen ist somit Vorbereitung auf den Tod.
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(Rational mag ich mich und affektiv nicht, sehe dem Tod also trotz meines Lebenshasses traurig entgegen.)
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1889)
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Binäre Philosophie: in ausreichend großer Anzahl getroffen führen auch Schwarz/Weiß-Entscheidungen zu einer fein differenzierten Weltanschauung.
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Wie für die detailreichste Repräsentation jedes Bildes oder Klanges ein simpler Bitstream genügt, solange nur dessen Datenrate hoch genug ausfallen darf.
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Pessimist nicht Optimist, Idealist nicht Realist, Subjektivist nicht Objektivist, Passivist nicht Aktivist, Eternalist nicht Presentist, Partikularist nicht Holist usf.
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(Das Schwierigste ist, bei immer mehr Entscheidungen das Gesamtbild konsistent zu halten – mindestens für die eigene Wahrnehmung konsistent.)
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1890)
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Leid, Alter und Krankheit fordern dich bzw. deine Selbstgewissheit heraus, exponieren dich mit immer weniger Würde.
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Irreversibel wirds mit dem Tod, er fordert dein Selbst dann fast ganz zurück, zwingt dich, ein anderer zu werden.
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Optimismus ist die Weigerung, nach dem schlimmen Würdeverlust den noch schlimmeren Selbstverlust zu erwarten.
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(Aber hinter dem Bitteren liegt eben nicht das Paradies oder das Nichts, sondern folgerichtig das noch Bitterere.)
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1891)
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Würde ist Übereinstimmung von Selbst und akzeptablem Selbstbild.
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Würdeverlust das Zurückbleiben des Selbst hinter diesem Selbstbild.
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Wer sich zum Affen macht, übt sich ins letztlich eh Unvermeidliche ein.
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1892)
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Gibt es das Nichts?
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Temporär und partikular schon.
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Das absolute und endgültige aber nicht – schön wärs.
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1893)
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Die Moderne wollte stets die Vergangenheit diskriminieren, hat sich hochnäsig für zu Recht fortschrittlich gehalten.
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Postmoderne ist aber oft nur Antithese um der Antithese willen – und wenns dadurch nur wieder neokonservativ wird.
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Schlimmer: in der Postmoderne wird alles ironisch, kriegt alles absichtlich einen doppelten Boden – da mach ich nicht mit.
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(Echtes Verarbeiten der Vergangenheit heißt Aufs-Wesentliche-Reduzieren und Behalten statt Wegwerfen.)
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1894)
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Geist und Materie sind in erster Linie leider nur leidneutrale, abstrakte Theoriegebilde, etwa wie Paradies und Nichts.
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Geist bzw. Materie als Seinsgrundlage anzunehmen ist m.E. ein verlockender Denkfehler auf der Flucht vor dem Leid.
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Gute Philosophie klärt, was eigentlich ist und evt. bleibt, nämlich Seele, und was stattdessen sein und bleiben sollte, nämlich Nichts.
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1895)
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Das unwürdige Dasein, wie schon in Shakespeare's berühmtem Hamlet-Monolog beklagt, ist eines...
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...in dem man alltäglicher Demütigung hilflos ausgeliefert ist und trotzdem weiter am Leben hängt...
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...weil es im Tod entgegen allen wohlfeilen Erlösungsversprechen eben doch noch schlimmer kommen könnte.
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(Und so ein Dasein bleibt entgegen allen optimistischen Beschönigungen der penetrante Normalfall.)
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1896)
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Mein partikulares Leben vor dem Tod...
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...nutze ich v.a. zum gedanklichen Vorfühlen...
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...in ein zufälliges anderes partikulares Leben nach dem Tod.
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(Ich glaube nicht, dass ein Leben im Tod ganz endet oder sich gar rundet.)
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1897)
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Wie ist es, tot zu sein? Keines der gängigen Bilder taugt allen gleich gut.
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Was zu wenig oder zu sehr schreckt bzw. lockt, ist individuell verschieden.
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Selber weitersuchen, bis man seine plausible, moderate Vorstellung findet.
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(Fragen zum Tod stellenden Kindern Raum lassen für ihre eigenen Bilder.)
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1898)
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Des Menschen Aktionismus ist sein Verderben.
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Es geht viel weniger darum, endlich was zu tun.
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Viel mehr darum, auf ewig keinem was zu tun.
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1899)
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Ein Pessimist ist, wer das Leid, das Dunkle, das Negative bei weitem überwiegen sieht.
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Sein Glas ist nicht halb leer statt halb voll, wie die Leute gern sagen, sondern fast leer.
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Ob er nun aufs Paradies wartend das Leben verflucht oder auf die Hölle wartend den Tod.
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1900)
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Der Pessimist kann wahrhaben: schon im Sein steckt der Wurm, nicht erst in den Seienden.
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Aber heutiger Psychologismus nach Nietzsche sucht das Dunkle zuallererst im Individuum.
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Dieser latente Optimismus ist ein Rückfall hinter Schopenhauer, als Toter ist Gott rehabilitiert.
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1901)
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Die Höllendrohung gilt heute als Skandal. Aber vielleicht war es ja eher fürsorglich als grausam, den vom Leben geplagten Menschen von einer noch schlimmeren Unterwelt zu erzählen, um sie vom Selbstmord abzuhalten?
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Vielleicht müsste es als dazu komplementärer Skandal angesehen werden, den vom Leben geplagten Menschen vom Nichts im Tod zu erzählen und sie damit zum Selbstmord zu verführen – hat sich Epikur das gut überlegt?
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Der evt. schon damals, sicherlich aber heute bestehende Unterschied zwischen den beiden Philosophien ist, dass die Hölle bzw. Unterwelt mehr nach einem Produkt patriarchalischer Phantasie riecht als das Nichts. Echt?
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1902)
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Böse römische Imperialisten, arme Christen.
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Böse christliche Kirchen, arme Freigeister.
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Böse Old White Males, arme Minderheiten.
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(Pessimisten wissen: das Leben war schon immer miserabel, aber laut Optimisten haben immer nur die Bösen eins vorher Schuld.)
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1903)
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Das Glücklichsein ist v.a. eine gesellschaftliche Konvention.
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Je konventioneller eine Gesellschaft, desto höher der Prozentanteil der Menschen, welche sich laut Umfragen als glücklich bezeichnen.
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Es braucht den Konventionslosen, der offen sagt, dass der Kaiser nackt ist. Den Pessimisten, der offen sagt, dass der Mensch i.a. unglücklich ist.
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(Der ruchlose Optimismus, welcher den Menschen einredet, dass sie i.a. glücklich seien, macht sie wütend auf naheliegende Sündenböcke. Dann erheben sie sich gegen den jeweils letzten kulturellen Fortschritt, wollen zurück zur Natur, zurück zum totalitären Staat etc. Mit pessimistischer Grundeinstellung wären sie froher über Verbesserungen, auch wenn diese allesamt das Glas noch längst nicht halb voll machen.)
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1904)
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Der Mensch sollte zuvorderst nach dem Guten streben, dann nach dem Wahren, zuletzt nach dem Schönen.
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Tatsächlich aber strebt er zuvorderst nach dem Schönen, dann nach dem Wahren, zuletzt nach dem Guten.
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Eine weitere ganz grundsätzliche Bestätigung für das Zutreffen der pessimistischen Beurteilung unserer Welt.
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(Die moralischen Optimisten haben lange für das Primat des Guten gekämpft; die aufklärerischen Optimisten schon weniger lange für das Primat des Wahren; jetzt ist dekadenter Optimismus angesagt: das Primat des Schönen nimmt alles im Sturm. Und dann?)
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1905)
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Glück...
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...ist die Pause...
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...zwischen zwei Katastrophen...
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1906)
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Uni-versum?
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Ich meine auch, einmal würde reichen bzw. wäre schon einmal zuviel.
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Glaube es aber nicht.
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1907)
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Was den Tod angeht, gibt es im Wesentlichen vier Meinungen; die erste: Der Tod ist nicht das Ende – zum Glück; die zweite: Der Tod ist das Ende – leider; die dritte: Der Tod ist das Ende – zum Glück; die vierte: Der Tod ist nicht das Ende – leider.
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Die ersten beiden liegen heute Kopf an Kopf innerhalb der lebensbejahenden Mehrheit; die dritte ist bislang konkurrenzlos innerhalb der lebensverneinenden Minderheit, thematisiert in der nihilistischen Literatur, auf Selbstmordforen im Internet u.a.
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Die vierte Meinung aber ist sogar seitens der Lebensverneiner noch ein Tabu, wird allenfalls augenzwinkernd in Form von Horror Fiction verhandelt. Wer ernsthaft von diesem Worst Case ausgeht, findet in der Gesellschaft bislang keinen Rückhalt.
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