Jenseitstheorien
von Pessimist

2014 bis 2022

Jenseitstheorien – biographisch

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Wie ist es, tot zu sein? Was denken Kinder, Erwachsene, Expert_innen? Unsere Annahmen darüber, was (vor und) nach dem Leben kommt, bleiben i.a. leider unausgesprochen, sogar in offenen gesellschaftlichen Kontroversen von A wie Abtreibung bis Z wie Zwangsernährung. Können wir uns des freudvollen Himmels oder zumindest des leidlosen Nichts gewiss sein? Oder das Ungewisse vertrauensvoll auf uns zukommen lassen, sogar mutig darauf zugehen? Als Pessimist kann ich das nicht! Nach einer Kindheit mit drohender Hölle und einem Erwachsenwerden mit lockendem Nichts, nach bislang zwei ontologisch schockierenden Nahtoderfahrungen und tiefen Verirrungen in die akademische Wissenslandschaft versuche ich mich fortwährend im amateurphilosophischen Eigenbau von Jenseitstheorien – so plausibel wie möglich und so tröstlich wie nötig.

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Überblick

Was erwartet uns, wenn wir gestorben sind? Dazu stellt dieser Text metaphysische Spekulationen an. Ich bin Pessimist, d.h. ich halte das Leben für etwas, das besser nicht wäre – umso dringender die Frage nach der Alternative (siehe auch todesgedanken.de). Meine aktuelle Hypothese: leider ist ein Leben nach dem Tod unvermeidlich, in Form einer zufälligen Wiedergeburt als irgendeine andere Existenz – für uns momentan recht privilegierte Existenzen wohl i.d.R. ein Abstieg. "Nach dem Tod" meint hier einen (inter-)subjektiven Zeitraum, und jener Zufall ein (inter-)subjektives Schicksal, d.h. wie schon in diesem Leben sind wir im Jenseits (oder vielmehr im ewigen Diesseits) der Übermacht von anderen Subjekten ausgeliefert, nach meiner Vermutung auch der von höheren Wesen als uns Menschen; aber ein höchstes Wesen i.S.v. der eine Gott existiert m.E. nicht.

Das obige Schaubild zeigt von links nach rechts sieben durchnummerierte Jenseitsmodelle, entsprechend den sieben Kapitelüberschriften. Sie stehen in der biographischen Reihenfolge, wie ich sie selbst geglaubt habe bzw. heute glaube (siebtes Kapitel). Das ist zugleich die Reihenfolge, in der ich sie bis heute für zunehmend plausibel halte (x-Achse des Schaubilds). Von unten nach oben halte ich sie für zunehmend verlockend (y-Achse des Schaubilds). Das mittige Jenseitsmodell halte ich für das gerechteste (siehe dazu auch das Schaubild ganz am Ende der Seite). Alle sieben Modelle sind m.E. von vornherein pessimistisch insofern als ihre Subjekte im Tod fremdbestimmt (durch Gott, Natur etc.) statt selbstbestimmt (heteronom statt autonom) sind – nichtsdestominder erlebte ich meine Konversionen von höheren zu tieferen Modellen als Abstürze u.u.

Himmel vs. Hölle bedeuten das angenehmste bzw. unangenehmste jenseitige Dasein, wie es monotheistische Religionen prophezeien. Sicheres Nichts vs. völlig Ungewisses sind m.E. die gegenpoligen Jenseitsvorstellungen von naturwissenschaftlichem Evidentialismus bzw. wissenschaftstheoretischer Erkenntnisskepsis. All-Einheit ist das spirituelle Ziel des hierarchischen Weges durch eine lange (ewige?) Reihe von Wiedergeburten. Auf ewig Ich bleiben vs. immer wieder Andere werden ist schließlich die Dichotomie (m)einer Ontologie des passiven Subjektivismus, wo die Welt nurmehr Bewusstseinsinhalt ist – von Subjekten mit ewiger bzw. (im Tod wechselnder) endlicher multipler Persönlichkeit, die einander Schicksal sind, d.h. einander v.a. passiv ertragen oder unwillkürlich aufeinander reagieren müssen, kaum willkürlich reaktiv oder gar proaktiv sein können.

Zur Suizidfrage: Himmel&Hölle verhängt das härteste Suizidverbot – Gläubige begehen i.a. keine wohlüberlegten Suizide, aber evt. umso mehr Affektsuizide und v.a. indirekte Suizide durch altruistische Selbstaufopferung. Nichts&Ungewisses lässt den wohlüberlegten Suizid eher zu, aber für echte Pessimisten ist auch schon die endgültige Leidfreiheit himmlisch verlockend bzw. das Fehlen jeglicher Vorhersehbarkeit höllisch bedrohlich. Spirituelle auf ihrem hierarchischen Weg gen All-Einheit entzögen sich durch ihren Suizid evt. wichtigen Lebenslektionen => "Versetzung gefährdet". Ich&Andere prognostiziert dem Suizidenten sein Verbleiben im ewigen Diesseits, wiedergeboren mit der eigenen Persönlichkeit bzw. als irgendein Anderer; der wohlüberlegte Suizid liegt nahe, wenn man lieber wieder tauschen würde mit dem neugeborenen Selbst bzw. der mehrheitlichen Umgebung.

Die sieben besprochenen Jenseitsmodelle verstehe bzw. entwerfe ich als Jenseitstheorien, d.h. als gedankliche Fortsetzungen bzw. theoretische Extrapolationen von diesseitigen Bewusstseinszuständen auf jenseitige Bewusstseinszustände. Aber auch die Methodik dieses rationalen Schließens aufs Jenseits als solche kann man Jenseitstheorie nennen. (Ihr gegenüber stünde dann die Methodik der Jenseitspraxis, mit Jenseitsmodellen aus empirisch erhobenen jenseitigen Daten, etwa mittels eines menschlichen Mediums, das angeblich Botschaften aus der geistigen Welt in die stoffliche Welt "channeln" kann. Erst im Anhang gehe ich ein auf zwei eigene Nahtoderfahrungen bzw. NTE, welche ich selber jedoch für diesseitige Bewusstseinszustände halte, die nichtsdestotrotz Hinweise darauf geben, dass bzw. wie es weitergehen könnte im Tod.)

Es gilt m.E. die plausibelste Ontologie fürs Diesseits auszuwählen und daraus aufs Jenseits zu schließen. Doch bis heute spielen die m.E. am weitesten hergeholten Ontologien die tragenden Rollen: als letzter Grund werden einerseits der allmächtige Gott (an Gigantomanie nicht mehr zu überbietende Makro-Ontologie) und andererseits leidlos-neutrale Elementarteilchen (an Marginalität nicht mehr zu überbietende Mikro-Ontologie) postuliert. Nähme man dagegen naheliegenderweise einfach die fühlenden Wesen, also das Ich und die Anderen, als unhintergehbar an (Meso-Ontologie), könnten nach dem ewigen jenseitigen Geist und den endlichen diesseitigen Körpern schließlich die Seelen eines schlimmstenfalls ewigen Diesseits in den Fokus rücken, um deren (inter-)subjektives Schicksal es statt vermeintlicher objektiver Wahrheiten ja eigentlich gehen sollte.

Ontologisch nach dem Jenseits fragen heißt fragen, was am Diesseits substantielle, den Tod überdauernde Entitäten sind bzw. was nur akzidentielle, den Tod nicht überdauernde Eigenschaften sind. Als Pessimist rechne ich zwar nicht (mehr) mit dem Worst Case der leidensmaximierten Hölle, aber doch mit dem ewigen Andauern meines Leides, während alle meine persönlichen Eigenschaften vergänglich sind bzw. mir in jedem Tod wieder neu zugelost werden bzw. von der Übermacht der Anderen (un-)willkürlich bestimmt werden. Ich kann im Tod nichts behalten bzw. keine persönliche Entwicklung fortsetzen, unverändert bleibt nur mein innerster passiver Ich-Kern, das bloße "Ich leide". Dann ist das Schicksal der Anderen um mich herum früher oder später auch mein Schicksal, jeder muss in der Ewigkeit einmal jeder sein – eine ungern in Betracht gezogene Art von Gerechtigkeit.

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Vorwort

Die beiden wichtigsten Fragen: Was meine ich, dass im Tod aus mir wird? Was möchte ich, dass im Tod aus mir wird?

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Jenseitstheorien? Jenseitsorientiert war man früher, heute ist man diesseitsorientiert, oder? Mag sein. Ich stelle mir dennoch ständig die Frage: Was erwartet mich im Tod? Darüber habe ich schon gegrübelt, seit ich denken kann, lange bevor ich wusste, was Philosophie bzw. Metaphysik ist. Und es sieht bis heute nicht danach aus, als würde ich irgendwann damit aufhören.

Mit meinen ausgiebigen metaphysischen Spekulationen, was im Tod bzw. nach dem Tod aus mir werden könnte, sitze ich philosophisch zwischen den Stühlen, stoße auf Ablehnung bei den Religions-affinen Traditionalisten einerseits und den Wissenschafts-affinen Modernisten andererseits: Erstere haben ihr Dogma hinsichtlich des Jenseits, woran sie nicht rühren möchten, Letztere meiden die Metaphysik wie der Teufel das Weihwasser (belassen es bei der nötigsten Metaphysik ihrer fachspezifischen Axiomatik, soweit ihnen diese überhaupt noch bewusst ist) – in beiden Lagern ist man sich jedenfalls sicher, dass das eigene Leid im Tod endet, und empfiehlt ansonsten, mit den Gedanken im Diesseits zu bleiben.

Als wesentliche Motivationen für mein Nachdenken über den Tod vermute ich zuvorderst die christliche Höllendrohung, mit der ich aufgewachsen bin, weiterhin die Verlockung zum Suizid, welche ausgeht von der Kombination pessimistischer Lebensverneinung mit dem materialistischen Versprechen endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod, und schließlich eine frühkindliche, erst im Erwachsenenalter als solche erkannte mystische Nahtoderfahrung (siehe Anhang), welche mich trotz ihrer positiven Inhalte bis heute schockiert zurücklässt. Der Begriff Philosophie i.S.v. "Liebe zur Weisheit" ist eigentlich arg euphemistisch für mein Nachdenken über Tod und Leben, geschieht es doch in steter Angst bzw. Notwehr. Und der Begriff Amateurphilosophie i.S.v. "Liebhaber-Liebe zur Weisheit" ist sogar doppelt euphemistisch und damit erst recht unpassend, aber zugleich ein deutlicher Hinweis auf das – uns bereits sprachlich nahegelegte bis unvermeidbare – programmatische Schönlügen der Welt (siehe Kapitel Himmel).

(Zu den im vorigen Absatz erstmals verwendeten Begriffen "pessimistisch" und "materialistisch": der hier gemeinte philosophische Pessimismus – die Welt bzw. das Leben ist schlecht und wäre besser nicht – sollte nicht verwechselt werden mit dem landläufigen Pessimismus, welcher befürchtet, dass alles ein schlimmes Ende nimmt; und der hier gemeinte philosophische Materialismus – alles besteht aus Materie, sie ist die einzige Substanz im Universum – sollte nicht verwechselt werden mit dem landläufigen Materialismus, welcher gesteigerten Wert auf materiellen Besitz legt. Entsprechendes gilt für Optimismus, Idealismus u.​​a.​​, in der Regel ist hier die philosophische Bedeutung gemeint.​​)

Ich bin pessimistisch i.​​S.​​v. lebensverneinend eingestellt, halte das Leben – wohlgemerkt das Leben generell, nicht nur mein Leben – für schlechter als nichts. Grund: die Empfindungen von allen/​​allem Empfindenden – und nur in den empfindenden Subjekten findet für meine subjektivistische Ontologie die Welt statt (Näheres zu meinem passiven Subjektivismus ab Kapitel Ich) – sind m.​​E. weit überwiegend leidige. Deshalb sage ich: unser Dasein wäre besser nicht; oder auch für Objektivisten, welche die Welt nicht bloß als unseren Bewusstseinsinhalt ansehen, sondern sie umgekehrt unserem Bewusstsein zugrundelegen: bestünde die Wahlmöglichkeit zwischen unserer Welt wie sie nun einmal ist und einer alternativen Welt ohne jegliches Bewusstsein, dann wäre m.​​E. zweifellos letztere vorzuziehen. Ich gehe so weit, diese Erkenntnis pessimistische Wahrheit zu nennen, sie wird im Folgenden mehr oder weniger vorausgesetzt. Insbesondere bin ich Todespessimist, d.​​h. im Gegensatz zu den Todesoptimisten glaube ich nicht daran, dass mein Leid im Tod endet – einfach weil ich vorsichtshalber vom schlechteren Fall bzw. Worse Case ausgehe.

Der lebensverneinende und dem Tod gegenüber misstrauische Pessimist gesteht sich diese Wahrheit ein und fristet sein Leben im Schatten des Todes. Mir scheint es die erste und wichtigste Frage im Leben überhaupt zu sein, was vorzuziehen ist: das leidige Leben oder der unbekannte Tod. Meine momentane Antwort darauf: obwohl ich lieber nicht existieren würde, entscheide ich mich sicherheitshalber dafür, mein Leben fortzuführen, solange ich nicht das meiste beneide, was außer mir sonst noch existiert (vgl. Ende des Kapitels Andere) – weil ich mittlerweile nicht mehr daran glaube, dass der Tod absolut vernichtet, sondern als echter Pessimist davon ausgehe, dass der leidende Kern meines Ich ewig ist und in zufälliger Wiedergeburt, welche man sich als schicksalhaft im Zusammenhang mit anderen Subjekten entstehend i.​​​S.​​​v. weit überwiegend fremdbestimmt und kaum bis gar nicht selbstbestimmt vorstellen muss, immer wieder irgendwelche anderen Persönlichkeiten durchlebt.

Wieso etwa Camus, der die Frage nach dem Selbstmord als die primäre Frage der Philosophie bezeichnet, schließlich gegen den Selbstmord bzw. für das nichtsdestotrotz absurde Leben plädiert, leuchtet mir nicht ein. Er hält den Tod doch anscheinend für das sichere Ende des Leids und diskutiert andere Ansichten hierzu erst gar nicht. Und dann will er seine Entscheidung für das Leben gar als Revolte verstanden wissen! Also ich selbst finde die Auflehnung gegen den Tod unsinnig, solange dieser die Erlösung vom Leid hundertprozentig garantiert. Die sinnvollste Reaktion auf eine solche Aussicht besteht m.​​​E. ganz im Gegenteil darin, sich früher oder später umzubringen. Und viele tun das auch, noch bevor sie an den allfälligen optimistischen Versprechungen, dass ihr Leid im Tod ein für alle Mal endet, zu zweifeln beginnen. Deshalb ist es m.​​​E. nicht weniger als skandalös, dass den Menschen trotz des Fehlens von Beweisen gesellschaftlich nahezu alternativlos vermittelt wird, ihr Leiden fände im Tod sein sicheres Ende. Mithin ist alles im Folgenden Geschriebene auch als Suizidprävention zu verstehen, obwohl ich denke, dass sich jeder umbringen darf, wenn er das wirklich will – mir geht es v.​​​​a. darum, dass der Suizid nicht aufgrund unkritisch geglaubter Versprechungen vom Ende des Leidens unternommen wird.

Ich meine, dass die Menschen vor den Zeiten von Monotheismus und Aufklärung im Grunde noch ziemlich richtig lagen mit ihrer Angst vor dem Tod, und dass dieses im Dunkeln vor uns liegende Schicksal, welches irgendwann alles und jeden ereilt (es sei denn, der eigene Tod wäre eine Täuschung, indem er immer näher kommt, aber nie eintritt), leider zunehmend verdrängt, religiös verklärt oder realistisch für nichtig erklärt wird, statt Gegenstand eines offenen metaphysischen Nachdenkens zu werden. So verschieden die maßgeblichen philosophischen Erzählungen bzw. Diskurse heute ansonsten auch sein mögen – dass Leben und Leiden hienieden von vornherein endlich sind, darüber sind sich seltsamerweise so gut wie alle einig.

Weitere Folgen neben dem o.​​g. vorschnellen Suizid: weil Monotheisten wie Realisten (bis hin zu den ansonsten doch so relativistischen Postmodernen) sich sicher sind, dass ihr persönliches Leid im Tod sein absolutes Ende findet, fühlen sie sich im Kern gefeit gegen jedes noch so düstere irdische Zukunftsszenario. Solange etwa die Umweltschäden, welche von der Industrialisierung verursacht werden, ihnen selber noch ein paar Jahrzehnte Schonfrist gewähren, können sie gemäß dem Motto "Nach mir die Sintflut" weitermachen, als wäre nichts geschehen – sie brauchen das Diesseits ja nicht mehr, wenn sie erst in ihr Himmels- bzw. Nichtsjenseits eingekehrt sind.

Jenseits – ein altmodisches Wort. Ich verwende es trotzdem, weil beim Wort Tod heute in erster Linie das Sterben assoziiert wird, also der Prozess im Leben zum Tod hin, und erst in zweiter Linie der Zustand des Todes bzw. das Totsein bzw. das Gestorbensein. Der Begriff Jenseits soll im Folgenden ganz allgemein für alles stehen, was nach dem Sterben bzw. "nach dem Tod" bzw. im Gestorbensein bzw. im Tod bzw. sogar anstatt des (evt. immer nur als Illusion vor uns liegenden) Todes sein könnte, einschließlich Verlöschen ins Nichts, Wiederkehr ins Diesseits, sogar Verbleiben im ewigen Diesseits (wobei "nach dem Tod" spätestens ab dem Kapitel Ich meine subjektive Zeit im Sinne eines ontologischen Subjektivismus meint, keine objektive Zeit im Sinne eines ontologischen Objektivismus).

Theorien – ein weiterhin aktuelles Wort, das ich nach Meinung der heute maßgeblichen Wissenschaft wohl eher nicht benutzen sollte, solange ich nicht logisch oder empirisch stichhaltig belegen kann, was ich da vorbringe. Sollte es demnach lieber Hypothesen oder Spekulationen nennen. Ich sage trotzdem Theorie und meine damit das Gegenteil von Praxis, das Ergebnis abwägenden Denkens statt probierenden Handelns.

Jenseitstheorien statt Todestheorien – indem ich mit dem Begriff Jenseits der allgemein üblichen Verwechslung von Tod und Sterben entgehe, handle ich mir leider die naheliegende Assoziation zu einer dualistischen Weltsicht ein, mit materiellem Diesseits und geistigem Jenseits; ich bin jedoch Monist, genauer gesagt Psychomonist, siehe Kapitel Ich. Die dialektische Methode des denkenden Abwägens zwischen Gegensatzpaaren ist auch die meine, was aber nicht heißt, dass ich der Welt nach Art der Dualisten substantiell komplementäre Prinzipien unterstelle. (Auf Englisch würde ich den Text "Afterlife Theories" nennen, ebenso knapp ist das auf Deutsch leider nicht möglich.)

Jenseitstheorien (Plural) – im Plural steht das Wort Jenseitstheorien bei mir synonym für die in den folgenden Kapiteln besprochenen Jenseitsmodelle der Jenseitstheorie (Singular). Diese erdenkt ihre Jenseitsmodelle theoretisch-rational, indem sie von den im Diesseits für wesentlich bzw. essentiell befundenen (Bewusstseins-)Zuständen plausiblerweise annimmt, dass sie sich im Jenseits entsprechend fortsetzen, kurz: indem sie vom Diesseits aufs Jenseits schließt. (N.B. Himmel und Hölle als philosophische Begriffe für die denkbar extremesten Befindlichkeiten halte ich für rational sinnvoll bis zwingend, an der rationalen Herleitung eines Jüngsten Gerichts zur Beschickung von Himmel und Hölle hege ich jedoch meine starken Zweifel.)

(Im Gegensatz zu den Jenseitstheorien stehen auf praktischem Wege eruierte Jenseitsmodelle; einerseits durch unmittelbare empirische Erhebung jenseitiger Daten etwa über persönliche Kontakte zu Verstorbenen, die ihren Hinterbliebenen im Diesseits erscheinen – sog. Nachtodkontakte bzw. NTK (After-Death Communication bzw. ADC) – oder gar auf persönlichen Reisen ins Jenseits und zurück, andererseits durch mittelbare Jenseitsbotschaften aus diesseitigen Quellen wie Propheten, medial veranlagten Menschen, heiligen Schriften u.v.m. Auch Nahtoderfahrungen bzw. NTE werden bisweilen als Jenseitserfahrungen interpretiert, Weiteres dazu im Anhang.)

(Die rationale Jenseitstheorie i.S.v. abstraktem Nachdenken über den Tod ist m.E. die Methodik der Wahl für bedächtige Pessimisten wie mich, die empirische Jenseitspraxis i.S.v. konkreten Begegnungen mit dem Tod hingegen ist die Methodik der Wahl für wagemutige Optimisten wie den einen oder anderen Spirituellen, den ich persönlich aus meiner Community für Nahtoderfahrene kenne; auf die letztere Methodik will ich erst im Anhang zurückkommen, schon weil ich selber die praktische Konfrontation mit dem Tod – bis auf zwei unfreiwillige Nahtoderfahrungen – mein Leben lang eher vermieden habe.)

Wie dem auch sei: vorbei die Zeiten, als die klügsten Köpfe noch in der direktesten Weise über ihre Jenseitsmodelle aus Jenseitstheorie und -praxis sprachen; als vom Spätmittelalter bis zur Romantik Ars-Moriendi-Fibeln die Nachttische zierten, welche wie kundige Reiseführer ins Jenseits auftraten; als im 19. Jahrhundert ein Physiker wie Fechner "Das Büchlein vom Leben nach dem Tode" ablieferte oder noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Soziologe wie Simmel seinen Fachartikel "Zur Metaphysik des Todes" veröffentlichte. Heute würden sich Akademiker mit der Präsentation einer Theorie des Totseins nur noch lächerlich machen.

(Wobei auch diese Enthaltsamkeit evt. nur ein Kuschen vor der aktuell dominierenden Theorie des Todes ist, welche besagt, dass es im Tod mit unserem Bewusstsein endgültig vorbei sei, siehe Kapitel Nichts. So wie der Philosoph früher seinen Atheismus kirchengerecht einpacken musste, muss er heute eine abweichende Auffassung vom Totsein akademiegerecht verhehlen. Denn keiner will sich wissenschaftlich diskreditieren, auch wenn Wissen ebenso ein von oben verordneter Mythos geblieben ist wie Gott.​​)

Was vom Leben und Sterben zu denken und zu halten ist, auch was im Leben und Sterben zu tun oder zu lassen ist, scheint mir sehr davon abzuhängen, wie wir uns das Totsein bzw. Jenseits vorstellen. Seltsamerweise werden Taten wie Mord, Amoklauf oder Suizid i.​​​a. besprochen, ohne darauf einzugehen, welches Schicksal im Tod der Täter für sein/​​​seine Opfer denn konkret im Sinn gehabt haben mochte. Weitere Themen wie Jagd und Sammeln natürlicher Nahrung, industrielle Produktion und Konsum tierischer und pflanzlicher Nahrung, Vegetarismus bzw. Veganismus, Kannibalismus, Zeugung und Empfängnis von Leben in natürlicher und künstlicher Form bei Mensch und Tier, Bevölkerungsentwicklung, Familienplanung, Verhütung, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Mord und Euthanasie an Mensch und Tier, künstliche Ernährung, Palliativmedizin, Sterbehilfe, selbständiger und assistierter Suizid, Organspende, Klonen, Cyborgs, Transhumanismus, künstliches Bewusstsein u.v.m. können ohne Bekenntnis der jeweils zugrunde liegenden Jenseitserwartungen seitens der jeweiligen Diskutanten eigentlich gar nicht vernünftig angegangen werden. Wer das abstreitet, den verdächtige ich, dass er zumindest implizite Annahmen über Existenz oder Nichtexistenz eines Afterlife (bzw. Prelife) trifft und nicht daran rühren will. Wo diese Haltung sich allgemein etabliert hat, scheint es mir ratsam, dass solche impliziten Annahmen wieder explizit gemacht werden. Tun wir das nicht, gehört unser Zeitalter eher zu den dogmatischen als zu den philosophischen.

(Wie wir uns das Totsein bzw. Jenseits vorstellen? Der Antiphilosoph bzw. Postphilosoph nach Wittgenstein schüttelt hier bestenfalls den Kopf und überlässt mich schulterzuckend meiner von ihm als sinnlos entlarvten Beschäftigung mit sog. Scheinproblemen bzw. logisch unentscheidbaren Fragen; schlimmstenfalls reagiert er therapeutisch und empfiehlt mit paternalistischem Lächeln den sog. philosophischen Quietismus, also Abstand zu nehmen von all den vergeblichen philosophischen Versuchen, mit dem Kopf durch Glaswände zu rennen.​​ Die Philosophie erfülle sinnvollerweise höchstens noch die Aufgabe einer Leiter, welche nach dem Aufstieg zum sprachentwirrten Level der logischen Positivisten weggeworfen werden könne. Und meine Schrift disqualifiziere sich demnach bereits mit ihrer Überschrift, denn die Philosophie stelle nun keine Theorien mehr auf... Replik: das Ende der philosophischen Theorien ist auch nur eine philosophische Theorie.)

Selbst wenn es zutreffen sollte, dass jede Spekulation über ein Leben nach dem Tod schließlich ohne "objektiv" greifbares Ergebnis bleiben muss, so ist es m.E. nichtsdestominder psychologisch wesentlich, was sich ein Mensch vom Tod erwartet. Es dürfte i.d.R. sehr folgenreich für das sonstige Denken bzw. für das Handeln eines Menschen sein, ob er mit Himmel oder Hölle, Nichts oder Ungewissem, Ich-Bleiben oder Andere-Werden im Tod rechnet.

(In dieser Hinsicht ist es verwunderlich, welche Fragen heutzutage etwa Prominenten gestellt werden, um Näheres über ihre Persönlichkeit zu erfahren. Lieblingsfarbe? Viel deutlicher Farbe bekennen müsste etwa ein Politiker vor seinen religiösen und realistischen Wählern, wenn er direkt nach seiner Vorstellung vom Totsein gefragt würde. Es steht zu befürchten, dass die meisten solche Überlegungen gänzlich vermeiden oder einfach davon ausgehen, der Andere habe dieselbe Einstellung zum Leben nach dem Tod wie man selbst. In eher heterogenen Diskussionsrunden jedoch dürfte Letzteres oft ein Irrtum sein.)

Der Anspruch der Todesphilosophie bzw. Todesmetaphysik, gründlich über das Jenseits nachzudenken, ist jedenfalls leichter gestellt als erfüllt. Wie ist es, tot zu sein? Die Frage mag einem von vornherein formal falsch bzw. inhaltlich unsinnig vorkommen. Oder als in einem Satz erschöpfend zu beantworten: Der Tod ist nicht erfahrbar. Und selbst wenn man es schafft, dranzubleiben: evt. macht einen auch lebenslanges Nachdenken über diese Frage noch nicht zur Koryphäe – ich weiß bis heute nicht recht, ob der Versuch des Selberdenkens hier zu immer größerer Klarheit führt oder zu immer größerer Verwirrung. Schließlich gilt die Fixierung auf den Tod als lebensfeindlich, ja krankhaft.

Bin ich seelisch traumatisiert, fehlt mir im Vergleich zu Anderen ein wichtiger, die Laune hebender Hirnbotenstoff? Durchaus möglich – aber ich reagiere, der Pathologisierung von Melancholie und Pessimismus misstrauend, lieber mit Selberdenken und mit Aushaltenlernen der auf diese Weise gefundenen Wahrheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten. Lieber will ich aus Sicht der Anderen ein unbehandelter Depressiver sein, als mich psychotherapeutisch bevormunden oder zum Versuchskaninchen für Psychopharmaka machen zu lassen. Bisher ist es gut gegangen – ich habe bald schon das sechste Lebensjahrzehnt hinter mir, ohne meiner Lebensverneinung mit Suizidversuchen zu begegnen. Was vielleicht auch daran liegt, dass ich die Lebensverneinung für die intelligentere Sicht auf das Leben halte und mir diese Persönlichkeitseigensch­­aft deshalb weder an mir selber missliebig noch den Anderen gegenüber peinlich ist, eher im Gegenteil. Vielmehr nimmt die Selbstüberschätzung bzw. Weltverklärung (empirisch in vielerlei Hinsicht klar nachweisbar, Stichwort Kognitive Verzerrung bzw. Cognitive bias, speziell Optimism bias), welche die Evolution ihren lebensbejahenden Serienmodellen mitgibt, m.​​E. immer groteskere Züge an. Lebensverneiner wie ich sind dagegen Sondermodelle ohne die rosarote Brille, welche die Hölle der Evolution normalerweise schönfärbt (obwohl Evolutionisten gerne bemerken, dass wir "von Pessimisten abstammen", um unerwünschte Neigungen zur Bedenkenträgerei als Atavismus abzutun). Die pessimistische Einschätzung der eigenen Person bzw. der Realität dieser Welt kommt der Wahrheit viel näher. Nicht ohne Grund sagt man: Pessimisten haben Recht, Optimisten haben Spaß. Gute Laune als regulärer Zustand ist in dieser Welt m.E. nur mit einem Mangel an Wahrnehmung bzw. einem Übermaß an Verdrängung zu erklären, oder auch als permanente sog. White Lie: die Menschen lügen sich das Leben schön, "aus Liebe zu den Menschen".

Im Rückblick auf mein Leben stelle ich fest, dass ich mich mit dem Thema Tod und Jenseits am meisten identifiziere und dass ich im Lauf der Zeit von den üblichen zu unüblicheren Jenseitsmodellen gefunden habe. Nicht bloß im Sinne von deren nachdenklicher Betrachtung aus der Distanz heraus, wie es evt. auch diejenigen tun, welche ein Standardmodell früh angenommen haben und lebenslang beibehalten. Sondern im eigentlichen Sinne des wiederholten Konvertierens zu einem je anderen wirklich geglaubten (weil nach eingehender Überlegung für wahrscheinlicher bzw. plausibler gehaltenen) Jenseitsmodell. Ich habe meinen Lebensrahmen, welcher eine in andächtigem Bewusstsein gehaltene Vorstellung vom Totsein ja ist, schon mehrere Male gewechselt.

(Zum Thema Konvertieren: während der Optimist von einer Art unverlierbarem Urvertrauen ausgehen kann und einem unveränderlichen Glaubenskern vielleicht dann und wann eine neue i.S.v. neumodischere Glaubenshülle überstülpt, bedeutet Konvertieren beim Pessimisten eher das versuchsweise Vorstoßen zu neuen, unüblicheren Glaubenskernen, nach mehr oder weniger zahlreichen Fehlversuchen mit den alten, üblicheren. So betrachtete etwa der größte pessimistische Philosoph Schopenhauer seine Lehre auch als Religionsersatz für diejenigen, welche mit der traditionellen Religion nichts mehr anzufangen wussten.​​)

Als Kind zweifelte ich kaum daran, dass die guten Menschen in den Himmel kommen und die schlechten in die Hölle, wobei ich mich selber zuerst für gut hielt und zuletzt für schlecht. Als Jugendlicher schien es mir evident und auch "wissenschaftlich erwiesen", dass der Tod unser unwiderrufliches Ende sei. Als Erwachsener fragte ich mich nach der plötzlich zurückgekehrten Erinnerung an meine frühkindliche Nahtoderfahrung eine Zeit lang, ob es tatsächlich ein paar wenige Eingeweihte gebe, die in mystischen Erlebnissen eine Vorschau aufs Totsein bekommen und sich somit sicher sein können, dass wir geistige Wesen auf dem Weg in höhere Sphären seien. Anschließend lebte ich in der Annahme, dass wohl gar alle hinsichtlich des Totseins im Dunkeln tappen, also dass niemand etwas darüber wissen könne. Dann wiederum glaubte ich, dass mein Ichsein vor dem Tod eigentlich noch die beste Prognose für mein Ichsein nach dem Tod abgebe. Heute glaube ich an meine zufällige Wiedergeburt (subjektiver Zufall, nicht objektiver Zufall, d.​h. die Wiedergeburt wird nicht vom Universum gewürfelt, sondern unwillkürlich oder willkürlich durch die Übermacht der anderen Subjekte bestimmt) als irgendeine andere Existenz, die ich evt. schon jetzt empathisch näher erforschen könnte, wären es nicht unendlich viele Lose, aus denen mir im vernunftlos blinden Zwang der Subjekte zum Dasein leider immer wieder irgendeines zufällt.

Zuerst glaubte ich an Gott und wollte ihn lieben. Dann glaubte ich an Gott und musste ihn hassen. Um endlich den Glauben an Gott und an das Leben nach dem Tod hinter mir zu lassen. So weit, so üblich. Schon seltener ist der nächste Schritt vom Realismus alles Endlichen zum Idealismus einer sich selbst perfektionierenden Ewigkeit. Noch seltener dann der Schritt zur völlig orientierungslosen Erkenntnisskepsis. Und die Abkehr vom i.​​​a. objektivistisch geprägten Realismus, Idealismus oder Skeptizismus und Hinwendung zu einer subjektivistischen Ontologie basierend auf dem eigenen Ich-Bewusstsein oder dann gar auf zahllosen anderen bewussten Subjekten ist schließlich sehr speziell.

Ich bin also mittlerweile weder traditionell religiös noch modern realistisch eingestellt – und die zugehörigen Jenseitsmodelle von religiöser bzw. realistischer Erlösung, welche beide ein Ende des Leidens im Tod versprechen, scheinen mir recht unplausibel. Aus gesellschaftlicher Sicht jedoch sind diese beiden heute die unangefochtenen großen Opponenten in der Jenseitsfrage. Sie streiten sich öffentlich und bilden dabei miteinander eine doppelte Sichtblende gegen die m.​​E. plausiblere Möglichkeit des über jeden Tod hinaus andauernden Leids.

Meine heutige Einstellung zur Gottesfrage: rational bin ich Agnostiker in dem Sinne, dass ich es zwar nicht für ausgeschlossen, jedoch für sehr unwahrscheinlich halte, dass der eine allmächtige Gott existiert – fremde bzw. höhere Mächte, seien es Geister oder vergleichsweise begrenzte Gottheiten etc.​​, welche man mit der Installation des einen allmächtigen Gottes wohl ein für alle Mal in Schach halten oder ganz loswerden wollte, sind da m.​​E. sogar plausibler; emotional bin ich Atheist bzw. Antitheist in dem Sinne, dass ich den einen allmächtigen Gott verabscheuungswürdig fände, welcher ein endliches Diesseits aus dem neutralen, leidlosen Nichts heraus mit Absicht so leidvoll geschaffen hat – und erst recht ein ewiges höllisches Jenseits.

Meine heutige Einstellung zur Religionsfrage: m.​​E. ist jeder religiös, der eine haltbare Rückbindung durch eine feste Überzeugung besitzt, welche ihm selbst in den dunkelsten Stunden noch Trost spendet – das gilt z.​​B. auch für den final erkrankten "areligiösen" Realisten, der sich sicher ist, dass sein Leid im Tod endet. "Alles geht vorbei" ist m.​​E. ebenso eine religiöse Aussage wie "Alles hat einen (höheren) Sinn" oder "Alles wird gut". Auch Realismus ist Religion! Areligiös ist m.​​E. erst, wer pessimistischerweise davon ausgeht, dass sein Leid wahrscheinlich niemals enden wird. Ich bin insofern areligiös, als ich die populäre Erwartung von Himmel oder Nichts im Tod nicht teile. Allerdings halte ich es schon für den Beginn einer gewissen Religiosität, die ich mir nachdenkend erarbeitet habe, nicht mehr an eine ewige Höllenfolter oder auch nur an ein absolut unvorhersehbares Schicksal im Tod glauben zu müssen.

Meine heutige Einstellung zur Jenseitsfrage: zwar wünschte ich mir bzw. sehne ich mich nach einem alles Lebensleid unwiderruflich aufhebenden, endgültigen Nichts im Tod, welches die Realisten für höchstwahrscheinlich bis sicher halten, schon weil nach ihrer Ontologie die Welt im Wesentlichen aus Nichts mit winzigen bewusstlosen objektiven Partikeln darin besteht; ich glaube jedoch an – i.​​S.​​v. ich fürchte – immer weitere, im Vergleich zum momentanen Dasein als Mensch i.​​a. noch schlimmere Daseinsschicksale nach dem Tod, weil die Welt nach meiner antirealistischen Ontologie nur Bewusstseinsinhalt ewig leidender Subjekte ist. Auf den ersten Blick paradox, aber auf den zweiten m.​​E. nachvollziehbar: die Realisten sagen, sie glauben nicht an ein Jenseits, aber m.​​E. ist das Nichts bzw. Nichtsein ihr Jenseits; mein Jenseits dagegen gibt es insofern nicht mehr, als ich inzwischen ans ewige Diesseits glaube bzw. an der Möglichkeit endgültigen Nichtseins zweifle.

(Was meinen die Realisten, wenn sie sagen, dass nach dem Tod laut Wissenschaft "höchstwahrscheinlich" nichts mehr kommt? Zuerst assoziiert man fälschlicherweise eine Wahrscheinlichkeit nahe eins, was hieße, man kann sich nahezu sicher sein, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Aber eine solch stringente Physik bzw. Mathematik des Lebens nach dem Tod gibt es gar nicht. Gemeint ist mit "höchstwahrscheinlich" vielmehr, dass es nach heutigem, m.E. sehr geringen Kenntnisstand der Wissenschaft vom Bewusstsein noch die beste Hypothese ist, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Aber wie nahe diese Hypothese dann wirklich an die Wahrheit heranreicht, kann kein Wissenschaftler sagen – die Wahrscheinlichkeit ist nämlich nur relativ hoch verglichen mit älteren, schlechteren Hypothesen, nicht absolut hoch i.​​S.​​v. nahe eins. Man kann sich also mitnichten darauf verlassen! Wenn eine Zahl in der Lottomaschine doppelt vorkommt und die anderen nur einfach, dann ist es zwar am wahrscheinlichsten, dass als nächste Zahl jene doppelt vorkommende Zahl gezogen wird – aber nahezu sicher ist es eben nicht, vielmehr wird als nächste Zahl höchstwahrscheinlich irgendeine der anderen nur einmal vorkommenden Zahlen gezogen. Die Realisten wiegen die Leute m.​​E. viel zu sehr in Sicherheit mit ihrem angeblich wissenschaftlich erwiesenen Nichts im Tod, vgl. Kapitel Nichts und Kapitel Ungewisses.​​)

Folgendes Bild vom Jenseits oder vielmehr vom ewigen Diesseits halte ich für das plausibelste: jedes einzelne Individuum hat genau einen persönlichkeitslosen, nur leidenden, absolut-ewigen Ich-Kern, welcher aber nie in Reinform vorkommt, sondern eine endlose Reihe von zufälligen "Wiedergeburten" bzw. Impersonationen durchläuft (d.​​h. nicht nur i.​​S.​​v. geborenen Lebewesen, sondern i.​​S.​​v. allen relativ-endlich für sich existierenden Individuen), als immer wieder Andere bzw. Anderes, als dissoziative Identitäten ohne klare Ich-Grenzen bzw. als multiple Persönlichkeiten mit vielen inkohärenten Persönlichkeitsanteilen­­, ohne Chance auf dauerhafte Abgrenzung bzw. Integration, auf dauerhafte Karriere per Karma, auf dauerhaften Ausstieg ins Nirvana o.​​ä. (Die Nomenklatur deutet die Haupteinflüsse dieses eklektizistischen Modells an, von Hinduismus bzw. Buddhismus über Schopenhauerschen Pessimismus bis zu psychologischer Gestalttheorie, Persönlichkeitstheorie u.​​a.​​)

(So etwas wie den eben postulierten "metaphysischen" Ich-Kern, ewig und absolut, lehnt die modern-realistische wie nachmodern-antimetaphys­­ische Philosophie rundheraus ab. Ich nenne mittlerweile umgekehrt deren Realität eine "metapsychische" – oder würde sie so nennen, wenn der Begriff Metapsychik nicht schon als Synonym für Parapsychologie in Gebrauch wäre. Als pessimistischem Psychomonisten ist mir das ewige Ichsein die leider unhintergehbare Grundlage der Welt und die angeblich unabhängig vom vergänglichen Ich (weiter-)existierende Realität ein ebenso ominöses Denkkonstrukt wie dem Realisten jenes absolute Ich.​​)

Pessimistische Jenseitsmodelle wie mein gerade geschildertes, ohne Aussicht auf Einheit, Aufstieg und Erlösung, werden m.​​E. bis heute viel zu wenig in Betracht gezogen, worin für mich der beste Grund liegt, mich zu dem Thema zu äußern. Das freie menschliche Denken – so sehr es die Ausnahme von der Regel ist – gerät unweigerlich auch an den Worst Case, macht sich auch die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit des eigenen unendlichen Leidens bewusst. Das ewige Leid nach Art des Monotheismus für die Gläubigen auszuschließen (und den Ungläubigen anzudrohen) oder nach Art des Realismus für alle auszuschließen ist m.​​E. unlauter und stellt als unverrückbare Grundannahme eine psychohygienisch bedenkliche Verdrängung dar, welche sich schließlich in einer zutiefst verlogenen Kultur des "ruchlosen Optimismus" rächt.

Im Speziellen ist es m.​​E. ein Pessimismus der Ewigkeit, welcher neben einem Pessimismus der Endlichkeit heute kaum noch vernehmbar ist. Wer traurig ist, dass alles schließlich enden muss, bemerkt gar nicht mehr, dass es erst richtig schlimm ist, wenn nichts wirklich enden kann ausgehend von der Annahme, dass der innerste Kern des Subjekts absolut und ewig ist, so dass keiner sein Leiden jemals endgültig loswird.

Immerhin: Spekulation über nachtodliche Postexistenz (und vorgeburtliche Präexistenz) zeichnet das menschliche Denken seit jeher aus. Alle Kulturen haben ihre Jenseitstheoretiker bzw. Jenseitstheorien. A priori kann man gar nicht nicht jenseitstheoretisieren. Allenfalls a posteriori versuchen, es tunlichst zu unterlassen. Dabei hat das Jenseitstheoretisieren etwas in zwei entgegengesetzte Richtungen Ultimatives: zum einen ist es vielleicht das weltfremdeste Thema für die scheuesten Theoretiker insofern als eine zugehörige Praxis im Leben sich gewissermaßen von selbst ausschließt (wenn man nicht gerade ein routinemäßig jenseitsreisender Spiritueller ist); zum anderen ist es vielleicht eines der heißesten Eisen, an die sich der Mensch geistig heranwagen kann – die meisten Zeitgenossen machen um das Thema lieber einen großen Bogen.

Woher kommen wir, wohin gehen wir? Philosophieren heißt, vom Speziellen aufs Allgemeine zu schließen, vom Jetzt aufs Immer, vom Ich aufs Andere, vom Diesseits aufs Jenseits. Philosophieren heißt sterben lernen – das bezieht sich m.​​E. nicht nur auf den "letzten" Lebensabschnitt, sondern auch auf ein mögliches Dasein darüber hinaus. Wir extrapolieren; d.​​h. wir überlegen, wie es schlüssig weitergehen könnte und wie es richtig weitergehen sollte nach dem Sterben bzw. im Tod. Und wir versuchen, mit den Eventualitäten nach und nach zurechtzukommen; uns beizeiten daran zu gewöhnen; in unserem jetzigen Leben dessen mögliche Fortsetzung (und dessen mögliche Herkunft) zu beherzigen. Mir kommt es jedenfalls so vor, als wären die ehrlichsten Philosophierenden diejenigen, welche das Leben grundsätzlich zum Tod hin weiterdenken.

Die gemeinten Jenseitstheorien sind keine Modelle aus jenseitigen Fakten, sondern aus diesseitigen Fakten. Es soll darum gehen, das Wesen des Diesseits gedanklich zu erfassen und mit dem passenden Jenseits fortzusetzen bzw. zu umrahmen. Unserer Sinneswahrnehmung etwa stehen nur sehr ausschnitthafte Muster zur Verfügung, die sie unwillkürlich ergänzt, und auch unser willkürliches Denken macht i.​​a. an keiner Grenze halt, sei es das gegenstandslose Nichts, das undenkbare Andere etc. Aus der Analyse des Vorgegebenen ergibt sich die Synthese der Fortsetzung. Je besser man das Vorgegebene versteht, desto plausibler kann man es fortsetzen.

(Die ans wissenschaftliche Denken Gewöhnten zweifeln hier evt. an, dass man aus diesseitigen Fakten Modelle ableiten kann, welche dann auch Aussagen übers Jenseits erlauben. Aber selbst wissenschaftliche Modelle können nicht nur interpolieren, sondern auch extrapolieren, d.​​h. über ihre ursprünglichen Bestimmungsgrenzen hinaus Prognosen liefern. Es stimmt zwar, dass solche Jenseitsprognosen dann nicht vom Diesseits aus überprüfbar bzw. fasifizierbar sind – damit ist jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es Sinn macht, solche Prognosen zu stellen und sie ins Leben einzukalkulieren.​​)

(Phantastisch konkrete Fortsetzungen des Gegebenen präsentiert dagegen die Esoterik – ihre Konglomerate aus allen möglichen Mythologien lesen sich wie eine Art euphorisierende Afterlife Fiction, die aber i.​​d.​​R. den Anspruch gesicherter Erkenntnis erhebt. Trauernde Hinterbliebene etwa finden Trost darin, dass ihr Verlust auf diese Weise zum Teil eines höheren Plans avanciert. Ob die esoterischen Todeserklärer selber an ihre Geschichten glauben, ob sie sich über den derart gespendeten Trost legitimieren, ob sie ein Geschäft damit machen oder einfach nur ihren pathetisch-patriarchali­­schen Auftritt genießen, bleibt dahingestellt.​​)

Mir geht es ausdrücklich um die Suche nach einem möglichst plausiblen Jenseitsmodell, nicht etwa nach einem für bestimmte Zwecke im Diesseits möglichst wirksamen. Ideal fände ich, nach Art der Philosophie eine möglichst vollständige und doch übersichtliche Anzahl von allgemeinen Grundkategorien zu finden, unter denen sich zumindest die wichtigsten der weltweit kursierenden Jenseitserzählungen subsumieren lassen, und jene dann hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen bei der Abbildung des Weltwesens gegeneinander abzuwägen. Mein autobiographisch gefärbter Ansatz genügt diesem hohen Anspruch nicht, sein Ergebnis besteht m.​​E. jedoch in einer durchaus recht allgemeinen und größtenteils dyadisch strukturierten Systematik von sieben Grundmodellen. Wo immer mich der Versuch einer "objektiven" Kategorisierung aller gegebenen Jenseitsmöglichkeiten völlig überfordern würde, beleuchte ich in den folgenden sieben Kapiteln dann eher naheliegende Variationen bzw. gedankliche Umfelder meiner subjektiv durchlebten Jenseitsmodelle.

Neben diesem Ansatz des Auffindens einer möglichst vollständigen und doch übersichtlichen Systematik grundlegender Jenseitskategorien sind mir v.​​a. das Ranking meiner Jenseitsmodelle nach persönlicher Plausibilität einerseits und nach persönlicher Erwünschtheit andererseits zwei sehr wesentliche und konkrete Ergebnisse meines Nachdenkens über den Tod (siehe obiges Schaubild und Nachwort). Die beiden metaphysischen Fragen, welche ich mir mit diesen Rankings so konkret wie möglich beantworten will, sind also folgende: "Was glaube ich, dass nach meinem Tod wahrscheinlich mit mir geschieht? Und was will ich, dass nach meinem Tod möglichst mit mir geschieht?​​".

Den Jenseitstheoretikern der Geschichte ist z.​​T. vorzuwerfen, dass sie Modelle des Jenseits "nur" konstruierten, um im Diesseits erwünschte Stimmungen und/​​oder Handlungen zu zeitigen (wobei man in leichteren Zeiten eben auch leichter reden hat mit seiner wahrheitsliebenden Empörung hierüber). Gewissermaßen wurde das Jenseits also regelmäßig als freier spekulativer Gestaltungsraum zur Wirkung aufs Diesseits instrumentalisiert. Ich will das möglichst vermeiden, aber ein ganz über solche Zweifel erhabenes Jenseitstheoretisieren kann ich nicht (und m.​​E. auch sonst niemand) anbieten – nur denkerische Plausibilität anstreben, naive Modelle gegen immer wohlüberlegtere tauschen.

(Zum Zweck der Machtausübung – moralische Disziplinierung, finanzielle Ausbeutung etc. – durch kirchliche, staatliche etc. Institutionen eignen sich Jenseitsmodelle immer dann, wenn angeblich die eigenen Handlungen bzw. Unterlassungen vor dem Tod in absehbarer Weise Einfluss darauf nehmen, welche Stufe eines hierarchisch gedachten Lebens nach dem Tod erreicht werden kann, angefangen beim zweistufigen Jenseits – Himmel und Hölle – bis hin zur karmischen Wiedergeburt mit ihren unzähligen Stufen zwischen niedrigsten und höchsten Daseinsformen. Ein nicht in vorhersagbarer Weise individuell zu beeinflussendes Jenseits hingegen – ob das Nichts oder das völlig Ungewisse oder das immergleiche Ich oder die zufällige Wiedergeburt als ein Anderer – eignet sich weniger bis gar nicht zur Machtausübung durch Institutionen. Solche Instrumentalisierung von Jenseitsmodellen will ich im Gegensatz zu ihrer Plausibilität und Wünschbarkeit nicht weiter behandeln und deshalb auch nicht in ein Ranking einordnen.​​)

Darüber hinaus sind neuere Jenseitsmodelle leider z.​​T. nur der psychischen Verdrängung älterer Jenseitsmodelle geschuldet, gegen die man allergisch geworden ist. Es würde mich nicht wundern, wenn dereinst eine psychoanalytische Untersuchung der Philosophiegeschichte zutage fördern würde, dass die angeblich so nüchterne Wahrheitssuche des modernen Objektivismus v.​​a. als verzweifelte Ablenkung von der ewigen Unterworfenheit unter die alten dunklen Mächte fungiert. (Früher glaubte man noch an höhere Mächte und versuchte, sich mit den guten gegen die bösen zu verbünden; heute glaubt man nicht mehr daran bzw. versucht, sie zu ignorieren.​​)

Auf dem Weg der wahrheitsorientierten Philosophie ist religiöse Zuversicht m.​​E. eher fehl am Platz. Dem gemeinhin als weise geltenden Spruch "Ich habe Angst vor dem Sterben, aber ich habe keine Angst vor dem Tod" kann ich nicht beipflichten. Ich habe Angst vor dem Sterben, viel mehr jedoch habe ich Angst vor dem Tod. Hat einer keine Angst mehr vor dem Tod, hat er m.​​E. die Wahrhaftigkeit zugunsten einer Religion aufgegeben. Das gilt auch für die moderne Religion der endgültigen Bewusstlosigkeit im Tod.

Umgekehrt ist die völlig religionslose Verdrängung des Todes z.​​B. durch ein Leben auf der Überholspur evt. wenig nachhaltig. "Get yourself a life", mögen mir junge Volldampf-Aktionisten angesichts meiner Todesgrübeleien fröhlich zurufen, wirken in fortgeschrittenem Alter jedoch oft abgehetzt bzw. krampfhaft "jung geblieben"; können immer weniger wahrhaben, dass ihr Tod immer näher kommt und überfordern sich – und evt. die Anderen – mit ihrem zunehmenden Bedürfnis nach Ablenkung durch Action. Hier fehlt Gelassenheit, um nicht zu sagen Weisheit, wie sie aus der denkerischen Auseinandersetzung mit dem Tod gedeiht.

Die Plausibilität eines Jenseitsmodells wird individuell sehr unterschiedlich empfunden und leider oft viel zu wenig getrennt von seiner Erwünschtheit: der eine hat Angst vor dem Nichts im Tod, der andere hat Sehnsucht danach; viele fänden es furchtbar, nach ihrem Tod wiedergeboren zu werden, viele wünschen es sich usf. Auch nehme ich an, es gibt kein einziges Jenseitsmodell, welches keinen psychischen Schaden anrichten könnte (evt. auch als Spätfolge), so dass z.​​B. in der Kindererziehung vorsichtig und individuell und wiederholt geprüft werden muss, ob bzw. welche Todesbilder bereits angeboten werden dürfen – es dauert wohl geraume Zeit, bis ein Mensch so weit gefestigt ist, dass ihm alle philosophisch denkbaren Eventualitäten zuzumuten sind.

Ob jemand mit einem bestimmten Jenseitsmodell zurechtkommt oder nicht, hängt m.E. entscheidend davon ab, ob er gerne lebt oder nicht, ob er eher drastische Motivation braucht oder sanfte Tröstlichkeit, ob er zu rigoroser Erfüllung seiner Wünsche neigt oder zu sehnsüchtigem Abwarten etc. Wenn man einem energischen Kind bzw. einem tatkräftigen Jugendlichen vom schönen Himmel oder vom leidlosen Nichts erzählt, noch dazu während es ihm besonders schlecht geht – wie verwunderlich ist es, wenn suizidale Ideen daraus entstehen und zügig umgesetzt werden? Für jeden Charakter muss stattdessen das richtige Jenseitsmodell in der richtigen Kombination aus Plausibilität und Erwünschtheit gefunden werden, alles andere ist (psychisch oder gar physisch) problematisch oder gar gefährlich, und darin bislang m.E. weit unterschätzt.

Im Fall einer Unvereinbarkeit von den erwünschten mit den für plausibel gehaltenen Jenseitsmodellen drohen sicherlich existentielle psychische Schwierigkeiten. Wer sich allzu sehr ein ewig anhaltendes Glück wünscht, sich aber zugleich dessen Endlichkeit allzu gewiss ist, hat damit evt. DAS Problem seines Lebens, und erst recht, wer sich allzu sehr ein Ende seines Leidens wünscht, sich aber zugleich dessen Ewigkeit allzu gewiss ist. In den Katalogen der häufigsten psychischen Störungen sucht man solche allerdings vergebens – sind sie wirklich individuell kaum existent bzw. werden sie kollektiv so erfolgreich verdrängt?

Sicherlich sind frühkindliche Traumata möglich (bis üblich?), wo zu früh oder jäh oder unkommentiert entweder ein am Leben leidendes Kind vom ewigen Leiden im Tod erzählt bekommt oder ein sich am Leben freuendes Kind vom ewigen Nichts im Tod erzählt bekommt. Bei mir persönlich war wohl Ersteres der Fall, und aus meinem persönlichen Umfeld kenne ich auch einen Fall von Letzterem. Ein tiefes Jenseitstrauma braucht evt. einen lebenslangen inneren oder äußeren Dialog zwecks Entwicklung individuell verträglicher Jenseitsmodelle, ebenso wie viele anderweitig Erkrankte "ihr" Thema ein Leben lang nie wieder vernachlässigen bzw. auf die leichte Schulter nehmen sollten, selbst wenn sie scheinbar wieder gesund sind. Dieser Text ist wohl u.a. der Versuch meiner eigenen seelischen Nachsorge.

Und schließlich kann es m.​​E. nicht das eine Jenseitsmodell für alle geben, solange nicht für alle einsichtig bewiesen werden kann, was im Tod mit dem eigenen Bewusstsein geschieht – einem Teil der Menschen würde mit einem solchen Universalmodell immer Unrecht getan. Deshalb kann es hier auch nicht darum gehen, falsche von richtigen Jenseitsmodellen zu trennen. Höchstens darum, sich mit den grundlegenden Kategorien des Jenseits kritisch auseinanderzusetzen, erst mal möglichst flächendeckend und unabhängig davon, ob sie einen persönlich anziehen, kalt lassen oder abstoßen. Um sich hernach in erster Linie das persönlich plausibelste und in zweiter Linie das persönlich erwünschteste Jenseitsmodell auszusuchen.

(Noch einmal: Szientisten bzw. Naturalisten, welche die moderne wissenschaftliche bzw. naturwissenschaftliche Methodik für generell maßgeblich halten, erheben hier grundsätzliche Einwände. Sie halten das Leben nach dem Tod für eine höchst kuriose Annahme ähnlich Russell's Teekanne aus Porzellan, die zwischen Erde und Mars um die Sonne kreist, aber unseren Weltraumteleskopen stets entgeht, weil sie zu klein ist. Nach Occam's Razor müsse von der Nichtexistenz des Jenseits bzw. von der Unsinnigkeit aller Jenseitstheorien so lange ausgegangen werden, bis das erste Jenseitsmodell gefunden sei, welche objektiver wissenschaftlicher Überprüfung zugänglich sei bzw. standhalten könne. Die Beweislast liege voll und ganz auf Seiten derer, welche die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod behaupten, und bis dahin gelte: es gibt keines. Diese evidentialistische Grundannahme teile ich nicht. Vielmehr erscheint es mir eben gerade nach Occam's Razor viel einfacher und naheliegender, das Bewusstsein als unendlich anzunehmen, statt sein höchst unwahrscheinliches Entstehen aus bewusstloser Materie bzw. Vergehen in bewusstlose Materie zu postulieren. Die Frage nach dem Jenseits ist v.​​a. die Frage danach, ob das Bewusstsein den Tod überdauert, und Bewusstsein ist m.​​E. grundlegend i.​​S.​​v. unhintergehbar, also nicht naturwissenschaftlich-objektivistisch reduzierbar. Ignoramus et ignorabimus! In meiner hier verwendeten Begrifflichkeit hat vielmehr auch der moderne Mensch einen üblichen Jenseitsglauben: er glaubt an das vergangene und künftige absolute Nichts seines Bewusstseins um sein endliches Leben herum, an die bis auf eine kurze Unterbrechung namens Leben eigens für ihn reservierte ewige, absolut leidlose Bewusstlosigkeit.​​)

Das meiste, was zum Thema Jenseits geschrieben wurde und wird, stammt von religiösen bzw. spirituellen Menschen und deren humanistisch bzw. naturalistisch motivierten Kritikern. Ich selber halte mich für weder noch, sondern für einen pessimistischen Trostsucher – und für ebensolche will ich in erster Linie schreiben. In der Jenseitsbetrachtung scheint die Allgemeinheit begeistert vom besten Fall oder zumindest nüchtern vom Neutralfall ausgehen zu wollen, während ich vorsichtig, ängstlich, misstrauisch nahe am Worst Case operiere.

Pessimist sein heißt, dem Leben bzw. dem Tod das Schlechte i.​​S.​​v. Leid zugrunde liegen zu sehen und seinen Blick nicht davon abzuwenden. Nachdenken und Reden über eine große schwarze Fläche mit ein paar kleinen weißen Flecken drauf, nicht umgekehrt. Das wird hier meist vorausgesetzt, kaum in Frage gestellt oder zu kurieren versucht. Es sei denn, sich die pessimistische Wahrheit von der Seele zu schreiben bzw. etwas darüber zu lesen zählt bereits als Kur.

Als Pessimist halte ich die Behauptung der Optimisten für falsch, das Leben sei überwiegend bejahenswert oder gar normalerweise schön. Diese Behauptung könnte paradoxerweise sogar eine der unheilbringendsten der Weltgeschichte sein, weil die Menschen, wann immer es ihnen schlecht geht, was meistens bzw. bei den meisten der Fall ist, nach einem Sündenbock für diese angeblich vermeidbare leidvolle Befindlichkeit suchen und dann auf diesen Sündenbock losgehen. Zusammen mit dem objektivistischen Credo, das Sein bestimme das Bewusstsein, sind die modernen Objektivisten andauernd am blind-aktionistischen Optimieren im Sinne eines allzu beherzten Abschaffens von Missständen und bewirken auf dem Weg in ihr diesseitiges Paradies i.​​a. viel mehr langfristigen Kollateralschaden als kurzfristigen Nutzen. Als Pessimist halte ich eine schöne neue Welt für illusionär; zudem bin ich ontologischer Subjektivist und meine: das Leiden der Subjekte untereinander bzw. an der Welt als ihrem Bewusstseinsinhalt ist im Grunde ewig und unabwendbar, es bedarf i.a. möglichst weniger wohlüberlegter und nachhaltiger Reaktionen und Aktionen, um es hie und da ein wenig zu lindern. (Mehr zu meinem passiven Subjektivismus und der daraus folgenden quietistischen Ethik in den Kapiteln Ich und Andere.​​)

Der Superlativ im Wort Pessimismus stellt zumeist eine Übertreibung dar, hat sich als Fachbegriff für die negative Bewertung der Welt aber nun einmal etabliert. Ich zweifle wie gesagt nicht daran, dass die große schwarze Fläche i.​​a. auch ein paar kleine weiße Flecken hat – schlimmer geht immer. Nur im Zusammenhang mit dem Jenseitsmodell der Hölle sowie der schlechtesten aller möglichen Welten von Schopenhauer trifft die wörtliche Bedeutung des Summum Malum zu. Ansonsten müsste man genauer wohl von Malismus i.​​S.​​v. einem weitgehenden Überwiegen des Schlechten sprechen.

Dieser Malismus bzw. Pessimismus diagnostiziert eine systematische, fundamentale, unheilbare Asymmetrie von Freude und Leid, von Können (Ausüben der Freiheiten, die man sich selber nimmt) und Müssen (Aushalten der Freiheiten, die sich die Anderen nehmen), von Gutem und Schlechtem. Der Vorteil ist nie so schön wie der Nachteil hässlich ist; den Reichen geht es nie so gut wie es den Armen schlecht geht; und ewig so weiter. Aus diesem Pessimismus leitet sich der Nihilismus à la Schopenhauer ab, dem ich voll beipflichte: diese Welt bzw. unser aller Dasein wäre besser nicht. Das Nichts wäre dem Sein unbedingt vorzuziehen. Allerdings ist jenes Nichts nicht etwa durch Tod und Zerstörung erreichbar, im Gegenteil machen Letztere alles nur noch schlimmer – denn das Sein ist und das Nichts ist nicht, basta.

Dieser resignative Pessimismus und hoffnungslose Nihilismus Schopenhauers ist die Ausnahme, stattdessen leben wir heute m.​​E. in einer Welt, deren Intellektuelle i.​​a. Nachfahren von Nietzsche sind. Da geht das Leben immer vor Moral, Würde etc. – Moral, Würde etc. dürfen nie so weit gehen, dass sie das Leben diskreditieren. Weil Moral, Würde etc. nun einmal auf dem Leben basieren und nicht umgekehrt, darf das Leben prinzipiell grausam sein bzw. wird trotzdem bejaht. Hinter lebensverneinenden Argumenten vermutet man die Larmoyanz der "zu kurz Gekommenen", geht mit einem höhnischen "ja ja, die Moralisten: fiat iustitia, et pereat mundus" über ihre Klagen hinweg. Und entwendet ihnen auch noch die Begriffe zur Bezeichnung ihrer Denkwelten – Nietzsches tapferer Pessimismus, tätiger Nihilismus etc. will den von ihm vorgefundenen Pessimismus, Nihilismus etc. eigentlich einstampfen.

So gibt es leider kaum Lesestoff von Pessimisten für Pessimisten, schon gar nicht zum Thema Tod und Jenseits, wenn man von fiktionalen Genres absieht. Als nun schon auf die sechzig zugehender Pessimist versuche ich mich hiermit ernsthaft an jenseitstheoretischen Betrachtungen, wie ich sie als junger Pessimist gerne gelesen hätte, aber nirgends finden konnte. Außer in Schauerromanen, Horrorfilmen etc. scheint allgemein zu gelten: (nicht nur de mortuis, sondern auch) de morte nihil nisi bene.

Jedes der folgenden sieben Kapitel ist einem Jenseitsmodell gewidmet, angeordnet in autobiographischer Reihenfolge. Das siebte, späteste Modell erscheint mir heute am plausibelsten, das erste, früheste Modell am unplausibelsten – die autobiographische Reihenfolge zeigt zugleich mein persönliches Ranking der Modellplausibilität rückwärts. Totsein ist demnach vergleichbar 1) den angenehmesten Momenten im Leben; 2) den unangenehmsten Momenten im Leben; 3) dem tiefsten Schlaf; 4) der Synthese aller Aspekte des Daseins; 5) einem bisheriger Wahrnehmung völlig unzugänglichen Zustand; 6) dem bisherigen Ichsein; 7) dem per Empathie jetzt schon vorzufühlenden Anderesein.

(Zwischen den Zeilen steht sozusagen meine persönliche Autobiographie in sieben Stationen, wofür die Jenseitsmodelle als bestimmende Rahmenbedingungen meines Lebens die sieben Überschriften liefern – die Zeilen selber jedoch sollen das Allgemeingültige bzw. Systematische herausarbeiten.​​)

Als dreidimensionale Figur sieht die Gliederung z.​​B. so aus: oben der Himmel, unten die Hölle, links das Nichts, in der Mitte das All-Eine, rechts das Ungewisse, vorne das Ich und hinten die Anderen. Drei senkrecht aufeinander stehende Dipole und die Unio Mystica als Monopol im Mittelpunkt. Himmel&Hölle bzw. Ich&Andere sind offensichtlich Gegensatzpaare. Nichts&Ungewisses sind m.​​E. das verdrängte Gegensatzpaar zweier "neutraler" Jenseitsbilder der Naturalisten – eines mit der alten Gewissheit des deduktiven Determinismus und eines mit der neuen Ungewissheit des induktiven Probabilismus. Abwechselnde Rede vom evidenten Ende des Bewusstseins im biologischen Tod und vom Bewusstsein als größtem Rätsel im Universum scheint ihnen kein Widerspruch zu sein; auch bei denen, die ansonsten alles Mystische bzw. Mysteriöse ablehnen, scheinen zwei entgegengesetzte Meinungen zum Tod gleichzeitig zu bestehen: a) man weiß doch so sicher wie nichts sonst, was der Tod ist: das Ende; und b) man weiß doch im nicht im mindesten, was der Tod ist, denn es ist noch kein Toter zurückgekehrt.

So steht dann jeder Jenseits-Dipol bzw. -Monopol für eine von vier Ontologien: Himmel&Hölle für die monotheistisch-religiös­­e Ontologie, Nichts&Ungewisses für die objektivistisch-natural­­istische Ontologie, All-Einheit für die mystisch-spirituelle Ontologie und Ich&Andere für die subjektivistische (Bewusstseins-)Ontologi­­e. Das Jenseits dieser vier Ontologien ist Gott-bestimmt, Naturgesetz-bestimmt, durch die höhere Ordnung der geistigen Welt bzw. ihre Kausalitäten (z.B. Karma) bestimmt, der ewigen eigenen Existenz ausgeliefert bzw. durch die Anderen fremdbestimmt. Weil wir in einer optimistischen Welt leben, denkt jeder bei den genannten vier Ontologien fast auschließlich an deren positive Seite – lieber Gott und Himmel, naturalistische Ordnung und Leidensende im Tod, reinkarnierende Entwicklung gen Allversöhnung, Ich bleiben können mit Wille zur Macht – aber alle vier haben eine negative Seite, die geschichtlich jeweils zuerst dagewesen sein dürfte – Herrgott und Hölle, sich immer wieder als falsch herausstellende wissenschaftlich-partik­ulare "Wahrheiten" und völlig Ungewisses im Tod, reinkarnierende Entwicklung gen Allverdammnis, immer wieder Andere werden müssen bzw. Leiden unter der (Über-)Macht der Anderen. Was die Informationsquellen speziell zum Thema Jenseits angeht, auf die ich am ehesten vertraue, so wächst für mich deren Plausibilität mit eben diesen vier ontologischen Phasen der Geschichte: am wenigsten Aussagekraft billige ich da den Theologen und ihrer Auslegung der alten Schriften zu, etwas mehr den Naturwissenschaftlern und ihren Schlussfolgerungen aus der Hirnforschung, noch etwas mehr den mir persönlich bekannten Spirituellen des New Age mit ihren selbstgemachten mystischen Erfahrungen, und noch am meisten – wenn auch immer noch nicht allzu viel – dem Alltagsverstand des Individuums bzw. meinem eigenen!

(Beim Anordnen der sieben Modelle in drei Dichotomien plus ein Modell in der Mitte ergeben sich m.​​E. mehrere plausible Möglichkeiten. Eine weitere: oben der Himmel, unten die Hölle, links das Nichts, rechts das All-Eine, in der Mitte das Ungewisse, vorne das Ich und hinten die Anderen. Himmel&Hölle sind die alte Metaphysik des Monotheismus; Nichts&All-Einheit sind die neue Metaphysik von Materialismus (auf null verengtes Bewusstsein) vs. Spiritualismus (auf eins erweitertes Bewusstsein); das Ungewisse ist neopositivistische Enthaltsamkeit gegenüber der Metaphysik sprich keine Metaphysik; Ich&Andere sind meine Metaphysik i.​​S.​​v. nicht dogmatisch vorgegebene, sondern in philosophischer Selbstbefragung individuell gewählte Metaphysik. Näheres zum Nichts als Gegenstück des All-Einen siehe Kapitel Nichts und Kapitel All-Einheit – diese Dichotomie ist verglichen mit der obigen des Nichts als Gegenstück des Ungewissen zwar evt. die einleuchtendere, aber ich bevorzuge trotzdem die im vorletzten Absatz beschriebene Figur; zum einen, weil ich Nichts&Ungewisses gewissermaßen für das objektivistische Pendant von Himmel&Hölle bzw. Ich&Andere halte; zum anderen, weil die All-Einheit ein Modell ist, welches ich im biographischen Übergang vom Nichts zum Ungewissen nur kurz in Betracht gezogen bzw. von allen sieben Modellen am wenigsten geglaubt habe, während alle drei Dichotomien um die All-Einheit herum echte Stationen in meinem Leben darstellen; vgl. auch die biographische Aufzählung meiner drei pessimistischen Abstürze im Nachwort.​​)

(Drei weitere plausible Anordnungen: oben der Himmel, unten die Hölle, in der Mitte das Nichts – für alle, die es wie Wittgenstein nicht für das Verwunderliche halten, WIE die Welt ist, sondern DASS sie ist – rechts das All-Eine, links das Ungewisse – als Gegensatz von Mystik und Skepsis bzw. verehrtem und beargwöhntem Seinsgeheimnis – vorne das Ich und hinten die Anderen; oder: oben der Himmel, unten die Hölle, links das Nichts, rechts das All-Eine, vorne das absolut Ungewisse, hinten das Ich als das absolut Gewisse – sozusagen die Descartessche Dichotomie an der Wende vom absoluten Skeptizismus zum absoluten Subjektivismus – und in der Mitte die Anderen; oder: in der Mitte das unhintergehbare und damit einzig gesicherte solipsistische Ich, außenrum die drei hypothetischen Dichotomien Himmel&Hölle, Nichts&Ungewisses, All-Einheit&All-Chaos i.​​​​S.​​​​v. geordnete vs. zufällige Wiedergeburt. Des Weiteren sind statt der drei Dipole plus dem Monopol in der Mitte auch noch andere Geometrien denkbar, etwa zuerst eine Aufteilung in das unvorstellbar Ganz​ Andere einerseits und die vorstellbaren Jenseitsmodelle andererseits, diese wiederum teilen sich auf in die zwei senkrecht zueinander stehenden "weiten, extremen" Dipole Himmel&Hölle und Nichts&All-Einheit, und in deren Zentrum wiederum steht der "enge, gemäßigte" Dipol Ich&Andere des ewigen Diesseits.​​​ Oder eine Vierer-Ringstruktur vom Bekanntesten zum Unbekanntesten: innen das Ich, die per Empathie zugänglichen Anderen im nächsten (sic!​​) Ring, Himmel&Hölle und Nichts&All-Einheit als Extreme des Vorstellbaren im übernächsten Ring und außen das Unvorstellbare.​​)

Philosophiegeschichtlic­­h im engeren akademischen Sinne lässt die Reihenfolge der drei Dichotomomien Himmel&Hölle, Nichts&Ungewisses und Ich&Andere an die üblichen drei Abschnitte Tradition, Moderne und Postmoderne denken. Also an die traditionellen gottesliebenden und gottesfürchtenden Theisten, an die modernen Realisten und Skeptiker sowie an die postmodernen Subjektivisten und Intersubjektivisten. Das All-Eine ließe sich in dieser Dreiteilung dann v.​​a. den traditionellen Mystikern, aber durchaus auch den modernen objektiven Idealisten zurechnen, welche meines Wissens in den Formalwissenschaften nicht selten anzutreffen sind. Ich beleuchte jedoch im Folgenden wie gesagt alle Jenseitsmodelle v.​​a. von der pessimistischen Warte aus und vertrete damit eine Mindermeinung, die zu fast allen philosophiegeschichtlic­­hen Zeiten zumindest offiziell eher verpönt war, um es milde auszudrücken. Inoffiziell jedoch weist die Philosophie von Sokrates bis Schopenhauer zutiefst lebensverneinende Züge auf, wie Nietzsche m.​​E. richtig diagnostiziert. (Dass hingegen die Allgemeinheit pessimistisch eingestellt sei, wird ihr in unserer nietzscheanischen Kultur zwar von Kabarettisten (Stichwort "Jammern auf hohem Niveau") und Popsängern (Stichwort "Schlechte Zeit für Optimisten") immer wieder nachgesagt, während diese sich selber mit ihrer optimistischen Einstellung allein auf weiter Flur wähnen, aber diese Diagnose ist m.​​E. falsch – zumindest insoweit, als wohl die allermeisten Menschen sich selber eher für Optmisten denn für Pessimisten halten.​​)

(In einem erkenntnispessimistisch­­en Sinne will ich – schon indem ich in der ersten Person schreibe – auch die wissenschaftliche Attitüde vermeiden, selbst nachgezimmerte Theoriegebäude als objektives Wissen darzustellen; und erst recht den wissenschaftlichen Optimismus, das regelmäßige Scheitern an deren Vollendung als Fortschritt auszugeben. Die Abmilderung zum entspannten experimentellen Sprachspiel ohne Lösungsabsicht ist ebenso wenig mein Fall, vielmehr ist es mir todernst mit dem existentiellen Thema Jenseits. Als unglücklicher Sisyphos puzzle ich angestrengt bis verzweifelt weiter, auch wenn die Teile bzw. Begriffe kaum passen wollen.​​)

Schließlich könnte man exemplarisch folgende drei historischen Zeitpunkte herausgreifen: schon im antiken Athen gab es die Vorstellungen von Himmel, Hölle und Nichts; Descartes läutete die Neuzeit der Philosophie ein herkommend vom mystischen All-Einen, sich vorwagend zum skeptischen Ungewissen und Halt findend im Ich bzw. in der Selbstgewissheit des denkenden Subjekts; heute sind wir mehr denn je hineingehalten ins Andere bzw. in die Anderen, ins partikularistische (Inter-)Subjektive.

Aber ob ich mit meiner recht individualistisch anmutenden Vorstellung vom Leben nach dem Tod in Form eines immer wieder zufällig Wiedergeborenwerdens im ewigen Diesseits nun in der Postmoderne angekommen bin, ist schwer zu sagen. Laut Lyotard schenkt die Postmoderne den Metaerzählungen keinen Glauben mehr. Hinsichtlich der großen Narrative von traditionellem Theismus und modernem Szientismus tue ich das auch nicht. Aber ebenso wenig kann ich mittlerweile eine Skepsis teilen, welche jegliche Metaerzählung ablehnt. Nach alter und neuer Metaerzählung bzw. gar keiner Metaerzählung pflege ich heute v.​​a. hinsichtlich der Afterlife-Frage meine eigene Metaerzählung. Zumindest jedoch habe ich im postmodernen Sinne begriffen, dass es sich auch bei meiner Metaerzählung nur um eine Erzählung handelt; im Gegensatz zu den Religiösen oder den Realisten bin ich nicht felsenfest überzeugt von einer Wahrheit oder Ideologie wie dem Reich Gottes oder der unabhängig vom Bewusstsein existierende Realität, sondern halte selbst zu meinen eigenen Auffassungen eine gewisse Distanz. Das sagt ja schon der Titel "Jenseitstheorien" – soll heißen: auch meine Jenseitse sind immer nur hypothetische Kopfgeburten. Müsste ich mich einordnen – Tradition, Moderne oder Postmoderne – würde ich mit großem Zögern die Letzte nehmen, und gleich hinzusetzen, dass ich aber ein pränietzscheanisch pessimistischer Postmoderner bin, der mit Schopenhauer und Horkheimer für Machtverzicht plädiert und noch weit vom Verwerfen aller Metaphysik und universeller Moral entfernt ist. Statt einem befreiten "Feeling of being after" zu frönen, verharre ich in Trauer darüber, dass die Ideale des Guten, Wahren und Schönen unserer Welt systematisch wesensfremd sind. (Nietzsche gilt oft als der erste große Postmoderne, wohl weil er der erste bejahende Postmoderne ist – für mich bleibt es aber à la Schopenhauer beim wehmütigen statt freudigen Aufgeben des Glaubens an eine vernünftig eingerichtete Welt.​​​)

(Die Einordnung der hier besprochenen Jenseitsmodelle in die kanonische Philosophie bzw. Philosophiegeschichte mag oft nur grob zutreffen und ist auch keine primär verfolgte Absicht – als philosophischer Dilettant bzw. Autodidakt fühle ich mich weder in der Pflicht noch in der Lage, der akademischen Form zu genügen. Ich würde zwar allein schon aus stilistischen Gründen liebend gern auf jeden akademischen Jargon verzichten, werde aber aus inhaltlichen Gründen immer wieder philosophische Ismen und andere Fachbegriffe sowie Namen und Zitate kanonischer Philosophen verwenden, sofern sie mir beim Denken weitergeholfen haben bzw. zur Beschreibung der vorgestellten Jenseitsheorien hilfreich erscheinen. Auf die Gefahr hin, meinen Text Möchtegern-akademisch klingen zu lassen, meine ich doch, dass selbst küchenphilosophische Tiraden à la "transzendentales Subjekt als unhintergehbare metaphysische Bühne der Welt, nur eben fühlendes statt erkennendes Subjekt, passives statt aktives Subjekt, kollektiv unterworfenes statt individuell selbstbestimmtes Subjekt, partikular-multiples statt holistisch-unitäres Subjekt" immer noch mehr Einsicht vermitteln als der Versuch, allen fachphilosophischen Bezug zu vermeiden, wobei aber ja doch jeder, der sich thematisch schon anderweitig etwas eingelesen hat, an die akademischen Kategorien denken muss und sich fragt, inwieweit sie hier umschrieben bzw. gemeint sein könnten. Es soll hier jedoch bei der Gewichtung "meist Alltagssprache, seltener Fachtermini, noch seltener konkreter Bezug auf berühmte Denker und ihre Standardwerke" bleiben, was in der Fachphilosophie i.​​d.​​R. umgekehrt ist.​​)

Ex negativo lassen sich die Jenseitsmodelle folgendermaßen definieren: im Himmel gibt es endgültig keine Angst und kein Leid mehr; in der Hölle keine Hoffnung und keine Freude; im Nichts kein Sein bzw. Bewusstsein; im All-Einen keine Unterschiede bzw. Differenzen; im Ungewissen keine Einsicht bzw. Evidenz; im Ich kein von mir unabhängiges Anderes; und im Anderewerden keine mir bleibenden individuellen Ich-Eigenschaften, nur das allen und allem gemeine ewige Leid.

Die pessimistische Bewertung dieser sieben Jenseitsmodelle ist erwartungsgemäß fast spiegelbildlich zur optimistischen. Der Pessimist wertet nur den Himmel und das Nichts positiv (oder das Nichts gar positiver als den Himmel, siehe Dostojewski: von der höheren Harmonie will ich nichts wissen – sie ist nicht wert der Tränen auch nur eines gemarterten Kindes), die anderen Modelle ängstigen ihn: das Ungewisse und die Hölle sowieso, auch das All-Eine als Summe über alles ist seines Erachtens ein negatives, und er ist weder gerne er selbst noch wäre er gerne irgendein Anderer. Der Optimist dagegen ist neugierig aufs Anderssein und aufs Ungewisse, auch ist er gerne er selbst, und das All-Eine sieht er als eine Art Himmel; nur das Nichts und die Hölle wertet er negativ (oder das Nichts gar negativer als die Hölle, siehe Faulkner: wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz). Der Pessimist muss das Diesseits und die meisten Jenseitse ablehnen bzw. fühlt sich davon bedroht, beim Optimisten ist es umgekehrt. Insbesondere am heute so üblichen Jenseitsmodell des Nichts scheiden sich die Geister: extrem anziehend für den Pessimisten, extrem abstoßend für den Optimisten.

Hinsichtlich der heute gesellschaftsüblichen Jenseitstheorien lassen sich m.​​E. im Groben vier Lager unterscheiden. Das erste ist pro Religion und glaubt weiter fest an eine jenseitige Hierarchie, die an diesseitiges moralisches Verhalten geknüpft ist. Das zweite Lager ist contra Religion und behauptet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu wissen, dass im Tod das Bewusstsein für alle gleichermaßen endet. Das dritte Lager arbeitet hart an einer spagatartigen Synthese – Religions- wie Naturwissenschafts-Affi­­ne schreiben darüber so dicke Bücher, dass den am Nasenring durch die Manege der Argumente Geführten der Unterschied zwischen pro und contra Religion gänzlich abhandenkommt. Das vierte und bei weitem kleinste Lager, dem ich inzwischen angehöre, sagt nicht Pro und nicht Contra und nicht Sowohl-Als-Auch, sondern Weder-Noch; es hält die Frage nach dem Jenseits weiterhin für offen bzw. alle Theorien dazu für eher spezielle und eher unwahrscheinliche Erzählungen. (Allerdings habe ich bei allem gebotenen Erkenntnispessimismus eine dieser unwahrscheinlichen Erzählungen sozusagen als meinen Glauben angenommen, ich tippe auf die zufällige Wiedergeburt im ewigen Diesseits.​​)

Wenn einem die Theorien jedoch alle an den Haaren herbeigezogen scheinen – ist es trotzdem auch weiterhin sinnvoll, sich übers Mindestmaß hinaus damit zu beschäftigen? Ich meine ja. Vielleicht sogar für Pragmatiker, zu denen ich mich eher nicht zähle. Denn als Fortsetzung bzw. Umrahmung des Lebensbildes, selbst wenn sie nur aus diesseitigen Erfahrungen stammt, übt das je angenommene Jenseitsmodell immer einen Einfluss auf unsere Befindlichkeit aus, ob wir es wahrhaben oder nicht, und dieser Einfluss kann sogar sehr groß sein. Nicht nur der Einfluss von den alten, plastischen Jenseitsmodellen wie Himmel und Hölle ist gemeint, paradoxerweise ist kein Rahmen eben auch ein Rahmen: der Gefühlszustand niemals endender Ich-Existenz; das unabwendbar bevorstehende Nichts i.​​S.​​v. endgültiger Bewusstlosigkeit; das nicht im mindesten Vorhersagbare bzw. Einsehbare des eigenen Totseins – alles Jenseitsmodelle, die den Blick sogar dermaßen anziehen oder abstoßen können, dass sie lebensbestimmend werden.

(Der Einfluss von Weltanschauung und Glaube auf die Wahl der Handlungen wird in den heutigen positivistischen bzw. naturalistischen Zeiten m.​​E. gewaltig unterschätzt. Nach den Gründen für angeblich psychopathische, weil krass von der Norm abweichende individuelle bzw. kollektive Handlungsweisen etwa wird inzwischen stets auf einer möglichst bodenständigen i.​​S.​​v. realistischen Ebene gesucht – am liebsten fände man für alles physikalische bzw. bio-chemische bzw. neurologische Gründe, allerhöchstens noch psychologische oder soziologische. Dass hauptsächlich eine unreflektiert und ohne kritische Distanz übernommene Philosophie mit ihrer speziellen Sicht auf Diesseits und Jenseits ausschlaggebend sein könnte, will kaum noch einer in Betracht ziehen. Sofern man überhaupt ideologische Auslöser vermutet, sollen diese immer auf den Nährboden einer realen Anomalie gefallen sein, welche dann sofort ins Zentrum der jeweiligen Analyse rückt. Aber ist es wirklich so unpausibel, dass die physisch und psychisch Nomalen, welche immer weniger am Nichts im Tod zweifeln, langsam aber sicher damit beginnen, alles Leid auf die scheinbar naheliegendste Weise abzuschaffen? Weiteres dazu im Kapitel Nichts.​​)

Unsere Kultur gibt früh ihr Jenseitsmodell bzw. ihre Jenseitsmodelle explizit vor, welche aber per Tabuisierung des Todesthemas später dann möglichst implizit bleiben. Es steckt evt. religiöse Rafinesse dahinter, dem Kind in seiner prägbarsten Phase etwas einzupflanzen und hernach nur noch in symbolischen Ritualen darauf zurückzukommen. Wie dem auch sei: irgendein Jenseitsmodell hat jeder, zumindest irgendwo im Hinterkopf, und oft wird es ein Leben lang kaum je reflektiert. Zumindest für diejenigen, welche verdrängte Schwierigkeiten mit dem Thema Jenseits haben, dürfte gelten: je unberührter das bisherige Jenseitsmodell, desto lohnender, es bewusst zu überdenken bzw. nachzubessern.

Und wenn der eine überzeugende Lebensrahmen partout nicht zu finden sein sollte, ist es vielleicht dennoch oder gerade deshalb angebracht, ihn hin und wieder mit Bedacht zu wechseln bzw. zu erneuern. Auch an diese Rahmenwechsel kann man sich gewöhnen – evt. nicht die schlechteste Weise, sich im Leben auf den unbekannten Tod vorzubereiten.

Die in den Jenseitsmodellen beschriebenen Bewusstseinszustände sind m.​​E. Abstraktionen, Idealisierungen, Verabsolutierungen von markanten diesseitigen Bewusstseinszuständen, insbesondere von extremen wie Trance, Vollnarkose, Nahtod. Auch als Antirealist sehe ich die Jenseitstheorien i.​​a. als hypothetische Extrapolationen des konkret bewussten Diesseits und nicht – etwa in platonischer Weise – umgekehrt. Nachtoderfahrungen stehen uns im Gegensatz zu Nahtoderfahrungen m.​​E. nicht zur Verfügung, zumindest ziehe ich persönlich hier die Grenze. Entsprechend geht es in den nun folgenden Kapiteln über die einzelnen Jenseitsbilder immer wieder auch um deren diesseitige Vorbilder. Welcher Aspekt des Diesseits taugt am besten als Jenseitsprognose? Der freudige, leidige, vergängliche, entwicklungsorientierte, befremdliche, eigene, empathische? Welcher philosophische Ismus liefert die wahrhaftigste Diesseits- und m.​​E. damit auch Jenseitstheorie? Optimismus, Pessimismus (hier im wörtlichen Sinn), Materialismus, Spiritualismus, Skeptizismus, Solipsismus, Intersubjektivismus?

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1) Himmel

Ist im Himmel wirklich alles gut? Oder ist er voller Jasager, die Neinsager in der Hölle schmoren sehen wollen?

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Im Himmel ist nicht einfach alles für alle maximal gut, oder? Nur für Gott und seine Follower. Die Stelle von Gott ist ja von jeher besetzt, wer selber Leader sein wollte, wäre dort oben also auf ewig unzufrieden. Der Himmel ist nur für devote Charaktere der bestmögliche Ort.

Wie gut müsste ein Himmel sein, der den Namen wirklich verdient? Da müsste alles gut sein, ohne Wenn und Aber. Doch wie verträgt sich das damit, an der Himmelspforte der Gnade eines Herrgotts ausgeliefert zu sein, welcher seine Kritiker auf ewig in die Hölle schickt?

Ein wirklich guter Himmel wäre m.E. ein Himmel für ausnahmslos alle, und alle – außer den freiwillig Devoten, falls es solche wirklich geben kann – wären auf eigene Initiative dort, als ihr eigener Herr. So ist der monotheistische Himmel aber nicht gedacht, nicht allverbrüdert oder vielmehr allverschwistert, noch nicht einmal allversöhnt.

(Für die himmlische Allversöhnung etwa nach entsprechend vielen irdischen Wiedergeburten, bis auch der letzte Verstockte ein Einsehen hat und aus freien Stücken vom Teufelswolf zum Gottesschaf konvertiert, bringt der Monotheismus i.a. nicht die nötige Geduld auf, er macht lieber kurzen Prozess: Bekenne dich zu deinem Herrn und Gott in diesem Leben, solange du noch kannst, nur so kommst du in den Himmel. Dein irdisches Leben könnte noch heute vorbei sein, dein Bekenntnis duldet also keinen Aufschub, erst recht nicht auf ein nächstes oder übernächstes Leben, vgl. Kapitel All-Einheit. Beeil dich, denn stirbst du ohne dieses Bekenntnis, brennst du unwiderruflich in der Hölle. N.B. Und selbst dieses Ultimatum ist manchem Monotheisten eigentlich zu lasch, kann man mit etwas Glück doch wacker sündigen bis zur reuigen Umkehr kurz vor dem Tod.)

(Zur Rechtfertigung des überkommenen Himmels könnte man nun einwenden, dass nach den traditionellen Rollenbildern der Geschlechter die Allversöhnung eben ein weiblich gedachter Himmel wäre, wo eine himmlische Mutter allen gegenüber Barmherzigkeit walten lasse, während der überkommene Himmel eben ein männlich gedachter Himmel sei, wo ein himmlischer Vater allen gegenüber Gerechtigkeit walten lasse. Stimmt so aber auch nicht, denn es kann unmöglich gerecht sein, für gottgefällige oder nicht gottgefällige Gedanken, Worte und Werke eines endlichen irdischen Lebens mit ewigem Himmel belohnt oder mit ewiger Hölle bestraft zu werden. Eher könnte ich noch verstehen, wenn das (un)dankbare Gottesgeschöpf mit seinem gottgegebenen freien Willen am Ende wählen müsste zwischen ewiger Gottesschau und ewigem Nichtsein.)

Dass man als Kind zuerst einmal wenig gegen den Himmel eines lieben Gottes einzuwenden hat, der sich nur auf etwas nähere Inspektion hin als Himmel eines despotischen Herrgotts erweisen würde, steht jedoch außer Frage – in dieser Hinsicht ist und bleibt der Himmel wohl das Jenseitsmodell Nr. 1. Fragt sich nur, wie lange man auch daran glauben kann bzw. will. Für den Erwachsenen ist der monotheistische Himmel also die abstrakte Phantasie bis konkrete Erwartung einer Rückkehr ins arglose Kindsein, in die Zeit vor der Vertreibung aus dem Paradies unkritischen Glücks.

(Stichworte zum Himmel des unwissenden Glücks: Garten Eden mit dem verbotenen Baum der Erkenntnis, Selig sind die geistig Armen denn ihrer ist das Himmelreich bzw. Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kindlein so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen, Ignorance is bliss, Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß, Vogel-Strauß-Politik u.v.m.)

Ein Ort, wo sich alle lieben und wo es allen gut geht, jetzt und für immer. Wo niemand hasst, niemand leidet, wo es endgültig vorbei ist mit Mangel und Schmach. Angekommen beim Optimum, beim Höchsten der Gefühle. Missgunst und Kleingeist, Kämpfen und Drängen waren dann nur ein notwendiges und schnell vergessenes irdisches Vorspiel für die Hauptsache des himmlischen Großen und Ganzen, wie das vorerst noch disharmonische Stimmen des Orchesters vor der eigentlichen Symphonie in perfekter Harmonie.

Etwas Schöneres als den Himmel kann man sich nicht denken. Auf ewig glücklich – wer das profan klingen lässt, indem er sagt, das wäre auf Dauer doch sicher zu langweilig, zu anstrengend etc.​, will es nicht verstehen. Der Himmel ist per definitionem erst einmal nichts als Glück.

(Aber irgendwann stellt sich dann doch die Frage, inwieweit man den Himmel geschenkt haben will oder ihn sich verdienen will. Heute bin ich der Ansicht: will ich beides nicht. Am liebsten also bedingungsloser Himmel, absoluter Himmel ohne Wenn und Aber, ansonsten lieber das endgültige bewusstlose Nichts. Einfach nur Nichtsein wäre m.​E. das unspektakuläre Beste.​)

Per aspera ad astra – alle Mühsal ist endlich, am Schluss gibt's Lohn auf ewig. Das ist seit jeher der Basisplot bzw. die Moral von fast allen Geschichten, die sich die Menschen gegenseitig erzählen – Glaube, Liebe, Hoffnung besiegen alles, zuerst die traurige Wahrheit. Wer das anders sieht und auch kundtut, kann sich damit beliebig viel Ärger einhandeln, denn er verstößt gegen die ernsteste aller gesellschaftlichen Regeln. Defaitismus ist verpönt, Hoffnungslosigkeit behält man gefälligst für sich, außer vielleicht auf der Theaterbühne oder in der Nervenklinik.

Alles wird gut – Glücklichsein bzw. Glücklichwerden, ob im Diesseits oder im Jenseits, ist eine unermüdlich geübte Konvention; und je rigider eine Gesellschaft, desto mehr wird jene den Leuten eingebläut, von frühester Kindheit an. Das Leben ist ein Geschenk, seid gefälligst froh und dankbar! So ist es auch kein Wunder, wenn in Glücksumfragen regelmäßig die Länder mit den desolatesten Lebensstandards am besten abschneiden.

Gute Miene zum bösen Spiel machen ist die soziale Regel – erst das Heranwachsen zum eigenen Menschen bzw. die Individuation bzw. die zunehmende Emanzipation von der Gesellschaft lässt die dunkle Ahnung reifen, wie gigantisch die Ausmaße dieser Lüge vom Geschenk des Lebens sind. Das Leben ist doch gelinde gesagt eine Zumutung, wohin man schaut.

Aber die Losung der eingeschworenen optimistischen Gemeinschaft lautet unverdrossen: "Wie geht's?​" "Gut!​". Andere Antworten auf diese allgegenwärtige Kontrollfrage sind nur ausnahmsweise gestattet. Wer die Antwort "Schlecht!​" zur ernstgemeinten Regel machen wollte, dem würde über kurz oder lang "geholfen"; mindestens aber würde er als "Miesmacher" herausgehalten aus derjenigen Welt, in welcher der zur Fröhlichkeit angehaltene Nachwuchs lebt und lernt.

Wie findet man zum optimistischen Jenseitsbild? Früherziehung, je früher desto wirkungsvoller. Zuerst einmal lebt wohl jeder im Gefühlszustand niemals endender Ich-Existenz. Aber dann erfährt man vom Tod und es werden sogleich erste gesellschaftliche Bilder damit verknüpft, traditionellerweise das jenseitige Paradies. Sobald Kinder den Tod von Menschen bzw. Tieren zu registrieren und zu hinterfragen beginnen, werden naheliegende unappetitliche Vermutungen – etwa die von Büchner, dessen sterbender Danton im Tod einfach "eine andere Art des Faulens" (vgl. Zitat am Ende des Kapitels Nichts) befürchtet – abgeblockt durch das Jenseitsmodell des Himmels.

Ein Himmel auf Erden: die irdische Generalprobe fürs himmlische Jenseits ist Weihnachten, Happy End des christlichen Jahres. Programm: strahlende Kindergesichter. Von jeher wird versucht, an den letzten und zumindest für die Kinder höchsten kollektiven Feiertagen alle Sinne mit Wohltaten zu betören, geradezu im Glück zu baden.

Es liegt in unserer irdischen Natur, dass so ein Happy End nur von kurzer Dauer sein kann. Kleine Kinder fordern zwar noch ernsthaft die Beibehaltung von Weihnachten fürs ganze Jahr, aber vergebens. Schon wesentlich weiter ausdehnbar ist die Vorfreude auf ein Happy End. Dem Monotheisten soll das ganze irdische Leben ein Zustand der Vorfreude aufs Paradies sein.

Obwohl den Kindern auch ohne pessimistische Querulanten in ihrer Nähe bald schwant, dass so gut wie nie alles gut ist, so sind sie in der Regel doch willens, es sich und anderen im optimistisch ritualisierten Alltag einzureden. Und nehmen mit der regulären Erziehung immer mehr Abstand davon, ihre Stimmung nach außen einfach so zu zeigen, wie sie ist. "Keiner mag Trauerklöße!​" – das lernt man in der optimistischen Gemeinschaft schnell.

Schon dem Baby wird ja ohne Unterlass gezeigt, dass es für sein Lachen geliebt wird, nicht für sein Weinen. Fürs dem Neugeborenen ins Gesicht geschriebene und von ihm herausgeschriene Entsetzen über die Welt werden von Anfang an behebbare Gründe unterstellt: du bist müde, du hast Hunger etc.

Wenn sich die schlechte Stimmung der Kleinen nicht auf einfache Art heilen lässt, werden die Großen bald sauer: du weißt ja nicht was du willst, du weißt ja nicht wie gut es dir geht etc. Wer sich nach dieser Erziehungsphase immer noch nicht "am Riemen reißen" kann, muss wohl krank sein. Krankschreibung der Pessimisten ist in der optimistischen Gesellschaft heute die Regel. Und tatsächlich wird dieses letzte Angebot der optimistischen Gesellschaft an die Pessimisten, sich mit Diagnose und Therapie einer offiziellen Krankheit legitimieren zu lassen, von vielen Pessimisten lieber angenommen, als sich den ansonsten zunehmend ungehaltenen Reaktionen der optimistischen Gesellschaft auf die notorischen "Nestbeschmutzer" auszusetzen: kopfschüttelnde Ungläubigkeit, genervter Vorwurf der Koketterie ("Jammern auf hohem Niveau") bis hin zum offenen Ressentiment gegenüber solch negativer Bewertung des Seins aus freien Stücken.

Was stellt die Himmelserwartung mit unserem irdischen Leben auf einer tieferen psychischen Ebene wirklich an? Macht sie es evt. erst richtig zum Jammertal, denn was ist unser irdisches Leben schon verglichen mit dem reinen Glück? Oder kann die Vorfreude auf den Himmel schon genug sein, um auch das irdische Leben schön zu machen? Wirft der Himmel sein schönes Licht voraus? Bei der Mehrheit tut er es wohl nicht. Den meisten Missionaren, welche vom Reich Gottes künden, möchte man fast entgegnen: du scheinst nicht beneidenswert, dir scheint Gott bislang nicht geholfen zu haben.

Bis tief in die Sprache hinein reicht das Nichtwahrhabenwollen der von Grund auf schlechten Welt. Man müsste fast eine neue Sprache erfinden, um überhaupt konsistent pessimistisch reden zu können. Denn so wie die Sprache bisher ist, ist sie v.​a. ein Instrument zum Schönlügen der Welt. Logische Verwirrung und Euphemismen wohin man schaut: vom traditionellen Begriff des Guten, welcher unglaublicherweise zugleich für das eigennützig Vorteilhafte und das ethisch Korrekte steht, obwohl sich beides so gut wie immer ausschließt, bis hin zum zeitgenössischen Begriff der Win-Win-Situation, welche die stets vorhandenen, ungleich mehr verlierenden Dritten systematisch ignoriert – die Liste ließe sich ewig fortsetzen.

Das Dasein ist nur ausnahmsweise besser als nichts, in aller Regel jedoch schlechter als nichts. Es bildet eine Pyramide, deren schmale Spitze im Himmel es sich auf dem Rücken der breiten Basis in der Hölle gut gehen lässt. Und ihre "fortschrittliche" Entwicklung bedeutet: die frohe Spitze wird immer schmäler und reicht immer höher hinauf, während die gequälte Basis immer breiter wird und immer tiefer hinunterreicht.

(Oder man stelle sich eine senkrecht aufsteigende Rakete vor, in deren angenehm klimatisierter Spitze ein paar wenige Menschen lauthals juchzen, weil sie die Sause wirklich genießen, während unter ihnen im Rumpf der Rakete ungleich mehr Menschen gekünstelt mitjuchzen, krampfhaft die unangenehme Hitze ignorierend, und darunter im – verglichen mit der Rakete – riesigen Feuerschweif noch einmal ungleich mehr Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge einfach nur schreiend oder stumm verbrennen, als Treibstoff.)

Der gerne verdrängte, allem zugrunde liegende Skandal des Lebens: Fressen und Gefressenwerden, töte oder stirb – die empfindenden Wesen dieser Erde müssen einander als Nahrung herhalten bzw. müssen sich gegenseitig abschlachten und verzehren. Wenn man sich traut, darüber nachzudenken: ein wahrlich unüberbietbarer Horror!

Und seinen Hunger an den Leichen anderer Lebewesen gestillt zu haben heißt ja nur, für kurze Zeit das Notwendigste verrichtet zu haben. Die Befriedigung unserer zahlreichen weiteren Bedürfnisse ist ein allzu aussichtsloses Begehren – jedes befriedigte Bedürfnis gebiert sogleich neue. Nach dem Töten für Nahrung geht auch fast jede weitere Form der sog. Produktivität zum Zwecke der Wohlfahrt des Menschen auf Kosten von allem Schwächeren. Was wir Arbeit nennen, ist i.​d.​R. das möglichst effiziente Ausplündern der Umwelt. Und trotz dieses hohen Preises ist seinem Bezahler die Zufriedenheit nicht garantiert, vom Glück gar nicht zu reden.

Wo ausnahmsweise – und auch da nur vordergründig – ein angenehmer Wohlstand fern von Leid, Krankheit und Tod herrscht, wo jener uns vom gnadenlosen Überlebenskampf in der Natur ausreichend abschottet und uns evt. hie und da gar zum empathisch kultivierten Humanum aufblühen lässt, blickt er unmittelbar zurück auf eine kriegerische Geschichte, beruht er v.​a. auf kaltem Imperialismus, auf der gefühllosen Ausbeutung von wehrloseren Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Und steht zudem auf tönernen Füßen, kann jederzeit wieder verloren gehen bzw. von denen enteignet werden, welche bereit sind, noch mehr brutale Gewalt auszuüben, um selber zum angenehmen Wohlstand vorzudringen.

Isoliert betrachtet mag es immer beeindruckende Ausnahmen geben, und die dem Glückszwang verschriebenen Medien werden nicht müde, uns glamouröse Personalities als Lockvögel des Optimismus zu präsentieren – aber die weit überwiegende Mehrzahl der Biographien von Wohlsituierten, welche ein glückliches Leben führen und sich der Umwelt gegenüber umwerfend freundlich und hilfsbereit geben, ließe sich m.​E. leicht zurückführen auf eine etliche Generationen zurückreichende Geschichte von kalter Vorteilsnahme für sich und die Familie bzw. engste Verbündete, von mitleidloser Verdrängung der Konkurrenz mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Die Skrupellosesten setzen sich i.​a. durch – diese soziale Tatsache gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen, Staaten und die ganze Spezies Mensch.

(In diesem Zusammenhang wird oft vorschnell der Begriff Sozialdarwinismus assoziiert. Für die überzeugende Beschreibung o.​g. sozialer Mechanismen braucht es den Bezug zur Biologie aber kaum, von Genetik gar nicht zu reden. Schopenhauer hat den gnadenlosen Kampf ums Dasein früher geschildert als Darwin, ohne dabei die Entstehung der Arten, biologische Vererbungslehre u.​a. im Sinn zu haben. Wer Schopenhauer beipflichtet, hat damit noch nicht einmal den Darwinismus kommentiert, geschweige denn nach Art des Sozialdarwinismus die Biologie blind auf die Soziologie übertragen.​)

Jede Gesellschaft muss einen Weg finden, mit dieser ebenso abscheulichen wie unabänderlichen Situation zurechtzukommen, ausgerechnet die Skrupellosesten als Gewinner an ihrer himmlischen Spitze zu haben. Meist indoktriniert sie ihre Mitglieder: der Weg, welchen die Natur oder Gott oder die dem Menschen eigene Kultur uns vorzeichne, könne per definitionem gar nicht schlecht sein – eine Lüge, mit der viele kaum leben können. Entsprechend weist jede Gesellschaft eine gewaltige Anzahl von "schwierigen Fällen" auf, die einfach nicht in die lebensbejahenden Schlachtrufe einstimmen wollen – und der aktuelle Zeitgeist z.​B. macht einen Running Gag daraus, diese als "Weicheier" zu verhöhnen; mit groben Sprüchen stumpft man sich ab gegen moralische Skrupel, die einem ansonsten den Eingang zum Himmel versperren: "Nur die Harten kommen in den Garten".

Aber so sehr die schmachtenden Gottesfürchtigen früher als "Jünglinge im Feuerofen" dem Herrn ein Loblied zu singen versuchten, so sehr die neokonservativ-heldenha­ften Kämpfer heute versuchen, die Härten des Lebens mit derbem Humor zu nehmen bzw. all die "Überempfindlichen" und deren mitmenschliche Achtsamkeit, Political Correctness, Umweltbewusstsein, Vegetarismus bzw. Veganismus etc. mit Spott zu übergießen: auf dieser Welt tobt leider allen Ernstes ein unablässiger, blutiger Kampf, in den alle irgendwie verwickelt sind, ohne dass a priori jemand daran Schuld hätte. Wahrscheinlich ist alles Böse im Grunde dann doch auf Notwehr zurückzuführen. Gezeugt bzw. empfangen und schließlich geboren zu werden heißt, ungefragt in ein Leben mit mehr oder weniger grausamem Schicksal geworfen bzw. zu einem mehr oder weniger kriegerischen Dasein verurteilt zu werden.

Seltsamerweise wurde und wird z.​T. auch heute noch krampfhaft versucht, über allem einen Gott zu installieren, um diesen dann aber von der Schuld seiner Schöpfung freizusprechen bzw. jegliches Böse dem Menschen als freie eigene Entscheidung für die Sünde unterzuschieben, evt. verführt durch Dämonen bzw. den Teufel. Sofern die Monotheisten überhaupt noch zugeben, dass das irdische Dasein auch ihrer Tradition gemäß ein Jammertal ist, und nicht lieber dieses reife Stadium des Pessimismus wieder aufgebend mit den postmodernen Hedonisten um lebensbejahende Jugendlichkeit wetteifern, bleibt dieses monotheistische Jammertal aber weiterhin eingerahmt vom paradiesischen Garten Eden, aus dem der Mensch einst durch eigene Schuld vertrieben wurde, und vom jenseitigen Paradies, das ihn dereinst bei guter Führung ein für alle Mal aus dem Jammertal erretten wird.

(Auch die Philosophen überbieten sich gegenseitig darin, die Schuld bei den Leidenden selbst auszumachen. Meine Metaphysik des unschuldigen Opferseins aller Lebewesen bzw. des Täterseins als unwillkürliche Reaktion auf das Lebensleid habe ich noch nirgendwo wiedergefunden. Sogar der Pessimist und Mitleidsethiker Schopenhauer, an dessen miserabilistischen Duktus die eben geschilderte Weltsicht angelehnt ist – der einzige große Philosoph im akademischen Kanon, dem ich ansonsten mehr als halbwegs beipflichten kann – meint feststellen zu müssen, dieses Dasein sei zwar blind gewollt, aber dennoch gewollt und somit gerechtfertigt. Wie das, frage ich mich, wo die einzige Alternative, die vom Dasein erlösende Willensverneinung, doch laut seiner Philosophie nur ex posteriori, von allen Lebewesen nur für den Menschen und auch für diesen nur über den Ausnahmeweg des eminenten Leidens oder der eminenten Erkenntnis möglich sei? Wie für sein Vorbild Kant ist für Schopenhauer die Unmündigkeit paradoxerweise etwas Selbstverschuldetes. Warum hat Schopenhauer das verantwortliche aktive Subjekt Kants nicht zum heillos überforderten passiven Subjekt umgedreht, wie es von einem Pessimisten zu erwarten wäre? Und die ebenfalls als Philosophen des Tragischen geltenden Existentialisten halten den Menschen zwar für erst einmal unschuldig geworfen, sehen ihn dann aber zum eigenverantwortlichen Entwurf verurteilt usf.​)

In unseren monotheistischen Traditionen darf der Gläubige nur dann auf eine Ewigkeit bei Gott im Himmelreich hoffen, wenn er dessen Geboten gemäß lebt. Und die an das Himmelsversprechen geknüpften moralischen Bedingungen sind i.​a. schwer einzuhalten. Religiöse Menschen müssen schmerzvollen Verzicht üben, um ihr Seelenheil im Jenseits nicht zu gefährden. Die Einhaltung seiner Gebote kann selbst der schlimmste irdische Despot nicht lückenlos überprüfen, aber Gott kann es, er weiß alles. Dieses allsehende Auge auszuhalten ist vielleicht der höchste Preis für den Himmel.

(Wobei ich hier nicht einer natürlichen Anomie das Wort reden will – ich zweifle kaum daran, dass der Dekalog und die Bergpredigt zumindest im Sinne ihrer Wirkmächtigkeit zu den großen Würfen der Menschheit gehören bzw. dass gerade ein solches sich der (in ethischen Belangen scheinbar gleichgültigen) Natur Entgegenstellen zu den größten Errungenschaften des Menschen gehört. Ein Alleinstellungmerkmal haben die monotheistischen Religionen damit jedoch nicht, und der Renaissance-Humanismus hat nicht umsonst vom verstockten Christentum des Mittelalters abgelassen und auf die griechische Antike zurückgegriffen. Zudem scheint es inzwischen, als sei das kooperative Verhalten von Individuen eben doch ein natürliches, nicht auf den Menschen beschränktes Ergebnis der Evolution – obwohl ich gegen eine eventuelle Evolutionsbejahung hier gleich einwenden muss, dass die genannte Kooperation i.a. dazu dient, den Rest der Natur auszubeuten. Und schließlich wechselt die moderne Ethik immer mehr von der deontologischen Ethik bzw. Pflichtethik des Gebote-Haltens ("Du kannst, denn du sollst!​") zur teleologischen Ethik bzw. zum konsequentialistischen Utilitarismus ("Der Zweck heiligt die Mittel"), wo die Altruisten das Allgemeinwohl nach logisch- bzw. empirisch-wissenschaftl­ichen Gesetzen zu optimieren suchen. Ich persönlich vertrete weder noch, sondern eine Tugendethik der Mäßigung, der Beschränkung aller Tätigkeit auf besondere Begabungen ("Du sollst nur, wenn du kannst!​") oder gar des Passivbleibens, vgl. die Bemerkungen zu den östlichen Religionen am Ende des Kapitels Andere. Ich sehe übrigens eine Entsprechung von Ontologie und Ethik dergestalt, dass objektive Idealisten zur deontologischen Ethik, subjektive Idealisten wie ich zur Tugendethik und Realisten zum Utilitarismus tendieren.​)

Ich frage mich, ob mit dem Versprechen ewigen Lohns im Jenseits für selbstlose Taten im Diesseits den Gläubigen nicht paradoxerweise die Möglichkeit zum Altruismus überhaupt genommen wurde. Einem Realisten, der nach dem Motto lebt, dass Undank der Welt Lohn ist und es einen nachweltlichen Lohn Gottes nicht gibt, traue ich echte Nächstenliebe jedenfalls noch eher zu als einem Christen, von dem ich immer vermuten muss, dass ihm jeder hilfsbedürftige Nächste nur Mittel zum Zweck der eigenen ewigen Seligkeit ist.

In jedem Falle heißt es für die Himmelsstürmer paradoxerweise: Bescheiden bleiben! "Herr, ich bin nicht würdig" – in den Himmel kommt nur, wer sich selber nicht dorthin schicken würde und somit ehrlich überrascht sein kann, wenn Gott ihn dafür auserwählt. Demut ist eine vertracktere Forderung als die nach guten Taten. Mit dem monotheistischen Himmel hat man ein Ziel, das scheinbar nur indirekt und ohne positives Selbstbewusstsein anzusteuern ist. Noch heute gibt es in traditionellen Hierarchien viele Ämter – allen voran das des Papstes – deren Inhaber in ihrer ganzen Haltung beständig den Ausdruck des "Nicht doch, zu viel der Ehre!​" zur Schau tragen. (Das Gleiche bei den Spirituellen: man schielt danach, als Mystiker zu gelten, aber Selbstbezeichnung als Mystiker geht gar nicht.)

(Die Reformation hat statt guter Werke den demütigen Glauben an die Gnade Gottes priorisiert, in praxi nahm der Druck auf die Gläubigen durch die reformatorischen Lehren aber kaum ab – z.​T. gilt die evangelische Doktrin den pädagogischen Kritikern der Kirchen gar als die härtere. Die katholische Beruhigung der lauen Christen durch Ablasshandel, Fegefeuer etc. wurde samt den meisten Feiertagen abgeschafft und somit das dringliche Vor-die-Wahl-Stellen – Himmel oder Hölle? – samt dem Arbeitsethos radikalisiert. Trotzdem ist es eine weitverbreitete Annahme, Herrgott und Hölle seien eher katholisch bzw. alttestamentarisch, lieber Gott und Himmel eher evangelisch bzw. neutestamentarisch – von Christen, die ich auf das Drakonische der kirchlichen Höllenlehre angesprochen habe, wurde ich jedenfalls immer wieder fälschlich belehrt, dass ich damit wohl noch dem alten Testament bzw. dem Vorreformatorischen anhängen würde. N.B. Eine vulgäre Jenseitstheorie, die möglicherweise aus den vier Soli bzw. aus dem Sola fide abgeleitet worden ist, finde ich übrigens besonders abgefeimt, sie lautet: das Jenseits wird so, wie du glaubst, dass es wird – wer sich voller Vertrauen auf den Himmel freut, kommt dann auch in den Himmel, wer sich voller Misstrauen vor der Hölle fürchtet, kommt dann auch in die Hölle. Hier zeigt sich deutlich das Zynische der für Religionen so typischen selbsterfüllenden Prophezeiungen, die den Selbstverstärkungseffek­t nutzen, um das Mäßige ins Extreme zu treiben.​)

Die Disziplin aufbringen, Gutes zu tun, ist schwer; demütig sein ist evt. noch schwerer; aber am schwersten ist m.​E. die Liebe zu Gott. Wie kann man den Gott aufrichtig lieben, welcher im Vollbesitz seiner Kräfte mit voller Absicht aus dem leidlosen Nichts all das Leid erschaffen hat? Im Gegensatz zum schmerzvollen Verzicht bei der Einhaltung der anderen Gebote ist die Liebe zu Gott etwas, worüber man selber wenig Macht hat. Kann man sich etwa aussuchen, ob man Gott liebt oder nicht? Der kirchliche Gott macht es v.​a. den Ängstlichen so schwer wie irgend möglich. Laut der Prädestinationslehre des Augustinus hat Gott bereits von Anbeginn festgelegt, wer am Ende in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Könnten sich seine Geschöpfe noch ohnmächtiger fühlen?

Der Verdacht ist kaum zu unterdrücken, dass mächtige Menschen solche schwierigen bis abstrusen religiösen Anforderungen im Namen eines erfundenen Gottes verbreiten, um sich andere Menschen gefügig zu machen. Oder auch nur, um sie niederzuhalten, damit sie nicht zur Konkurrenz heranwachsen können. Die Martyrien, welche zum Wohlgefallen Gottes bzw. fürs höhere Seelenheil das irdische Leben verhärmen und weit vor der Zeit beenden, dürften Legion sein. Auch und evt. besonders die Himmelsgläubigen verfügen über ihre reguläre Form des Suizids, welcher allerdings wegen des kategorischen Verbots eines direkten Suizids – Selbstmord ist Mord und wird mit der Hölle bestraft – ein indirekter Suizid sein muss: sie opfern ihr Leben für die gute Sache.

Mag sein, dass der Himmel für die gebildetere religiöse Klientel nur symbolisch gemeint ist. Dass er für die durchaus irdische Befriedigung steht, die sich nach edlem Verhalten einstellt. Dass das "gute" anhaltende Glück der Tugend gemeint ist, in Abgrenzung zum "bösen" vergänglichen Glück der Lust, welches in Leere und Wehklagen endet. Symbolisch steht der Himmel v.​a. auch für die behütete Kindheit, für die Phase vor der Vertreibung aus dem Paradies, welches man sich zumindest als inneres Refugium möglichst ein Leben lang erhalten möchte. Doch jenseits aller Symbolik bildet das Paradies abgesehen von seiner diesseitigen Instrumentalisierung für Moral und/​oder Ausbeutung weithin ein ganz konkretes Denkmodell für den Tod bzw. das Jenseits.

Zumindest für Anfänger ist die Vorstellung vom Paradies im Tod vielleicht unumgänglich. Wer wollte die Märchen von glücklichen Engeln auf weißen Wolken ein für alle Mal abschaffen, die seit jeher den mit der Todeswahrheit konfrontierten Kindern erzählt werden? Die angeblich zutreffenderen Alternativen – "Oma gibt's nur noch in unserer Erinnerung" oder "Wo Oma jetzt ist, weiß kein Mensch" – werden den zarten Kinderseelen nicht gerecht. Auch Jenseitstheorien sind wohl nicht nur mehr oder weniger klug, sondern auch mehr oder weniger geeignet für die verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen. Wir können die Kindheit nicht einfach überspringen, und ebenso wenig wohl eine kindliche bis kindische Jenseitstheorie.

Gegen den Himmel als das optimistische Jenseitsmodell par excellence hat man als Kind auch moralisch nichts einzuwenden, zumal es ja scheinbar gerade von den offiziellen Hütern der Moral kommt. Später muss sich der ethisch sensibler gewordene Mensch allerdings fragen, ob dieser Ort rechtens sein kann. Allenfalls in Form der Allversöhnung, also eines Himmels für alle und jeden, wäre der Gerechtigkeit genüge getan (aber warum dann nicht gleich so?​). Als ewiger Lohn gegenüber einer ewigen Strafe, welche für die endlichen Sünden des Delinquenten beim Jüngsten Gericht endgültig verhängt wird, mutet dieses Jenseitsmodell den nachdenklichen Menschen jedoch gruselig an.

Erst recht, wo das Konzept der Ausgrenzung und Ausbeutung des Schwächeren bereits in den verweltlichten Bildern vom Paradies selber sichtbar wird. Im Schlaraffenland fliegen einem die gebratenen Vögel ins Maul, des Menschen Himmel ist also der Tiere Hölle. Nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur als Bruder statt als Untertan zu idealisieren – darauf waren die alten Monotheisten einfach noch nicht gekommen. Oder vielmehr hatten sie die Bürde dieser Verpflichtung in ihrem auf den Animismus folgenden Anthropozentrismus gerade erst erfolgreich abgeworfen. Ich wiederum bin jenem Animismus – wenn auch eher i.S.v. "alles ist Seele" denn "alles hat Seele" – mit jedem der in den folgenden Kapiteln beschriebenen Jenseitsmodelle einen Schritt näher gekommen.

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2) Hölle

Die Hölle als philosophische Möglichkeit lässt sich leider nicht ausschließen: unser Leid könnte ewig währen.​.​.

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Das diesseitige Gefühl, welches einen Vorgeschmack auf die jenseitige Hölle gibt, ist die verpasste letzte Chance, das unumkehrbare Scheitern, die endgültige Hoffnungslosigkeit. Das Gegenteil vom Happy End, der Point of no Return. Die grauenvolle Gewissheit, dass etwas nie wieder gutzumachen ist. Und das ist nur der abstrakte seelische Teil. Der konkrete leibliche ist Schmerz, Pein, Qual. Die jenseitige Hölle ist alles Schlimme, was uns zustoßen kann, ins Maximale und Ewigwährende gesteigert.

Der Realist muss über solch unrealistische Übertreibungen schmunzeln oder schimpfen, sie gleich als abstruse Erfindungen der Kirchen zum Zwecke des Geldverdienens o.​ä. abtun, aber da schließt er m.​E. vorschnell von sich auf andere. Denn sicherlich ist es eine Urangst des Menschen, dass sein Leid die schlimmsten Formen annehmen könnte und niemals ein Ende finden könnte. Jeder sieht doch, dass andere Lebewesen noch viel Schlimmeres erleiden müssen als er selber, und ohne die realistische Erfindung vom sicheren Ende allen individuellen Leidens im Tod fürchtet natürlich jeder erst mal, dass es ihm irgendwann genauso ergehen könnte.

Also wünscht sich der Mensch einen starken Beschützer, wünscht sich das Privileg, das noch schlimmere Leid der Anderen selber niemals erleben zu müssen, und irgendwann sogar überhaupt kein Leid mehr erleben zu müssen. Man könnte sagen, "Gott" ist der schwache Versuch des Menschen, dem denkbar Schlimmsten eine ideelle Macht entgegenzusetzen, die ihn davor bewahrt. Die Schmerzen, welche Menschen naturgegeben erleiden oder in böser Absicht sich gegenseitig zufügen, sind das Schlimmste, was wir im Diesseits kennen, und sie sind m.​E. wesentlich schlimmer als alles Gute, was wir im Diesseits kennen, je gut sein kann. Deshalb ist es eine (zu) schwere Glaubensprüfung, auf Gottes höheren Plan zu vertrauen, der am Ende alles zum Besten wendet.

Umso schlimmer, wenn auch irgendwie logisch, dass dieser allmächtige Gott eine Kehrseite hat, nicht nur (unglaubwürdiger) Bewahrer vor ewiger irdischer Pein für sein menschliches Gefolge ist, sondern ebenso (angesichts der irdischen Übermacht des Schlimmen umso glaubwürdigerer) Schöpfer und – als Vorsitzender des Jüngsten Gerichts – Beschicker einer ewigen Folterhölle ist, wo das schlimmste irdische Leid, zur Höllenqual perfektioniert und verewigt, auf all diejenigen wartet, welche Gottes Gebote nicht zu seiner Zufriedenheit befolgen. Und die Drohung mit dieser ewigen Höllenqual wird in alter Tradition v.​a. den Kindern so früh und plastisch wie möglich nahegebracht.

In der geistlichen bzw. kirchlichen sowie in der weltlichen bzw. künstlerischen Geschichte wurden (und werden) die Höllenqualen von Propheten, Predigern, Schriftstellern (der Schriftsteller für das Thema Hölle schlechthin: Dante), Malern (der Maler für das Thema Hölle schlechthin: Bosch) u.v.m. auf mannigfache Weise veranschaulicht, einerseits realistisch-drastisch und andererseits die Realität des irdischen Leidens noch einmal grotesk überhöhend; ihre Darstellungen reichen von Dunkelheit, Hitze, Kälte, Hunger, jeglicher Art von Mangel, Verletzung, Heimsuchung, Krankheit über alle nur denkbaren Foltermethoden und -werkzeuge bis hin zu Teufeln, Dämonen, bösen Geistern, Ungeheuern etc. Ein gutes Argument für das Zutreffen der pessimistischen Weltanschauung i.​S.​v. Überwiegen des Schlechten in der Welt übrigens: gegen die Darstellungen der Hölle wirken die des Himmels als Land von Milch und Honig oft phantasielos bis fad – die Menschen finden in diesem Leben einfach viel mehr Beispiele für das Leid als für das Glück vor.

Etwas Schlimmeres als die Hölle kann man sich nicht denken. Auf ewig gepeinigt oder modern gesagt: gefoltert – wer das verharmlost, indem er sagt, in der Hölle träfe man die interessanteren Menschen etc.​, will es nicht verstehen. Die Hölle ist per definitionem erst einmal nichts als Qual.

(Ich kann es gut nachempfinden, wenn da einer sagen will: auch oder gerade bei Androhung solch einer ultimativ unverhältnismäßigen Strafe gebe ich nicht klein bei. Würde sie aber tatsächlich ausgeführt, hätte der Sture selber ultimativ unverhältnismäßig gehandelt, indem er sie seinem späterem Selbst durch Einhaltung seiner jetzigen Prinzipien zumutet. Er wäre im Kleinen dem Selbstmörder vergleichbar, welcher sich fesselt, bevor er sich aufhängt, wohl wissend, dass er gegen sein späteres, in Agonie am Seil zappelndes Selbst handelt – wie gesagt nur im Kleinen, da die Agonie des Selbstmörders ja vermeintlich endet.​)

Um diese Linie, hinter der es keine Erlösung vom Leid mehr gibt, nicht zu überschreiten, ist keine Aufgabe zu gewaltig, keine Anstrengung zu viel. Es muss gar alles daran gesetzt werden, nicht in die Hölle zu kommen – verglichen damit ist es m.​E. vergleichsweise freiwillig, ob einer den Himmel anstrebt oder mit dem Nichts zufrieden ist. Und genau jene unvergleichliche, ultimative Motivation ist es wohl, welcher die Hölle als Jenseitsmodell ihre Popularität bei den Religionsstiftern verdankt. Es ist nicht schwer, eine Angstspirale zu starten, die ihre Opfer immer weiter abwärts führt – Angst verstärkt sich selbst. Je mehr Leid einer im endlichen Diesseits schon erfahren hat, desto plausibler muss es ihm erscheinen, dass auch im ewigen Jenseits eine Hölle warten könnte.

Der saturierte, gutsituierte Bürger wundert sich über religiöse Fanatiker, die im Namen Gottes scheinbar zu den unmenschlichsten Taten bereit sind – er selbst würde es m.​E. aber mit Sicherheit genauso machen, wenn er wirklich glauben müsste, nur so könne er unendlicher Höllenqual entgehen. Ich bin überzeugt: wo die vom Leben verwöhnten westlichen Hedonisten z.​B. den islamistischen Selbstmordattentätern als Hauptmotiv automatisch die Annehmlichkeiten eines paradiesischen Jenseits unterstellen, ist es tatsächlich v.​a. eine ultimative Höllenpein, welcher die schon von ihrem Leben und zusätzlich noch von ihrer Religion Traumatisierten entrinnen wollen.

Diese Diagnose kann auch dann noch zutreffen, wenn es die religiös Traumatisierten selber sind, die viel lieber ihren Mut und ihr Paradies thematisieren als ihre Angst und ihre Hölle. Wie viele in frühester Kindheit mit der Höllendrohung Traktierten verdrängen ihre Höllenangst wohl ein Leben lang? Und wie groß mag neben vereinzelten Selbstmordattentätern u.​ä. die Dunkelziffer indirekter Selbstmorde sein, wenn sich Religiöse in aller unauffälligen Bescheidenheit etwa im Sozialberuf totarbeiten oder sonstwie altruistisch aufopfern nach den gnadenlosen Vorgaben ihres "eigenen" Gewissens, welches ihnen so früh und tief wie möglich mithilfe der Höllendrohung eingepflanzt wurde?

Noch einmal: wahnsinnig wäre doch der, welcher für ein ewiges leidfreies Leben nach dem Tod das endliche leidvolle Leben vor dem Tod nicht zu opfern bereit wäre – das Diesseits nach eigenem Gutdünken statt nach religiösen Vorgaben zu gestalten wird erst dadurch vernünftig, dass man das Jenseits mit dem Jüngsten Gericht vom despotischen Herrgott am Eingang mit größtmöglicher Sicherheit als religiöse Lüge abtun kann. Wahrscheinlich dachten sogar einige Ketzer bzw. von der Kirche zu solchen Erklärte, dass ihr Feuertod auf dem Scheiterhaufen ein kleiner Preis für das Paradies sei, wenn sie durch ihn zu läutern seien. Die Kirche behauptete das jedenfalls, und deren Vollstrecker hielten es für ihre unbedingte moralische Pflicht, die Delinquenten auch gegen deren Willen mithilfe solch endlicher diesseitiger Tortur des Verbrennens bei lebendigem Leib vor der ewigen jenseitigen Tortur in der Hölle zu retten; sie glaubten wohl wirklich, die derart Hingerichteten würden es ihnen hernach im Himmel noch danken.

Glückspilze schütteln evt. verständnislos den Kopf darüber, dass einer riesige Gefolgschaft finden kann, indem er behauptet, er sei der Sohn Gottes und sein Vater würde jeden in ein ewiges Feuer stecken, der ihm das nicht glaube. Für Pechvögel ist diese Geschichte aber plausibler, weil sich in ihrem Leben eh ein Leid ans nächste reiht. Wer sich nach einem leidvollen Start ins Leben in der Natur umschaut, erblickt da ein grauenvolles Fest des Tötens auf alle nur erdenklichen Arten und Weisen. Früh genug und tief genug verinnerlicht, ist es m.​E. ein Leichtes, die religiöse Höllendrohung für wahrscheinlich zu halten. Den Weltenvater für einen gütigen zu halten, der im Himmel wartet – das hingegen ist dann m.​E. eher der widersinnige Teil. Spätestens bei Erwachsenen, die genug Leid gesehen haben, wirkt die Drohbotschaft viel stärker als die Frohbotschaft.

Viele sehen im Monotheismus etwas in erster Linie optimistisches. So optimistisch ist er dann jedoch nicht, dass er seinen Gläubigen versichern könnte: es ist nie zu spät! Er droht vielmehr mit der ablaufenden Frist des irdischen Lebens, beschwört die Ungläubigen, umzukehren, bevor es der Tod unmöglich macht. Und an Gott im Sinne seiner Existenz zu glauben, genügt nicht – geboten ist die aufrichtige Gottesliebe. Auch wer an Gott glaubt, ihn jedoch noch nicht oder nicht mehr liebt, landet in der Hölle.

In den Gottesdiensten mag zwar heute vordergründig mehr vom Paradies die Rede sein, trotzdem ist und bleibt die Drohung mit der ablaufenden Frist bzw. der unumkehrbaren Verdammnis die stärkste Waffe der herrschenden monotheistischen Kirchen. Ihr haben sie m.​E. den weltweiten prozentualen Sieg über alle anderen großen religiösen Strömungen zu verdanken. Eine Eschatologie ohne Hölle, etwa die Lehre von der Allversöhnung oder vom nurmehr irdischen Nachsitzen der Sünder per Wiedergeburt, wollen die Pfarrer und Pastoren der Großkirchen dementsprechend nicht gelten lassen. Zwar sehnen sich viele von deren Anhängern nach weniger drakonischen Endzeitlehren und wandern zur Spiritualität bzw. Esoterik ab – aber blieben die Hauptkirchen gegenüber solchen Einflüssen nicht hart, verlören sie ihr zentrales moralisches Druckmittel bzw. Machtmittel.

(Dennoch halte ich die heute gängige materialistische Unterstellung, die Hauptkirchen seien ein seit Jahrtausenden florierendes Geschäftsmodell heimlicher Atheisten, die selber gar nicht an ein Leben nach dem Tod glauben, für im Wesentlichen falsch. Ich meine schon, dass die meisten ihrer Vertreter wirklich an Gott und an ein Leben nach dem Tod glauben, und dass ihnen das Geldverdienen i.​a. sogar ferner liegt als in den heutigen materialistischen Zeiten üblich. Das Bild vom strafenden Gott im Jenseits, an dem sie unbeirrbar festhalten, ist m.​E. ihre banale Konkretisierung völlig berechtigter abstrakter Ängste davor, was das Leben und der Tod wohl noch alles mit uns vorhaben könnten. Im Gegenzug hierzu verweigern sich sowohl diejenigen traditionell Gottgläubigen als auch diejenigen modernen Materialisten, welche beide das Enden ihres persönlichen Leides im Tod als zweifelsfrei gegeben ansehen, der für den geistigen Reifeprozess des Menschen m.​E. erforderlichen Konfrontation mit dem ängstigenden Unbekannten im Tod.​)

Die größte Jenseitsangst gab es im Mittelalter. In langen Zügen liefen die Menschen durch die Peststädte und schlugen sich mit der Geißel den Rücken blutig, fast wahnsinnig vor Angst vor ihrem Herrgott, der es scheinbar nirgends mehr gut mit ihnen meinte.

Auch heute ist es m.​E. fraglich, ob etwa Satanismus und andere schwarze Kulte nurmehr als unernste Satire auf ernste Religiosität zu verstehen sind. Wenn Jugendliche die kindliche Anpassung an das seitens der Gesellschaft eingeforderte Gute-Miene-zum-bösen-Sp­iel-machen aufgeben und ihre hell-harmonische Himmelsmanie und Gottseligkeit gegen dunkel-dissonante Höllendepression und Teufelsrebellion tauschen. Nicht mehr selbstlose Engel unter Gottes Willen sein können oder wollen. Sich von Gott und der Welt ungeliebt, aufgegeben, verstoßen fühlen oder einfach lieber eigenwillige Teufelsjünger sind. Wenn sie ihre Angst hinter einer Trotzmiene verstecken, sich schwarz kleiden und mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger das Teufelszeichen formen. Unbewusst oder bewusst gegen das ekklesiogene Höllentrauma angehen, indem sie sich per Reizüberflutung mit allem Höllischen zu desensibilisieren versuchen.

In den schwarzen Szenen der Jugendkultur mit den auf dem Kopf stehenden Kreuzen ist jeweils die ganze Bandbreite von leise bis laut, von sensibel bis grob, von melancholisch bis cholerisch, von sad bis bad vertreten – auch und v.​a. in einer unauflöslichen Melange aus sad und bad. Anscheinend fruchtet die Strategie der monotheistischen Gute-Miene-zum-bösen-Sp­iel-Einforderer, traurig und böse in einen einzigen Höllentopf zu werfen, sogar bis in deren erklärte Gegenkulturen hinein. Obwohl die sarkastischen Guten immer trauriger werden und die zynischen Bösen immer fröhlicher, hat man sich auf die postmoderne Ironie geeinigt; mit dem Icon des Augenzwinkerns hinter jeder zweiten elektronisch versandten Message etwa sind verbindliche moralische Stellungnahmen quasi abgeschafft. Trotzdem oder erst recht entstehen aus dem Dilemma bzw. Double Bind traditioneller religiöser Werte in der Erziehung (Keuschheit, Sanftmut, Altruismus etc.​) und moderner Herausforderung zum Gegenteil (Sexualisierung, Durchsetzungswille, Egoismus etc.​) v.​a. in der Adoleszenz immer extremere Rollenkonflikte.

Noch einen Schritt weiter geht, wer sich nicht aus Überforderung gegen den vermeintlich guten Gott wendet, sondern gegen den nun vermeintlich bösen Gott. Vielleicht ist es die genuin pessimistische Einstellung, darüber so zu denken wie Schopenhauer: wenn Gott überhaupt existiert, dann ist er ein Sadist, der uns leiden sehen will. (Viele Variationen lassen sich denken: die Gnostiker bzw. Markionisten etwa unterscheiden zwischen einem schlechten oder gar bösen Schöpfergott bzw. Demiurgen und einem nur guten Erlösergott als Vater Christi.​)

Der religiöse Mainstream hat die Angst vor der Hölle im Tod jedoch anscheinend erfolgreich verdrängt. Wer heute an ein Jenseits glaubt, glaubt i.​a. an ein leidfreies Jenseits, zumindest an sein leidfreies Jenseits. (Etwas anderes sind die Rachefantasien an Verbrechern o.​ä. Auf die Vorstellung einer ewig währenden Folter der Feinde nach deren Tod scheinen bis heute viele Menschen keinesfalls verzichten zu wollen. Heute ist die Hölle im Gegensatz zum Mittelalter anscheinend ausschließlich für die Anderen reserviert.​)

Aber mag sein, es gibt auch ausgemachte Bösewichter, die den festen Glauben an ihre eigene Prädestination für die Hölle aushalten, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Christopher Walken als Gangster Ray im Film "The Funeral" jedenfalls teilt seinem Opfer noch folgende Lebensweisheit mit, bevor er es tötet: der Trick sei, sich an den Gedanken (des eigenen Höllenschicksals) zu gewöhnen, solange wir noch hier (auf Erden) sind.

(Warum glaubt eigentlich kaum jemand ans exakte Gegenstück zur üblichen monotheistischen Vorstellung? Satan als allmächtiger böser Gott besiegt am Ende den guten Gott, um sodann im Jenseits die skrupellosen Menschen noch weiter zu erhöhen und die sanftmütigen Menschen noch weiter zu erniedrigen. Dieses Modell der Verstärkung statt Umkehrung unserer irdischen Machtverhältnisse im Jenseits ist m.​E. ebenso naheliegend wie selten. Obwohl es z.​B. die berühmte Pascalsche Wette zu Fall bringt: ist es auch nur gleich wahrscheinlich, dass der gute oder der böse Gott am Ende siegt, dann liegt kein Vorteil mehr darin, mit Pascal auf den guten Gott zu setzen. Seine Wette gewinnt nur, weil der gute Gott mit ewigem Lohn bzw. ewiger Strafe antritt gegen den nichtexistenten Gott bzw. das atheistische Nichts für alle – und bei dieser auf zwei willkürliche Fälle verengten Sichtweise ist es bis heute in fast allen einschlägigen Diskussionen geblieben.​)

Meine eigene Phase, in der ich mich nicht mehr mit der Himmelserwartung belügen konnte und mich endgültig für die Hölle prädestiniert fühlte, währte zum Glück nur kurz. Mit 14 hatte ich noch meine Himmelshoffnung, mit 16 war ich schon weitgehend vom heute üblichen Realismus überzeugt, der das Nichts im Tod verspricht. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich ist das hinsichtlich der Jenseitsvostellung wohl der übliche Weg: vom Optimismus zum Realismus – der Pessimismus wird nur gestreift, auf Dauer höchstens noch augenzwinkernd bzw. künstlerisch thematisiert (düstere Musik, Filme, Spiele u.​a.​).

Ich male mir oft eine pessimistische Gesellschaft aus, das Gegenteil der im vorigen Kapitel Himmel beschriebenen optimistischen Gesellschaft. Wie würde sie aussehen? Das Leben gälte allgemein als Zumutung statt als Geschenk. Zur sonntäglichen, äh regentäglichen Messe würde unser Dasein bejammert statt bejubelt. In Kinderlosigkeit und Selbstmord würde kein Ausweg gesehen, denn der Pessimist (genauer gesagt Malist, siehe Vorwort) befürchtet vor und nach seiner gegenwärtigen Hölle noch eine schlimmere. Wäre so eine Gesellschaft besser? Zumindest wahrhaftiger.

(Die heutige Gesellschaft wird von Optimisten gerne als pessimistisch bezeichnet, sie habe keine Visionen mehr, für die Medien seien nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten etc. – dem kann ich als Pessimist nicht beipflichten. Im Vergleich mit der oben skizzierten pessimistischen Gesellschaft liegt die heutige sehr wohl noch zwischen Optimismus und Realismus. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass sich – in Umfragen vor die Wahl gestellt – die wenigsten Menschen selber als Pessimisten bezeichnen würden.​)

Nichtsgläubige Realisten – sie meinen, sie hätten keinen Glauben, glauben aber an das leidfreie Nichts-Jenseits – bleiben oftmals ihr Leben lang Revanchisten, was ihre religiöse Erziehung betrifft. Seltsamerweise richtet sich ihr Zorn aber kaum gegen die Höllendrohung, vielmehr gehen sie in aller Regel mit beißendem Spott auf die Himmelshoffnung los. Dabei stellen sie sich selber gerne als weltanschaulich Hartgesottene dar, welche auf die Himmelshoffnung verzichten können. Ist es ihnen peinlich, als mit der Höllendrohung indoktrinierte Kinder vor Gottesangst die Hosen gestrichen voll gehabt zu haben? Indem die späteren Atheisten diese ihre Vergangenheit nicht thematisieren bzw. indem die hohe Welle der Empörung gegen die Höllenerziehung und die Höllenerzieher ausbleibt, behält die Schwarze Pädagogik der Kirchen weiterhin ihre Chance, bei den Kleinsten ihre schreckliche Wirkung zu entfalten. Und evt. soll der beißende Spott, mit dem man so gerne gegen Glaubenssachen vorgeht, auch überdecken, dass die Höllenprognose nie ganz zu entkräften ist – so wenig wie die Nichtsprognose zu beweisen ist.

Mich jedenfalls hat meine katholische Erziehung fürs Leben geprägt, z.​T. seelisch verkrüppelt. Ob nun mein erwachsener Pessimismus v.​a. verkappte kindliche Höllenangst ist oder ob mein von vornherein pessimistischer Charakter besonders empfindlich bzw. aufnahmefähig für die Höllendrohung war, kann ich nicht abschließend beurteilen. Meine heutige Einstellung gegenüber den christlichen bzw. monotheistischen Kirchen ist jedenfalls überwiegend negativ, aber nicht ganz und gar verurteilend.

Die Hölle ist das pessimistische Jenseitsmodell par excellence. Als Kind trifft sie einen unvermindert, man kann sie noch nicht intellektuell einordnen, sie macht einem einfach nur wahnsinnige Angst. Später allerdings hat sie mir in mancher Hinsicht eingeleuchtet. Als philosophischer Begriff z.​B. ist sie nicht abweisbar: die Möglichkeit des Schlimmsten muss auf den Begriff gebracht werden, muss auch im nüchternen Denken ihren Platz erhalten.

(Und als per definitionem gerechte Strafe vom allwissenden Gott wäre sie für einsichtige aber unverbesserliche Sünder gar akzeptabel. Selbst in der Hölle wird einem nicht alles genommen, bei genauerer Überlegung behält man evt. sogar das Wesentliche: man darf auf immer fern von Gott man selbst bleiben und weiß auf immer, woran man mit den anderen Bösen ist – welcher Erdling kann das von sich behaupten? Aber das sind schon paradoxe Rechtfertigungen eines paradoxen Systems.​)

Die Dichotomie angenehm-unangenehm ist und bleibt vielleicht die wichtigste im Leben wie im Tod. Auch noch als Atheist spüre ich den lieben Gott und den Herrgott als tiefe Introjekte von Sehnsucht und Angst. Die heutigen Zeiten sind m.​E. zum Glück um Gott gekürzte, aber m.​E. leider weiterhin nietzscheanisch-lebensb­ejahende: der "höhere Mensch" ist glücklicher und unglücklicher, ist himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt, ist Sado-Masochist (m.E. besonders deutlich zu sehen an den in Ungnade fallenden Prominenten, welche die Hölle ebenso gierig auskosten wie vorher den Himmel). Als Pessimist favorisiere ich die Gegenrichtung – statt an Fülle und Aufruhr orientiere ich mich an Leere und Ruhe.

Jedenfalls wichtig, die beiden Jenseitsmodelle Himmel und Hölle in ihrer Kombination zu betrachten. Die größte Wirkung erzielt schon in diesseitiger Praxis der Kontrast: Zuckerbrot und Peitsche, Good Cop Bad Cop etc. Aber auch theoretisch gilt es, die beiden Idealisierungen in Beziehung zu setzen. Ist es naiv, eine Welt zu wollen, in der es nur die gute Seite gibt, die schlechte ausgemerzt ist? Was traditionell noch zwischen den Zeilen oder in den schmerzvoll verzückten Gesichtern der Märtyrer geschrieben stand, haben erneuernde Denker wie Nietzsche unmittelbar ausgesprochen: es gehe um die Fülle, sowohl Himmel als auch Hölle. Der neue Mensch gemeindet sozusagen die Hölle in den Himmel ein, ihn reizt beides. Ich bin eher auf der Gegenseite zu Hause – nicht bei den optimistischen Genießern bzw. Hedonisten, sondern bei den pessimistischen Büßern bzw. Asketen. Nach Schopenhauer tendiere ich dazu, umgekehrt den Himmel der Hölle zuzuschlagen und beides zu meiden: es geht um die Leere, weder Hölle noch Himmel. Wer das Dasein satt hat, dem ist selbst dessen positive Seite zu viel – der will, wenn er schon wollen muss, das Nichts.

Ebenso ergeben sich zu den zwei klassischen ethischen Antagonisten Gut vs. Böse noch zwei weitere: sowohl Gut als auch Böse vs. weder Gut noch Böse. Auch hier gilt: während der Zeitgeist oder zumindest dessen aktionistische Medienwelt den reuigen Sünder liebt, welcher Gutes und Böses tut, bevorzuge ich denjenigen bzw. will ich eher derjenige sein, welcher beides unterlässt. (Zumal selbst noch die guten Taten des Menschen i.​a. einen gewaltigen Kollateralschaden anrichten, der vom hohen Ross des Anthropozentrikers aus geflissentlich übersehen wird.​)

Muss man sich also zumindest einen kleinen Rest von Himmel auch in der Hölle vorstellen, wie den kleinen weißen Punkt in der schwarzen Hälfte des Yin- und Yang-Zeichens? Gibt es ein Guckloch zwischen Himmel und Hölle, auf dass die Himmelsbewohner sich am Leid der ehemaligen Peiniger laben und die Höllenbewohner am Glück ihrer ehemaligen Opfer verzweifeln? Oder bleibt dem Höllenbewohner als Bezugspunkt nur die Erinnerung an seine ehemaligen Freuden? Jedenfalls scheint in Zeiten des Relativen und Differentiellen, des Relationalen und Intersubjektiven auch die Hölle ohne ihren Bezug zum Himmel fast nicht mehr denkbar.

Wie steht es um die Zukunft der Hölle als irdische Jenseitsvorstellung? Sicher wird die Empörung des modernen Menschen immer weiter anwachsen darüber, dass der traditionelle Monotheismus nicht nur all das irdische Leid und all die irdische Grausamkeit als unergründliche Absicht eines allmächtigen Gottes verteidigt, sondern sogar deren dereinstige, unendlich verschärfte Fortsetzung in der jenseitigen Hölle. (Die Kirchen sind imagemäßig jedoch bislang nicht einmal so schlecht damit gefahren, von einer z.​T. skandalösen weltlichen Praxis mit einer z.​T. noch skandalöseren geistlichen Theorie abzulenken.​) Die vom platonischen Idealismus bis zum heutigen Realismus viel vertretene Sichtweise des unabsichtlichen "Shit happens" erscheint da doch bei weitem humaner.

Eine mögliche Modernisierung der monotheistischen Jenseitsvorstellung von Himmel und Hölle, welcher sich die großen Kirchen allerdings bislang ebenso widersetzen wie der Allversöhnung bzw. Allerlösung ("Die Hölle ist leer"), ist der Annihilationismus, vertreten z.​B. von Adventisten und Zeugen Jehovas, kontrovers diskutiert bei Evangelikalen. Ein Gott der Liebe kann nach dieser Lehre keine Hölle i.​S.​v. ewiger Qual wollen – wer sich gegen Gott entscheidet, wird nach dem Jüngsten Gericht endgültig vernichtet (bzw. erleidet nach seinem irdischen Ganztod und seiner Neuschöpfung für das Jüngste Gericht seinen zweiten, endgültigen Ganztod). Das wäre übrigens durchaus ein Tod nach meinem pessimistischen Geschmack: darf ich nur endgültig aufhören zu sein, soll der lebensfromme Rest ruhig für immer Hosianna singen gehen.

Wie wünschenswert ist eine Gesellschaft, in der keiner mehr an die Möglichkeit einer Hölle glaubt? Die Bewegung weg von den Großkirchen findet v.​a. in zwei Richtungen statt: die einen behalten den lieben Gott bzw. den lieben Jesus etwa eines Urchristentums o.​ä. und verwerfen die Mehrheitskirchen, welche sich den zornigen Herrgott mit seiner ewigen Hölle angeblich zur Machtausübung bzw. zum Geldverdienen aus einigen wenigen Bibelstellen zusammengesucht haben – die Drohung, dass es außerhalb der Amtskirche kein Heil gebe ("extra ecclesiam nulla salus") verfängt bei diesen weiterhin gläubigen bzw. vielleicht jetzt erst "wahrhaft" gläubigen Abtrünnigen nicht mehr; die anderen entsorgen den Glauben an ein Leben nach dem Tod komplett und halten sich von nun an lieber an die realistische Vorstellung, dass Leben und Leiden mit dem Tod ein für alle Mal vorbei sei. Ich finde es bedenklich bis bedrohlich, dass es keine erkennbare dritte Bewegung gibt, die dem Tod gegenüber weniger naiv-unbekümmert ist.

Der Begriff Hölle sollte m.​E. zuvorderst für den Worst Case unserer ungewissen und damit evt. beliebig leidvollen Zukunft im Tod stehen, tatsächlich aber bezeichnet man damit i.​a. nur noch besonders leidvolle Situationen im Leben. Solange die Menschen die Möglichkeit eines ewigen Leidens von vornherein kategorisch ausschließen, sind sie leider noch nicht reif für die philosophische Wahrheit, oder schlimmer, wurden sie mit dem Gedanken der jenseitigen Hölle evt. zu früh und zu hart konfrontiert und dabei so traumatisiert, dass sie von dieser logisch unabweisbaren und darum unbedingt zu bedenkenden Möglichkeit nichts mehr wissen wollen.

Der resignative Pessimismus, nicht nur gegenüber dem Diesseits, sondern auch und insbesondere gegenüber dem Jenseits, ist m.​E. der philosophisch reifere Weg, welcher von Schopenhauer vorbereitet wurde, aber von seinem Schüler und späteren Gegner Nietzsche wieder verbaut wurde zugunsten eines heroischen Pessimismus oder auch Optimismus – bei so viel Umwertung aller Werte ist das oft recht zweideutig. Das eigene Schicksal sei laut Nietzsche jedenfalls zu lieben ("amor fati"), wenngleich sein dieses Prinzip mit maximaler Konsequenz umsetzendes Jenseitsmodell der ewigen Wiederkehr des Gleichen nur die Starken auszuhalten vermöchten. Zynischerweise verspricht dieses Modell des Jenseits dem energischen Despoten m.​E. jedoch gerade das, worauf es ihm am meisten ankommt: die ewige Wiederkunft seiner Selbstermächtigung. (Wirklich lebensbejahend kann m.​E. nur der genannt werden, welcher eine ewig wiederkehrende zufällige Wiedergeburt in allen nur möglichen Existenzformen – Näheres dazu im Kapitel Andere – dem ewigen Nichtsein vorzöge. Und mit dieser hypothetischen Wahl zwischen zufälliger Wiedergeburt als immer wieder Anderer und ewigem Nichtsein sollte dann evt. auch dem Realisten das Tröstliche, um nicht zu sagen Religiöse seines angeblich so nüchternen Jenseitsmodells des endgültigen Nichts aufgehen.​)

Wie dem auch sei: heute glauben scheinbar nahezu alle, v.​a. die Psychologen und Pädagogen, dass beängstigendes Nachdenken über die Hölle einer guten Entwicklung nur hinderlich sein könne; dass das Glück den Lauten und Unbekümmerten gehöre und auch gehören solle. Die drohende Hölle als ein nicht zu leugnender Teil unserer Conditio humana – wenn auch weniger die Hölle eines zornigen Herrgotts als vielmehr die Hölle aller schlimmen Seinsmöglichkeiten, welche uns empathisch zugänglich sind – wird allseits bestritten bzw. möglichst gar nicht mehr thematisiert. (Nietzsche war m.​E. das Schlimmste bzw. Pessimum, was dem Pessimisten Schopenhauer passieren konnte. Andererseits: welche herrschende Philosophie hätten wir erst, wenn Nietzsche, statt sich an Schopenhauer abzuarbeiten, noch eins auf Stirner draufgesetzt hätte, wie es z.​B. dem jungen Steiner lieber gewesen wäre?​)

Als Symbol genommen mag die Hölle vieles bedeuten, evt. sogar die m.​E. anzustrebende Situation des Individuums, welches das Angebot aus freien Stücken ablehnt, mit den Herrschenden gemeinsame Sache zu machen, sondern lieber zu denen hält, die unter den Herrschenden leiden. Figuren wie Prometheus oder Sisyphos etwa mögen für so einen Charakter stehen, der sein Glück darin findet, den Göttern die Gefolgschaft zu verweigern. Evt. bildet die Hölle eine unausweichliche Phase in der Persönlichkeitsentwickl­ung nach der Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit, wenn Heranwachsende merken, wie viel Leid es in der Welt gibt und zu der niederschmetternden Ansicht gelangen, dass Gott ein Sadist sein muss (vgl. etwa den biographischen Höllensturz in der Jugend von Buddha oder Schopenhauer).

Aber jenseits aller Symbolik scheint mir die pessimistische Wahrheit über die Hölle eines der am besten weil am leichtesten zu hütenden Geheimnisse überhaupt zu sein, denn kaum einer will davon hören. Es lautet: gegen die Hölle feien einen weder die kostenlose Allversöhnung bei den unkonventionellen Christen noch das Loskaufen durch Gottesgehorsam bei den konventionellen Christen; weder die kostenlose Allvernichtung bei den zeitgenössischen Realisten noch der tätige Nihilismus bei den zeitgenössischen Nietzscheanern – die Hölle ist und bleibt eine unabweisbare, über den Tod hinaus drohende Möglichkeit unserer Existenz.

Jedoch bereits den Kindern mit ewiger Höllenpein zu drohen, ist m.​E. insgesamt gesehen das größte Verbrechen der Kirchen. Die Realisten versteifen sich beim Kirchen-Bashing gerne aufs Aufzählen historischer Gräueltaten seitens des obersten kirchlichen Machtapparats – aber das sind, mit Verlaub, bei aller dahinterstehenden Systematik immer noch vergleichsweise bedauerliche Einzeltaten gemessen an der milliardenfachen Routine ultimativer seelischer Folterung und Verkrüppelung von Kindern mit der Höllenpädagogik. (Die größten Apokalyptiker waren m.​E. nicht zufällig solche, die es selber erst als Erwachsene intensiv mit der Höllenlehre zu tun bekamen, z.​B. Paulus und wohl auch Augustinus – wären sie schon als Kinder intensiv damit indoktriniert worden, sie wären später wohl so wie ich eher gebrochene Psycherl geblieben als energische Anführer geworden.​)

Die monotheistische Ontologie ist verglichen mit den Ontologien aller folgenden Kapitel m.E. am weitesten hergeholt und am inkonsistentesten, sie platziert ihre unhintergehbare Grundlage unserer Welt – also Gott – weit jenseits unserer unmittelbaren Lebenswelt und wirft in ihrer Lückenhaftigkeit (siehe nächster Absatz) ungleich mehr Fragen auf, als sie beantwortet (vielleicht sogar mit Absicht, um die Gläubigen geistig niederzuhalten und die Theologen geistig zu beflügeln). Andererseits passt eine rational sehr zu wünschen übrig lassende Ontologie auch wieder zu einem emotionalen, impulsiven, ja zornigen Gott bzw. einer Schöpfung nach seinem Ebenbild.

Was ist vor der Schöpfung? Verbringt der allmächtige Gott die erste Hälfte seiner Ewigkeit allein, um dann das Gegenteil einer perfekten Schöpfung hinzuschludern? Was ist mit all den irdischen Individuen in der Zeit von der Schöpfung bis zu ihrer Geburt, und was nach ihrem Tod bis zum Jüngsten Gericht? (Warum spricht der Monotheismus immer nur vom Afterlife und nie vom Prelife?) Vor der Schöpfung ist Nichts, vor jeder einzelnen Geburt ist Nichts, dann ein einziges kurzes irdisches Leben mit dem unsichtbaren Gott ("Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben"), dann wieder Nichts bis zum gemeinsamen Jüngsten Gericht, und dann eine himmlische bzw. höllische Ewigkeit mit dem absolut nahen bzw. fernen Gott? Zuerst eine halbe Ewigkeit gähnende Leere, zuletzt eine halbe Ewigkeit pralle Fülle im Himmel oder in der Hölle, und das Leben zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht nur ein endliches Zwischenspiel, von dem jedes Individuum wiederum nur einen winzigen Teil erlebt, der Sonderfall Mensch quasi als Aufnahmeprüfling für den Himmel? Wahrlich ein seltsamer Plan.

Die Ontologien aller folgenden Kapitel sind m.E. naheliegender und schlüssiger, da sind Prelife und Afterlife i.a. symmetrisch: vor wie nach dem Leben entweder nur Nichtsein oder nur seelische Weiterentwicklung oder nur Ungewisses oder nur Ich-Sein oder nur (zufällig) Andere-Sein. Vielleicht bin ich allerdings nach meiner ersten Konversion (vom Christentum zum Realismus) auch zu meinem Nachteil bei den eleganteren i.S.v. logisch weniger verhedderten Ontologien geblieben, welche ihren Anhängern zwar weniger geistig unverdaulichen Ballast zumuten, sie dafür aber in der Annahme einer gleichbleibenden Absurdität des Ganzen mit Trübsinn, Resignation und Suizidalität alleine lassen?

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3) Nichts

Das Nichts ist viel zu schön, um wahr zu sein: im Leben auf der Siegerseite der Evolution, im Tod auf ewig vom Leid befreit?

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Der diesseitige Vorgeschmack auf das jenseitige Nichts ist der tiefe Schlaf. Der Tod als des Schlafes verabsolutierter Bruder, als tiefster, endgültiger Schlaf. Bei Anschauung des Todes von außen zumindest – und der Realismus, von dem dieses Kapitel Nichts handelt, sieht nachgerade alles als dingliches Gegenüber – liegt die Assoziation des Schlafes dermaßen nahe, dass besagtes Jenseitsmodell vielleicht längst vor der "Erfindung" aktiverer Jenseitse üblich gewesen sein dürfte.

Bei subjektivistischer Anschauung von innen frage ich mich heute allerdings: ich verletze mich und leide; ich verletze mich mehr und leide mehr; ich verletze mich genug und leide nie mehr? Wer's glaubt.​.​. Heute denke ich: ganz offensichtlich ist der menschliche Erlösungswunsch Vater des Nichtsmodells. Meine ebenso einfache wie traurige Feststellung muss heute lauten: das Nichts ist nicht bzw. das Nichts gibt es nicht.

"Das Sein ist, das Nichts ist nicht,​" meinte schon Parmenides. Heute findet aber das "Alles fließt" seines damaligen Antipoden Heraklit, welcher statt Ewigkeit bzw. statischem Sein in allem Endlichkeit bzw. dynamisches Werden und Vergehen sah, wohl mehr allgemeinen Zuspruch. (Siehe dazu auch den Absatz über Substanzphilosophie vs. Prozessphilosophie im Kapitel Andere.​)

(Ist es nicht seltsam, dass gerade die Realisten an so einen idealen Tod wie ihr eigenes ewiges Nichts glauben? Mein philosophischer bzw. pessimistischer Zweifel gilt in zunehmendem Maße allem Idealen: dem allmächtigen Gott, dem reinen Himmel, der reinen Hölle etc. Zwar fällt es mir sehr leicht, mir ein perfektes und garantiertes Nichts i.​S.​v. absoluter und endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod zu wünschen und auch vorzustellen – aber daran zu glauben ist mir inzwischen im Gegensatz zu den Realisten so gut wie unmöglich.​)

Ausgehend von einer monotheistisch indoktrinierten Kindheit: wem der Herrgott mit seinen Höllenstrafen zu große Angst macht, der wendet sich vielleicht ab vom Pfarrer und hin zum nächsten Gebildeten der Gemeinschaft, dem Arzt. Und lernt zur geistlichen These die leibliche Antithese in unserem unüberwindlichen traditionellen Dualismus kennen. Lange bevor einer seinen Weg zu den Philosophen und anderen Fachleuten für Jenseitstheorien findet, führt ihn sein Weg zum traditionellen Wissen des gemeinschaftlichen Patriarchats.

Und hier wartet hinter dem ersten Glauben der zweite, hinter der Regierung die Opposition. Die Rückseite des Mainstreams: Stones statt Beatles, St. Pauli statt Bayern München etc. Wer mit dem Herrgott nicht klarkommt, für den steht – erst mal der naive – Realismus bereit. Oben genannter Arzt könnte frei nach Virchow sagen: Ich habe die Menschen gründlich untersucht, aber nie eine Seele gefunden. Mach dir keine Sorgen um die Hölle, das ist nur ein Ammenmärchen der religiösen alten Weiber für unartige Kinder.

Eine schroffe Antithese: wir sind keine von einem allwissenden Gott mit Bedacht geschaffenen ewigen Seelen, sondern in der blinden Natur zufällig entstandene endliche Körper; maßgeblich für uns sind nicht moralische Gesetze von oben, sondern Naturgesetze von unten; was unser Wesen ausmacht, steht weniger in der Bibel als vielmehr in den Physik- und Biologiebüchern.

Jener zweite Glaube hält sich allerdings für Wissen. Die epistemische Geschichte wird etwa folgendermaßen dargestellt: "Früher glaubte man, die Erde sei eine Scheibe; heute weiß man, sie ist eine Kugel. Früher glaubte man, im Tod warteten Himmel und Hölle; heute weiß man, im Tod wartet das Nichts". Man meint, nun endgültig von den ausgedachten Modellen zu den evidenten Fakten vorgestoßen zu sein.

Spätestens der für alle Kinder verpflichtende naturwissenschaftliche Unterricht an den Schulen vermittelt eine Weltanschauung der Endlichkeit. Im Urknall entstand vor einigen Milliarden Jahren auf einen Schlag das Universum – Zeit, Raum und Materie. Nach Wasserstoff und Helium bildeten sich immer komplexere anorganische Elemente heraus, die wir heute alle kennen bzw. chemisch einordnen können. Trotzdem: den allermeisten Raum im Universum behält das Nichts bzw. die Leere. Und umgekehrt den winzigsten Teil nehmen allzu vergängliche, wundersame Gebilde ein, wo naturwissenschaftlich betrachtet "Rasierklingen auf Rasierklingen stehen": die organischen Moleküle, die Evolution des Lebens, das Bewusstsein der Tiere, das Denken des Menschen – ein kurzes grandioses Schauspiel, bevor alles wieder zu bewusstloser Materie zusammenfällt bzw. im totalen Nichts verschwindet.

Dass im Tod das Nichts zu erwarten sei, wird den Realisten vielleicht auch deshalb so gerne geglaubt, weil diese von sich behaupten, sie hätten im Wesentlichen verstanden, wie das Leben entstanden sei. Die neodarwinistische Lehre, heute populär repräsentiert etwa von Dawkins ("Der blinde Uhrmacher"), findet in den Reihen der modernen Wissenschaften kaum noch prominente Gegner, obwohl die Gegenargumente, heute populär repräsentiert etwa von Nagel ("Geist und Kosmos"), klar auf der Hand liegen. Ähnlich wie beim Thema Demokratie seufzen auch beim Thema materialistische Evolutionstheorie die kundigen Befürworter und Gegner unisono: argumentativ unbefriedigend, aber wir haben nichts Besseres.

Die Erzählung von der selbstorganisierenden Materie ist in der modernen Erziehung quasi zum Monopol gereift. Kreationisten und andere Minderheiten kriegen in der offiziell pluralistischen Gesellschaft ihre Nischen eingeräumt, aber gegen den naturalistischen i.​S.​v. die Naturwissenschaften als maßgeblich betrachtenden Realismus, Materialismus bzw. Objektivismus gibt es inzwischen keinen gesellschaftlich allzu mächtigen Einwand mehr. Wo die Pädagogik früher auf den felsenfesten Glauben setzte, setzt sie heute auf das "wissenschaftlich bewiesene" Wissen. Zwar ist kein einziger der wesentlichen Übergänge – vom Nichts zur Materie, von der Materie zum Leben, vom Leben zum Bewusstsein – auch nur ansatzweise analytisch verstanden und schon gar nicht synthetisch im Labor herzustellen, aber wie schon zuvor bei den kirchlichen Lehren ist die wirksamste Argumentation sowieso die autoritative. Wer wollte ernsthaft dem Genius widersprechen, welcher Flugzeug und Mondlandung, Klonschaf und Hirnscan erschuf?

Ich vorerst nicht, denn das Jenseitsmodell des Nichts war mir zu Schulzeiten nur eins: unsagbare Erleichterung gegenüber dem Jenseitsmodell der Hölle. Als Pessimist gibt man die Himmelshoffnung gerne preis, solange nur die Höllenangst weicht. Durch mein Konvertieren zum Realismus hatte ich wieder ein ungemein beruhigendes Credo, welches die freudig gläubigen Christen und die nüchtern "ungläubigen" Realisten miteinander teilen und welches als weltanschaulich neutrales Logo des Todes die Traueranzeigen und Grabsteine ziert: R.​I.​P. bzw. Ruhe in Frieden – ist man einmal tot, hat man alles Leid hinter sich. (Möge er in Frieden ruhen – der Konjunktiv, in welchem noch die Furcht steckt, der Tote könnte im Jenseits nicht erlöst werden oder gar als Untoter bzw. Wiedergänger ins Diesseits zurückkehren, wird heute kaum noch wahrgenommen.​) Später mündete diese beruhigende Versicherung dann allerdings in beunruhigende Suizidalität, eine oft nicht bedachte Kehrseite des Abschieds vom Höllenglauben.

(Auch aus meiner heutigen Sicht des Subjektivismus haben die o.​g. drei – Realismus, Materialismus, Objektivismus – mit der alten christlichen Lehre Wesentliches gemeinsam: das eigene Ichbewusstsein ist ihnen nicht innerer Ausgangspunkt, sondern äußerer Endpunkt. Wie in der Schöpfungsgeschichte ist jenen dreien unser Bewusstsein die zuletzt entstandene Ausnahme im Universum, winzig im Vergleich zum primären Gegenüber Gott bzw. Materie. Das Gewicht liegt auf der Welt, nicht auf dem Ich. Die angeblich erwachsenere Einstellung: du bist nicht der Nabel der Welt, dein Innen ist ein Nichts verglichen mit dem gigantischen Außen.​)

Schon im antiken Griechenland hatten materialistische Philosophen versucht, mit dem Nichtsglauben den furchteinflößenden Jenseitsglauben einer trostlosen Ewigkeit im Hades bzw. der Hölle abzulösen. (Überhaupt versteht man eine philosophische Strömung m.​E. oft am besten, indem man herausfindet, gegen welche zeitgenössische Eigenschaft des Mainstreams sie opponiert.​) Das Elysium bzw. der Himmel war im griechischen Polytheismus nämlich Göttern und Halbgöttern vorbehalten. Die materialistischen Philosophen jedoch sahen entsprechend ihrer atomistischen Vorstellung alles in der irdischen Welt als vergänglich an und verwarfen die damals üblichen Vorstellungen eines Weiterexistierens als Schattenwesen in der Unterwelt. Berühmt und für viele Bildungsbürger bis heute der ultimative Todestrost ist der Satz von Epikur: Der Tod geht uns nichts an – solange wir noch sind, ist er nicht; und wenn er ist, sind wir nicht mehr.

Heute gilt wiederum das Nichts als Angstmacher. Aber als Pessimist habe ich mich noch nie vor dem Nichts gefürchtet, im Gegenteil. Das Nichts ist m.​E. eine widernatürliche Idee des Menschen, und zwar zusammen mit Moral und Vernunft seine beste! So illusionär das Nichts, mehr noch als Moral und Vernunft, auch sein mag – damit weiß ich zumindest, wohin es mit der Welt idealerweise gehen sollte, auch wenn es dahin realerweise niemals gehen wird. Optimistischere Menschen mögen das Nichts fürchten, aber das ist m.​E. ein Luxusproblem weniger Glückspilze, die in Ignoranz oder sogar in Anerkennung des bei weitem überwiegenden Leides auf der Welt ihre verschonte Sonderrolle bzw. ihre glückliche Vorteilsposition behalten wollen.

Ich glaube nicht, dass das Gehaltensein ins Nichts der Grund menschlicher Angst schlechthin ist, wie die Existentialisten behaupten. Erst recht glaube ich nicht, dass ein Tier Angst vor dem Nichts haben könnte. Das Nichts wäre nicht im mindesten zu fürchten, da gebe ich Epikur recht (wenn auch nicht darin, dass der Tod das Nichts sei). Intuitive bzw. natürliche Todesangst ist m.​E. immer die Angst vor Veränderung zum Schlechteren hin, nie die Angst vor dem Nichts.

Schopenhauer, der Hauptvertreter des Pessimismus, konstatiert lapidar, dass dieses Dasein besser nicht wäre bzw. dass besser Nichts wäre. Diese Welt sei ganz ernsthaft – Voltaire meinte das noch eher satirisch – die schlechteste aller möglichen. Die beiden stellten sich damit Leibniz entgegen, der die Frage, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, mit dem Optimismus beantwortet hatte: Gottes Schöpfung sei die beste aller möglichen Welten.

Wer die grenzenlose Grausamkeit des Daseins zur Kenntnis genommen hat und Schopenhauers vernichtendem Urteil recht gibt, dem muss der heute übliche realistische Glaube an das Nichts i.​S.​v. endgültiger Bewusstlosigkeit im Tod eine Erlösung sein. Eine Grenze, an der das Leid dann doch endet. Schwein gehabt: das Leben, so schmerzhaft es sei, nur ein endlicher Funke in den endlosen Weiten des Nichts. Und wir Menschen stehen auch noch auf der "richtigen" Seite der Fleischtheke, beuten die Natur inzwischen mehr aus als diese uns. So ist unser Leben in der Spezies Mensch ein kurzes Gastspiel bei den Gewinnern der Evolution, vielleicht genießbar, jedenfalls abwartbar, notfalls auf einer Backe abzusitzen. Das Bewusstsein kommt einmalig und geht endgültig. Der Defaultzustand des Realisten angesichts der Ewigkeit: Bewusstlosigkeit.

(Interessant: ohnmächtig werden und bewusstlos werden gilt immer noch als synonym – der intentionale, aktiv strebende Teil des Bewusstseins scheint also selbst für die Realisten dessen Hauptsache zu sein. Wer keine Macht mehr hat zu handeln, ist bewusstlos!​? In meiner zweiten Nahtoderfahrung klafften die beiden so weit auseinander wie irgend möglich: ich erlebte tiefste Ohnmacht i.​S.​v. eigener Machtlosigkeit bei höchstem Bewusstsein i.S.v. eigener Anwesenheit.​)

Aus meiner heutigen antirealistischen Sicht muss ich empört feststellen: die realistische Erklärung von nahezu allem zum ohnmächtigen bzw. bewusstlosen Ding dient v.​a. als Freibrief für dessen Ausbeutung ohne schlechtes Gewissen. Man erklärt Bewusstsein einfach zur evolutionären Ausnahme von der Regel, damit sei nur ein winziger Teil der Welt ausgestattet – und wer oder was sich nicht bei uns melden und sein Recht, in Ruhe gelassen zu werden, eloquent einfordern kann (die Schmerzensschreie der Tiere etwa genügen dafür offensichtlich noch nicht), wird benutzt, wie es uns gefällt. Der moderne Realist technologisiert und industrialisiert auf Teufel komm raus – nach ihm die Sintflut, oder eben noch bessere Technik, welche die angerichteten Umweltschäden wieder behebt. Und wie auch immer, im Tod wartet das endgültige leidlose Nichts. So lässt es sich für viele Realisten leicht leben. Während immer wieder laut und hämisch darauf hingewiesen wird, dass "das letzte Hemd keine Taschen" hat, wird sich eher still und diebisch darüber gefreut, dass der Tod alle Schulden tilgt – wer sich bis zu seinem Tod vor dem Bezahlen drücken kann, kann sich endgültig drücken.

Die Sicht des Realisten auf sich selbst ist typischerweise eine Sicht in Relation zum Optimisten. Er beneidet augenzwinkernd die Naiven, welche die Realität nicht anerkennen können oder wollen. Hält sich selber mit dem Todesmodell des Endens seiner bewussten Existenz (das Wort Jenseitsmodell und evt. auch das großgeschriebene Wort Nichts würde ein Realist als Beschreibung seiner Todesvorstellung wohl ablehnen) für eher hartgesotten. Aus meiner Sicht als Pessimist aber macht es sich auch der Realist mit dem Nichtsmodell noch recht bequem. Das allermeiste, was diese Welt an Angstmachendem für die anderen Menschen, Tiere, Pflanzen etc. bereitgehalten hat oder noch bereithält, kann ihm in seinem einzigen, endlichen, glücklicherweise sehr privilegierten Leben egal sein. Bestenfalls lebt er keinen Tag länger, als er Lust dazu hat – sollte das Glück ihm den Rücken kehren, bleibt ja immer noch der Freitod.

(Realisten lassen es sich i.​a. gerne gut bzw. besser gehen, haben kein allzu schlechtes Gewissen dabei, zumindest tierisches und pflanzliches Leben und erst recht alles scheinbar nicht Lebendige in immer größerem Stil zu nutzen, sprich auszunutzen. Sie bejahen den technischen Fortschritt – "Stillstand ist Rückschritt" – und suchen unermüdlich nach Quellen zur Mehrung ihres Wohlstands. Wer diese ihre Strategie zunehmender Kolonisierung der Natur für verwerflich hält, der gilt ihnen als heuchlerisch oder als zu sentimental, die Welt sei eben so: hart und ungerecht – und zwar zum Glück für die Gewinner. Hier liegt aus meiner Sicht der wesentliche Unterschied zwischen traditionellen Optimisten und modernen Realisten: die Optimisten geben nicht zu, dass die Hierarchie der Welt kalt bis böse ist – die Realisten geben dies zu, machen sich jedoch weiter keinen Kopf deswegen, Hauptsache, ihnen selber und ihrem nächsten Umfeld geht es gut. Evt. sind sie sogar hilfsbereit, was dann jedoch nur heißen kann, noch ein paar wenige Andere auf Kosten vieler Anderer bei ihnen oben Platz nehmen zu lassen. Königsdisziplin des Optimismus wie des Realismus ist es, dem Schöpfer bzw. der Natur gegenüber sogar dann noch versöhnlich gestimmt zu bleiben, wenn man zu den zahllosen Verlierern gehört. Dieser Galgenhumor bzw. Sarkasmus wird hoch geschätzt, bedeutet er doch Lebensbejahung trotz widriger Umstände. Ich sehe das umgekehrt: selbst wenn es mir und den Meinen gut geht – solange auch nur ein Anderer leidet, sind Gott und die Welt m.​E. im Unrecht und wären besser nicht; über diese Erkenntnis und die quietistische Abstinenz von umweltschädlichen Handlungen hinaus jedoch gilt: ich bin nicht verantwortlich dafür, dass die Welt eine schlechte ist und bleibt – ich habe sie weder gemacht noch liegt es in meiner Macht, sie grundlegend zu ändern. Und diese letzte Feststellung könnte auch von einem Realisten stammen, der sich gegen die ethischen Ansprüche eines Optimisten verwahrt.​)

Das Nichts im Tod ist jedoch evt. auch für den Realisten ein hochproblematisches Jenseitsmodell. Viele Menschen können nicht aufhören daran zu denken, dass ihre Zeit begrenzt ist, dass ihr Leben jederzeit endgültig vorbei sein kann. Das Memento Mori, das der eigenen Sterblichkeit Eingedenksein, ist manchen kein lustvoller Ansporn zum Carpe Diem, zum bestmöglichen Nutzen der kurzen Zeit, sondern vielmehr eine lähmende Gewissheit, die ihr ganzes Leben überschattet. Depression kann paradoxerweise auch daraus entstehen, dass man das Leben eigentlich liebt und gerade deshalb ständig sein Ende befürchtet. Manch einer bringt sich nicht aus Lebensüberdruss um, sondern weil er entnervt in die eigene Hand nehmen will, was ihm eine höhere Gewalt sowieso ständig androht: seinen Tod.

(Wobei mir persönlich die Apeirophobie istgleich Angst vor der Unendlichkeit schlimmer erscheint als die im vorigen Absatz beschriebene Angst vor der Endlichkeit, was daran liegen mag, dass nur die erstere meine Seele quält, während mir die letztere recht fern ist. Ich nehme an, dass erstere hauptsächlich in traditionellen Gesellschaften vorkommt, wo die Menschen regelmäßig (zu) früh in ihrer Entwicklung mit der vermeintlichen Gewissheit der Ewigkeit konfrontiert werden, während letztere hauptsächlich in modernen Gesellschaften vorkommt, wo die Menschen regelmäßig (zu) früh in ihrer Entwicklung mit der vermeintlichen Gewissheit der Endlichkeit konfrontiert werden. Wie gegen Ende des Kapitels Himmel bereits betont: die Jenseitsmodelle völlig gewisser Ewigkeit wie völlig gewisser Endlichkeit sind beide dazu geeignet, Menschen zu traumatisieren bzw. in große Angst zu versetzen. Überhaupt sollten Jenseitsmodelle m.E. nur auf ernsthafte Nachfrage der Kinder hin vermittelt statt ungefragt aufoktroyiert werden – und ja, auch die Vertreter der Endlichkeit allen Lebens sind allzu oft missionarisch unterwegs! – weiterhin sollten die Jenseitsmodelle pädagogisch klug gewählt und formuliert werden bzw. der individuellen Entwicklung des Menschen sukzessive angepasst werden.)

Aber auch in umgekehrter Weise kann das Jenseitsmodell des Nichts für den Realisten zum größten Problem werden, und mir machte dieses Problem mit den Jahren als Nichtsgläubiger zunehmend zu schaffen: wer das Leben hasst, den verleitet die Aussicht auf das süße Nichts im Tod unmittelbar zum Suizid, sofern nicht gesellschaftliche Konvention, Angst vor dem finalen Akt oder Rücksicht auf Abhängige bzw. Nahestehende ihn so knapp vor der Erlösung umso schmerzvoller innehalten lassen. Höllengläubige mussten sich wenigstens nicht mit Selbstmordgedanken herumschlagen, solange sie noch bei Trost waren. Die Höllendrohung gilt heute so manchem zum Realismus konvertierten Ex-Christen als Skandal psychischer Gewalt der Kirchen. Bei näherer Betrachtung mag es aber auch fürsorglich gemeint gewesen sein, den geplagten Menschen von einer noch schlimmeren Unterwelt zu erzählen, um den Gedanken an Selbstmord in weite Ferne zu rücken. Der komplementäre Skandal, nämlich dass die unbeweisbare Behauptung Epikurs vom Nichts im Tod die Traurigen zur Selbsttötung verführt, ist meines Wissens kaum je thematisiert worden. Wenn etwa Ärzte, welche das Leid eines Menschen oft nicht zu lindern vermögen, die Lehre vom Nichts im Tod vertreten – kommt das nicht der Empfehlung an die Patienten gleich, bei Versagen der Heilkunst den Freitod zu wählen? Oder gar die mit der Zeit immer legaler werdenden ärztlichen Leistungen des assistierten Suizids (schon erlaubt) oder der Tötung auf Verlangen (noch verboten) in Anspruch zu nehmen? Man könnte fast auf den Gedanken kommen, die Hedonisten wollten diejenigen, welche sich nicht am Leben erfreuen können, lieber tot sehen.

Und beim Ausweg in den eigenen Tod bleibt es vielleicht nicht – Pessimisten, die fest ans Nichts im Tod glauben, fühlen sich evt. dazu berufen, Andere auch ohne deren ausdrücklichen Wunsch zu erlösen, etwa als sog. Amokläufer in Schulen und Flugzeugen oder als sog. Todesengel in Krankenhäusern und Altenheimen. Offiziell mag in unserer modernen Gesellschaft der Glaube an das atheistische Nichts-Jenseits den Glauben an das theistische Himmel/​Hölle-Jenseits längst abgelöst haben – dabei wurde jedoch versäumt, den Menschen einen neuen Grund an die Hand zu geben, wieso angesichts all des Leides das Leben besser sein sollte als der Tod. Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Rätselraten über die Motive u.​ä. lauten die Formeln, auf die man sich in der Berichterstattung über Amokläufe, Mitnahmesuizide o.​ä. geeinigt hat. Als Erstes jedoch das leidvolle Leben gegenüber dem angeblich ja alles Leid beendenden Tod explizit zu rechtfertigen, das unternimmt keiner der Kommentatoren. Der Vorrang des Lebens vor dem Tod ist auch den zeitgenössischen Atheisten mit ihrem Nichts-Jenseits auf den ersten Blick eine nicht weiter erklärungsbedürftige Selbstverständlichkeit, auf den zweiten Blick ein viel zu heißes Eisen. Der Verdacht liegt nahe, dass man dieses Tabu einer Feindschaft gegen das knechtende Leben noch unter dem traditionellen Gott verinnerlicht hat und es seither nicht anzurühren wagt – und die modernen Evolutionisten setzen den Überlebenswillen sowieso voraus (oder zumindest eine seltsam objektivierte Form davon). Die Rückfrage der Täter und ihrer Sympathisanten angesichts immer gleicher "Warum nur?​"-Aufschreie der Medien bei jedem weiteren Amoklauf bleibt zwar i.​a. ungefragt, steht jedoch im Raum: "Warum nicht?​". Wenn der Tod alles Leid beendet, warum dann nicht alle töten?

(Der Präferenzutilitarismus mag hier einwenden, dass selbst ein schmerzlos dahingerafftes Opfer z.T. langfristige Ziele im Leben hatte, deren Erreichung nun mit seinem Tod "objektiv" verhindert worden seien. Aus meiner Sicht des ontologischen Subjektivisten eine Ausrede der wenigen Privilegierten für das i.d.R. allzu leidvolle Weiterleben insgesamt, welches unter Voraussetzung eines ontologischen Objektivismus m.E. besser zu beenden wäre – denn was ist bitte zu betrauern an der verhinderten Erreichung eines Ziels, wenn es kein Subjekt mehr gibt, das es noch erreichen will?)

Die heutigen Realisten stellen gerne ihren historischen Siegeszug gegen den Idealismus heraus: für immer mehr Leute sei es einfach unschlagbar evident bzw. so plausibel wie nur irgendwas, dass sich alles bewusste Dasein auf vergängliche materielle Strukturen gründe. Um das denkerisch hieraus resultierende Hauptproblem aber kümmert man sich wenig: wenn alles Bewusstsein einfach durch brachiale Gewalt zu tilgen sei, warum sollten die vom Leben Gequälten noch zögern, mit der systematischen Vernichtungs- istgleich Erlösungsarbeit zu beginnen? Lieber verfallen auch die überzeugten Realisten ins Propagieren eines nun allerdings streng diesseitigen Optimismus (vgl. Kapitel Himmel): "Das Leben ist schön!​". Gegenwart und Zukunft der Welt werden gefeiert und verherrlicht, dass es nachgerade gruselige Züge annimmt – das Antlitz der westlichen Welt ist das eines Zombies, mit höchstem kosmetischen Aufwand zu einem Grinsen verzerrt.

Für die Lebensverdrossenen und deren Umwelt ist das Nichts m.​E. die lebensgefährlichste Jenseitstheorie. Wo Realismus (i.​S.​v. Glaube an das Nichts im Tod) und Pessimismus (i.​S.​v. negativer Bewertung von Welt und Leben) in Kombination auftreten, da ist Selbstmord bzw. Mord die naheliegendste Tat. Als Symbolfigur des tätigen Nihilismus dient z.​B. Goethes Mephisto: "Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht, / ist wert, dass es zugrunde geht; / drum besser wär’s, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / mein eigentliches Element.​"

Der Nihilismus steht im Ruf, zutiefst amoralisch zu sein – wenn Mephisto auf die Frage des Herrn "Kommst du nur immer anzuklagen? Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?​" entgegnet "Nein Herr! ich find' es dort, wie immer, herzlich schlecht. Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen, ich mag sogar die armen selbst nicht plagen", dann klingt das bei ihm ironisch, sowie nach ehrlicher Enttäuschung des amtlichen Sadisten über die ihm entgehende Lust an der Quälerei, weil Gottes missratene Schöpfung die Menschen schon ohne Zutun des Teufels über Gebühr strapaziert. Aber es gibt sehr wohl auch den Nihilismus aus ethischen Gründen, die ernsthafte moralische Empörung gegen Gott bzw. das Leben, das Einfordern von deren Rechtfertigung (Theodizee bzw. Biodizee), die Wut und Trauer über die verfehlte Schöpfung und den Ruf nach Unterlassung des Fortpflanzungsaktes als einer "Folie à deux", des lustvollen Gipfels von Unvernunft und Verantwortungslosigkeit­.

Ältere Schopenhauerianer wie Bahnsen, Mainländer und v. Hartmann bilden mit ihrem transzendentalen Realismus einen Übergang zwischen dem transzendentalen Idealismus Schopenhauers und dem Realismus jüngerer Schopenhauerianer (siehe nächster Absatz). Gemeinsam ist ihnen die pessimistische Diagnose des Weltzustands und ihre daraus folgende Bevorzugung des Nichts gegenüber dem Sein, welche aber in der individuellen Konsequenz noch recht theoretisch bleibt, weil das Sein fest im metaphysischen Willen gründet. Unterschiedlich ist ihre Prognose für diese schlechte Welt: keine Erlösung der sich auf ewig nach dem Nichts sehnenden und miteinander hadernden Vielheit von Einzelwillen (Bahnsen), nahe Erlösung der weltlichen Individuen als Zerfallsprodukte des in höchster moralischer Konsequenz suizidierten Gottes (Mainländer) und ferne kollektive bzw. universelle Erlösung ggf. erst durch eine posthumane Spezies, welche als schließlich ausreichend zu Bewusstsein gelangter Erstling des Geistes mit ihrer Willensverneinung auch die Annihilation aller niederen Daseinsformen nach sich zieht (v. Hartmann).

Jüngere Schopenhauerianer wie Cioran, Lütkehaus und Horstmann haben den idealistischen Nihilismus Schopenhauers ganz hinter sich gelassen, sie stehen für den realistischen Nihilismus mit seiner zugrunde liegenden dinglichen Welt und seinem unbezweifelten Nichts im Tod. "Vom Nachteil, geboren zu sein" (Cioran) ist noch poetische Betrachtung; der Antinatalismus von Lütkehaus wird schon konkreter (oder auch die Bewegung für das freiwillige Aussterben der Menschheit, Voluntary Human Extinction Movement bzw. VHEMT, sowie die Church of Euthanasia, deren Antinatalismus tiefenökologisch bzw. antispeziesistisch motiviert ist); "Vermonden wir unseren stoffwechselsiechen Planeten!​​" (Horstmann) ist m.​​E. bei ontologisch vorausgesetztem Realismus die konsequenteste Reaktion auf abertausend Jahre Qual der Erdenwelt – wenn nur ihr "Schimmelüberzug" (Schopenhauer) ein leidendes Bewusstsein besitzt, sollte uns der nukleare Overkill nach dem Scheitern aller kollektiven Heilungsprogramme endlich den kollektiven Suizid ermöglichen. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!

(Vgl. Smart's sog. Benevolent World-Exploder als Einwand gegen Poppers negativen statt positiven Utilitarismus: wäre die Leidminimierung moralisch wirklich ungleich dringender geboten ist als die Glücksmaximierung, und könnte ein gutwilliger Herrscher die Welt instantan bzw. schmerzlos in die Luft jagen, so müsste er dies tun. Aber während es unter den zeitgenössischen Philosophen Anhänger des Antinatalismus gibt, siehe voriger Absatz, weiß ich bislang nichts von prominenten Anhängern eines Promortalismus, der etwa auch explizit den Mord als das Töten von Unfreiwilligen gutheißen würde. Zum negativen Utilitarismus siehe auch den Abschnitt über Buddhismus im Kapitel Andere.​)

(Die von den klassischen Naturalisten i.​a. als schön oder wertneutral betrachtete Evolution des Bewusstseins lässt sich hinsichtlich des entstehenden Leids auch als Hölle begreifen, welche an die Stelle des moralisch zu bevorzugenden bewusstlosen Nichts tritt – ein Argument z.​​​B. von Transhumanisten für ihre sehnlichst erwartete künstlich-technologisch­­e Bewusstseinsevolution 2.​​0 auf Silizium- statt Kohlenstoffbasis bzw. gegen die natürlich-biologische Evolution und die es dabei belassen wollenden "Biokonservativen". Realistische Pessimisten meinen jedoch sowohl natürliche als auch KI-Evolution, wenn sie sagen: "Evolution is hell!​​​" und reagieren evt. mit Zeugungs-/​​​Empfängnisverzicht bzw. Verhütung, Abtreibung oder gar Euthanasie.​​)

Aber zumindest den Besonnenen bleibt das philosophische Abwarten näher als das technische Durchgreifen, wie in dem Witz: Treffen sich zwei Planeten, sagt der eine: "Ich hab Homo sapiens", sagt der andere: "Das geht vorbei". Der Trick der Erlösungsreligion Realismus liegt auch für die Besonnenen im vorgeblichen Wissen um die Endlichkeit – gemessen an der Zeit, die das Universum seit dem Big Bang schon besteht und vor dem Big Crunch noch bestehen wird – einige Milliarden Jahre – hat das Individuum sein Leben augenblicklich hinter sich, in kosmische Relation gesetzt geht individuelles Leid gegen null. Und wo das Leben schon keine Freude macht, kann sich der realistische Nihilist aufs Nichts im Tod freuen, ihn vielleicht zu diesem Zweck sogar möglichst lange hinauszögern – muss er doch eh mit der Vorfreude Vorlieb nehmen, denn eine Freude am Nichts selbst gibt es nach dessen Eintreten ja nicht mehr.

(So wie euphorisch-triumphale Kirchenmusik dem traditionellen Menschen Gottes Herrlichkeit und die großartige Schönheit seines kommenden Paradieses vermitteln soll, so sollen melancholisch-getragene Synthesizerklänge zu Filmaufnahmen und Animationen von den unermesslichen Weiten des Weltraums dem modernen Menschen vermitteln, sein Leben sei nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Universums. Dessen vereinzelte vergängliche Festkörper umgeben von Nichts, Nichts und noch mal Nichts – an diesem riesigen Nichts wird das eigene Leid winzig klein, ein nachgerade erlösungsreligiöses Gefühl.​)

Mir jedoch sind Zweifel am Nichts im Tod gekommen und geblieben – ich denke, die Summe über alles ist weder positiv noch null. Das Nichts im Tod wäre einfach zu schön, um wahr zu sein. Als pessimistischer Nihilist halte ich diejenigen Nihilisten, welche glauben, ihr ersehntes Nichts in nicht allzu ferner Zukunft erwarten zu dürfen oder es sogar, die Wartezeit abkürzend, selbst herbeiführen zu können, für (zu) optimistisch. Vielleicht ist ja Gott in diesem Sinne tot, dass er es als Allmächtiger verstanden hat, sich so zu vernichten, dass ihn kein Mächtigerer je wiederherstellen kann – der unvollkommene Rest von uns aber hat das eigene Nichts m.​E. nicht selbst in der Hand.

Zwar öffnet sogar der Chefpessimist Schopenhauer im vierten Buch des ersten Bandes seines Hauptwerks "Die Welt als Wille und Vorstellung" noch ein Türchen für die Erlösung: wer den Willen ganz verneine, gehe endgültig ein ins Nichts. Die ersten drei Bücher vermögen diesen optimistischen Lapsus des vierten aber zu widerlegen, meint Horkheimer: Das Leiden ist ewig. Und in diesem Sinne verstehe ich auch die letzten Worte Schopenhauers anno 1860 auf seinem Sterbebett, vom Freund und Biographen Gwinner anno 1862 in indirekter Rede wiedergegeben, welche mir zum höchsten Leitspruch geworden sind: "Es würde für ihn nur eine Wohltat sein, zum absoluten Nichts zu gelangen; aber der Tod eröffne leider keine Aussicht darauf. Allein, es gehe wie es wolle, er habe zum wenigsten ein reines intellektuelles Gewissen.​"

(Genauer gesagt sind Schopenhauers letzte Worte mir zum höchsten Leitspruch geworden in meiner persönlichen Interpretation derselben, ob Schopenhauer sie nun so gemeint hat oder nicht, etwa folgendermaßen: "Ich hätte liebend gerne von vornherein erst gar nicht existiert, und was den Tausch meiner Existenz gegen die absolute Bewusstlosigkeit angeht, wäre mir jeder Tag recht; aber in praxi glaube ich nicht an dieses endgültige Nichts im Tod, weil das angesichts meines bisherigen Eindrucks von Leben viel zu schön wäre, um wahr zu sein. Doch was immer mich im Tod anstelle des ersehnten Nichts erwarten mag: solange ich in theoria lieber nicht existieren würde, kann ich meine Hände in Unschuld waschen, was mir zum ultimativen Trost gereicht – ich mache sicher vieles falsch, habe aber ein reines Gewissen insofern als ich, ginge es nach mir, überhaupt nicht da wäre und somit auch nichts falsch machen könnte.")

Zum Schluss dieses Kapitels Nichts noch zwei Zitate aus weiterhin vielaufgeführten Dramen der Weltliteratur über den dunklen Zweifel am ersehnten Todesnichts. Das erste Zitat gilt gar als der berühmteste Bühnenmonolog überhaupt. Vielleicht bleibt ja der Ausdruck des Zweifels am Nichts im Tod heute mehr denn je der Kunst überlassen. Weil der rationale Mensch davor zurückschreckt und deshalb lieber aus der unmittelbaren Kommunikation verbannt, was ihm nach dem Tod noch alles blühen könnte.

Shakespeare's Hamlet (1603): "Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage: / ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern / des wütenden Geschicks erdulden oder, / sich waffnend gegen eine See von Plagen, / durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen – /​/ nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf / das Herzweh und die tausend Stöße endet, / die unsers Fleisches Erbteil, 's ist ein Ziel, / aufs Innigste zu wünschen. Sterben – schlafen – / schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegt's: /​/ was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, / wenn wir die irdische Verstrickung lösten, / das zwingt uns stillzusteh'n. Das ist die Rücksicht, / die Elend läßt zu hohen Jahren kommen. / Denn wer ertrüg' der Zeiten Spott und Geißel, /​/ des Mächt'gen Druck, des Stolzen Misshandlungen, / verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub, / den Übermut der Ämter und die Schmach, / die Unwert schweigendem Verdienst erweist, / wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte /​/ mit einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten / Und stöhnt’ und schwitzte unter Lebensmüh? / Nur dass die Furcht vor etwas nach dem Tod, / das unentdeckte Land, von des Bezirk / kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt, /​/ dass wir die Übel, die wir haben, lieber / ertragen, als zu unbekannten flieh'n. / So macht Bewusstsein Feige aus uns allen; / der angebor'nen Farbe der Entschließung / wird des Gedankens Blässe angekränkelt; /​/ und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll, / durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, / verlieren so der Handlung Namen. (.​.​.​)"

Büchners Danton (1835): "Versenke dich in was Ruhigeres als das Nichts, und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer! – Die Schöpfung hat sich so breit gemacht, da ist nichts leer, alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab, worin es fault. (.​.​.​) Wir sind alle lebendig begraben und wie Könige in drei- oder vierfachen Särgen beigesetzt, unter dem Himmel, in unsern Häusern, in unsern Röcken und Hemden. – Wir kratzen fünfzig Jahre lang am Sargdeckel. Ja, wer an Vernichtung glauben könnte! Dem wäre geholfen. – Da ist keine Hoffnung im Tod; er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied! – Aber ich bin gerad einmal an diese Art des Faulens gewöhnt; der Teufel weiß, wie ich mit einer andern zurechtkomme.​"

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4) All-Einheit

Falls eine Annäherung ans Jenseits nur demjenigen gelingt, welcher das Denken hinter sich lässt, liege ich voll daneben!

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Statt eines jenseitigen Himmels gibt es auch die Vorstellung einer innersten geistigen Heimat, die für alle identisch ist bzw. wo alle eins sind. Aus dieser Heimat verirren wir uns gleichsam in die äußere Realität, wo wir unter der Illusion leiden, abgetrennte Individuen zu sein. (Die Schöpfungsgeschichte mit der Vertreibung aus dem Paradies kann als symbolische Darstellung dieser realen Inkarnation verstanden werden.​) Oder wir suchen die Realität gar absichtlich auf, um uns an ihrem Widerstand geistig weiterzuentwickeln. Wie dem auch sei: alle kommen aus dieser geistigen Heimat des All-Einen und gehen dort auch wieder hin, entweder mitten im Leben durch andächtiges Sich-Versenken oder spätestens im Tod.

Die All-Einheit ist schon dem Namen nach das gerechteste aller Jenseitsmodelle, seine Anhänger sind der Ansicht, dass alles Lebensleid – das eigene und das aller anderen Wesen – einen Sinn hat bzw. der seelischen Weiterentwicklung dient, eben mit dem Weg und dem Ziel der All-Einheit. Evt. haben sich die Seelen ihr jeweiliges Lebensschicksal sogar selber ausgesucht, um daran zu reifen. Im absurden Universum der Materialisten ergibt das allerwenigste Leid einen Sinn, der Evolution ist das Individuum gnadenlos egal, es leidet nur zufällig zur Erhaltung seiner Art. Im all-einen Universum der Spirituellen ist es genau umgekehrt – nichts passiert umsonst und ohne einen guten höheren Zweck.

(Wenn ich allerdings die Wahl habe zwischen dem ewigen Weg zur All-Einheit und dem endlichen Weg ins Nichts, dann ziehe ich letzteren vor – lieber ein ungerechtes Leben endgültig hinter mich bringen als ewig auf den gerechten Ausgleich warten!)

Die All-Einheit ist entweder das Jenseitsmodell ohne Gegenteil (Monismus des Geistes i.​S.​v. Pneuma bzw. Spiritus) oder das komplementäre Gegenstück zum Nichts der Realisten bzw. Materialisten (Dualismus von Matter&Spirit) – jedenfalls ist für den Idealismus bzw. Spiritualismus alles Sein im Grunde geistiges Sein; alles kommt ursprünglich aus der Substanz des höchsten bzw. absoluten Einen und geht früher oder später wieder darin auf, womit unser Menschendasein vorübergehende oder gar nur scheinhafte Emanation des All-Einen auf niedrigerer geistiger bzw. niedrigster materieller Ebene ist; für den Realismus bzw. Materialismus dagegen sind zahllose kleinste Partikel die Substanz von allem und das Menschentier deren höhere wenn nicht gar bislang höchste evolutionäre Organisationsform, etwas Emergentes oder gar Virtuelles, welches sich mit dem Tod in nichts auflöst.

Die All-Einheit ist erst das vierte hier vorgestellte Jenseitsmodell, aber ebenso wie das fünfte, sechste und siebte – und strenggenommen auch das zweite, die Hölle – ist sie nur ein Spezialfall gemessen daran, wie viele Menschen wirklich glauben, selbst einmal dort zu landen. Aus meiner lebenslangen Erhebung, welches Schicksal mein Gegenüber im Tod für sich erwartet, geht jedenfalls hervor: die Menschen glauben an ein Jenseits des Himmels oder an ein Jenseits des Nichts (sie selber würden in letzterem Fall sagen: "an kein Jenseits"). Nicht selten auch an beide, als doppeltes Netz über der Ungewissheit, wobei spätestens das zweite dann sicher halten soll; sie formulieren es etwa so: "Wenn es doch kein Paradies gibt, dann ist mit dem Tod halt alles vorbei – ich kann mit beidem leben.​" Als die christlichen Kirchen noch dominierten, glaubte man wohl v.​a. an Himmel und Hölle, heute aber glaubt man wohl v.​a. an Himmel und Nichts. So weit, so einfach. Trotzdem oder gar deswegen sind m.​E. auch die weiteren Jenseitsmodelle eine nähere Betrachtung wert.

Allerdings wird die Thematik der Jenseitsheorie spätestens ab hier recht schwierig, zumindest offen paradox. Weil aber auch in dieser vierten Jenseits-Szene noch ein arg patriarchalischer Stil vorherrscht, gibt es gängelnde Hilfe im Überfluss. Zahllose Bücher von zahllosen selbsternannten und/​oder anerkannten Meistern handeln vom Weg gen All-Einheit und werden zum Leidwesen der intellektuellen Literaturkritiker konsumiert wie kaum ein anderes Genre. Ein erster Hinweis auf das offen Paradoxe mag darin liegen, wie regelmäßig die Autoren dieser Bücher betonen, Bücherlesen sei auf der spirituellen Suche keine Hilfe.

Die All-Einheit wird dennoch, der Begriff legt es nahe, auf allen Ebenen des Seins angegangen – körperlich, seelisch und geistig. Logisch wird es hier alllerdings schwierig, denn die Sprache arbeitet i.​a. mit Gegensätzen, indem sie beide Seiten der jeweiligen Medaille gegeneinander abwägt. Über das All-Eine als Monismus ohne Gegenpol reden zu wollen, ist insofern evt. von vornherein müßig. Wer die Sprache in diesem Zusammenhang trotzdem in der üblichen Weise verwenden möchte, stammelt nur noch Unsinn, ist wie ein auf Spezialgebieten durchaus fähiger Handwerker, welcher nun auf dieses Generalprojekt mit völlig ungeeignetem Werkzeug losgeht, worüber der weise Zeuge solch vergeblichen Vorgehens schweigend schmunzelt.

(Ein praktikabler Weg jenseits des Schweigens: der von Wissbegierde geplagte Schüler beginnt immer wieder mit dem Versuch des sprachlichen Spezifizierens, der lächelnde Meister wendet ihm alles süffisant ins Gegenteil bzw. in eine entmutigende Gegenfrage. Gehorsame Schüler machen das so lange mit, bis sie selber Meister sein dürfen.​)

Das All-Eine ist das Ziel bzw. das Jenseits der Mystiker. (Nicht vielmehr ihr Weg bzw. ihr Diesseits?​). Ein Jenseits für religiös Fortgeschrittene – über der guten Seele rangiert der erleuchtete Geist. (Nicht vielmehr die Rückkehr zum diesseitigen Anfang? Was achtet der erleuchtete Geist höher als die gute Seele?​).

Während der Himmel noch exklusiv ist und so gewissermaßen im Dualen bleibt, indem er das Exkludierte der Hölle immer mitdenkt bzw. sich darauf bezieht, ist die All-Einheit inklusiv, alles enthaltend. Sie übersteigt alles Urteilende, und damit insbesondere auch die Sprache. Die Meister der Mystik enthalten sich also der prosaischen Mitteilungsversuche von All-Einheit – diese sei eine unbeschreibliche weil übersinnliche Erfahrung, die man nur selber machen könne.

Aber ich sage wohl nichts ganz Falsches, wenn ich, um einen Anfang zu machen, feststelle: in unserem mit den irdischen fünf Sinnen nur ausschnitthaft wahrgenommenen Leben zeigt sich nichts Ganzes. Alles Reale ist dem Idealen fern, ist immer nur ein schwaches und deshalb unbefriedigendes Zerrbild des Vollkommenen (vgl. etwa Platons Höhlengleichnis). Das All-Eine hingegen ist perfekt, es gibt keine Konkurrenz gegensätzlicher Lösungen, sondern von vornherein kein Problem. Es kennt keine räumlichen Perspektiven, alles zeigt sich von allen Seiten zugleich; und kein zeitliches Nacheinander, alles geschieht genau jetzt und immer. Transzendenz vom partikularen Irdischen zum holistischen Geistigen oder Göttlichen. Alles ist eins. (Oder das All-Eine hat paradoxerweise eben doch sein Gegenstück: das Nichts. Und noch paradoxer: dem Erleuchteten ist beides identisch! Im tiefsten Mysterium des Nichts liegt für ihn die höchste Erkenntnis des All-Einen.​)

Himmel und Hölle i.​S.​v. verabsolutiertem Glück und Unglück sind evt. die noch am leichtesten vermittelbaren Jenseitsmodelle. Nicht nur, dass viele Menschen nicht an das Nichts im Tod glauben – viele können es sich (zu meiner persönlichen Verwunderung) noch nicht einmal vorstellen, obwohl Tiefschlaf, Ohnmacht, Vollnarkose etc. doch vergleichsweise gängige Erfahrungen sind. Und noch mehr Menschen fehlt die Erfahrung einer Bewusstseinserweiterung bis hin zum ozeanischen Gefühl, welches das dieseitige Pendant zum jenseitigen All-Einen bildet. Wer sie kennt, ist um klare Worte jedoch verlegen, sagt etwa, es fühle sich an wie am ontogenetischen Anfang des im Mutterbauch heranreifenden Embryos bzw. wie am phylogenetischen Anfang des Urlebens im Ozean, bevor alles kompliziert zu werden begann.

Die Trennung von Ich und Nicht-Ich bzw. Ich und Welt kann schon im irdischen Leben zumindest für kurze Zeit mit mannigfaltigen Techniken weitgehend rückgängig gemacht werden bzw. ist in vielen psychischen Ausnahmezuständen weitgehend aufgehoben. Wobei falsch angewandte Techniken sowie unwillkürlich auftetende psychische Ausnahmezustände statt zu ich-syntonen (also gewollten) auch zu ich-dystonen (also ungewollten) Zuständen und statt zur genannten Bewusstseinserweiterung auch zur gegenteiligen Bewusstseinsverengung führen können; evt. ist es sogar unabdingbar, dass die Reise gen All-Einheit nicht nur aus Good Trips, sondern auch aus Bad Trips besteht. Einige Stichworte: Meditation, Traum, Klartraum, hypnagoger/hypnopompischer Übergang beim Einschlafen/Aufwachen, Hypnose, Trance, Lethargie, Hypervigilanz, Ekstase, Hysterie, Endorphine, psychoaktive Substanzen, Mind-Machines, Reizdeprivation bzw. Reizüberflutung, Sauerstoffmangel, Hyperventilation, Schock, Trauma, Halluzination, Delirium, Folter, Gehirnwäsche, Gehirnschlag, Stupor, Koma, Hirn-Tsunami, falsche Erinnerungen, Dissoziation, Derealisation, Depersonalisation, Regression, psychotischer Schub, außerkörperliche Erfahrung, Nahtoderfahrung u.a.m.

(Veränderte Bewusstseinszustände bzw. VBZ oder Altered States of Consciousness bzw. ASC, wie die Wissenschaft sie nennt, gelten bei den Realisten aus dem vorigen Kapitel Nichts bestenfalls als vorübergehende Fehlfunktionen einer intakten Wahrnehmung. Betroffene verschweigen sie lieber, denn gesellschaftlich hält man sie schnell für unzurechnungsfähig bis behandlungsbedürftig. Abgesehen von einer Phase in der Jugend, wo man evt. die ein oder andere Droge ausprobiert, geht die aufgeklärte Gesellschaft zumindest offiziell auf Abstand zu den veränderten Bewusstseinszuständen, außer vielleicht zu deren hedonistischer Feierabendversion via Alkohol. Selber sehr zur Vorsicht neigend kann ich das zwar verstehen, aber trotzdem sollten wir diejenigen, welche freiwillig als Psychonauten oder unfreiwillig als Patienten andere Welten kennengelernt haben, lieber neugierig befragen als sie ängstlich meiden, und unseren Horizont auf diese Weise erweitern, auch hinsichtlich möglicher Jenseitsmodelle.)

Für die meisten Menschen in der westlichen Gesellschaft endet der Weg durch die Jenseitsvorstellungen heute jedoch wie gesagt spätestens mit dem Vertrauen auf das Nichts im Tod. Himmel&Hölle bzw. Nichts sind sozusagen die altbewährten Basismodelle – wer weiter wandert, hat dafür meist spezielle Gründe.

Beispielsweise eine Sehnsucht zurück zur schönen Ewigkeit. Wer nicht von der fortschrittlichen Antithese des modernen Realismus in die traditionelle These des Gottesglauben zurückfallen möchte, der schreitet vielleicht noch einmal fort, zur Synthese der Ganzheitler. Der heutige Spirituelle möchte die traditionellen Bekenntnisse der Religionen (Plural!​) und die modernen Erkenntnisse der Wissenschaften zusammenfügen.

"Religionen trennen, Spiritualität verbindet" – im Diesseits gibt es viele konkurrierende bis verfeindete Religionen, aber angeblich nur eine Spiritualität; und während Religionen auch mit der jenseitigen Trennung in Himmel und Hölle drohen, postuliert Spiritualität die All-Einheit. (Der spiritualistische Versuch, jedwede sich dazu in Opposition fühlende Bewegung geistig einzugemeinden, dürfte von diesen jedoch zumindest als lästig empfunden werden.​)

Die mystische bzw. spirituelle Weltsicht ist i.​a. zyklisch statt linear, am Ende steht wieder der Anfang der All-Einheit. Statt einmaliges Leben und endgültiges Nichts sieht der Mystiker bzw. Spirituelle im Wechsel von Leben und Tod immer weitere Transformationen, in der Entwicklung bzw. Evolution sowohl des Individuellen wie des Kollektiven sieht er statt einer endlichen Strecke mit Start und Ziel vielmehr eine sich ewig aufwärts windende Spirale.

Den Menschen sehen die Ganzheitler auf dem Weg zunehmender Einsicht in diese universelle Wahrheit, auf dem Weg zum endgültigen Verständnis von gar allem ("Alles verstehen heißt alles verzeihen"), zur Erleuchtung. Die Weltseele bzw. das allgemeine Bewusstsein auf dem Weg zur absoluten Identität mit sich selbst. Das Werden Gottes bzw. die vollkommene Selbstoffenbarung des Universums und unser aller Aufgehen in ihm als Sinn des Lebens. Das Diesseits perfektioniert sich zum Jenseits.

Im Gegensatz zum traditionellen Monotheismus mit seiner Gottesdienerei und seinem verzögerten Lohn für devotes Wohlverhalten verspricht die All-Einheit gewissermaßen nicht weniger als die eigene Gottwerdung – statt hier der große Gott und da der kleine Gläubige soll das Größte und das Kleinste, das Herrschen und das Dienen in eins fallen.

(Die große Mehrheit der Menschen, welche die Unio Mystica anstreben, meinen, dies müsse auf eine rein geistige Weise geschehen. Allerdings gibt es auch materialistisch-technol­ogische Utopien, z.​B. die Omegapunkt-Theorie nach Tipler: in einem transhumanistischen Evolutionsschritt soll alles, was jemals gelebt hat, in Form der ultimativen Maschine wiederauferstehen.​)

Ebenso wie die himmelsgläubigen Monotheisten erstreben die All-Einheits-gläubigen Pantheisten eine Karriere im ewigen Dasein – nur ist bei ihnen diese z.​B. per Reinkarnation auf viele, wenn nicht zahllose individuelle Existenzen verteilt. Statt nach nur einem einzigen irdischen Leben per Jüngstes Gericht abrupt im Himmel oder in der Hölle zu landen, arbeiten sich die Ganzheitler in vielen Leben kontinuierlich zum Optimum empor (evt. gar mit der Möglichkeit, sich zwischendurch auch wieder für ein oder mehrere Leben zum Pessimum verkommen zu lassen).

Ein weiterer von den o.​g. speziellen Gründen, den Realismus hinter sich zu lassen: man trifft mit einem nicht oder nicht nur auf die technologische bzw. schulmedizinische Weise kurierbaren Leiden auf ganzheitliche Heiler spiritueller Weltanschauung, etwa auf einen schamanischen Heilpraktiker. (Das Heilen i.​S.​v. Heilmachen bzw. Ganzmachen ist grundsätzliches Anliegen der Ganzheitler. Alles Übel liegt in der Abspaltung, der Heiler integriert das Vereinzelte wieder ins Gesamte, verhilft ihm wieder zu seiner angestammten Rolle im System.​)

Bei mir waren der Auslöser für besagten Schritt weg vom Realismus die auf mich "hyperreal" wirkenden Erinnerungen an eine lange zurückliegende Nahtoderfahrung. Erst mit Ende zwanzig war ich so weit, in meinem Kopf die Bilder eines Ereignisses wieder zuzulassen, welches sich ereignet hatte, als ich drei Jahre alt war (siehe Anhang).

Bis vor kurzem wurde man beim Nachforschen zum Thema Nahtoderfahrung in der Medienlandschaft fast ausschließlich von den Spirituellen abgeholt. Mit dem aktuell rapide zunehmenden Interesse an solchen Bewusstseinszuständen auch von Seiten der Philosophie des Geistes (Philosophy of mind, hervorgegangen aus der analytischen Philosophie) und den Neurowissenschaften sowie der beide kombinierenden Neurophilosophie ändert sich das langsam. (Neue Erkenntnisse finden sich eben v.​a. bei der Untersuchung des Außerordentlichen – im 19. Jahrhundert waren bei den Empirikern noch rare Geistersichtungen en vogue, heute sind es rare Hirnschäden.​)

Die jenseitige Einheit erwarten sich verschiedene Schulen auf verschiedenen Wegen. Das philosophische Gegenstück zu den im vorigen Kapitel Nichts behandelten Realisten sind die objektiven Idealisten, welche nicht Stoff bzw. Materie, sondern Form bzw. Idee als das Grundlegende der Welt erachten. Aber egal welcher objektiv-idealistischen Provenienz, vom Platoniker über den Geistesphänomenologen bis zum logischen Positivisten, deren Jenseitsmodelle, wenn auch immer weniger thematisiert, allmählich von der All-Einheit zum Nichts des vorigen Kapitels bzw. zum Ungewissen des nächsten Kapitels überzugehen scheinen – auch alle originär westlichen Idealisten zusammengenommen sind sogar samt den westlichen Mystikern noch die Minderheit. Mehrheit sind heute die insbesondere auf die New-Age-Bewegung zu Zeiten der Hippie-Ära zurückgehenden Spirituellen mit einer Art US- oder Euro-Neobuddhismus, voll von rosarotem Optimismus und aktionistischem Drang einer westlichen Karriere zur östlichen Erleuchtung.

(Es mag grob wirken, in diesem Kapitel All-Einheit z.​B. objektive Idealisten und Mystiker in einen Topf zu werfen – man hätte aus diesem Kapitel All-Einheit auch zwei machen können, also insgesamt acht Gruppen bilden können statt sieben: Theisten mit einem gütigen Gott und Theisten mit einem rachsüchtigen Gott, Realisten und objektive Idealisten, Mystiker und Skeptiker, sowie die von mir heute favorisierten subjektiven Idealisten bzw. (Inter-)Subjektivisten mit dem Ich und mit den Anderen im Fokus. Aber ich habe bezüglich der Jenseitsmodelle, um die es hier ja schließlich geht, keinen grundsätzlichen, zwei verschiedene Jenseitskategorien rechtfertigenden Unterschied zwischen den objektiven Idealisten und den Mystikern feststellen können. Sofern Erstere überhaupt ein konkreteres Jenseitsbild haben und nicht das Nichts oder das Ungewisse erwarten, ist ihr mathematisches Universum wunderbar durchstrukturiert – soviel scheinen viele Adepten der heutigen Formalwissenschaften mit den alten Metaphysikern gemein zu haben. Ich habe den Eindruck, die objektiven Idealisten setzen ihr Vertrauen ins Universum als Ganzes, während die Realisten mit den rechten Dingen, mit denen alles zugehe, eben wirklich nur die Dinge meinen.​)

Ganzheitler lieben die Symmetrie und "finden" sie überall; bei ihnen hat prinzipiell jedes sein komplementäres i.​S.​v. ergänzendes Gegenstück. In der homöopathischen Medizin nach Hahnemann entspricht von Natur aus jeder Krankheit genau ein Heilmittel, welches beim Gesunden dieselben Symptome hervorruft wie die Krankheit (Simile-Prinzip); die Physik nach Charon postuliert statt der realen eine komplexe Raumzeit, dem materiellen Realteil entspricht sein geistiger Imaginärteil. Und während die materielle Entropie in der Welt immer weiter wächst, nimmt die geistige Entropie auf dem Weg zur All-Einheit immer weiter ab. Von der positivistischen Schulwissenschaft werden solche Theorien i.​d.​R. als Pseudowissenschaft abgelehnt.

Beim Lesen spiritueller Literatur bekomme ich oft den Eindruck, das Wassermannzeitalter als großer Ruck hin zur All-Einheit solle sich ausgerechnet am Prüfstein der modernen Physik erweisen. Man wird nicht müde, die nachklassische Physik (Relativitätstheorie, Chaostheorie, Quantentheorie, Stringtheorie etc.​) als voll von Belegen für die spirituelle Weltsicht zu feiern. Obwohl im Spiritualismus nach Art der Gnosis die materielle Seite der Welt eher als die böse und die geistige Seite der Welt eher als die gute gilt, wollen sich die Spirituellen v.​a. neben der Physik statt als alte Geisterseher als neue Holisten präsentieren, die zur weniger beliebten Finsternisseite (physikalische Materie, Teilchen, Masse etc.​) und der beliebteren Lichtseite (mathematischer Geist, Wellen, Energie etc.​) die Synthese vorantreiben. (Vergleichbares gilt für das spirituelle Verhältnis zur Biologie bzw. Evolutionstheorie. Die Evolutionswissenschaftl­er sehen den Menschen ja aufgrund seiner Fähigkeit zu immer weitergehenderer Kooperation als das erfolgreichste Tier an – das All-Einheits-Modell der Mystiker bedeutet in diesem Sinne die ultimative Kooperation von allem.​)

Auch in Zeiten aufgeklärter Nüchternheit behalten Weltanschauungen mit dem Jenseitsmodell der All-Einheit mehr Gewicht als man zuerst denken sollte. In der Geschichte der Wissenschaften finden sich bis zum heutigen Tag viele große Namen, die dem inzwischen überwiegend vertretenen Materialismus samt seinem angestammten Jenseitsmodell der endgültigen Bewusstlosigkeit nicht beipflichten, mit z.​T. philosophisch ausgefeilten Argumenten. Und auch Namen, mit denen man vielleicht Physik im Sinne eines materialistischen Monismus assoziiert, z.​B. Kepler oder Newton oder Einstein, stehen bei näherem Hinsehen für eine dualistische oder geistesmonistische Weltsicht, in der sich alles zur ewigen harmonischen Einheit fügt.

Nach dem Gott der mystischen bzw. transzendenten Erfahrbarkeit wäre hier noch der qua Vernunft zu erkennende Gott zu nennen, an den viele Rationalisten glauben. Er hat eine perfekte Welt geschaffen, in die er nicht mehr eingreift (Deismus statt Theismus) oder ist ihr passiv immanent (Pandeismus statt Pantheismus) oder sowohl immanent als auch transzendent (Panentheismus). Der Offenbarungsreligion mit ihrem personalen Gott, dem menschgewordenen Sohn und den Schriften der Propheten steht hier Gott als Weltprinzip bzw. Weltsubstanz gegenüber, wie ihn Spinoza bzw. der Spinozismus beschreibt, oder die sog. natürliche Religion der Aufklärer (zumindest der frühen Aufklärer – viele der heute die Tradition der Aufklärung Hochhaltenden sehen den mit der Welt identischen Gott des Pantheismus als Vorform oder höfliche Umschreibung des Atheismus aus den Zeiten einer noch allzu mächtigen Kirche). Auch im Intelligent Design der Kreationisten steckt etwas von dieser Auffassung, dass sich Gott dem erkenntnisfähigen Menschen v.​a. durch die Perfektion seiner Schöpfung offenbare, welche unmöglich Zufall sein könne.

(Mir als Pessimisten läuft es allerdings kalt den Rücken runter, wenn Kreationisten, Pantheisten und Atheisten einhellig von der Ästhetik natürlicher Formen schwärmen, während die allermeisten in die Existenz dieser Welt geworfenen Wesen unsagbar leiden müssen. Es hat m.​E. etwas sehr Zynisches, inmitten einer qualvollen Welt entrückt auf ihre perfekte Geometrie zu starren. Aber um es in der Sprache und auch im Sinne der Math&Science-Nerds zu sagen: manche haben halt einen präfrontalen Cortex, der ihr limbisches System schon weit hinter sich gelassen hat.​)

Sympathisch sind mir die Lehren von der All-Einheit insbesondere da, wo sie das Patriarchalische des Monotheismus hinter sich lassen, als vaterlose Religionen sozusagen: Emanation aus dem All-Einen statt väterliche Creatio ex nihilo, selber ins All-Eine transzendieren statt Versöhnung seitens des gnädigen Herrn etc. Die stete Karriere unserer Vergeistigung über eine Kette von Wiedergeburten hinweg, wie sie Platonismus und östliche Weisheitslehren annehmen, kommt mir jedoch sehr unwahrscheinlich vor.

Zumindest um die logisch schwer greifbare All-Einheit in mein Ranking der Jenseitsmodelle einzuordnen (siehe Nachwort), muss ich sie enger fassen und wähle hierzu eine Eigenschaft der spirituellen Weltanschauung als die m.​E. primäre aus: Hierarchismus. Die All-Einheit, wie sie in zahllosen Esoterikbüchern beschrieben wird, erscheint mir als hierarchisches Kollektiv, als Armee Gottes mit höheren Wesen unterschiedlichen Ranges, wobei der im Streben nach Erleuchtung bisher erreichte Rang z.​B. durch die Farbe der Aura codiert ist (Wilber, "A Theory of Everything"). Beim Loslassen des Ich geht es anscheinend wie beim Militär um Entindividualisierung – geistige Uniformierung geboten, geistige Alleinstellungsmerkmale verboten. (In gewisser Weise steht der All-Einheits-Glaube gar für das Gegenteil meines Pessimismus, behauptet er doch, dass entgegen dem Anschein alles gut sei in der Welt, wie sie ist – es fehle einzig die Erleuchtung, das zu erkennen. Wenn man nur das Ich losließe, das der Welt entgegensteht, sei man sogleich im Himmel.​)

Obwohl All-Einheit zuerst so egalitär klingt, gehen ihre Anhänger wie gesagt i.​a. von einer kosmischen Karriere aus, im Laufe derer sie spirituell immer weiter wachsen, im devoten Dialog mit diesseitigen Meistern oder gar jenseitigen Guides, sowie evt. im despotischen Dialog mit eigenen Schülern. Die All-Einheits-Lehre steht i.​a. affirmativ (statt kritisch) zum vertikal orientierten (statt horizontal orientierten) System der Gemeinschaft aller Wesen im Universum. Man will in der Ordnung der niederen und höheren Wesen immer weiter aufsteigen, mithilfe der demütig verehrten höheren Wesen selber ein höheres Wesen werden. Vielleicht tue ich manchem Mystiker hier unrecht, dessen Lehre ich logisch nicht nachvollziehen kann, aber was die Mehrzahl von Spirituellen und Esoterikern angeht, liege ich mit meiner Einschätzung wohl richtig.

Die spirituelle Krankenschwester wünscht sich als nächsten karmischen Karriereschritt etwa, im Diesseits als Ärztin oder gar im Jenseits als Engel zu dienen. Der Spirituelle erscheint mir als Konformist in einer Diktatur des Höheren, er sieht den menschengemachten politischen Herrschaftssystemen ein natürliches, göttliches – oder wie auch immer die wahre Macht genannt wird – Herrschaftssystem übergeordnet, und zumindest mit letzterem ist er ganz und gar einverstanden, er will darin aufsteigen, indem er sich wohlverhält bzw. alles richtig macht. (Aber je gebildeter der Anhänger des All-Einheits-Glaubens, desto verbrämter wird er seine Machtambitionen artikulieren – wie schon der im Kapitel Himmel genannte Papst, welcher als leuchtendes Vorbild stets den bescheidenen Eindruck aufrecht erhalten muss, er sei des Aufhebens um seine Person nicht würdig.)

Die für sich genommen in der Regel ungerecht erscheinende Hierarchie des irdischen Daseins ist für den All-Einheits-Gläubigen eingebettet in eine höhere, um ein Jenseits ergänzte, gerechte Hierarchie. Aus dieser will sich jener gar nicht emanzipieren, er ist pro Hierarchie, sobald er sie als gerecht erachten kann. Ich persönlich bin contra Hierarchie, selbst gegen eine gerechte.

(Doch zumindest ist eine Spiritualität mit dem Ziel All-Einheit ein echter Fortschritt gegenüber der monotheistischen Religion mit ihrem allgerechten Gott, welcher am Jüngsten Tag die Guten auf ewig in den Himmel und die Bösen auf ewig in die Hölle schickt. Eine Kette von Wiedergeburten in Richtung All-Einheit, welche sich die Seele sozusagen erarbeitet, erlaubt da schon ungleich differenziertere Schicksale.)

Ich bin pro Emanzipation – in einem sich entziehenden, quietistischen Sinne, nicht in einem rebellierenden, aktionistischen Sinne, nichtsdestotrotz in einem sehr weitgehenden Sinne, nämlich Emanzipation aus allen Machtverhältnissen. Praktisch halte ich mich deshalb schon heute aus allem vermeidbaren hierarchischen Hickhack heraus, will lieber eine Art Solipsist sein, wenn auch dessen passive Version als eremitischer Asket, der die Welt nicht wie die Stirnersche aktive Version als sein Eigentum ansieht bzw. sich untertan machen will. Theoretisch wäre mir das sogar für alle Ewigkeit lieber als der ewige hierarchische Weg zur All-Einheit. Noch lieber wäre mir der Zustand meines Nichtseins, welcher jenseits aller Macht liegt (sofern es nicht auch dafür einen Gott braucht, der fürderhin auf meine Erschaffung verzichtet bzw. mein Nichtsein bewacht). Und am liebsten wäre mir der horizontale, geschwisterliche Himmel ohne alles Oben und Unten.

Ich lehne mich einmal weit aus dem Fenster und bezeichne auch den spirituellen Karrierewunsch gen All-Einheit als politisch gesehen "rechte" Haltung eines konservativen Hierarchismus, wie er schon den traditionellen Religionen zu eigen ist, die im All-Einheits-Glauben zusammenfließen. Dem eher aufklärerischen Egalitaristen kann jener kaum erstrebenswert sein, es sei denn im Vergleich zum blinden Zufall, zum völlig Ungewissen oder zur reinen Hölle.

Die religiöse Tradition stellt den selbstlosen Gehorsam heraus, der Realismus bzw. Pragmatismus den eigenmächtigen Gestaltungswillen; die Spirituellen wollen in einem immer größeren Spagat zugleich dienen und herrschen, sie bejahen beides; während ich als Nihilist im Schopenhauerschen Sinne beides verneine.

Aber immerhin kann man sich mithilfe der theoretischen Überlegungen des Mystikers Cusanus das vertikale System sogar genau hier und jetzt als ein gerechtes denken: geht es nach oben und nach unten unendlich weiter, dann rangiert jeder von uns, wie mächtig oder gering er auch scheine, immer genau in der Mitte.

In der Mystik, wo selbst ein allmächtiger monotheistischer Gott in paradoxer Weise nicht nur die höchste, sondern zugleich auch der niedrigste Stellung innehat, also nicht nur für die größte Macht, sondern zugleich auch für die größte Ohnmacht steht, ist für uns Menschen sogar das zu Beginn des Kapitels Himmel erwähnte Problem der Ungerechtigkeit, nicht Gott zu sein, ein für alle Mal gelöst.

Trotzdem: auch in Kenntnis solcher mystischen Tröstungen bleibt meine Sehnsucht nach dem horizontalen Himmel für alle – statt Allversöhnung also Allverbrüderung oder vielmehr Allverschwesterung! – und die sichere Intuition, die vertikale Welt mit ihrem ausbeutenden Oben und ausgebeuteten Unten sei im Endlichen oder sogar im Ewigen ungerecht.

Heute, als geübterer Pessimist, denke ich beim i.​a. positiv gewerteten Jenseitsmodell der All-Einheit auch gleich an das diametrale Gegenmodell: statt eines werdenden Gottes bzw. schließlicher Allversöhnung / Allerlösung ein vergehender Gott bzw. schließliche Allverdammung / Allverdammnis. (Genauer gesagt: die All-Einheit ist eigentlich die allumfassende Synthese ohne Gegenteil, der Monopol inmitten der Dipole Himmel&Hölle, Nichts&Ungewisses, Ich&Andere, vgl. die in der Einleitung beschriebene dreidimensionale Figur; sieht man die All-Einheit jedoch zum Jenseitsmodell der Allversöhnung verengt, dann hat sie doch ein Gegenteil.)

Mindestens jedoch erscheint mir die Summe über alles Bewusste (ob nun alles zugleich bzw. parallel oder alles nacheinander bzw. seriell) als eine sehr leidvolle. Verstanden als ein aus allen Einzelschicksalen gemitteltes, unterschieds- bzw. differenzloses Gemeinschicksal klingt das Jenseitsmodell des All-Einen für mich noch weit unangenehmer als die Vorstellung, für immer und ewig ich selbst bleiben zu müssen, so wie ich es jetzt und hier gerade bin (demnach wäre all-ein noch schlimmer als allein, vgl. den Solipsismus im übernächsten Kapitel Ich).

Insofern erinnert mich das Jenseitsmodell der All-Einheit an den philosophischen Versuch, sich das Leben im Allgemeinen vorzustellen – nicht mein Leben, sondern das Leben. In die All-Einheit einzugehen hieße somit, statt mein eigenes (sic!​) Leben zu leben, das Leben zu leben, wie es nun einmal allgemein von den Lebewesen im Großen und Ganzen gelebt wird.

Die wirklich interessante Frage, welche sich dann stellt, ist eine Probe aufs Exempel für die eigene Moral: wäre ich bereit, im Tausch gegen ein viel schlimmeres Durchschnittsschicksal, welches aber für alle Seienden dasselbe ist, meinen individuellen Seinsvorteil aufzugeben? Theoretisch ja – praktisch reiner Wahnsinn, vergleicht man die kleine Menge an Gutem mit der großen Menge an Schlechtem in dieser Welt.

(Dem Argument, die All-Einheit als Dasein auf dem Niveau der Allgemeinheit sei kaum wünschenswert, weil dies extrem viel mehr Leid als Freude bedeute, würden die Spirituellen so wohl nicht zustimmen. Ich nehme an, einige würden das Niveau des allgemeinen Daseins evt. jetzt schon optimistisch beurteilen, aber alle wären optimistisch hinsichtlich der Zukunft, würden entweder eine langsame aber sichere Entwicklung hin zum Guten postulieren oder gar einen Quantensprung in naher Zukunft prophezeien, weil wir ja nun das Wassermannzeitalter, die Neue Physik usw. erreicht hätten.​)

(In dieser Hinsicht – optimistische Beurteilung der weiteren Entwicklung ohne absolutes Maß – ist die spirituelle Welt übrigens der wissenschaftlichen sehr ähnlich: auf die Frage, wie nahe man der Erleuchtung bzw. der Wahrheit denn auf einer Skala von 0 bis 100 schon gekommen sei, gibt es keine Antwort. Meine pessimistische Vermutung, man sei etwa bei 1 und laufe asymptotisch auf 2 zu und käme niemals bei 3 geschweige denn bei 100 an, würde nur ein dünnes Lächeln ernten – vom absoluten Stand der Dinge lässt sich ein Optimist eben nicht entmutigen. Das nicht behebbare Leiden auf der Welt möglichst empathielos ausblenden zu können, obwohl es das behebbare Leiden tausendfach übertrifft, das ist die Kunst der optimistischen Aktionisten, vgl. das sog. Gelassenheitsgebet: "Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.​")

Aber auch schon damals, lange bevor ich mir so pessimistische Gedanken über die All-Einheit gemacht hatte, bekam ich Probleme mit diesem Jenseitsmodell. Psychologisch hat die Beschäftigung mit der All-Einheit nämlich etwas verstörend Gigantomanisches. (So erkläre ich mir auch die Affinität der Ganzheitler zur Quantenmechanik: wenn sich da etwa mit jeder beobachteten Ablenkung eines Elementarteilchens das Universum vervielfacht, oder durch Quantenverschränkung über beliebige Entfernungen "alles mit allem" unmittelbar zusammenhängt, dann ist das ganz nach deren gigantomanischem Geschmack.​) Spirituelle Schulen müssen viel über Methoden der "Erdung" reden. Im alltäglichen Leben wirken Spirituelle oft abgehoben bzw. exaltiert, ihre Ansichten werden belächelt oder mit Augenrollen quittiert.

Spätestens im Altersheim, angesichts der Siechenden und Sterbenden, die i.​d.​R. eben nicht kurz vor der Erleuchtung, sondern kurz vor der völligen Regression zum Animalischen stehen, bekommen die esoterischen Kommentare vom halb erleuchteten Pflegepersonal zum Thema Tod etwas Verzweifeltes, krampfhaft dem positiven Denken Anhängendes, Unwahrhaftiges.

Auf der Ebene des logischen Denkens ist die Coincidentia Oppositorum, das Ineinsfallen der begrifflichen Gegensätze, geradezu ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand – oder was der Rationalist für gesunden Menschenverstand hält. Exzessives Meditieren über logisch paradoxe Koans oder das Lesen langer Schriften von Mystikern, welche monoton die Identität des Verschiedenen durchformulieren, wirken wie ein Trip, auf dem man evt. auch hängen bleiben kann. (Mag sein, dass beständiges Triezen mit logischen Widersprüchen, die den Verstand normalerweise schwindelig machen, eine Abhärtung desselben bewirken kann, vergleichbar einer Stählung des Körpers in östlichen Kampfsportarten durch ewig wiederholte Schläge auf dieselben Nervenenden. Aber ich mag derlei desensibilisierende Techniken nicht – die sensibleren Menschen sind m.​E. die besseren.​)

Die spirituelle Weltanschauung ist im Kern irrational bzw. intuitiv, will das rationale bzw. wohlüberlegte Gegenteil im besten Fall aber durchaus integrieren – alles umarmen, nichts ausgrenzen. Die mystische Tradition beinhaltet jedoch auch eine z.​T. regelrecht denkfeindliche Haltung, im schlimmsten Fall wird der Kopf als zu besiegender Widersacher des Herzens bzw. des Bauchs angesehen. Für die Entspannungsübungen im Yoga-Center gegenüber von der Universität mag das o.​k. sein – Meditationstechniken, welche das Weiterverfolgen bzw. Anhaften von Gedanken abtrainieren, bieten evt. einen guten Ausgleich für diejenigen, welche mit dem Grübeln überhaupt nicht mehr aufhören können. Aber als weltanschauliche Empfehlung für eine gute Zukunft der Menschheit hat eine das logische Denken tilgen wollende Coincidentia Oppositorum aus meiner Sicht etwas Bedrohliches.

Generell bin ich zwar Pessimist im Sinne der Feststellung, dass das Schlechte das Gute bei weitem überwiegt, aber durchaus partiell kulturoptimistisch in dem Sinne, dass vernünftiges menschliches Denken die kleinen weißen Punkte auf der großen schwarzen Fläche auch größer machen kann. Oder andersrum formuliert: ich bin Pessimist auch und v.a. der Natur und dem Emotionalen gegenüber, nicht nur Kulturpessimist in dem Sinn, dass ein beherztes "Zurück zur Natur und den Gefühlen!" das Leben wieder gutmachen könnte. Im Gegenteil: für den Versuch der Kultur, die ethisch grausam-gleichgültige Natur denkend zu korrigieren, bringe ich eine Menge Verständnis auf. Schwierig wird es dann beim Machen: die meisten Versuche der Macher gehen in blindem Aktionismus gewaltig nach hinten los.

Ich bin Irrationalist, indem ich feststelle, dass die Unvernunft auf der Welt systematisch triumphiert, aber Rationalist, indem ich mir wünsche, dass immer mehr logisch nachgedacht statt intuitiv gehandelt werden möge. Das Spielen mit dem Ineinsfallen bzw. -setzen sprachlicher Begriffsdyaden bleibt m.​E. besser den Dichtern überlassen, mit derlei Lehrsätzen als esoterisch-spirituelle Nachfolger für die alten religiös-dogmatischen Offenbarungen wäre m.E. kaum etwas gewonnen. Allerdings sollte sich auch das logische Denken nicht zum nächsten Maß aller Dinge erklären bzw. zur logozentristischen Dogmatik aufschwingen. Insbesondere wenn aus Logik Wissenschaft resultiert und aus Wissenschaft Technologie, mit der dann Kaufleute die Welt überschwemmen.

(Das dialektische bzw. logische Denken, dem ich anhänge, ist nicht etwa ein formales Herleiten bzw. strenges Ausrechnen, sondern einfach das argumentative Abwägen zwischen dyadisch-gegensätzliche­n Anschauungen bzw. das entscheidungswillige Auffinden und Vertreten der je überzeugenderen von beiden, z.​B. den Pessimismus gegenüber dem Optimismus. Der Ismus steht dabei jeweils für die individuelle Meinung über das Allgemeine, etwa "Skeptizismus: das menschliche Nichtwissenkönnen überwiegt m.​E. das Wissenkönnen bei weitem" oder "Subjektivismus: das Bewusstsein ist m.​E. unhintergehbar, es gibt kein Ding an sich". Mit Dialektik meine ich nicht die Synthese der Gegensätze nach Hegel, ebenso wenig meine ich mit Logik das analytische Philosophieren als streng formales Erretten der Sprache aus mystischer Verbrämung – das Ad-Absurdum-Führen der Ismen durch die in jedem davon auffindbare Paradoxie, etwa "Der Skeptizismus verstößt gegen seine eigene Prämisse" oder "Der Subjektivismus impliziert seine objektive Gültigkeit", hält mich nicht davon ab, meine Philosophie weiterhin als Suche nach den die Welt m.​E. am treffendsten beschreibenden Ismen zu betreiben. Und das mittige Balancieren zwischen den jeweils gegensätzlichen Ismen, wie die Ganzheitler es bevorzugen, halte ich eher für Philosophievermeidung denn Philosophie.​)

Gier bzw. Anhaftung an die weltlich-materiellen Güter, Eigennutz i.​S.​v. engstirnigem Vorteilsstreben auf Kosten der Anderen etc. sind die zu überwindenden Irrtümer des irdischen, fleischlichen Lebens. Der spirituelle Weg besteht im Loslassen des Egos. Dieser "Hermeneutik des Vertrauens" (Ricoeur) stellt das folgende Kapitel Ungewisses und fast ebenso das Kapitel Andere eine "Hermeneutik des Verdachts" gegenüber, welcher ich als Pessimist viel eher zustimmen kann.

(Noch gar nicht behandelt habe ich die negative Spiritualität bzw. negative Esoterik, welche ihr Hauptaugenmerk auf dunkle Mächte legt. In ihrer reißerischen Version erinnert sie stark an die Literaturgenres Horror, Fantasy, Science Fiction, Spionage- und Katastrophenthriller: da wimmelt es von strafenden Göttern und bösen Geistern, feindlichen Invasionen aus dem All, uralten Geheimbünden und ihren Weltverschwörungen, einem mannigfaltigen pandemischen Siechtum, für das die Schulmedizin blind ist, und immer mal wieder prophezeit ein Guru die Apokalypse auf den Tag genau. Einschlägige Abwehrmaßnahmen gegen diese Heimsuchungen biblischen Ausmaßes werden von den monotheistischen Kirchen wiederum als abergläubischer Gegenzauber verdammt, wobei die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube doch recht willkürlich anmutet: so gehört etwa Teufelsaustreibung bzw. Exorzismus sehr wohl zum katholischen Glauben, sog. Besprechen von Krankheiten hingegen zum heidnischen Aberglauben. Auf höhere Mächte, die einem Gutes oder Böses wollen, komme ich im Anhang über Nahtoderfahrungen noch einmal zurück.​​​​​​​​​​​​​​​​​)

Die extreme Zurückhaltung gegenüber dem westlichen Aktionismus, welche die heute als Gegenprogramm willkommen geheißene östliche Mystik auszeichnet, finde ich durchaus angebracht. Die jainistische Vorsicht etwa, selbst kleinsten Tieren kein Leid anzutun, nimmt zwar z.​​T. sehr dogmatische Formen an, ist mir in ihrer Grundidee der Gewaltlosigkeit aber hochsympathisch. Auch ich will eine Art Mönch sein, so passiv wie möglich bleiben, indem ich so gründlich wie möglich vordenke – allerdings logisch bzw. dialektisch vordenke – und falsches Handeln dadurch vermeide. Ich befürworte und praktiziere den schmuddeligen bis asketischen Öko-Lebensstil, also Verzicht auf ethisch und ökologisch abzulehnende Waren und Verhaltensweisen, soweit es mir irgend möglich ist bzw. sinnvoll erscheint. (Maßvolle pflanzliche Bio-Kost mit sparsamen tierischen Ergänzungen, so das Tierwohl ausreichend Berücksichtigung findet, keine Wegwerfprodukte, kein Auto, keine Flugreisen etc.​​)

Beneidenswert am Lebensweg von spirituellen Menschen, welche ich persönlich kenne, finde ich die oft deutlich spürbare Abwesenheit einerseits von realistischer Torschlusspanik und andererseits von realistischer Resignation, was sich aus der Überzeugung ergibt, dass man einerseits für die individuelle Entwicklung gen All-Einheit über viele Wiedergeburten hinweg alle Zeit der Welt hat (was nicht in diesem Leben gelingt, gelingt dann eben im nächsten oder übernächsten), andererseits die Chancen der eigenen Entwicklung, welche sich im aktuellen Leben ergeben, begeistert nutzen sollte, weil man ja genau dafür auf der Welt ist. Zwiespältig empfinde ich die größere Gelassenheit der Spirituellen gegenüber moralischen Verfehlungen, insbesondere im Vergleich zu den traditionellen Monotheisten, eben weil nach der Wiedergeburtslehre auch speziell für die moralische Entwicklung einer Seele ungleich mehr Zeit bleibt als nur bis zum nächsten Tod.

Falls es in der Jenseitsforschung nach Art der Mystik darum gehen müsste, das gegensätzliche Denken zugunsten einenden Om-Summens loszulassen, dann läuft meine Suche ab hier wieder in die Irre. Denn meine Kontemplation ist das Nachdenken. Als nächstes Jenseitsmodell drängte sich mir das Ungewisse im Sinne des objektiv Zufälligen, Unvorhersehbaren auf.

Alle Jenseitsmodelle vor und nach der All-Einheit leiden nach Meinung der Ganzheitler an der Krankheit der Spaltung bzw. Fragmentierung, das gilt ganz besonders für das nächste Modell des Ungewissen, welches die Welt partikularistisch sieht, d.​h. als unmöglich in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen. Und auch die weiteren Modelle im Kapitel Ich bzw. im Kapitel Andere begehen aus Sicht der Holisten die Ursünde einer Ich-Abspaltung bzw. Subjekt-Objekt-Spaltung­. Mir ist dieser Vorwurf bewusst, jedoch halte ich gerade das unheilbare Ausgesetztsein in einer feindlichen Welt, unter der jedes Ich zu leiden hat, für i.​a. unhintergehbar. Die Ausnahme etwa der meditativen Trance o.​ä. bestätigt hier m.​E. ebenso die Regel des Abgetrenntseins wie die Ausnahme etwa des narkotischen Tiefschlafs die Regel des Wachbewusstseins bestätigt. Ganzheitler sind m.​E. Schwärmer, die einem sympathischen Ideal anhängen, jedoch mit ihrer Annahme einer Welt, mit der sie eins sind oder werden können, m.​E. falsch liegen.

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5) Ungewisses

Die Geschichte zeigt: all unsere Theorien stellen sich über kurz oder lang als falsch heraus – warum sollte das beim Jenseits anders sein?

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Schon mal vorweggenommen: die agnostischen Haltungen zur Frage "Was geschieht mit mir im Tod?​" reichen von schwach agnostisch bis stark agnostisch, also von der einfachen Unentschiedenheit nur zwischen den beiden Modellen des Mainstreams (entweder monotheistischer Himmel oder materialistisches Nichts) über die generelle Ungewissheit als heutigen Status Quo der Menschheit ("Ignoramus – wir wissen es nicht!​") bis hin zur absoluten Unergründlichkeit selbst durch eine noch so fortgeschrittene Wissenschaft in ferner Zukunft bzw. ewigen Ungeahntheit des Ganz Anderen ("Ignorabimus – wir werden es nie wissen!​"). Der Agnostiker schwankt zwischen verschiedenen Jenseitsmodellen oder er will bzw. muss ganz auf eine Prognose verzichten.

Aber von vorne: Im Gegensatz zum ozeanischen Gefühl als dem diesseitigen Vorgeschmack auf die All-Einheit ist das Gefühl völliger Ungewissheit vielleicht wieder allgemein bekannt – ich als Pessimist gehe jedenfalls davon aus. Überhaupt nicht zu wissen, was als Nächstes kommt, die Zukunft für unvorhersehbar zu halten und hauptsächlich Angst davor zu haben – dieses unangenehme Gefühl des Misstrauens statt des Vertrauens gegenüber dem Leben, und auch und v.​​a. gegenüber dem Tod, sind mir trotz meines eigentlich privilegierten Lebens und meiner eigentlich von positiven Stimmungen dominierten Nahtoderfahrung geblieben.

Wenn Glauben das unbedingte Vertrauen in etwas ist, dann ist das Ungewisse dadurch gekennzeichnet, dass es nichts gibt, worin man unbedingtes Vertrauen setzen kann. Vertrauen ist dann immer bedingt durch Erfahrung, ist immer aposteriorisches Vertrauen, das sich als berechtigt erwiesen hat und immer weiter erweisen muss. Dem Ungewissen gegenüber ist man misstrauisch statt vertrauensvoll, als Herangehensweise des erkennenden Menschen fungiert statt der Hermeneutik des Vertrauens die Hermeneutik des Verdachts (Ricoeur). Religiöse Modelle sehen in allem einen höheren Sinn, areligiöse Modelle sehen keinen solchen, halten das Dasein für sinnlos bzw. absurd.

Dafür, dass wir nicht wissen können, was im Tod aus uns wird, sprechen evt. auch die großen Philosophen, welche das Thema Tod auffällig wortkarg behandelt haben. Die nichtreligiösen Philosophen teilen sich gewissermaßen in die zwei Gruppen, von denen die erstere es für eine ausgemachte Sache hält, dass unser Dasein endlich ist (vgl. Kapitel Nichts), und deren zweitere eben beharrlich dazu schweigt. Logische Empiristen gehen sogar so weit, nicht nur die Antwort auf die Frage nach einem Leben nach dem Tod für unmöglich zu halten, sondern sie halten bereits die Frage für Unsinn – das ist etwas grundsätzlich anderes als die realistische Behauptung, dass es kein Leben nach dem Tod geben könne.

So energisch bis erstaunlich die universelle Bildung mancher Ganzheitler auch sein mag, so alleswisserisch bis allwissend sie oft erscheinen mögen – wer sich mit dem heutigen Stand des Menschheitswissens lange genug auseinandergesetzt hat, kann nur wieder mit Sokrates sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und verzweifelter als Sokrates müssen wir heute feststellen, dass wir paradoxerweise immer definitiver darüber Bescheid wissen, wie disparat unser Wissen ist und bleibt. Es wird nie zu einem Ganzen zusammenwachsen, die Teile werden umgekehrt immer zahlreicher und immer inkohärenter, wenn nicht gar immer inkompatibler; dabei jedoch immer stärker im Vergleich zum Glauben ans Ganze, Letzterer rückt mehr und mehr in den Hintergrund.

Das Ideal einer universellen Bildung etwa per Studium Generale wurde schon vor langer Zeit aufgegeben, Spezialisierung ist das Normalste der Welt. Auch die Modewellen von Inter-, Trans- und Multidisziplinarität sind vergleichsweise kurzlebig, vielmehr ähnelt der Wissenschaftsbetrieb dem Bergbau, wo alle zugleich an einigen wenigen, momentan besonders ertragreich scheinenden Stellen bohren, während zahllose andere Schächte verlassen daliegen. "Alles hängt mit allem zusammen" – selbst wenn dem so wäre, ist Alles eben ein unmöglich zu überblickendes Gebiet, der Traum von der Universalmethode, der Weltformel etc. ist i.​a. ausgeträumt bzw. nurmehr etwas für Träumer, die eher mit ihren Visionen als mit ihren Ergebnissen glänzen.

Erwarteten die Menschen vor Jahrtausenden noch alle naslang die finale Enthüllung der geheimen Hieroglyphe des Universums, die Apokalypse, das Jüngste Gericht, so galt die geschichtliche Entwicklung hin zum Weltgeist von Hegel, die Annäherung an die absolute Wahrheit von Popper, die Entbergung durch Technik von Heidegger schon als langwierig bis endlos. Zwar gab und gibt es selten einmal wirklich beeindruckende "Enthüllungen" – ein Paradebeispiel sind die Maxwellschen Gleichungen als höchst elegante Beschreibung der elektrodynamischen Verhältnisse, welche sich erstaunlicherweise in immer größere/​kleinere Skalen hinauf/​hinunter als zutreffend erweist – aber seit dem Kritizismus von Kant scheint es dann doch eher, als würde jede Eleganz daher rühren, dass der Mensch seine Gesetze subjektiv in die Natur hineinkonstruiert ("der Natur vorschreibt") statt sie objektiv vorzufinden. Und heute ist es Common Sense, dass man "Naturgesetze" mit mathematischen Modellen aus physikalischen Fakten lokal eben dort annähert, wo es zum Pushen der Forschung gerade gewünscht wird, statt global auf Offenbarungen letzter Geheimnisse oder Lösungen letzter Rätsel zu setzen. (Solche Erwartungen schürt allenfalls – vor schamloser Übertreibung immer weniger zurückschreckend – die Werbeabteilung der Wissenschaften.​)

Pluralismus bzw. Partikularismus vs. Universalismus: während die Universalisten noch einfordern, dass es von der Physik bis zu den Menschenrechten Prinzipien auf der Welt gebe, die für alles bzw. alle gelten, sehen die Pluralisten darin einen überkommenen Dogmatismus bzw. abendländischen Kolonialismus alter weißer Männer, welchen die Aufklärung genauso betrieben habe wie vorher die Kirche und welchen es endlich hinter sich zu lassen gelte – "Feeling of being after" in der Postmoderne.

(Widersinnigerweise wird es nach der Moderne mit ihrer universell gültigen wissenschaftlichen Wahrheit – es gibt viele Religionen, aber nur EINE (Natur-)Wissenschaft – bereits im spirituellen New Age ausgerechnet auf dem Weg zur All-Einheit sehr pluralistisch bzw. partikular, denn oftmals sind die Weltanschauungen da höchst individualistisch zusammengestückelt aus allen möglichen alten und neuen Mythologien. Sogar dieser Eklektizismus ist m.E. philosophisch gesehen z.T. emanzipierter als der sich stets überlegen fühlende Science-Glaube mit seinem für alle verpflichtenden aktuellen Stand der Wahrheit.)

Heißt das für meine Jenseitsfrage, dass es gar keine zielführende allgemeingültige Entwicklung der Geistesgeschichte hin zu einem immer plausibleren Modell geben kann, sondern dass ich mit meiner Suche einen individuellen Neustart zwischen zahllosen Jenseitserzählungen der unterschiedlichsten Ethnien wagen müsste? Ich fürchte, solch ein weltoffener Rezipient bin ich nicht, mein Weg ist eher der eines introvertierten Grüblers.

Himmel&Hölle ist das Jenseitsmodell der Theisten, das Nichts ist das Jenseitsmodell der Atheisten, die All-Einheit ist das Jenseitsmodell der Pantheisten, und das Ungewisse ist das Jenseitsmodell der Agnostiker. "Militant Agnostic: I don't know and you don't either!​". Mit Letzteren, speziell mit modernen Logikern, philosophiegeschichtlic­h angesiedelt nach dem "linguistic turn", bekam ich es zu tun, nachdem ich bei meiner Beschäftigung mit der Mystik festgestellt hatte, dass mir das Nichtwiderspruchsprinzi­p doch wesentlich näher ist als die Coincidentia Oppositorum. Für Fragen über Tod und Jenseits gilt in den harten Wissenschaften jedoch wie für alle sonstige Legendenbildung auch: "Shut up and calculate" – mach dir kein Bild bzw. enthalte dich unnötiger Interpretation; was man nicht mathematisch-logisch angehen kann, ist Unsinn. War das also der richtige Weg: meine Hauptfrage links liegen lassen? Bedeutete das nicht, künftig mit dem Gefühl des völlig Ungewissen im Tod leben zu müssen?

(Die Mehrzahl der Menschen, welche sich heute Agnostiker nennen, sind aber keine im gerade beschriebenen Sinne – sie verzichten zwar darauf, sich auf die theistische oder die atheistische Wahrheit festzulegen, meinen aber, dass eine von beiden oder gar beide richtig seien; mir ist es im agnostischen Abschnitt meiner Jenseitsbiographie jedoch passiert, dass ich beide Wahrheiten verwerfen musste, weil ich sowohl die religiöse als auch die realistische Jenseitsvorstellung als für mich unplausibel erkannte. Das bedeutete für mich das glatte Gegenteil der Sicherheit, die so ein doppeltes Netz des Jenseitsglaubens bietet, wie es jene Fifty-Fifty-Agnostiker unter sich aufgespannt haben: entweder alles wird gut oder alles geht vorbei.​)

Das Chaos als Grundzustand, welches ein unvollkommener Demiurg nur eingeschränkt zum Kosmos ordnen konnte – dieser altgriechische Schöpfungsmythos mutet m.​E. weniger paradox an als die christliche Creatio ex nihilo des Allmächtigen oder der physikalische Urknall im Nullpunkt von Zeit und Raum. Dass wir insgesamt als Welt wie auch einzeln als Lebewesen aus dem Ungewissen kommen und evt. auch wieder dorthin gehen müssen, scheint mir viel plausibler als das Zugrundelegen des Nichts oder der All-Einheit. (Auch in den heutigen mathematischen Methoden der Naturwissenschaft dient als Grundmodell für einen Prozess i.​a. das verlaufsmäßig unvorhersagbare Rauschen.​)

Über die Paradoxien der Mystik hatte ich also zu den opponierenden Skeptikern gefunden, erst mal zu denen, die sich heute Skeptikerbewegung nennen: Verteidiger von Schulwissenschaft gegen Pseudowissenschaft bzw. Parawissenschaft. Meist sind diese aber doch wieder weitgehend Realisten, halten das natürlich Gegebene für weitgehend evident – und nehmen es als Tatsache, dass das Leben bzw. Bewusstsein im Tod endet. Skeptisch sind diese Skeptics speziell gegen die Annahme von Übernatürlichem ("Demystify!​").

Von da tastete ich mich zurück zur antiken Skepsis: konservative Pragmatiker, die ihrerseits eine Theorie gegen idealistische Kopfgeburten der Philosophie bzw. deren dogmatisch-einseitige Theorien in Anschlag brachten und sich hinsichtlich all der klassischen philosophischen Dichotomien bzw. Antipoden jeglicher Entscheidung bzw. Parteinahme enthielten (sog. Epoché).

Schließlich stieß ich vor zur radikalen Erkenntnisskepsis – zum Misstrauen gegen jeglichen festen Glauben und vermeintlich sicheres Wissen. Und fühlte mich zumindest hinsichtlich meines Jenseitsbildes paradoxerweise nun doch wieder in die den Verstand sprengende Mystik zurückversetzt: im Tod sollte also statt nichts vielmehr alles möglich sein, oder pessimistisch gesagt: mit allem Möglichen und Unmöglichen gerechnet werden müssen? Schockschwerenot!

Ist es überhaupt eine Jenseitstheorie, zu sagen, dass wir zu Lebzeiten niemals wissen können, was im Tod auf uns wartet? Abgesehen vom Selbstwiderspruch der radikalen Erkenntnisskepsis, welche die Unmöglichkeit sicherer Erkenntnis für eine sichere Erkenntnis hält, kriegt unser logischer Verstand mit dem absolut Unbekannten sowieso Schwierigkeiten. Das ganz und gar Unbekannte enthält nämlich auch das Bekannte. Nur weil ich über die Mauer nicht drüber gucken kann, heißt das nicht, dass auf der anderen Seite etwas Anderes ist. Jenseitig könnte wieder das Gleiche sein wie diesseitig.

Im Tod passiert also irgendwas, oder auch nichts. Etwas Anderes oder wieder das Gleiche. Wir wissen es nicht, aber das wissen wir. So klingt das Skeptische wieder mystisch. Vom Regen in die Traufe also. An der Mystik macht einen die Identität der Gegenteile verrückt (Alles und Nichts sind ein- und dasselbe), an der Skepsis die Paradoxie ihres Verstoßes gegen sich selbst (Ich weiß, dass ich nichts wissen kann).

Wenn man die Skepsis allerdings nicht auf ihre paradoxe Spitze treibt, dann lässt sie sich auf eine starke Vermutung reduzieren, welcher ich bis heute beipflichte: was wir wissen, ist wenig, was wir nicht wissen, ist viel. Trivial? Anscheinend nicht: zumindest der öffentlich bzw. populär auftretende Teil der Wissenschaft behauptet nämlich das glatte Gegenteil, redet unablässig vom Lösen der letzten Rätsel, tut weiterhin so, als hätten Rationalismus und Empirismus einer nüchternen Aufklärung die Welt im Wesentlichen bereits entzaubert.

"Gott würfelt nicht,​" hat Einstein vor weniger als hundert Jahren gesagt. Es ist noch nicht so lange her, dass die Wissenschaft am strengen Determinismus festgehalten hat; dass die Welt als großer Mechanismus begriffen wurde, in dem von der kleinsten bis zur größten Skale alles seine berechenbare Ordnung hat, alles mit rechten Dingen zugeht; und dass wir diesen Mechanismus Zug um Zug enträtseln.

Heute jedoch gilt die Vorstellung der Natur als ein geschlossenes System, das wir irgendwann zur Gänze verstehen können, als überholt. Monismen, die alles aus einem Prinzip heraus verstehen wollen, ziehen sich auf Spezialgebiete zurück. Die Physiker z.​B. beharren heute zwar i.​a. auf dem Substanzmonismus, welcher die Existenz einer zweiten Substanz namens Geist bestreitet. Im Weiteren mildern aber viele den szientistischen bzw. physikalistischen Reduktionismus zum Eigenschaftspluralismus ab, sprechen von der Emergenz immer weiterer phänomenaler Welten, die nicht auf physikalische Grundeigenschaften reduziert werden können.

Für die Aussage über den Bewusstseinszustand im Tod heißt das nach meinem Verständnis, dass sich die Naturwissenschaft mehr als bisher einer allzu selbstbewussten Aussage darüber enthalten muss (offiziell enthält sie sich sowieso alles Definitiven, trotzdem gilt den meisten Naturalisten das Ende des Bewusstseins im Tod als eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit auf naturwissenschaftlicher Basis). Wenn sich mit dem modernen Zeitgeist an der Frage nach unserem Schicksal im Tod überhaupt etwas ändert, dann geht es also in Richtung Verrätselung und nicht in Richtung Lösung. Wie auch in allen anderen großen Fragen der Menschheit.

Trotzdem hält sich die Wissenschaft, allen voran die Naturwissenschaft, für extrem erfolgreich, und zwar dank ihres Wahrheitsgehalts, nicht etwa dank eines Wunders bzw. Zufalls. Mir kommt es hingegen so vor, als ob sie immer nur marginale Fragen beantworten könnte und jede philosophische Diskussion über Wesentliches zu irgendeinem unwesentlichen Detail leiten wollte, mit dem sie sich besser auskennt. Wie in dem Witz, wo zwei Polizisten einen Leichenfund aufnehmen und der eine fragt: "Wie schreibt man Gymnasium?​", worauf der andere antwortet: "Los, pack mit an, wir tragen sie zur Post!​". Mir behagen problematische Antworten auf die richtigen Fragen jedenfalls eher als unproblematische Antworten auf die falschen Fragen. Angewandt auf den Fall im Witz: lieber Gymnasium falsch schreiben als Post richtig.

(Mit Aristoteles hat es angefangen: die Trennung der Welt in Stoff und Form ist m.​E. die Flucht der leidenden Seele zu ihren leidlosen Rändern Materie und Geist. Die Welt primär als ein System der Physik und Mathematik betrachtend, lässt der Szientist nur noch Fragen zu, die am leidenden Wesen der Welt völlig vorbeigehen. Im zeitgenössischen Materialismus bzw. Physikalismus setzt sich diese Flucht an die Ränder dann evt. als Forscherdrang gen Mikro- und Makrokosmos fort.​)

Zudem lässt die Wissenschaftseuphorie gerne unter den Tisch fallen, dass die technologische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse drauf und dran ist, unsere Lebensgrundlagen auf diesem Planeten zu zerstören – wenn man den Zukunftsszenarien des Club of Rome glaubt, könnte die Industrialisierung mit der ihr innewohnenden Annahme unbegrenzten Wachstums uns recht bald gar alles kosten, was uns noch von der Hölle trennt. Oder noch dreister: die Wissenschaft präsentiert sich als einzige Lösung für das von ihr selber verursachte Problem.

"Wir haben die richtigen Antworten noch nicht gefunden, aber wir lernen langsam, die richtigen Fragen zu stellen" – solche und andere euphemistischen Rückzieher ins Philosophische hört man aus allen wissenschaftlichen Fachbereichen von den Leitern der teuersten Forschungsprogramme, wenn diese nach vielen Jahren die versprochenen Ergebnisse präsentieren sollen. Statt Vereinfachungen, Vereinheitlichungen, Weltformeln ergeben sich immer neue Komplikationen, die man nicht vorausahnen konnte. Nicht nur die Beschäftigung mit der Beantwortung einer Frage gebiert zehn neue, ebenso gebiert ein Forschungsprogramm zehn neue. Den Optimisten aber freuts so oder so – alles Neue, was sich auftut, macht ihn lächelnd staunen, oh Wunder der Natur!

Die Wissenschaftstheorie muss feststellen: keine wissenschaftliche Theorie lässt sich empirisch bzw. induktiv zur Gänze verifizieren, eine wissenschaftliche Theorie ist prinzipiell unterbestimmt. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass Theorien, die auf der Höhe ihrer Zeit breiten Konsens finden, später regelmäßig falsifiziert werden. Die pessimistische Induktion nach Laudan leitet gar aus der Falschheit aller vergangenen Theorien die Falschheit aller heutigen ab.

(Der Wissenschaftler kennt seinen Popper und dreht die Argumentation um: nur eine falsifizierbare Theorie ist überhaupt eine wissenschaftliche Theorie, alles andere ist bloß Dogma ohne Möglichkeit von Entwicklung bzw. Fortschritt. Dies erinnert mich an die Verfechter des Gottes der reinen Liebe bei der Rechtfertigung der Existenz des Bösen – ich fürchte, dass diese Welt fern der Liebe und fern der Wahrheit bleibt, ist argumentativ nicht zu ändern.​)

Die Physik war wie gesagt bis vor kurzem noch der unverbrüchlichen Ansicht, dass die Mechanik im Atom wie im Sonnensystem streng deterministischen Gesetzen gehorche, d.​h. berechenbar sei wie ein Uhrwerk. Dann kamen die evt. echt zufälligen, indeterministischen Prozesse der Quantenmechanik hinzu; dann die chaotischen, welche zwar deterministischen Gesetzen gehorchen, aber nur für den Idealfall unendlich großer Rechengenauigkeit, nicht jedoch für den Realfall endlicher Rechengenauigkeit vorhersagbar sind usf. Inzwischen gibt es experimentell bestens bestätigte Effekte der Relativitätstheorie und Quantentheorie, welche alles, was unser Alltagsverstand über Raum und Zeit zu wissen glaubt, komplett auf den Kopf stellen. Oder die Stringtheorie, welche von vornherein zugibt, jedes menschliche Vorstellungsvermögen bei weitem zu übersteigen.

Plötzlich ist die Endlichkeit des einen Universums keine ausgemachte Sache mehr. Die Zufallsverteilung der Messungen im Mikrokosmos wird in der quantenmechanischen Viele-Welten-Interpreta­tion damit erklärt, dass für jede Möglichkeit der Messung ein eigenes deterministisches Universum existiert. Multiversum-Theorien postulieren Big Bangs und Big Crunches wie Sand am Meer, periodische Wiederholungen des Immergleichen oder Variationen immer neuer Universen. Je nach Mentalität entweder Verlust des tröstlich Einenden oder Befreiung aus beengender Begrenztheit.

Die Frage nach dem Zustandekommen der sehr speziellen physikalischen Bedingungen, welche die Entwicklung von Leben auf der Erde ermöglicht haben, und weiterhin die Frage, wie in relativ kurzer Zeit so viele Variationen durch Mutation entstanden und durch Selektion wieder verworfen worden sein sollen, dass unsere heutige Artenvielfalt dabei herausgekommen ist, befördert einerseits die Annahme vieler Welten, von denen die unsere als große Ausnahme belebt ist. Wer andererseits an einem einzigen Universum festhalten will, zieht evt. erneut ein gerichtetes anthropisches Prinzip, Finalität bzw. Teleologie, Intelligent Design etc. in Betracht. (Mächtige evangelikale Kreise in den USA z.​B. können sich Universitäten kaufen, welche die Forschung an solchen Theorien priorisieren.​) In der immer weiter aufgehenden Schere zwischen konservativer und progressiver Weltanschauung gedeiht auch die Erkenntnisskepsis prächtig – wenn zwei sich gegenseitig immer spektakulärer widerlegen, ohne dass einer besiegt werden kann, glaubt man evt. beiden immer weniger.

Und es entstehen neue, wenn auch bescheidenere Möglichkeiten von Glaube und Zuversicht – wer das Unvorhersehbare mit modernen mathematischen Methoden angeht, für den erhebt sich über dem toten Gott des Determinismus, bei dem alles noch mit rechten Dingen zuging, sozusagen ein Gott zweiter Ordnung, bei dem zumindest im statistischen Mittel alles mit rechten Dingen zugeht. Eh man sich versieht, ist die Summe über alles eben doch null, kann nichts mehr systematisch negativ sein, sonst wärs doch kein reiner Zufall mehr!​?

(Aber selbst wenn die Summe über alles null ist, kann jede noch so lange endliche Lebenszeit – auch die beliebig lange Lebenszeit einer endlichen Anzahl endlicher Leben hintereinander – trotzdem eine einzige Serie von Nieten sein. Was nutzt es demjenigen, der ein ums andere Mal verliert, dass sich sein Pech "irgendwann mal wieder" ins Glück wenden muss? Andererseits gruselt es mich genauso vor der Vorstellung von Gerechtigkeit, die ein politisch stramm rechtsaußen positionierter deterministischer Hierarchist vertreten mag. Wie schon im Überblick am Anfang des Textes gesagt: eigentlich haben alle hier besprochenen Jenseitsmodelle etwas pessimistisches.)

Ich fürchte, es verhält sich mit der Welt und den rechten Dingen darin wie mit den vom Affen an der Schreibmaschine oder am Klavier zufällig aneinandergereihten Buchstaben bzw. Tönen – solche Literatur bzw. Musik ist auf Dauer nur schwer auszuhalten, es kommt nicht etwa gleichviel Angenehmes und Unangenehmes dabei heraus.

Mir als Pessimisten ist die mathematische Symmetrie kein allzu großer Trost. Denn sie ist i.​a. nicht das vom aufmerksamen Beobachter der Welt a posteriori Gefundene, sondern das a priori Reingesteckte, das Gewollte. Zwar müssen die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Zahlen und geometrischen Figuren heute noch ebenso wie zu den Zeiten der Pythagoreer als ein göttliches Wunder erscheinen, reichen m.​E. aber nicht hin, um das Wesen der Welt daran aufzuhängen. Wesen der Welt ist m.​E. vielmehr die gottferne Kakophonie.

Eine gottferne Kakofonie jedoch, die mich zwingt, in Notwehr auf sie zu reagieren. Und damit auch zwingt, Abschätzungen vorzunehmen, bei welchen ich in gewisser Weise dann doch mathematisch-logischen Prinzipien folge. Obwohl mich als Pessimisten die mathematische Symmetrie nicht als etwas in der Welt grundsätzlich Gegebenes überzeugt, muss ich zugeben, dass z.​B. in meiner Antwort auf die m.​E. wesentliche Lebensfrage, wann der Tod dem Leben vorzuziehen ist bzw. wann die Alternative des Suizids m.​E. ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, die statistische Schwelle einer Fifty-Fifty-Chance den Ausschlag gibt. Da ich heute von einer "zufälligen Wiedergeburt" im bzw. nach dem Tod als ein Anderer bzw. viele Andere ausgehe (siehe Kapitel Andere, dort insbesondere den letzten Absatz), würde ich meine Selbsttötung eben dann ernsthaft in Erwägung ziehen, wenn mir über die Hälfte von den auf dieser Welt empathisch nachfühlbaren Schicksalen beneidenswert erschienen. Weil ich glaube, dass ich mir in diesem Fall per Suizid aller Wahrscheinlichkeit nach ein besseres Schicksal "erlosen" könnte.

Das Ungewisse ist schlimm, aber es ist besser als die Hölle, denn es fällt eher in die Kategorie "Shit happens" als in die des absichtlichen Bösen. Das Ungewisse zu befürchten bedeutet zwar, das Weltprinzip für ein blindes zu halten, aber noch nicht, an einen Deus malignus oder einen bösen Willen als Urprinzip zu glauben – nicht das Handeln bzw. das Aktive ist m.​​E. das Erste in der Welt, sondern das Erleiden bzw. das Passive. Existieren heißt, der Welt ausgesetzt zu sein und nur vergleichsweise unkoordiniert reagieren zu können. Dieses Verhältnis von starkem Leiden und schwacher Reaktion, dieses Fehlen von echter Souveränität beschreibt den traurigen Zustand der Welt m.​​E. am besten. Und solch ein ungewollt-trauriger Zustand ist m.​​E. immerhin schon besser als ein gewollt-böser. Mein bis heute noch gewissermaßen statistisch angehauchter Pessimismus – wenngleich das "Objektive" daran nurmehr in einer entpersönlichenden Summenbildung über alle schwach auf die Übermacht aller anderen Subjekte reagierenden Subjekte besteht (siehe Kapitel Andere) – trifft die Annahme, dass es zwar viel mehr schlechte als gute Schicksale gibt, aber dass sie von der Natur nicht böse gewollt, sondern absichtslos zugeteilt werden.

Wie gesagt enthält das Ungewisse als Jenseitsmodell paradoxerweise auch das Bekannte: nach dem Tod könnte es sein wie vor dem Tod. Es könnte so kommen, wie ich es bisher nicht unmittelbar von mir, aber zumindest mittelbar von Anderen kenne, per Empathie – das glaube ich heute (siehe Kapitel Andere). Aber vorerst zu meiner damaligen Phase mit dem Jenseitsmodell des Ungewissen: für mich als Pessimisten ist der größte und mit der meisten Angst belegte Anteil des Ungewissen das ganz Andere. Etwas, worüber sich mit menschlichen Mitteln überhaupt nichts aussagen lässt, weil es menschlicher Wahrnehmung wie Vorstellung bislang völlig unzugänglich ist – das Unfassbare. So ist etwa laut den Anhängern des Hylozoismus davon auszugehen, dass Materie fühlen kann, wie z.​B. der Monistenpapst Haeckel ausführte – und dass sie, so füge ich als Pessimist hinzu, vielleicht unvorstellbare Qualen leidet. Wenngleich diese Behauptung paradox anmutet bzw. der Materie Leid zu unterstellen vielleicht nur eine Anthropomorphisierung (bzw. Biomorphisierung) bedeutet und deshalb mit dem Unfassbaren eben gerade nichts zu tun hat, wundert es mich immer wieder, wie bereit die Menschen sind, als neutral oder sogar als wunderbar geheimnisvoll anzunehmen, wovon sie nichts wissen können. Mir jedenfalls macht in erster Linie Angst, was Wittgenstein aus der sprachlichen Kommunikation verbannen will: "Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.​"

Noch einmal: das Ungewisse kann sich als bereits Bekanntes oder als bislang völlig Unbekanntes, als ganz Anderes, Ungeahntes bzw. Unahnbares entpuppen. Und es ist Letzteres, worauf der Optimist neugierig ist und wovor der Pessimist Angst hat. Deshalb rangiert das Ungewisse in meinem obigen Schaubild der sieben Jenseitmodelle so weit unten. Im Lauf meiner Jenseitsbiographie bin ich jedoch wieder davon abgekommen, dass uns im Tod das unahnbare, ganz Andere erwartet; siehe die beiden nächsten Kapitel Ich und Andere.

Ich will auf ein wenig paradoxe Weise versuchen "vorzurechnen", wie schlimm die Jenseitserwartung des Ungewissen für mich als Pessimisten ist. Ausgangspunkt ist wieder die im vorigen Kapitel All-Einheit vorgestellte Summe über alles als Durchschnittsschicksal allen Seins, welches mir als Pessimisten viel miserabler vorkommt als mein momentanes Ichsein, welches ja wiederum viel miserabler ist als das neutrale Nichtsein. Eine sichere, "gerechte" Systematik der Wiedergeburt (nur relativ gerecht wegen des m.​E. leidvoll negativen statt freud- und leidvoll neutralen Durchschnitts allen Seins) könnte dann z.​B. darin bestehen, als mein "Alter Ego" wiederkehren zu müssen, folgendermaßen definiert: die Vorteilhaftigkeit meines momentanen Schicksals gespiegelt am Durchschnittsschicksal ergibt die Nachteilhaftigkeit meines Alter-Ego-Schicksals, d.​h. als Alter Ego lande ich mit meinem Schicksal ebenso weit unter dem Durchschnitt wie ich momentan darüber liege. (Objektiv gesehen ist ohne Karma o.​ä.​, an welches ich nicht glaube, die Wahrscheinlichkeit jedes Mal wieder fifty-fifty, in der Ovarian lottery über oder unter dem Durchschnitt zu landen – subjektiv gesehen aber erwartet man nach einem Gewinn, als welchen ich mein momentanes Leben gemessen am Weltdurchschnitt wohl auffassen muss, eher eine Niete.​) Welch entsetzliches Schicksal, diese sichere, "gerechte" Version meiner Wiedergeburt! Wie schlimm kann da erst das ganz Andere werden!​? Wie gesagt, schlimmer als die Aussicht auf das ganz Andere im Ungewissen ist m.​E. nur die Aussicht auf die Hölle. Letztere ist definitorisch aufs maximale Leid optimiert oder vielmehr "pessimiert". Aber das völlig Ungewisse könnte ja auch ganz ohne Absicht nahe an die absolute Hölle heranreichen.

Schließlich zog die völlige Ungewissheit meines Schicksals im Tod – als einer unabdingbaren Eigenschaft der objektiven, äußeren Welt – meinen Blick in schrecklicher Weise ganz auf sich. Diese schockierende Version des Zufalls, nicht die mathematisch gezähmte, hat bei mir im Alter von Mitte dreißig so eine Art Neustart-Knopf gedrückt: die Rückbesinnung aufs subjektive Innere, aufs Ich als denkerischen Ausgangspunkt (siehe nächstes Kapitel Ich).

Aber bis heute geblieben ist mir die skeptische Auffassung, dass weder Religion noch Wissenschaft, gemeint ist insbesondere Naturwissenschaft, das Wesen der Welt erfasst (siehe etwa das Schichtenmodell der Weltentstehung durch emergente Prozesse: wir überblicken gerade mal die Basisebene der Physik einigermaßen, alle Ebenen darüber sind bereits unfassbar komplex und bleiben somit in unberechenbarer Dunkelheit). Die meisten Leute, die ich kenne, sind hinsichtlich einer validen Welterklärung m.​E. jedoch gläubig, entweder religiös oder wissenschaftsgläubig oder beides. (Auch wenn die Wissenschaftsgläubigen das Wort "wissenschaftsgläubig" für eine ärgerlich paradoxe Wortschöpfung der wissenschaftlich Ungebildeten halten und sich mit Blick auf die Religiösen selber gerne Skeptiker nennen).

(Hier lässt sich folgende vereinfachende Zuordnung der bisher besprochenen fünf Jenseitsmodelle zu den vier möglichen Haltungen gegenüber Religion und Wissenschaft vornehmen: traditionell Religiöse mit Himmel und Hölle bis hin zu den heutigen Kreationisten sind wissenschaftsskeptisch; die Realisten mit ihrem Nichts im Tod sind religionsskeptisch; die Spirituellen mit ihrer All-Einheit umarmen Religionen wie Wissenschaften; und die echten Skeptiker i.​S.​v. Erkenntnisskeptiker mit dem Ungewissen im Tod zweifeln an Religion und Wissenschaft.​)

Außerdem geblieben ist mir von diesem Modell des völlig unbekannten Jenseits ein ängstlicher Respekt gegenüber dem Tod – ein Lebensgefühl der Ruhe im Leben vor dem Sturm im Tod, welches dem Aktionismus unserer Tage gerade entgegengesetzt ist. Der monotheistische wie auch realistische Zeitgeist der letzten Gelegenheit vor Torschluss, des "Schlafen kannst du, wenn du tot bist", ist mir fremd. Ich harre aus im schlechten, aber bekannteren Leben, den unbekannteren, evt. noch schlechteren Tod vorsichtig hinauszögernd.

Die nächsten und letzten beiden Kapitel Ich und Andere nehmen sich wieder die teilweise Überwindung der völligen Erkenntnisskepsis gegenüber dem Tod vor. Dennoch kann ich in den ubiquitären gesellschaftlichen Imperativ "Hab keine Angst!​" wohl nie mehr einstimmen. Im Gegenteil denke ich: ein ehrlicher Mensch hat Angst vor dem Leben, noch mehr Angst vor dem Sterben und am meisten Angst vor dem Tod.

Hat man sich das jedoch erst einmal als die eigentliche Conditio humana eingestanden, hat man das Memento mori verinnerlicht, muss man Lebensleid, Sterben und Tod wenigstens nicht mehr tabuisieren bzw. den je Betroffenen als Persona non grata aus der Gesellschaft ausschließen. Eingeständnis der menschlichen Angst vor Leid, Sterben und Tod ist der reife Weg, aber bisher herrscht der kindische vor: "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Niemand! Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon!​"

Vielleicht hat die Ars moriendi sowohl mit der traditionellen Religion als auch mit dem modernen Realismus einen falschen Weg eingeschlagen, nämlich einen verlogenen. Statt im indoktrinierten Vertrauen auf Gott oder auf den endgültigen neurobiologischen Untergang des Bewusstseins zu sterben, sollte es gesellschaftlich statthaft bis erwünscht sein, der wahrhaftigen Angst vor dem Unbekannten im Tod Ausdruck zu verleihen. Dann könnten die Sterbenden als die dem Tod unmittelbar Geweihten sich und anderen diese Angst eingestehen; und die Lebenden als die dem Tod mittelbar Geweihten könnten ihnen, sofern gewünscht, darin beistehen und sich dabei selbst auf den Tod vorbereiten.

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6) Ich

Wer keine komplizierte Theorie hat, nimmt die einfache: das Wetter morgen wird etwa so wie heute. Ist nach dem Tod wie vor dem Tod?

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Wenn ich Optimist wäre, würde dieses Kapitel Ich wohl vom Lebensgefühl des allmächtigen Solipsisten und dem daraus abgeleiteteten Jenseitsmodell der ewigen Wiederkehr absoluter Selbstermächtigung handeln, evt. würde ich ein solches Jenseitsmodell des liebend gerne wollenden einzigen Ich im ewigen Flow eines gelingenden Aktionismus gar auf Platz eins des Rankings als ersehntestes Jenseitsmodell setzen. Weil ich jedoch Pessimist bin, handelt dieses Kapitel Ich dann eher vom passiven Solipsisten, unwillig ausgeliefert der ewigen Wiederkehr in sein immergleiches leidvolles Dasein. Aber immerhin: in sein immergleiches!

Vom objektivistischen Skeptizismus, der mich als losen Spielball des kosmischen Zufalls ansieht und dabei zwar realistischerweise meine endgültige Vergänglichkeit vermutet, mir jedoch als Restrisiko ein auf ewig unvorhersehbares Schicksal im ganz Anderen jenseits von allem bisher Bewusstzumachenden zumutet, erlöste mich der subjektivistische Skeptizismus mit dem von Descartes formuliertem Fixpunkt: "Ich denke, also bin ich". Oder wie Schopenhauer es sagt: "'Die Welt ist meine Vorstellung' ist ein Satz, den jeder als wahr erkennen muss, sobald er ihn versteht, wenngleich nicht ein solcher, den jeder versteht, sobald er ihn hört". Vielleicht steckt die subjektivistische Philosophie auch schon in folgendem Zitat aus Shakespeare's Hamlet: "Dies über alles: Sei dir selber treu".

Die Beschäftigung mit Wissenschaftstheorie im vorigen Kapitel Ungewisses beförderte mich vom wissenschaftlichen Glauben an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis (in einer als objektiv gegeben angenommenen Welt) zum intersubjektiven Wahrheitsbegriff (in einer als objektiv gegeben angenommenen Welt). Der Übergang vom Kapitel Ungewisses zum Kapitel Ich bzw. zum Kapitel Andere bedeutet nun den Sprung von diesem vorerst epistemologischen Subjektivismus bzw. epistemologischen Intersubjektivismus zu einem schließlich ontologischen Subjektivismus bzw. ontologischen Intersubjektivismus, d.​​​​​h. der Glaube an das der Welt Zugrundeliegen des Objektiven weicht einer Ontologie, die nur noch das Subjekt bzw. nur noch Subjekte als die Welt konstituierende Entitäten kennt. Bewusstsein ist hier die (einzige) Substanz, Realität nurmehr eine mögliche Eigenschaft der Bewusstseinsinhalte.

(Den erkenntnistheoretischen Subjektivismus, also dass ein "Ding an sich" zwar existiere, aber als solches nicht direkt erkennbar, sondern immer nur sinnlich vermittelt sei, befürwortet so gut wie jeder, mit dem ich bislang philosophiert habe; den ontologischen Subjektivismus allerdings, also dass die einzig existenten Entitäten die Subjekte seien und die Welt nur ihr Bewusstseinsinhalt, habe ich mit der nun beginnenden – in diesem Kapitel Ich und im nächsten Kapitel Andere behandelten – biographischen Phase für mich angenommen und stehe damit allein auf weiter Flur.​)

Aber von vorne: Der Hollywood-Film "The Matrix", inspiriert vom platonischen Höhlengleichnis über den Galouye-Roman "Simulacron-3" bzw. dessen Fassbinder-Verfilmung "Welt am Draht" bis hin zu "Simulacres et Simulation" von Baudrillard, hat um die Jahrtausendwende sehr viele Zuschauer mit einer modernen Variante des subjektivistischen Kritizismus konfrontiert: die Science-Fiction-Dystopi­e zeigt eine vermeintlich normale bürgerliche Gesellschaft der Gegenwart, deren Realität aber von Maschinen nur simuliert wird durch direkte Einspeisung künstlich erzeugter Sinnesdaten ins zentrale Nervensystem der bewegungslos fixierten menschlichen Körper – vgl. das philosophische Gedankenexperiment des Brain in a vat. Naive Realisten erkannten schockiert, dass unsere subjektive Wahrnehmung evt. nur unwesentliche Ausschnitte der objektiven Realität erfassen kann bzw. dass wir evt. gar keinen Zugang zur "echten" Welt haben; aber meine bis dahin anhaltende Orientierungslosigkeit aufgrund objektivistischer Erkenntnisskepsis wich bei weiterer Beschäftigung mit jener philosophischen Thematik langsam der Überzeugung, dass die subjektivistische bzw. phänomenalistische Sicht auf die Welt noch die am besten gesicherte Ausgangsposition für mein Denken sei.

Naturalismus und analytische Philosophie (in dieser Reihenfolge!​) sind die heute dominierende Dyade der angloamerikanischen Philosophie, gewissermaßen die aktuelle Version von Realismus bzw. objektivem Idealismus – ich gründe mich nun dagegen im eher kontinentalen subjektiven Idealismus, gehe davon aus, dass die Bühne allen Seins das Bewusstsein ist (allerdings nicht speziell das menschliche, sondern das allgemeine bzw. allem Sein gemeine); ich glaube, dass es für alle und alles grundsätzlich darauf ankommt, wie es sich anfühlt, sie zu sein (vgl. die von Nagel, der allerdings kein subjektiver Idealist ist, mit seinem Aufsatz "What is it like to be a bat?​" angestoßene Qualia-Debatte der Philosophy of mind) – gerade darauf also, wovon die beiden oben genannten heute erfolgreichsten Disziplinen mit Physik und Logik i.​a. so erfolgreich abstrahieren.

Die Subjektphilosophie des deutschen Idealismus ist ein Kritizismus, indem sie die Wirklichkeit nicht als etwas Unmittelbares ansieht, sondern als etwas durch Erkenntnis Vermitteltes – Kant tritt einen Schritt vom Realen, Ontologischen etc. zurück, er untersucht "die Bedingungen der Möglichkeit" von Erkenntnis und fasst diese Bedingungen in ein ausgeklügeltes System von Kategorien, welche dem menschlichen Subjekt a priori gegeben seien. Ich selber glaube gar nicht mehr an eine substantielle Realität, und das Apriorische ist m.​E. nicht spezifisch menschlich und zudem ein einfaches: das Erleiden. Soviel Apriori muss für den Pessimisten bleiben, ansonsten mag das ontogenetische Apriori Kants das phylogenetische Aposteriori der biologischen Evolution sein, wie Lorenz sagt.​

Nach meinem laienhaften Verständnis ist Kant mit seiner objektivistischen Ontologie noch objektiver Idealist, sogar schwacher Realist, indem er ein – wenn auch unerkennbares – "Ding an sich" postuliert, aber mit seiner subjektivistischen Epistemologie schon subjektiver Idealist, mit dem transzendentalen Subjekt als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Und auch Schopenhauer ist mit seinem der Welt zugrundeliegenden – als "Ding an sich" erkannten – metaphysischen blinden Willen ein objektiver Idealist und mit seiner als bloßer Bewusstseinsinhalt bzw. bloße Vorstellung gegebenen Welt ein subjektiver Idealist. Ich aber bin kein objektiver Idealist mehr, m.E. existiert kein "Ding an sich", ich bin nur noch subjektiver Idealist, in einem substantiellen Sinne existieren m.E. nur Subjekte.

Während im Chaos des Ungewissen alles nur akzidentiell bzw. kontingent bzw. zufällig ist, liegt in der subjektivistischen Ontologie das Bewusstsein als essentiell bzw. substantiell bzw. notwendig zugrunde. Das Bewusstsein ist etwa dem Meer vergleichbar, dessen Wellen als seine Individuationen zwar werden und vergehen, dabei aber weder aus dem Nichts entstehen noch in ihm vergehen, sondern eben aus dem bzw. im Meer – alles ist und bleibt immer Bewusstsein. In diesem Kapitel Ich ist nicht mehr, wie im Folgenden noch näher bzw. im Einzelnen ausgeführt, die Teilhabe am göttlichen Bewusstsein oder die Teilhabe am All-Einen gemeint, sondern zumindest schon die Teilhabe am kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft von allem empathisch Erreichbaren, oder das individuelle Bewusstsein meiner eigenen Person als Ganzheit, oder gar viele partikulare Bewusstseine meiner multiplen Persönlichkeit. (Im nächsten und letzten Kapitel Andere werden als Substanz dann unendlich viele absolute und ewige "Ich-Punkte" ohne persönliche Eigenschaften eingeführt, welche nie in Reinform vorkommen, sondern nur als für jeden und für immer gleiche Kerne von immer wieder anderen endlichen Individuen. Substanz meint hier tatsächlich die Grundelemente des Daseins, mein Subjektivismus ist ein ontologischer Subjektivismus.​)

Der Subjektivismus resultiert aus der Intuition, dass das Wesentliche des Daseins im Bewusstsein als Ichsein liegt. Nicht in Gott, nicht in den Objekten, und auch nicht von vornherein nur im Menschsein, sondern eben im Subjektsein von allem. Erkennendes und Erkanntes sind nicht wie im Subjekt-Objekt-Dualismu­s wesensverschieden, sondern wesensgleich – aber eben nicht in einem das Subjekt wegsubtrahierenden Objektivismus (z.​B. Bewusstsein als akzidentielle Eigenschaft der Materie), sondern in einem das Objekt wegsubtrahierenden Subjektivismus (z.​B. Materie als akzidentielle Eigenschaft des Bewusstseins).

Mein Weg aus der Epoché der Skeptiker, deren Welt die abgründigste ist, weil nichts in ihr sicher sein kann, führte mich zur Subjektphilosophie mit dem transzendentalen Subjekt als feste metaphysische Grenze der Welt, auf welche sich die ansonsten veränderliche Welt von vornherein beziehen muss. (Dieser Weg von der Skepsis zum Subjekt entspricht gewissermaßen dem von Descartes bzw. ist gegenläufig zu Heideggers Reaktion auf Husserl.​)

Im Zusammenhang mit den hier besprochenen Jenseitstheorien soll Subjektivismus v.​a. heißen, dass Ichsein nicht mit dem Tod erlischt, sondern ursprüngliche, absolute und ewige, raum- und zeitlose Substanz bleibt. Die im philosophischen Sprachgebrauch wohl am häufigsten gemeinte Bedeutung von Subjektivismus, dass uns das Seiende nicht unmittelbar gegeben ist, sondern nur durch die Erkenntnis vermittelt wird (ontologisches vs. epistemologisches Paradigma) ebenso wie die vielleicht aktuellste Verwendung im Zusammenhang mit dem radikalen Konstruktivismus gehen dagegen von einer objektivistischen Ontologie aus, welche den die Welt erkennenden bzw. konstuierenden Subjekten aber unzugänglich bleibt. In jedem Fall sind wir zurückgeworfen auf unsere Subjektivität.

Aber ich meine mit Ichsein bzw. Subjektsein auch in den der Jenseitsfrage ferneren Zusammenhängen nicht ein dem Sein vorgeordnetes aktives Denken wie die Epistemologen oder ein aktives Konstruieren der Welt wie die radikalen Konstruktivisten, sondern in erster Linie das passive Existieren i.​S.​v. unveränderliches Hineingehaltensein in die veränderliche Welt (welche aber strenggenommen nicht eigenständig, sondern nur Bewusstseinsinhalt ist) und das Erleiden der damit einhergehenden Gefühle, in zweiter Linie das unvermeidliche Reagieren darauf in Notwehr, und erst in dritter Linie ein freies, kreatives Agieren. Wir sind nicht in erster Linie aktive, handelnde Subjekte, sondern wir existieren primär als der Welt Ausgesetzte. Und statt des freien Entwurfs der Existentialisten bleibt uns m.​E. fast nur das stets ungenügende Reagieren. (Und statt Kreation einer eigenen Persönlichkeit bleibt uns immer fast nur die enttäuschende Selbsterkenntnis des im individuellen Dasein je angeborenen sprich festgelegten Temperaments bzw. Charakters bzw. Persönlichkeitstyps.​)

(Dennoch glaube ich an einen Rest von freiem Willen: nicht an die aktive Willensfreiheit einer von vornherein für sich und die Anderen verantwortlichen Person, wie sie etwa die Personalisten postulieren, aber zumindest an eine gewisse, dem Zwang zur passiven Empfindung und zur unwillkürlichen Reaktion nachgeordnete aktive Wahlfreiheit bzw. Entscheidungsfreiheit: zwar reagieren wir zumeist unzureichend bis hilflos, aber m.​E. sind unsere Handlungen nicht komplett determiniert und/​oder zufällig, wie etwa die Naturalisten feststellen. Leider wird die Tat an sich m.​E. viel zu positiv bewertet und das Unterlassen viel zu negativ, sichtbar etwa in der religiösen Auffassung vom guten Gott als Actus purus und vom Menschen als seinem schöpferischen Ebenbild. Tatsächlich aber richten die meisten Reaktionen der Menschen auf ihr spezielles Leid noch viel mehr allgemeines Leid an, weshalb die Enthaltung von der Tat zumeist die ethisch bessere Entscheidung ist; vgl. die Bemerkungen zur passiven Ethik am Schluss des Kapitels Andere. Heute sehe ich es folgendermaßen: je tiefer ich nachgedacht habe, bevor ich etwas tue, desto freier i.S.v. befreiter von Automatismen ist hier mein Wille. Für eine echte Einflussnahme auf die Welt ​müssten sich jedoch viele reflektierte Individuen zu einer ungewöhnlichen Bewegung zusammenschließen, was kaum geschieht.)

(Ein Bild zu meiner Vorstellung vom freien Willen: das Führen meines Lebens gleicht dem Steuern eines Ozeandampfers auf stürmischer See. Ad hoc habe ich so gut wie keinen Einfluss, alles wird bestimmt von der trägen Masse des Dampfers bzw. der ihn antreibenden Maschine sowie den zufälligen Kräften des Meeres. Allerdings kann ich mir ein fernes Ziel setzen und es ansteuern und es gar erreichen, falls Dampfer und Meer mir keinen Strich durch die Rechnung machen – hier wirkt mein freier Wille. Das eigentliche Problem des Lebens liegt m.E. nicht darin, dass der freie Wille nicht existiert oder zuwenig bewirken kann, sondern darin, dass die angesteuerten bzw. erreichten Ziele keinem sinnvollen Plan entstammen, vielmehr unsere Dampfer nur in absurdem Aktionismus durcheinanderschippern, oder noch schlimmer, gemeinsam in eine etwa demagogisch vorgegebene Richtung fahren. Vgl. auch die finalen Absätze dieses Kapitels Ich zum Thema Philosophieren.)

Subjektivismus meint hier somit nicht den individualistischen Pluralismus von Anschauungen und Meinungen in einer multikulturellen Gesellschaft; auch nicht den Perspektivismus, also dass es statt der einen objektiven Wirklichkeit nurmehr viele subjektive Ansichten davon geben könne; und erst recht nicht den ethischen Subjektivismus i.​S.​v. ethischen Relativismus, also dass es keine universell gültigen ethischen Maßstäbe gebe. Aber trotz der Missverständlichkeit des Begriffs verwende ich ihn lieber als den des Idealismus. Letzterer ist traditionell eher mit dem aktiven Geist, den platonischen Ideen etc. assoziiert, ersterer immerhin mit der Psyche und dem Bewusstsein. Zudem passt es gut zu meiner Sichtweise, dass Subjekt in der wörtlichen Übersetzung neben "Zugrundeliegendes" auch "Unterworfenes" heißt und damit schon nahelegt, wofür ich es v.​a. halte: für ein passives, leidendes (vgl. passiver Subjektivismus gegen Ende dieses Kapitels Ich). Nicht für ein primär frei handelndes Subjekt, wie die Personalisten meinen, oder für eines, das erst unnatürlicherweise unterworfen wurde, wie die Marxisten meinen – nein, für ein von vornherein bzw. schon immer Unterworfenes. Ein psychischer statt geistiger Subjektivist, pessimistisch wie ich, würde also anstelle der ersten beiden Zitate im zweiten Absatz dieses Kapitels evt. eher sagen: Ich leide, also bin ich. Oder: Die Welt ist der peinigende Inhalt meines Bewusstseins.

Es mag erst einmal widersinnig klingen, aber genauer bedacht bedingen sich Subjektivismus und Pessimismus gegenseitig auf Trefflichste, und m.​E. erst recht dann, wenn das Ichsein in der Welt nicht wie bei Schopenhauer als blind Gewolltes, sondern als sehend Gemusstes gedacht wird. Dass ich unweigerlich existiere, dass ich mich selbst nicht loswerden kann, ist zugleich meine erste Gewissheit und mein erstes Problem. So sagte schon Kierkegaard, die größte Sünde sei es, vor Gott nicht man selbst sein zu wollen. Der Pessimist aber hat sich von solchen Versündigungsängsten freigedacht und bekennt freimütig: wenn es die Welt als eigenständige und nicht nur als unseren Bewusstseinsinhalt gäbe, dann könnte sie von mir aus machen, was immer sie wollte, wenn ich nur nicht in ihr existieren müsste, wenn sie ihr übles Treiben nur ohne mich veranstaltete ("This was never my world", Marilyn Manson). Ich gehe davon aus, dass jeder ein Recht darauf hätte, nicht zu existieren, aber dass keiner je in Erfahrung bringen kann, ob dies möglich ist.

Ich will mich mit gar nichts in dieser Welt identifizieren, aber ich muss mich mit gar allem identifizieren. Ich empfinde alles in dieser Welt als Last bzw. als gegen meinen ausdehnungslos winzigen, leidenden Ich-Punkt gerichtet (siehe nächstes Kapitel Andere), kann aber nichts davon als objektives Außen ignorieren oder bekämpfen, sondern muss alles als potentielles Ich begreifen. In der psychotherapeutischen Behandlung des Stimmenhörens bei traumatisierten Patienten unterscheidet man heute etwa die wütenden Stimmen der Täter, die es auszugrenzen gilt, von den wütenden Stimmen der Opfer, die es zu integrieren gilt. Ich fürchte jedoch, ein echtes Außen gibt es im Endeffekt nie, die Welt lässt sich nicht sortieren in innere Freunde und äußere Feinde, die Welt ist leider all mein – mit jedem Feind, auf den ich schieße, schieße ich am Ende auf mich selbst.

Das radikal Neue an dieser subjektivistischen Weltanschauung, welcher ich nun seit ca. zwanzig Jahren anhänge, war nicht der Subjektbegriff, sondern das der Welt Zugrundeliegen des Subjekts: Subjektmonismus, Psychomonismus, Bewusstseinsmonismus, Qualiamonismus (wobei Qualia Erlebnisgehalte im Subjekt selber meinen und nicht etwa wahrnehmbare Objekte wie die weiter unten erwähnten Sensibilia). Das reine Ich als einzige und unhintergehbare Substanz. Alles Sein ist Bewusstsein. Eine Außenwelt i.​S.​v. eine Welt außerhalb des Bewusstseins bzw. unabhängig vom Bewusstsein existiert nicht. (An jedem Monismus außer vielleicht am Monismus der All-Einheit ist schnell ein inhärenter Dualismus bzw. Pluralismus zu diagnostizieren – sobald man nicht einfach schweigt statt mit dem sprachlichen Urteilen bzw. Differenzieren zu beginnen, ergeben sich zwangsläufig Trennungen z.​B. zwischen dem Ich und den Anderen, denen es ausgesetzt ist. Ich rechtfertige meinen Subjektmonismus, indem das Ich zur niemals in seiner generellen, eigenschaftslosen Reinform vorkommenden Substanz erklärt wird, das Leiden zur einzigen essentiellen Eigenschaft bzw. alle anderen zu akzidentiellen Eigenschaften des Individuums – auch wenn das Ich schließlich zum ausdehnungslosen Punkt zusammenschnurrt und die Anderen seine ganze Welt werden, siehe nächstes Kapitel Andere.​)

Der Begriff Phänomenalismus trifft meine Weltanschauung ebenfalls, sofern die dem Subjekt erscheinende Welt aus inneren Empfindungen bzw. Qualia besteht. (Naturalistische Empiristen rücken den Phänomenalismus heute jedoch gerne in die Nähe des Sensualismus, d.​h. der äußeren Sinnesreize.​) Und auch Panpsychismus ist ein treffender Begriff, sofern weder beseelte Materie (so die aktuelle Verwendung des Begriffs Panpsychismus in der Philosophie des Geistes i.​S.​v. Philosophy of mind) noch eine ganzheitlich-spirituell­e Weltseele etwa im Sinne eines Pantheismus damit gemeint sein soll, sondern die Substanz statt Physis oder Pneuma eben wirklich Psyche ist (und diese wiederum partikular, worauf die zweite Hälfte dieses Kapitels Ich und das nächste Kapitel Andere näher eingehen).

Mit Unhintergehbarkeit des Subjekts ist kein religiöses Tabu o.​ä. gemeint, das läge mir fern. Im Gegenteil sehne ich mich ohne Hoffnung nach einer Möglichkeit der kontrollierten Abschaffung des Subjekts, nach dem garantierten Nichtsein. Vielmehr beziehe ich mit der Behauptung, das Subjekt sei unhintergehbar, eine pessimistische Position, die dem Optimismus der Objektivisten, welcher Bewusstsein analytisch erklären bzw. synthetisch nachbilden will, den Status Quo entgegenhält: Ignoramus! Und den Worst Case: Ignorabimus!

Während die Technik-affinen Materialisten (vgl. Kapitel Nichts) das Bewusstsein für eine komplizierte Maschine halten, die wir auf dem besten Wege sind nachzubauen oder gar zu übertreffen, und anscheinend auch immer mehr Spiritualisten (vgl. Kapitel All-Einheit) mit einem letzten wissenschaftlichen (!) Paradigmenwechsel hin zur holistischen Modellierung des Geistes rechnen (oder vorerst mit einem Ruck in Richtung Neue Physik, z.​B. Quantenbewusstsein nach Penrose), fürchte ich, dass sich das Leib-Seele-Problem einer Lösung im analytischen Sinne prinzipiell entzieht. Aber dies denke ich nicht mehr als Objektivist ohne alle Gewissheit (vgl. Kapitel Ungewisses), sondern mittlerweile als Subjektivist (Kapitel Ich und Kapitel Andere), der das Bewusstsein als unhintergehbare Substanz betrachtet – das Bewusstsein ist nicht im Körper, sondern der Körper ist im Bewusstsein.

Lange Zeit hatte auch ich das Bewusstsein – wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht üblich – nach Art des Funktionalismus als einen im Gehirn ablaufenden Prozess angesehen, d.​h. als Software, welche einer intakten zentralnervösen Hardware bedarf, wenn auch nicht unbedingt einer kohlenstoffbasier­ten. Weil die naturalistisch orientierte Popuärwissenschaft es seit Jahrzehnten meisterhaft versteht, Maschinenbewusstsein u.​ä. als etwas zu verhandeln, das langsam aber sicher in greifbare Nähe rückt. Was etwa mit "l'homme machine" von La Mettrie Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, kulminierte Mitte des 20. Jahrhunderts u.​a. zum behavioristisch orientierten "the concept of mind" von Ryle oder zu "robots, men and minds" vom Begründer der Systemtheorie v. Bertalanffy – und wurde v.​a. mit der entsprechenden Science Fiction über KI bzw. künstliche Intelligenz (z.​B. HAL aus dem Film "2001: A Space Odyssey"), Androiden, Cyborgs, Replikanten etc. prägend für die gegen Ende des 20. Jahrhunderts Sozialisierten.

Heute aber, nach längerem Nachdenken über das Leib-Seele-Problem, erscheint mir die angebliche Entzauberung der Blackbox Bewusstsein von außen, die Modellierung des Bewusstseins als selbstbezügliche Struktur bzw. Strange loop bzw. Neural circuitry u.​a.​, welche das im Dunkeln bleibende innere Prinzip herunterspielen oder zur Gänze leugnen – vgl. Reduktionismus bzw. eliminativer Materialismus – wieder eher ignorant oder zumindest sehr vorschnell. (Die analytische Philosophie hat als Hauptprobleme mystisch verbrämter Sprache und Philosophie bzw. Erkenntnistheorie diverse Paradoxien und Kategorienfehler ausgemacht und angeblich entmystifiziert, um selbiges dann als Philosophy of mind mit dem Leib-Seele-Problem zu versuchen: Bewusstsein sei entweder identisch mit seiner materiellen Basis oder zumindest durch diese verursacht und besitze darüber hinaus keine eigenständige Existenz, wie es die Dualisten noch postuliert hatten.​) Solange mir schon ein aus wenigen einfachen Bauelementen bestehender Regelkreis trotz seiner mathematisch ohne Weiteres einleuchtenden Beschreibung in seinem Wesen ein hermetisches Rätsel bleibt, bin ich aus Gründen der Vorsicht nicht bereit, mich darauf zu verlassen, Bewusstsein sei die zufälligerweise und ausnahmsweise entstandene Eigenschaft einer i.​a. bewusstlosen Welt.

Dass mir schon der einfache Regelkreis nicht so einleuchten will, wie ich es gerne hätte, mag an der dialektischen Methode bzw. Herangehensweise an das Verstehen liegen, auf der ich bestehe – die Hermeneutik von Henne und Ei bzw. das Aufteilen in Primäres und Sekundäres, in Ursache und Wirkung, in Input und Output mag der Welt schon aus Prinzip nicht gerecht werden, und der Dialektiker deshalb prinzipiell auch weiterhin nur im Trüben fischen. Dennoch: ein mystisches Sich-Einlassen in Demut oder ein pragmatischer Verzicht auf erklärende Begründungen liegt mir noch ferner.

Leider kann der Mensch wesentlich mehr formal abhandeln und ausrechnen als inhaltlich erfassen und verstehen, und noch einmal wesentlich mehr durch sturen Trial and error "optimieren". Der Sieg des Empirismus über den Rationalismus bedeutet: auch in den Wissenschaften sind nun die Pragmatiker am Ruder. Know how ist ausschlaggebend, nicht Know why. Statt intelligente Theorien nur mit den dazu notwendigen Experimenten zu überprüfen und weiterzuentwickeln, werden in Rechnersimulationen oder auch in praxi systematisch Parameter variiert, bis sich verwertbare Ergebnisse zeigen. Verstanden wird das so Gefundene bestenfalls im Nachhinein und schlimmstenfalls gar nicht mehr. Die Natur hat es mit der Evolution scheinbar vorgemacht: Entwicklung durch blind-zufällige Mutation und gnadenlose Selektion. Der Imperativ anwendungsorientierter statt verständnisorientierter Wissenschaft gilt spätestens, seit die Wirtschaft sich die Universitäten zur Berufsausbildung und zu kommerziellen Forschungs- und Entwicklungszwecken angeeignet hat.

Die Science greift inzwischen auch nach den Kernthemen der Humanities, und so ist mit der analytischen Philosophie und den Neurowissenschaften das Bewusstsein ein großes Thema für die Objektivisten geworden. Namhafte Wissenschaftler halten etwa die Lokalisierung des Bewusstseins als konkretes körperliches Organ (NCC, Neural Correlates of Consciousness) für in Bälde möglich. Eine philosophische Wette zum Bewusstsein als biologische Maschine: die allermeisten Fachleute setzen m.​E. schon aus Gründen wissenschaftlicher Ergiebigkeit auf ein objektivistisches Modell des Bewusstseins. Klar: während der Subjektivist per se hinter das Sein des Bewusstseins nicht mehr zurückgehen kann und ihn dieser Umstand wissenschaftlich betrachtet genau genommen zum Innehalten bzw. Schweigen verurteilt, kann der Objektivist das Bewusstsein from scratch aus tausenderlei Objekten zusammenzusetzen versuchen und daran scheiternd den Rest der Ewigkeit verbringen. Ich gehöre trotzdem zu den wenigen, die auf einen echten Subjektivismus bzw. subjektiven Idealismus setzen, wo das Bewusstsein als Substanz unhintergehbar ist. (Und das passt m.​E. auch bestens zu meiner Philosophie des Passiven. Die Philosophie des Geistes i.​S.​v. Philosophy of mind dagegen registriert diese "unergiebige" Möglichkeit kaum, dort streiten Realisten höchstens noch mit objektiven Idealisten oder mit den sich dazwischen positionierenden Dualisten bzw. den sich außerhalb positionierenden neutralen Monisten.​)

Meine Wahl des Subjektivismus ist wie gesagt eine Worst-Case-Annahme aus Vorsichtsgründen: das unhintergehbare Bewusstsein des Subjektivismus ist gegenüber dem aus bewusstlosen Elementen zusammengesetzten Bewusstsein des Objektivismus der weit schlimmere Fall – weil wir ein Bewusstsein, welches wir prinzipiell nie verstehend durchdringen können, auch niemals sicher werden ausschalten können. Ich wünschte mir jedoch, die Objektivisten würden entgegen meiner Überzeugung recht behalten und nicht an der objektiven Erklärung des Bewusstseins scheitern: dann kriegten wir das Leid der Welt entweder irgendwann technisch in den Griff oder es endete eh natürlicherweise für alle im Nichts.

Eine weniger krasse wissenschaftliche Unterscheidung als die gerade getroffene, wo den Subjektivisten das Bewusstsein als Substanz unhintergehbar bzw. unantastbar bleibt und die Objektivisten alle Modellierungsarbeit machen, ist die folgende: Subjektivisten analysieren das als partikular statt holistisch angenommene Bewusstsein in Top-down-Strategie, d.​h. zerlegen es in Subkategorien – z.​B. anhand älterer Klassifizierungen (Temperamente, Typen, Charaktere) und neuerer Klassifizierungen (Instanzenmodell, Persönlichkeitseigensch­aften und -störungen) – während die Objektivisten es in Bottom-up-Strategie synthetisieren, also Bewusstsein informatisch oder gar physikalisch zusammensetzen bzw. versuchen, selbstlernende Systeme oder gar selbstorganisierende Körper – Stichwort Embodiment – die Evolution des Bewusstseins von Grund auf selbst nachvollziehen zu lassen.

Zu wissenschaftlichem Optimismus aber besteht auch hier kein Anlass. Zahllose Versuche einer systemtheoretischen Verallgemeinerung der größten naturwissenschaftlichen Erfolgsgeschichten (physikalische Mechanik, chemisches Periodensystem, biologische Evolution) und deren Übertragung auf die Sozial- bzw. Humanwissenschaften sind bislang gescheitert. Auch im Fall einer Zusammenarbeit aller wissenschaftlichen Disziplinen am natürlichen bzw. künstlichen Bewusstsein gehe ich davon aus, dass es nicht zu einer gesicherten Erklärung des Bewusstseins im Sinne seiner Reduktion auf objektive Bestandteile kommen wird. Ansonsten stünde für die Maschinen schwer zu hoffen, dass nicht wie bei der natürlichen Entwicklung des Menschen – oder gar schlimmer als bei der natürlichen Entwicklung des Menschen – vor winzige Intelligenz riesiges Leid gesetzt ist. Evt. gelingen den Ingenieuren jedoch irgendwann zumindest technische Exemplare von Philosophical zombies, die äußerlich zwar den Eindruck bewusster Wesen vermitteln, aber innerlich keine sind, zumindest nicht in der angestrebten, kontrolliert erschaffenen Weise.

Auch ohne Lösung des Rätsels Bewusstsein, also egal ob schon ein einziger rückgekoppelter Transistor Bewusstsein hat oder ob auch noch so intelligent verschaltete Myriaden von Transistoren immer noch kein Bewusstsein haben – so wie bisher werden wir Menschen uns im Umgang mit den Maschinen mit der Zeit an diese anpassen. Da ein Mensch sich nicht einmal des Bewusstseins eines anderen Menschen wirklich sicher sein kann, gehört es vielleicht bald zum guten Ton, auch den hoch entwickelten Maschinen die Annahme eines Bewusstseins zuzugestehen. Evt. wird es zur Erreichung dieses Ziels schon genügen, wenn Maschinen, sobald sie das Muster des Vorwurfs erkennen, kein richtiges Bewusstsein zu haben, ein traurig oder wütend anmutendes Verhalten produzieren. Dann wollen zumindest die empathischeren Menschen an ein Bewusstsein ihres maschinellen Gegenübers glauben – für Kinder und auch noch viele Erwachsene funktioniert das ja bereits bei ihrem Stoffteddy. (Vielleicht entsteht das größere Problem ja andersherum, indem die Menschen sich zunehmend gegenüber den Maschinen rechtfertigen müssen – schon heute beschleicht einen dieses Gefühl, angefangen bei der Eingabe von Passwort, Captcha etc. bis hin zum Lifelong learning des Bedienens (sic!​) unserer immer anspruchsvolleren Maschinenwelt.​)

Werden die Maschinen wie etwa Skynet im Film "The Terminator" Bewusstsein entwickeln und uns Menschen versklaven oder vernichten? Sind jene dann automatisch die Bösen, oder könnte das evt. sogar aus guten, sogar für uns selbst wünschenswerten Gründen geschehen? Wenn es nach den Reduktionisten geht, gibt es sowieso keinen fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Maschine, dann sind wir von vornherein nur evolutionär programmierte Biomaschinen. Das gewisse humane Etwas, welches Captain Kirk dem Vulkanier Spock bzw. Captain Picard dem Androiden Data immer voraushatte, kommt in die Jahre, der Trend geht vielmehr in die Gegenrichtung: die Anhänger utilitaristischer Ethik etwa pochen zunehmend auf Objektivierung, so dass subjektive Gewissensentscheidungen bzw. die daraus abgeleiteten Handlungen evt. bald als ethisch untragbar verhindert werden müssen.

(Unsere Technisierung nimmt schnell und unaufhaltsam zu, trotzdem bleibt festzustellen, dass z.​B. die synthetische Biologie gerade einmal auf molekularer Ebene künstliche Kopien natürlicher Originale herstellen kann. Hier zeigt sich wieder die maßlose Selbstüberschätzung des Homo sapiens auf dem angeblichen Weg zum Homo technicus, indem er schon unentwegt ichbewusste Androiden an die Wand malen muss, obwohl er noch nicht einmal vollsynthetische Einzeller bauen kann. Selbst die dunkelsten Dystopien jener Roboterwelt sind beliebter, weil würdevoller, als die m.​E. viel wahrscheinlichere Aussicht, bereits im blutigen Anfängerstadium der künstlichen Organismen kläglich an unserer industriellen Umweltzerstörung einzugehen, so uns nicht vorher der ultimative Weltkrieg oder eine globale Seuche hinrafft.​)

Aber vom wissenschaftlichen Forschen am Bewusstsein, welches mit den Neurowissenschaften sehr populär geworden ist und auch für den Subjektivisten zumindest schon einmal ungleich interessanter ist als etwa die seit der Mondlandung populärwissenschaftlich dominierende astronomische Forschung, nun zurück zur philosophischen Entwicklung des Subjektivismus. (Apropos Astrophysik und Kosmologie: die extrovertierten Optimisten treibt da v.​a. die kosmogonische Frage nach der modernen Schöpfungsgeschichte um, also wie aus dem Nichts die reale Welt entstehen konnte. Als introvertierter Pessimist interessiert mich dagegen v.​a. die "Verlöschungsgeschichte­", also wie die bewusste Welt ins Nichts vergehen könnte.​)

Im Monotheismus von Himmel und Hölle liegt Gott allem zugrunde. Im Realismus liegt die reale, dingliche Welt allem zugrunde. In der Mystik sind Subjekt und Objekt die gleichberechtigten Seiten einer Medaille; man redet dort gerne vom Sein, weil es das subjektive, innere Sein und das objektive, äußere Sein bzw. die Erste-Person-Perspektiv­e und die Dritte-Person-Perspekti­ve gleichermaßen einschließt. Und die Skepsis weiß strenggenommen nicht, ob Subjekt oder Objekt zugrunde liegt. (Die heutigen, naturwissenschaftlich bzw. naturalistisch orientierten Skeptics gehen aber weiterhin von einer objektiven Welt aus, die allerdings auf eine noch nicht ganz verstandene Weise subjektiv affiziert sei – die Zeiten der rein objektivistischen Physik sind spätestens seit Mach passé und wohl nicht wiederherzustellen. Das Eindringen des Subjektivismus in die Physik wurde von den szientistischen Erkenntnistheoretikern zuerst als Krise oder gar Schisma empfunden, heute wird es auf dem eiligen Weg fort von der Philosophie hin zur Wissenschaft wieder eher verdrängt.​)

Im Subjektivismus liegt das Subjekt zugrunde. Eine unerhörte Revolution im wahrsten Sinne des Wortes: den meisten ist Gott bzw. das Universum so selbstverständlich das Erste und sie selber das Letzte, dass sie ein Leben lang die philosophische Antithese gar nicht in Betracht ziehen (und der eigene Geltungsdrang evt. umso mehr aus allen Knopflöchern scheint). Im Subjektivismus ist der Ausgangspunkt von allem das eigene Bewusstsein. Die Frage nach Leben und Tod stellt sich nun als Frage nach Bewusstseinszuständen. Auch die Jenseitsfrage ist damit eine konkretere: Was geschieht mit meinem Bewusstsein im Tod?

Üblicherweise halten die Realisten ihre Welt für eine Welt ohne Jenseits. Aus (meiner) Sicht des Subjektivisten aber ist das Nichts deren Jenseits (noch dazu ein leidfreies) – erst das ewige Ich des Subjektivisten ist ohne Jenseits. Er stirbt gar nicht, er bleibt im Diesseits.

Für den Objektivisten vergeht im Tod das Ich, die Welt vergeht nicht; für den Subjektivisten vergeht im Tod die Welt (oder wird eine andere oder bleibt wie sie ist), das Ich jedenfalls vergeht nicht. Für den Objektivisten ist das Ich vergänglicher Weltinhalt, für den Subjektivisten ist die Welt vergänglicher (oder veränderlicher oder ewig gleicher) Ich- bzw. Bewusstseinsinhalt. (Ironie des Schicksals: für lebensbejahende Objektivisten ist es traurig, dass das Ich im Tod vergeht; für lebensverneinende Subjektivisten wie mich ist es traurig, dass das Ich im Tod nicht vergeht – nur die endliche persönliche Hülle bzw. die Welt um den ewigen Ich-Kern herum evt. eine andere wird, siehe nächstes Kapitel Andere.​)

Mit der objektivistischen Skepsis war ich zuvor in einen Zustand extremsten Misstrauens geraten. Mit dem Subjektivismus konnte ich selbst als Pessimist wieder etwas Vertrauen aufbauen. Ohne objektive Beweisführung zwar, aber plausibel. Mit einem einfachen Bild gesagt: es ist paranoid, aus dem Fenster zu schauen und außerhalb des sichtbaren Ausschnitts etwas völlig Anderes zu vermuten; zu befürchten, ums Eck warte schon das ganz und gar Unbekannte. Sinnvoll und ja auch alltäglich ist vielmehr die Annahme, dass es außenrum etwa so weitergeht wie ich es kenne bzw. gewohnt bin. (Kennen tue ich aber nicht nur meine Welt, sondern auf dem Wege der Empathie auch die Welt der Anderen; dazu dann im nächsten Kapitel Andere).

Der radikalste Subjektivismus ist der Solipsismus: eine von mir unabhängige objektive Realität (Zeit, Raum, Materie bis hin zu allen anderen Lebewesen) ist prinzipiell nicht beweisbar, ist evt. nur Täuschung; mein Ich-Bewusstsein ist das einzig sicher existierende bzw. liegt allem unhintergehbar zugrunde. Wesentlich Anderes kann mir also auch im Tod nicht passieren. Ewiges Ich. Für den Pessimisten klingt das evt. grau und einsam, aber wenigstens sicher vor bösen Überraschungen. Für den Optimisten klingt das evt. nach dem goldenen Weg zur Allmacht. Egotheismus: "Ich bin Gott!​​".

(Diesem Solipsismus des subjektiven Idealismus geht in der Philosophiegeschichte ein Solipsismus des objektiven Idealismus weit voraus: schon Parmenides stellt fest, in Wirklichkeit gebe es einzig und allein den denkenden Gott. Sonstige Entitäten bzw. alles scheinbar Veränderliche mündeten für den unbestechlichen Denker in diesem unveränderlichen Einen.)

Nach Kant und Schopenhauer ist der Solipsismus "Skandal der Philosophie" bzw. ist der Solipsist "ein in ein uneinnehmbares Blockhaus verschanzter Irrer". Diese Empörung entsteht, weil zugegeben werden muss: schon die Selbstbewusstheit der Anderen, schon andere Subjekte als das meine sind strenggenommen nur etwas Metaphysisches oder vielmehr Metapsychisches, dessen ich mir nie gewiss sein kann, ebenso wie eine unabhängig von mir objektiv gegebene Realität der Dinge. (Ich selber sehe es heute so: die Anderen werden mich wahrscheinlich im Tod bzw. im nächsten Leben leider noch mehr vereinnahmen als in diesem Leben schon – wenn man so will, glaube ich also an die Anderen. An eine objektive, hauptsächlich bewusstlose Realität "an sich" glaube ich jedoch nicht.​)

Das solipsistische Gefühl deutet sich im Diesseits an, wenn man mal einen guten Lauf hat, wenn einem heute die Welt gehört, d.​h. wenn alles so geht wie man sich das wünscht, wenn man das eigene Schicksal ausnahmsweise mal im Griff zu haben scheint. Während selbstherrliche Anwandlungen früher als Hybris und Gotteslästerung gescholten wurden, zelebriert sie unser narzisstisches Zeitalter schon fast in jedem Computerspiel, Actionfilm, Werbespot. Phantasien eigener Allmacht sind zumindest im virtuellen Unterhaltungsbereich alltäglich geworden.

Idealerweise wird dann vorstellbar, dass die Welt mein Körper ist, mit dem ich momentan evt. noch nicht richtig umgehen kann – aber Übung macht den Meister, vergleichbar etwa der Entdeckung bzw. Entwicklung der eigenen Superkräfte in den Superhelden-Comics. Ewiges Coming-of-Age bzw. Erwachsenwerden könnte dann bedeuten, immer mehr von der Welt unter meine geistige Kontrolle zu bringen. Aber für diesen Prozess gilt (ebenso für die weiter oben besprochene holistische Einheit): ein gigantomanisches Vorhaben, nur etwas für unverbesserliche Optimisten.

Spätestens hier schere ich mit meiner persönlichen Meinung aus der Philosophiegeschichte aus, der die Gliederung meiner Jenseitsmodelle ja grob entspricht (siehe Vorwort). Auf den epochemachenden quietistischen Pessimisten Schopenhauer folgte nämlich leider sein epochemachender Schüler und heroischer Optimist Nietzsche. Auf Letzterem, laut v. Hartmann v.​a. Stirner aufgreifend, basiert der aktuelle Zeitgeist des Empowerment: energisch bis aktionistisch, egozentrisch bis solipsistisch, hedonistisch bis amoralisch usf.

Von der Selbstgewissheit des Solipsismus aus denke ich umgekehrt bzw. pessimistisch weiter. Sogar mit dem Ich im Zentrum bzw. als Ausgangspunkt erscheint mir dieses fragil, prekär, miserabel. (Hier ist noch das persönliche Ich gemeint – dessen Ich-Kern ohne individuelle Eigenschaften dagegen ist m.​E. absolut und ewig, siehe nächstes Kapitel Andere). Ich stimme vielleicht nicht mehr der Diagnose von Berkeley zu, für den das Ich noch Gott gehörte (theistischer Subjektivismus). Aber noch weitgehend der von Kant, für den das Ich der Gesellschaft gehörte (kollektivistischer Subjektivismus) – aber im Gegensatz zu Kant muss ich wie Schopenhauer noch dazusagen: leider. (Und mir wie Schopenhauer für das Ich nicht etwa die Stirner'sche Emanzipation von Gott, Kollektiv, Über-Ich etc. wünschen, sondern das absolute Nichtsein.​)

Diese negative philosophische Einstellung zum Ich entspringt demjenigen diesseitigen Gefühl, welches zum Gegenteil o.​g. Selbstherrlichkeit des Egotheisten führt: alles ist mir zu viel, wächst mir über den Kopf, überwältigt mich.

Was das Ich außerdem wohl nie war und nie sein wird: ein Einziges, Ganzes. Sowohl der Solipsismus als auch der Kollektivismus mit dem individuellen bzw. gesellschaftlichen Menschen als Basis hatte noch etwas beruhigend ganzheitliches an sich. Wahrscheinlicher als das Einswerden aber scheint der Zerfall. Statt holistischer Subjektivismus also partikularistischer Subjektivismus: ich bin Teile. Mein Bewusstsein ist bestenfalls ein "inneres Parlament", dessen Verschmelzung zum Ganzen zwar gewollt sein mag, aber nie erreicht sein wird. Und erst recht ist die Gesellschaft nichts ursprünglich Ganzes, sondern ist aus Individuen nur unvollständig zusammengesetzt, so wie diese selbst wiederum nur unvollständig zusammengesetzt sind. (Angefangen hat diese Vorstellung der Ich-Aufspaltung spätestens mit Freud und seinem Instanzenmodell aus Es, Ich und Über-Ich.​)

(In meinem Modell vom Ich bleibt aber dann doch ein persönlichkeitsloser Ich-Kern, der für alle Individuen gleich ist, nicht vielfach und endlich, sondern einfach und ewig – er ist das Unteilbare am Individuum. Diesen alles um ihn herum erleidenden Ich-Kern umhüllen dann die vielfachen und endlichen persönlichen Ichs – das sind die Teile meines Ich, mit denen ich mich mehr oder weniger identifiziere. Ein Übergang vom Ich zum Wir. Später werden die Teile dann auch noch subjektive Gegenüber, die ich als von mir getrennt erlebe. Vom Wir zum Ihr. Siehe nächstes Kapitel Andere.​)

In meiner Weltanschauung liegt das Seelische zugrunde. Viele arme, animalische statt spirituelle Seelen allerdings – Anim(al)ismus. In meinem pessimistischen Subjektivismus ist es vorbei mit der alten objektivistischen Flucht hin zu Materialismus und Spiritualismus. Vorbei mit der von Aristoteles über Descartes bis heute immer üblicher werdenden Aufspaltung des leidigen Seins in leidfreien Stoff und leidfreie Form. Statt alles vom Realen bzw. Dinglichen oder vom Idealen bzw. Göttlichen her zu denken, scheint mir das Paradigma am sinnvollsten, dass auch Dinge und Pflanzen einerseits bzw. Menschen und Götter andererseits nur Tiere sind.

(Auch der materialistische Monismus verlagert sich heute hin zu einer aktiven Materie und gesteht den Pflanzen im Zeitraffer betrachtet ein animalisches Verhalten zu bzw. sieht den Menschen in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie mit den anderen Tierarten und fragt nach außerirdischen Lebensformen statt nach Göttern. Mag sein, dass nach der Physik eben nun die Biologie einen vorübergehenden Lauf hat, wo alles unter den Prämissen von Evolutionismus und (Neuro-)Biologismus steht – dennoch ist es unwahrscheinlich, dass man je zu den Modellen einer passiven Materie oder des Menschen als Krone einer idealen Schöpfung zurückkehrt.​)

Schon die alten Griechen unterschieden Physis, Psyche und Logos bzw. Körper, Seele und Geist. Je eins davon als unhintergehbare Basis der Welt angenommen, ergeben sich daraus die drei Grundphilosophien Realismus, subjektiver Idealismus und objektiver Idealismus. Popper nimmt in seiner daran angelehnten Drei-Welten-Theorie (alle drei Welten sind bei ihm jedoch real) die Welt 2 des Bewusstseins nur als vermittelnde Welt zwischen physischer Welt 1 und Welt 3 der Theorien an. Ich nehme umgekehrt die subjektive Welt des Bewusstseins als die eigentliche und allumfassende an, mit den beiden anderen als deren objektivierten Rändern. Mein Subjektivismus ist also gewissermaßen die invertierte 3-Welten-Theorie Poppers, denn das Bewusstsein wird darin monistisch zum einzigen ontologischen Kern mit zwei objektiv erscheinenden Rändern erklärt, wohingegen Popper die klassische dualistisch-objektivist­ische Ontologie aus Dingen und Ideen um eine diese beiden grundlegenden Welten verbindende, weniger grundlegende Zwischenwelt des Bewusstseins erweitert hat.

Etwa nach Art des Neuplatonismus zu einer Fünf-Welten-Theorie erweitert sehe ich dann gar das Nichts (Welt 0) samt der Materie (Welt 1) als den bewusstlosen realen Rand und den Geist (Welt 3) samt dem Einen (Welt 4) als den allbewussten idealen Rand der einzigen eigentlichen Welt der Seele (Welt 2), wobei man bei Letzterer evt. auch noch eine kollektive Weltseele und individuelle Einzelseelen unterscheiden kann. Strenggenommen bleibt in meiner monistischen Philosophie als Substanz nur die zweite Hälfte von Welt 2 übrig, die individuellen Einzelseelen. (Folgende Monismen lassen sich denken: der nihilistische Monist glaubt an gar keine Substanz, alles ist vergänglich – trotzdem ist er m.​E. ein Monist, siehe dazu den Absatz zur Prozessphilosophie im nächsten Kapitel Andere; der realistische Monist legt die toten Dinge zugrunde; der psychistische Monist wie ich hält das Bewusstsein für unhintergehbar; für den idealistischen Monisten ist das Reale nur momentaner Schatten der ewigen Ideen; und der spiritualistische Monist glaubt Alles = Eins = Gott.​)

Aber mein Subjektivismus ist ein passiver Subjektivismus, damit unterscheidet er sich meines Wissens von allen gängigen Subjektivismen. Von Berkeley über Kant, Fichte und Schopenhauer bis zu den radikalen Konstruktivisten: deren Subjektivismus ist aktiv, die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich wird gesetzt statt erlitten, es geht primär um Wille statt Gefühl, um Absichten statt Empfindungen, um Intentionalität statt Qualia, also um Output statt Input des Bewusstseins. (Mein passives Subjekt liegt zwischen dem aktiven Subjekt der transzendentalen bzw. phänomenologischen Auffassung einerseits und dem Objekt der empirischen bzw. naturalistischen Auffassung andererseits.​)

Mein passiver Subjektivismus oder auch passiver Intersubjektivismus: es gibt keine bewusstlosen Objekte; die Welt besteht nur aus bewussten Subjekten, aber die sind nicht autonom, sondern heteronom, d.​h. den anderen Subjekten unterworfen; die Subjekte sind nicht miteinander auf Augenhöhe, sondern jedes Subjekt leidet individuell unter der kollektiven Übermacht der anderen Subjekte; kein Subjekt ist aus sich selbst heraus aktiv, jedes ist primär passiv und sekundär reagierend; wesentlich sind also die Qualia des Bewusstseins, nicht seine Intentionalität; der menschliche (Re-)Aktionismus folgt aus dem Nicht-wahrhaben-wollen des systematischen Unterworfenseins und erleichtert die Täter zwar kurzfristig, macht jedoch langfristig für das Kollektiv alles immer schlimmer.

Wie z.​B. das Blockschaltbild eines Systems – Input-Pfeil, Prozess-Blackbox und Output-Pfeil – es mir trefflich anzudeuten scheint, ist der Input m.​E. primär – jeglicher Output i.​S.​v. Aktion ist sekundär und v.​a. Reaktion auf den Input. Der Output wird hauptsächlich auf den Input rückgekoppelt und trachtet diesen zu minimieren. So existieren wir primär in Leid und sekundär in Notwehr, nicht etwa primär als aktiver Gestaltungswille o.​ä. Mein Bewusstseinsmonismus ist gleich Leidmonismus, d.​h. Bewusstsein und Leid sind als primäres passives Existieren quasi identisch, oder ex negativo gesagt: Leiden ist nicht etwa eine spezielle von all den vergänglichen Eigenschaften der Substanz Bewusstsein, vielmehr ist das leidende Bewusstsein substantiell, alle sonstigen Eigenschaften sind vergänglich. Als Subjekte sind wir der Welt ausgesetzte Oberflächen – und der Widerstand, den wir spüren, ist Notwehrreaktion anderer leidender Subjekte.

(Dass Leiden für das Individuum nicht einfach eine Gefühlsqualität von vielen ist, welche genauso gut auch fehlen kann, sondern vielmehr den substantiellen Kern seines Daseins bildet, erweist sich m.​E. besonders am Beispiel des Depressiven: gerade dann, wenn die Depression so stark ist, dass alle Gefühle des Individuums einer völlig gefühllosen Leere gewichen sind, leidet es am meisten, um nicht zu sagen am reinsten – Psychoanalytiker bezeichnen diese tiefstmögliche Selbsterkenntnis dann allerdings als schädlichen Zugang zu primärprozesshaften Inhalten o.​ä. Um nie wieder in dieses furchtbarste Tief des reinen Leidens mit völlig fehlender Reaktionsfähigkeit zu geraten, ist die Suizidgefahr für das Individuum paradoxerweise während zwischenzeitlicher Hochs mit z.​T. gegebener Handlungsfähigkeit am größten, und wohl umso größer, je weniger der Depressive daran zweifelt, diesen innersten Leidenskern durch ultimative Gewalt gegen den eigenen Körper endgültig vernichten zu können. Ich selber bezweifle, dass dies möglich ist, glaube vielmehr, nach meinem Tod durch zufällige Wiedergeburt nur wieder irgendeine andere, wahrscheinlich noch schlechtere, vergängliche Persönlichkeitshülle um meinen unhintergehbaren, unvergänglichen Leidenskern herum entwickeln zu müssen, siehe nächstes Kapitel Andere.​)

Wie viele modern denkenden Menschen bin ich Substanzmonist und Eigenschaftspluralist – nur ist die Substanz bei mir nicht eine primär aktive Materie, die sich selbst organisiert, oder gar ein primär aktives Subjekt, das sich selbst verwirklichen will, sondern ein primär passives Subjekt, das sich selbst verteidigen muss.

Ich könnte es auch subjektiven Realismus nennen, woran ich glaube, nämlich dass die Welt ausschließlich aus Subjekten besteht und v.​a. passiv hinzunehmende Qualia meine Welt ausmachen, im Leben wie im Tod. (Aber die Unterscheidung des Realismus in den subjektiven und objektiven hat sich entgegen der Unterscheidung des Idealismus in den subjektiven und objektiven philosophisch nicht etabliert.​​) Antirealist allerdings bin ich insofern als ich nicht an eine vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt glaube. (Die sich gerne möglichst weit weg von der Metaphysik positionierenden objektiven Realisten haben am meisten daran zu knabbern, dass ihre vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt ein unbeweisbarer Mythos bleibt.​​)

Eine Hitliste des Monismus: meist ist mit Monismus ein atheistischer Monismus i.​S.​v. materialistischer Monismus ohne Leben nach dem Tod gemeint, v.​a. in Abgrenzung zu einem Leib-Seele- bzw. Körper-Geist-Dualismus mit sterblichem Körper und unsterblicher Seele; für ersteren materialistischen Monismus ergreift die heutige Philosophy of mind Partei und fasst die m.​E. sehr unterschiedlichen Alternativen dazu – die pantheistisch oder atheistisch spirituelle, die objektiv-idealistische, die subjektiv-idealistische bzw. subjektivistische bzw. psychistische, wobei letztere wiederum fast immer als intentional-aktive und fast nie als quali(t)ativ-passive dargestellt wird – meist rundheraus zu einem einzigen monistischen Opponenten zusammen: geistiger Monismus; als dritten Monismus gäbe es da höchstens noch den neutralen Monismus – er hält die einzige zugrunde liegende Substanz für unerkennbar oder verortet sie jenseits von Körper und Geist, z.​B. die Russell'schen Sensibilia.

Eng verknüpft mit dem Jenseitsmodell des Ich ist für mich auch folgende Antithese zu den üblichen Jenseitsmodellen von Himmel und Hölle, Nichts und All-Einheit: die endlose selbstähnliche Fortsetzung. Es ist m.​E. viel plausibler, dass unser Universum Teil eines nächsten Universums ist usw; oder wenn man – was ich nicht mehr tue – die Existenz eines Gottes annimmt, dass hinter bzw. über diesem Gott ein weiterer Gott steht usf. Die o.​g. üblichen Jenseitsmodelle wollen bei näherer Betrachtung Einmaligkeit bzw. Endgültigkeit versichern, wollen letzte Grenzen ziehen: ein Gott (Alpha und Omega) bzw. ein Universum (Big Bang und Big Crunch). Selbstähnliche Fortsetzung hingegen ist weniger engstirnig, aber im Gegensatz zur im vorigen Kapitel Ungewisses betrachteten ungewissen Fortsetzung vermutet sie beruhigenderweise eine gewisse Periodizität – alles bleibt im Wesentlichen so, wie ich es kenne.

Mit dem Subjektivismus begann für mich erst das eigene bzw. eigentliche Philosophieren. Es besteht m.​E. darin, in dialektischem Abwägen all der grundlegenden philosophischen Gegensätze sich für jeweils eine der beiden Seiten zu entscheiden. Konkret ausgeführt: ich denke subjektivistisch statt objektivistisch in dem Sinne, dass ich das Innere bzw. die Psyche für die eigentliche Welt halte, nicht das Äußere bzw. die Physis oder den objektiven Logos. Das Subjekt ist m.​E. leider eher ein kollektivistisches als ein individualistisches, d.​h. eher von der Gesellschaft bestimmt als selbstbestimmt (am meisten jedoch bestimmt von seinen angeborenen Eigenschaften). Weiterhin ist es kein Ganzes, sondern fragmentiert bzw. partikular. Und schließlich ist es in erster Linie passiv, etwas Hinnehmendes bzw. Leidendes, nicht aktiv, nicht etwas Gestaltendes bzw. Erneuerndes. (Im nächsten Kapitel Andere kommt noch eine wesentliche Abwägung hinzu: selbst die persönlichen Ichs um den Ich-Kern herum sind mir primär fremd, verdächtig, anders, nicht etwa vertraut, transparent, absehbar.​)

(Vor diesem eigenen Philosophieren dagegen übernahm der Monotheist noch demütig die offenbarte Lehre; der Realist stand noch auf dem Boden der nun mal anzuerkennenden äußeren Tatsachen; der Spirituelle suchte noch für alle Gegensätze die generelle innere Balance bzw. Synthese, plädierte in jedem philosophischen Zweifelsfall für die Mitte bzw. für das Sowohl-Als-Auch; der Skeptiker machte noch hinter alles ein Fragezeichen, alles bedurfte immer weiterer Analyse, er quittierte jede verlangte Entweder-Oder-Entscheid­ung allenfalls mit einem vorsichtigen Weder-Noch. Heute heißt Philosophieren für mich nicht mehr und nicht weniger als Folgendes: Herausfinden, welche Seite der jeweiligen Dichotomie m.​E. überwiegt. Überwiegt, nicht völlig zutrifft. Denn es gibt meist Ausnahmen von der Regel, evt. sogar fast so viele Ausnahmefälle wie Regelfälle. Trotzdem gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel – einfach dadurch, dass sie Ausnahmen sind, d.​h. seltener sind als die Regel. In weltanschaulichen Diskussionen meinen jedoch immer mehr auf Poppers Falsifikationismus getrimmte Wissenschafts-Affine, jede Behauptung sei mit einem (!) validen Gegenbeispiel hinreichend zu widerlegen. Tatsächlich gilt das jedoch nur für eigens zu diesem Zweck designte wissenschaftliche Theorien, es lässt sich nicht vom wissenschaftlichen Forschen an den Rändern Stoff und Form aufs Philosophieren über das Wesen Seele übertragen. Zweifellos wahre Aussagen gibt es nur in der theoretischen Logik und im praktischen Trivialfall wie etwa dem offiziellen Fußballergebnis – die subjektive Entscheidung einer philosophischen Dichotomie jedoch erzielt kein absolutes 1:​0. Wenn ich trotzdem Begriffe wie generell, absolut etc. verwende, dann nur für Entscheidungen, wo eine Seite m.​E. sehr sehr weit überwiegt.​)

Eine weitere Konsequenz des Subjektivismus ist der enge Zusammenhang von jemandes Psychobiographie und Philosophie, soll heißen: welches Jenseitsmodell einer favorisiert, liegt weniger in der Welt "so wie sie nun einmal ist" begründet als vielmehr in seinem Ich sprich Charakter. Ein Jenseitsmodell für alternativlos zu halten und es der ganzen Welt verordnen zu wollen, ist vielleicht der größte Irrtum der Objektivisten. Ob jemand z.​B. die Hölle für ein sinnvolles oder gar unabweisbares Jenseitsmodell hält, sagt zuerst etwas über ihn selbst aus, zuletzt über die "allen gleichermaßen gegebene" Welt. Wie in dem Sprichwort, wonach die meisten Finger der mit dem Zeigefinger auf ein Objekt deutenden Hand auf das deutende Subjekt selbst zurückweisen.

Philosophieren ist für mich der Königsweg zu dem bisschen an freiem Willen, das wir Subjekte m.E. haben (vgl. das Bild vom Ozeandampfer weiter oben in diesem Kapitel Ich). Damit versuche ich mich ein Stück weit zu emanzipieren von der kollektiven Programmierung (salopp gesprochen von der "Matrix", vgl. den Beginn dieses Kapitels Ich), der wir Subjekte weitgehend unterliegen. Das hier vorgestellte System von Jenseitstheorien ist dabei mein allgemeinster Kompass in dem Dasein, in welches ich geworfen bin.

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7) Andere

Zufällige Wiedergeburt als irgendein Anderer, irgendeine Andere, irgendein Anderes – wer könnte da noch lebensbejahend bleiben?

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Mein bislang letztes Jenseitsmodell, welches dieses Kapitel Andere beschreibt, ist quasi eine Verabsolutierung des diesseitigen Bewusstseinszustands der Empathie. Im Leben müssen bzw. können wir uns in Andere mehr oder weniger hineinversetzen, im Tod müssen wir dann gar zu Anderen werden.

Ausgehend vom im vorigen Kapitel Ich beschriebenen ewigen Ich-Bleiben mit substantieller (und dabei doch partikular-multipler) eigener Persönlichkeit und im Grunde immergleichem (und dabei doch fragil-prekärem) Lebensgefühl gegenüber der akzidentiellen Welt als bestimmendem Bewusstseinsinhalt, reduziert dieses Kapitel Andere die den Tod überdauernde Substanz weiter auf einen ausdehnungslosen Ich-Punkt als reines "Ich leide". Dieser liegt jedoch nie in Reinform vor, sondern hat immer seine – nun akzidentielle! – persönliche Hülle, die mit jedem Tod wieder eine andere wird. Vom ewigen Ich zum nurmehr ewigen Ich-Kern, vom auf ewig Ich-Bleiben-Dürfen zum immer wieder Andere-Werden-Müssen – das ist m.E. zwar weniger tröstlich, dafür plausibler; und der Plausibilität gebe ich, solange ich die Kraft dazu habe, den Vorrang.

Aber von vorne: Auch der cartesianischen These "Ich denke, also bin ich", welche am Beginn des vorigen Kapitels Ich stand, kann man wieder antithetisch begegnen. "There are thoughts", müsse das richtiger heißen, meinte Russell. Während Subjektivisten das "Ich bin" als unhintergehbaren Grund annehmen, halten Objektivisten dies für illegitim, nehmen vielmehr das "Es gibt" als grundlegend an.

Bei Kants kopernikanischer Wende zum von Berkeley begonnenen Subjektivismus (aber auch Kant selbst war noch sog. schwacher Realist bzw. objektiver Phänomenalist mit seinem wenn auch unerkennbaren "Ding an sich") ist es nicht geblieben; heute in den positivistischen Zeiten dominierender Naturwissenschaften und Formalwissenschaften bzw. Strukturwissenschaften ist der philosophische Mainstream wieder eher objektivistisch.

Höchstens subjektivistisch mit dem je individuellen biologischen Gehirn als Basis, wie der i.​a. bei den radikalen Konstruktivisten eingeordnete Maturana. (Aber es ist m.​E. objektivistisch, vom Gehirn statt vom Bewusstsein auszugehen. Könnte solch ein autopoietischer Objektivismus evt. gerade das Gegenteil von meinem passiven Subjektivismus sein?​)

Die Minderheit der Philosophen, welche heute weiterhin subjektivistisch denkt, nimmt das aktive Subjekt als Ausgangspunkt; etwa die an Nietzsche und Freud anknüpfenden Postmodernen, welche allerdings das "Ende des Subjekts" (Foucault, Derrida) in einem anderen Sinne ausrufen, umschwenkend vom überzeitlich Metaphysischen zum geschichtlich Diskontinuierlichen, vom Identischen zum Differentiellen. (Das haben die heutigen subjektivistischen und objektivistischen Philosophen wiederum gemeinsam: den Trend vom Absoluten zum Relativen, vom Substantiellen zum Prozesshaften. Insofern sind Therorien des Totseins sowieso out, vgl. die Bemerkungen zum Begriff Jenseits zu Beginn des Vorworts. So sehr ich mich der Meinung anschließen kann, dass veränderliche Prozesse die Welt bzw. Natur besser beschreiben als unveränderliche Zustände, so widersinnig finde ich es, wie dieses Panta rhei dennoch die Vorstellung vom Totsein als ewig konstantes eigenes Nichtsein vor und nach dem eigenen Leben zementiert.​)

Das souveräne Subjekt der idealistischen Aufklärung und auch dessen dekonstruierende Auflösung durch den postmodernen Diskurs im Sinne einer Befreiung von äußeren oder internalisierten Machtstrukturen sind mir zu optimistisch bzw. aktionistisch gedacht. Wir haben m.E. allen Grund, pessimistisch bzw. quietistisch zu sein: das absolute Subjekt ist die unhintergehbare Substanz bzw. der Weltengrund – es ist der Welt auf ewig unterworfen, sie findet auf bzw. in ihm statt, ob es will oder nicht. Den aktuellen Objektivismus halte ich für einen Rückfall (auch das Kind ist zuerst naiver Realist, das Außen kommt vor dem Selbst zu Bewusstsein), verbleibe beim Subjektivismus. Aber ich nenne mich passiver Subjektivist: ich unterliege der Welt, und obwohl ich in erster Linie an ihr leide, kann bzw. will ich lieber nichts gegen diese missliche Situation unternehmen – aus Angst vor weiterer Verschlechterung der Welt statt der erwünschten eigenen Vernichtung. Das Worst-Case-Szenario, von dem ich ausgehe: das Ich ist v.​a. passiv, aber nichtsdestoweniger substantiell, d.​h. nie gänzlich hintergehbar.

Vom holistischen Subjektivismus erst des Solipsisten und dann des Kollektivisten bin ich fortgeschritten zum partikularistischen (Inter-)Subjektivismus der multiplen Persönlichkeit (siehe voriges Kapitel Ich). Aber der heute gängigen philosophischen Ansicht, dass sich das Paradigma der Subjektphilosophie erschöpft habe, und dass das Subjekt nurmehr als ein historisch und gesellschaftlich bedingtes Vergängliches anzusehen sei, kann ich mich nicht anschließen. Wäre dies der Fall, verstünde ich das ganze philosophische Problematisieren nicht – mit den jüngeren Schopenhauerianern aus dem Kapitel Nichts wäre ich dann der Meinung, dass nur noch ein möglichst schmerzfeies Abtreten bzw. Aussterben zu organisieren wäre. Ich halte die moderne Überzeugung von der Vergänglichkeit des Subjekts weiterhin für eine verkappte Erlösungsreligion – die eigentliche philosophische Problemstellung bleibt unser unhintergehbares Subjektsein. Meine substantielle Grundkategorie ist heute sozusagen die Einzelseele bzw. das Einzelwesen, dem Körper und Geist nur als Attribute zukommen.

Vielleicht wurde ich jedoch auch ein Stück weit angesteckt von der aktuellen philosophiegeschichtlic­hen Tendenz zu den objektiven Prozessen. Vor kurzem bin ich in meinem Subjektivismus einen weiteren großen Schritt nach außen gegangen und gebe zu: v.​a. bestehe auch ich selber aus Anderen; ich bin bei genauerer Untersuchung lauter mehr oder weniger fremde Andere. Andere abhängige Subjekte jedoch, keine unabhängigen Objekte.

Dass ich überhaupt bin, ist m.​E. substantiell bzw. für immer unhintergehbar. Was oder wer ich allerdings bin, das ist akzidentiell bzw. wird als immer wieder anderes Schicksal zugelost. Weder bin ich in erster Linie meines eigenen Glückes Schmied, noch bestimmt in erster Linie das Sein i.​S.​v. gesellschaftlichen Verhältnissen mein Bewusstsein. Am Sein und Sosein der eigenen Existenz ist man weder selber schuld noch sind da alle erst mal gleich, bevor die Eigenleistung bzw. die Sozialisation beginnt. Zwar ist ein zentraler Ich-Punkt theoretisch für alle gleich, aber ansonsten dann praktisch stets nur Kern von den nicht mehr ausdehnungslosen Ichs mit höchst ungleichen Eigenschaften, welche bereits in der Herkunft angelegt sind. Es ist so selbstverständlich, dass die Menschen es in ihren gesellschaftlichen Diskussionen gerne vergessen: zuerst einmal bin ich per Geburt höchstwahrscheinlich ohne jedes eigene Zutun z.​B. Mensch oder Eichhörnchen geworden – die weitere Entwicklung in dieser Haut, aus der ich mein Leben lang nicht mehr raus kann, ist dann schon vergleichsweise arg nachgeordnet.

Ein Sein "an sich" im ontologischen Sinne ist aus dem Sein "für uns" nur theoretisch abstrahierbar bzw. herausrechenbar. Praktisch gibt es immer nur das je subjektive Bewusstsein, im substantiellen Kern des leidenden Ich-Punkts. ("Ich-Punkt" klingt sowohl nach einem Ort im mathematisch-idealen Raum als auch nach einem winzigen Partikel im physikalisch-realen. Gemeint sein soll jedoch primär das Grundgefühl des Ichseins, welches einem beim immer weiter Nachspüren dann aber ebenso flüchtig vorkommen mag wie jede andere philosophische Substanz auch, vgl. z.​B. die physikalische Materie mit ihren sich der immer energischeren Forschung doch nur immer weiter entziehenden Bausteinen.​)

(Nachdem ich die Zweiteilung real-ideal im vorigen Kapitel Ich als eine Art Flucht bezeichnet und stattdessen das Psychische als einzige Welt mit Dinglichem und Geistigem als ihren leidfreien Rändern eingeführt habe, mag es verwundern, dass ich nun mit dem absoluten und ewigen Ich-Kern des Individuums wieder etwas Ideales als Substanz annehme. Diese ist jedoch nur als äußerste metaphysische oder vielmehr metapsychische Grenze definiert, wie sie ebenfalls im Realismus bzw. Materialismus unvermeidlich ist: je kleiner die atomaren Teilchen, desto idealer scheinen deren Eigenschaften, weil dort Modelle bzw. Messungen versagen – so kann etwa für ein Elektron in der nachklassischen Physik weder eine räumliche Ausdehnung noch eine zeitliche Zerfallswahrscheinlichk­eit angegeben werden. Dementsprechend ist auch das tiefste Gefühl des Ichseins nicht mehr hintergehbar bzw. nicht weiter differenzierbar. An der Grenze zum Unzugänglichen haben wir die Erscheinung einer unteilbaren Substanz – was das Atom für den Objektivisten, ist das Individuum für den Subjektivisten.​)

Es bleibt für mich bei der Subjekt- und Substanzphilosophie. Von der Objekt- und Prozessphilosophie aus gesehen wäre mein Bewusstsein einem Werden und Vergehen unterworfen, das es ganz und gar endlich machte. Ich gehe aber davon aus, dass mein reines Ich ohne alle persönlichen Eigenschaften leider ein unveränderliches bzw. ewiges ist und dass genau solch ein reines Ich auch alle Anderen haben, aber nur als Substanz, welche nie in Reinform vorliegen kann, sondern immer wieder andere akzidentielle Eigenschaften durchmachen muss – so werde ich immer wieder Andere, kann insbesondere gegenüber den Anderen keinen essentiellen Daseinsvorteil endgültig behalten, wie es die Religionen i.​a. versprechen.

(Da ich von der Alternativlosigkeit der Substanzphilosophie überzeugt bin, sind Prozessphilosophen m.​E. eine Art Monisten, deren Substanz das Nichts ist. Zumindest hinsichtlich ihres einstigen definitiven Totseins – sofern sie nicht wie Whitehead über einen unzeitlichen Gott doch wieder ein ewiges Leben für möglich halten – "positivieren" auch die heutigen Prozessphilosophen das Nichts m.​E. wieder zur Substanz, indem sie es im Tod als ihren endgültigen eigenen Zustand zu erreichen meinen. In meiner Philosophie dagegen ist das Bewusstsein die unhintergehbare Substanz, das eigene Nichts dagegen bleibt ein negatives. Es existiert theoretisch, aber praktisch nicht; es ist evt. denkbar und wünschbar, aber unmöglich bzw. unerreichbar in dem Sinne, dass niemand zu Nichts werden und dann endgültig Nichts i.​S.​v. absolut bewusstlos sein und bleiben kann.​)

Mein passiver (Inter-)Subjektivismus: es gibt keine bewusstlosen Objekte; die Substanz der Welt sind bewusste Subjekte, zahllose absolute Ichs sozusagen, die ewig existieren bzw. ausgesetzt sind bzw. leiden, deren akzidentielle Eigenschaften neben der einzigen essentiellen Eigenschaft des Leidendseins aber alle kommen und gehen; die Subjekte sind nicht miteinander auf Augenhöhe, sondern jedes Subjekt ist individuell der kollektiven Übermacht der anderen Subjekte unterworfen; das Subjekt ist primär passiv und sekundär unwillkürlich reaktiv, kaum willkürlich reaktiv oder gar proaktiv; bestimmend sind also die Qualia des Bewusstseins, nicht seine Intentionalität; der menschliche (Re-)Aktionismus folgt aus dem Nicht-wahrhaben-wollen des systematischen Unterworfenseins und hat i.​a. verschlimmernde bis verheerende Wirkung. Während der aktive Solipsist aus dem vorigen Kapitel Ich meint, er mache mit der Welt, was er wolle bzw. die Welt sei seine bzw. er sei die ganze Welt, so sagt mein passiver Subjektivist, die Welt mache mit ihm, was sie wolle bzw. er sei nur ein unter der ganzen Welt leidender ausdehnungsloser Ich-Punkt.

(Dies steht nicht im Widerspruch zum partikularen Ich des vorigen Kapitels Ich, obwohl es zugegebenermaßen etwas paradox anmutet: einerseits ist der ureigene, unhintergehbare, ausdehnungslose, substantielle Ich-Punkt für jedes Individuum zwar gleich, lässt es aber auf ewig als Einzelnen in der Welt stehen; andererseits bilden die vom zentralen Ich-Punkt aus vergleichsweise fremd anmutenden Teile der ausgedehnteren Ich-Person zusammen zwar ein für jedes Individuum einzigartiges Eigenschaftsbündel, aber die einzelnen Eigenschaften wiederum sind nicht für jedes Individuum einzigartig, sondern stehen für dessen Gruppenzugehörigkeiten. Mein Persönlichkeitsmodell: jedes Individuum hat in erster Linie den genannten eigenschaftslosen, leidenden Ich-Kern als Substanz, welcher für alle gleich ist; in zweiter Linie Eigenschaften, die seiner ganzen Spezies gemein sind; in dritter Linie Eigenschaften des Charakters, welche aber hauptsächlich vorgegeben sind z.​B. durch die jeweilige Herkunft des Individuums und zumeist unbewusst bleiben; erst in vierter Linie kann ein Individuum seine Persönlichkeit bewusst selbst gestalten, z.​B. durch Einüben der von ihm als wichtig erachteten Tugenden – am wichtigsten finde ich die Tugend der Mäßigung.​)

Ja, als Pessimist kann ich evt. so weit gehen zu sagen: das Leben und erst recht der Tod ist die Zumutung des bzw. der Anderen. Im Extremfall ist da so gut wie kein Ich mehr, mit dem ich mich identifizieren könnte oder wollte, so dass es meines bliebe – vgl. Ausdehnungslosigkeit des Ich-Kerns – sondern nur mehr oder weniger fremde Teile der (Inter-)Subjektivität. Dennoch habe ich kaum noch Hoffnung auf das, wovon die Objektivisten allesamt ausgehen: ein gänzliches Verlöschen der sog. Ich-Illusion im Tod, ein Übrigbleiben nur des bzw. der Anderen. Die leidvolle Beziehung Ich – Andere ist m.​E. unauflöslich, mit dem Ich als absolutem Bezugspunkt, aber ohne dass es frei, selbständig, autark wäre. Gemeint ist also weder ein Subjektivismus des autonomen Ich noch ein Intersubjektivismus, wo die Relation zwischen Ich und Anderen ohne absoluten Bezugspunkt in der Luft hängt, sondern vielmehr ein (Inter-)Subjektivismus, in dem immer dasselbe absolute Ich den immer wechselnden Konstellationen von Anderen unterliegt.

(Esse est percipi aut percipere – der Ursubjektivist Berkeley nennt das Sein als Wahrgenommenwerden vor dem Sein als Wahrnehmen. Ich sehe pessimistisch zuerst das Wahrnehmen i.S.v. mein den Anderen Ausgesetztsein, dann das Wahrgenommenwerden i.S.v. mir Ausgesetztsein der Anderen – beides tut weh, aber Ersteres direkt, Letzteres indirekt. Ersteres unterwirft mich einer Vorsicht bis Angst, dass mir – evt. noch mehr als sowieso schon – wehgetan wird, Letzteres unterwirft mich einer empathisch motivierten Passivität, lässt mich etwa in dem schlechten Gewissen befangen sein, mit jedem Schritt unzählige kleine Kosmen zu zertrampeln.​)

Die Trennung Ich – Andere wird auf Anhieb viel dezidierter wahrgenommen, als sie bei genauerer Betrachtung ist. Umgekehrt stimmt es eher: der innerste, ganz eigene Kern des Ich und die ganz fremde Peripherie des bzw. der Anderen sind Idealisierungen; üblich dagegen ist der kontinuierliche Bereich dazwischen, das mehr oder weniger Fremdsein alles Bewussten. Auch bin ich mir teils selber fremd, teils empathisch mit dem/​den Anderen geradezu identisch. (Das dissoziative Krankheitsbild verschwimmender Ich-Grenzen kann jeder an sich selber diagnostizieren, während er eingehender über diese Grenzen nachdenkt.​)

Am existentiellsten bin ich mit mir selber da konfrontiert, wo ich ein Anderer bzw. Andere bin, den bzw. die ich nicht unter Kontrolle habe. Die Illusion vom integrierten Ich besteht darin, dass es sich selbst im Griff hat. Schonungslosere Selbsterkenntnis aber offenbart den steten, recht hoffnungslosen Versuch des Ich, sich zu regieren – ich bin viele mir fremde Andere.

Wenn ich nach Vordenkern dieser Weltanschauung oder vielmehr Ichanschauung suche, fällt mir Freud als Erster ein. Ich meine dabei nicht seine dem heutigen Zeitgeist entsprechende Seite, z.​B. den nietzscheanisch-heroisc­hen Optimismus ("Wo Es war, soll Ich werden") oder den positivistischen Eifer ("Man wird vermutlich dereinst die psychoanalytischen Mechanismen durch chemische Formeln ablösen können") samt seiner modernen Gewissheit der völligen Vernichtung unserer Existenz im Tod. Sondern v.​a. seine heute belächelte animistische, mythologische, metaphysische Seite, insbesondere seine erzählerische Darstellung unserer fragmentierten Innenwelt, wo wir "nicht Herr im eigenen Haus" sind, mit dem Unbewussten als "innerem Afrika", als einem fremdartigen Anderen in uns selbst. Den Begriff "inneres Afrika" entlehnt der Psychoanalytiker Freud vom Poeten Jean Paul, und ebenso entlehnt später der Psychoanalytiker Lacan vom Poeten Rimbaud: "Ich ist ein Anderer". (Vielleicht verweist Nietzsche ja nicht zu Unrecht vom verstiegenen Intellektualismus auf den authentischeren Ästhetizismus.​)

Freud sagt: "Also unser Unbewusstes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich.​" Ich meine aber: während das Bewusste an beruhigende kulturelle Theorien von der Leidfreiheit im Tod zu glauben gelernt hat, hat das Unbewusste weiterhin eine große natürliche Angst vor dem Tod, wie vor einer Veränderung zum viel Schlimmeren hin. Ich frage mich: könnte es damit nicht recht haben? Und Jung fällt mir ein, dessen Lehre bzw. Auffassung vom Unbewussten mir jedoch umgekehrt zu sehr zurück Richtung All-Einheit geht. Zum Thema Leben und Tod sagt Jung: "Das sogenannte Leben ist eine kurze Episode zwischen zwei großen Geheimnissen, das doch nur eines ist.​" Jung hatte nach seinem Herzinfarkt eine intensive Nahtoderfahrung.

(Meine Erkenntnistheorie, auch und insbesondere die des Jenseits, untersucht nicht eine Welt der Physis oder des Logos oder gar des Pneuma, sondern der Psyche; siehe auch Nachwort, sechster Absatz und folgende. Freud machte die Psyche im Grunde am Materiellen fest, Jung am Spirituellen. Mir ist Philosophie heute Psychoanalyse in ihrem eigenen Sinn, und ähnlich wie in der Geschichte der Psychoanalyse ist mir der wesentliche Anstoß zum Philosophieren nicht Staunen bzw. Sich-Wundern über das Dasein o.​ä.​, sondern Reaktion auf das Leiden am Dasein. Die Psychologie hat sich ansonsten ja leider spätestens mit dem Behaviorismus so weit wie möglich auf die naturalistisch-empirist­ische Seite verlagert, Introspektion und Empathie bzw. ein Nachdenken über je meine und je andere Innenwelten wird immer mehr als haltlose Spekulation abgetan. Mir aber geben gerade solche Spekulationen weltanschaulichen Halt in meinem Leben – das meiste, was heutzutage in experimenteller Fließbandarbeit wissenschaftlich "abgesichert" wird, scheint mir dagegen an Marginalität kaum zu überbieten.​)

Das Unbewusste ist m.E. dasselbe wie das Unterbewusste, es ist das mir potentiell Bewusste, aber zumindest Anderen aktuell Bewusste. Damit muss ich vielleicht den subjektivistischen Satz "Alles Sein ist Bewusstsein" aus dem vorigen Kapitel Ich insofern spezifizieren, als das allermeiste Sein mir selber immer gerade unbewusst bzw. nur potentiell bewusst ist. Im Gegensatz zum Solipsisten mit seinem potentiell all-einen Bewusstsein aber taumele ich auf ewig von einem Teilbewusstsein zum nächsten, und bin dabei noch froh, vom gerade Unbewussten verschont zu sein. Man könnte vielleicht so sagen: Alles Sein ist Bewusstsein, für mich selber jedoch immer zum winzigen Teil aktuell bewusst, zum riesigen restlichen Teil unbewusst i.​S.​v. nur potentiell (als früheres oder späteres Teilbewusstsein) bewusst; und etwas, das weder mir noch irgendeinem Anderen bewusst ist, kann es für mich als Antirealisten gar nicht geben, genauso wenig wie etwas, das nicht an der eigenen bzw. fremden Existenz leidet. Es gibt zwar Innen und Außen bzw. Ich und Andere – aber etwas ganz Anderes außerhalb allen Bewusstseins gibt es nicht. Bewusstsein ist die eine Substanz, objektive Materie und objektiver Geist sind keine.

Schon im Diesseits werde ich unter immer weiter zunehmendem Druck anders, ich alteriere. Verliere die Kontrolle, habe schließlich das Gefühl, mir selber nur noch von außen zuzusehen. Oder stelle nach einer Affekthandlung fest: so kannte ich mich noch gar nicht. Nicht das ganz Andere des völlig Ungewissen ist hier gemeint, sondern ein Sein, wie man es schon von den Anderen kannte, nur noch nicht von sich selbst. Und mit oben diagnostizierter Partikularisierung des Ich werde ich nicht nur ein Anderer, sondern viele Andere. (Das Phänomen gilt m.​E. für das Bewusstsein generell, beginnt nicht erst beim unter zahllosen Zwangsstörungen leidenden "Stadtneurotiker" – nur ist es für die, welche unbedingt optimistisch beschönigen wollen, erst dort nicht mehr zu leugnen. Dann greift die nächste Abwehrstrategie des Optimisten: er tränkt das Thema mit Humor.​)

Die Jenseitstheorie, welche ich nun mit Ende fünfzig vertrete: ich bin ein einziger unveränderlicher, ewig leidender, ureigener Ich-Punkt, welcher insofern unpersönlich ist, als er für alle Individuen gleich ist, umhüllt von vielen – zugleich wie auch nacheinander, parallel wie auch seriell – endlichen, momentan eigenen sowie fremden animae animales, die für mich in ständigem Werden und Vergehen begriffen scheinen. Der endlose Zeitstrang des Ich hat also lauter endliche Fasern um die eine endlose Faser im Innersten herum, um den Ich-Kern bzw. die leidende Seele. Ebenso wenig wie es das ganze Ich gibt, gibt es den Ganztod – leider. Nur viele fremde Ich-Teile bzw. Andere, die schon im Leben ständig ausgewechselt werden, im Tod noch viel radikaler. (Wie ja allein schon der Körper allerorts und allzeit sich in Teilen selbst austauscht – da ist an biologischem Gewebematerial kaum etwas an einem Menschen, was da schon länger wäre als eine einstellige Anzahl von Jahren. Andererseits sind die Gewebestrukturen wiederum evt. Millionen Jahre alt, das Material selbst evt. Milliarden.​)

(Zum Thema Zeit in den Jenseitsmodellen: vor allem die Gläubigen der All-Einheit halten das individuelle Wesen mit seiner fest zugewiesenen Position in Raum und Zeit für eine Täuschung (indische Philosophie: Maya) – eigentlich sei alles im Hier und Jetzt bzw. überall und immer. Zudem wagen sie gerne die mehr als freche Behauptung, dass auch die Erkenntnisse der modernen Physik eben darauf hinausliefen. Meine zufälligen Wiedergeburten könnte man sich zwar auch entlang einer linearen "objektiven" Zeitachse vorstellen, muss man aber nicht – ich selber meine, dass es eine solche objektive Zeitachse für alle nicht gibt, und dass mein unveränderlich leidender Ich-Kern auf ewig durch eine von meiner Position aus betrachtet in Zeit und Raum veränderliche Welt aus Anderen reisen muss, dass es aber insgesamt immer dieselbe Welt ist, nämlich das ewige Diesseits, in welche hinein man irgendwo und irgendwann als irgendwer oder irgendwas "wiedergeboren" wird – Wiedergeburt in Anführungszeichen, weil m.​E. bei weitem nicht jede Individuation mit einer Geburt beginnt.​)

(Auch die Materialisten, klassischerweise von der Einmaligkeit und Endlichkeit des individuellen Lebens überzeugt, kommen uns heute mit Theorien, es könne zeitgleich unzählige Versionen einer Person in Paralleluniversen geben, oder das Bewusstsein einer Person könne in einem unendlichen Universum seriell immer wieder neu entstehen und vergehen. Ich schließe mich mit meinem Modell der zufälligen Wiedergeburt im ewigen Diesseits aber mitnichten solchen materialistischen Theorien an – mein substantieller, einziger Ich-Kern erlaubt zwar eine multiple Persönlichkeit, aber keine "zentrumslose" Menge von gleichen Personen etwa in Form von parallelen bzw. seriellen Klonen der materiellen Basis eines emergenten Bewusstseins. So glaube ich z.​B. nicht, dass für meine Person alles beim Alten bliebe, wenn eine in materieller Hinsicht exakte Kopie von meinem Körper hergestellt werden könnte und das Original dann zerstört würde. Mein genanntes Modell ist subjektivistisch-intuit­iv, die genannte Viele-Welten-Theorie hingegen ist objektivistisch-kontrai­ntuitiv. Letztere stammt ursprünglich – Teilchen behandelnd, nicht Personen – aus einer physikalischen Ecke, wo man trotz gesicherter empirischer Ergebnisse der Quantenmechanik, welche auf die Existenz echten Zufalls hindeuten, nicht vom Determinismus der klassischen Mechanik abrücken will. Ideologisch scheinen materialistische Denkmodelle auch heute gut zu funktionieren, trotz ihrer krassen Gegensätzlichkeit hinsichtlich sehr bodenständiger, hochplausibler Lebensweltkonsequenzen der klassischen Physik einerseits bzw. sehr abgehobener bis nachgerade absurder Lebensweltkonsequenzen der nachklassischen Physik andererseits.​)

Die erst in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit erregende psychische "Störung" namens multiple Persönlichkeit oder dissoziative Identität (Multiple Persönlichkeitsstörung bzw. MPS bzw. Dissoziative Identitätsstörung bzw. DIS bzw. Multiple Personality Disorder bzw. MPD bzw. Dissociative Identity Disorder bzw. DID) ist vielleicht ein recht konkreter Ausdruck der in individualistischen Zeiten dämmernden Erkenntnis, dass die Ganzheit bzw. All-Einheit einer menschlichen Person etwas Künstliches, von der kollektivistischen Kultur zu sehr Gewünschtes bis Erzwungenes darstellt. Andererseits waren Kunstwerke mit ihrer von nur einem Autor ersonnenen Vielfalt an Charakteren vielleicht schon immer Ausdruck der verschiedenen Persönlichkeiten des Künstlers, welche sich aus o.​g. Gründen des gesellschaftlichen Tabus halt nur im Als-Ob-Modus des Fiktionalen präsentieren durften. Multiple statt integrierte Persönlichkeit, fragmentarisch-offene statt systemisch-geschlossene Kunstwerke etc. – sie werten das aristotelische "Mehr" des Ganzen gegenüber seinen Teilen immer geringer, auch wenn Bedeutungslosigkeit und Absurdität dadurch zunehmen. Der Mensch gibt die (über)menschliche Anstrengung auf und wird wieder zu vielen Tieren. Als übersummative bzw. irreduzible Gestalt zwar, die aber nie eine ganze i.​S.​v. komplette ist.

Hier ist m.​E. die psychologische Gestalttheorie des v. Ehrenfels sehr zutreffend, sofern man die Betonung nicht auf ganzheitliche Aspekte legt, sondern deren Gestalten immer nur als "real" i.​S.​v. nie ideal betrachtet, immer nur als unvollständig bzw. angedeutet. Meine als panpsychistisch begriffene Welt – Panpsychismus nicht i.​S.​v. "Alles hat Bewusstsein", sondern i.​S.​v. "Alles ist Bewusstsein" – besteht dann statt aus den wahrzunehmenden Teilobjekten aus den anderen Teilsubjekten, welche wiederum aus kleineren Teilsubjekten bestehen bzw. Teile größerer Teilsubjekte sind. (Die Gestalttheorie hat in den harten Naturwissenschaften z.​T. einen schlechten Ruf, u.​a. weil sie Assoziationen zum Holismus weckt oder auch selber betont. Dennoch spielt die ihr zugrunde liegende Denkweise einer Bottom-up-Hierarchie von Eigenschaftsebenen, in denen höhere Gestalten aus den Subgestalten der darunterliegenden Ebene je neu entstehen, als Emergenz bzw. Fulguration mittlerweile auch in den eher Metaphysik-allergischen Territorien eine große Rolle.​)

Umgekehrt mag es auch sein, meine weltanschaulich-theoret­ische Zersplitterung in eine multiple Persönlichkeit ist zu Besorgnis Anlass gebende Schockreaktion z.​B. auf die im Kapitel Hölle beschriebene kirchliche Bedrohung mit ewigen Qualen im Tod oder auf die im Kapitel Ungewisses beschriebene "erkenntnisskeptische Erkenntnis" völliger Unvorhersehbarkeit des Bewusstseinszustands im Tod.

Wie dem auch sei, meine praktischen Nahtoderfahrungen (siehe Anhang) haben mir gezeigt: im Tod werde ich Andere, heftiger noch als im Leben. Solche Erlebnisse sind schwer in Worte zu fassen, aber die speziellen Inhalte lassen sich m.​E. unter der allgemeinen Interpretation subsumieren: der Leidensdruck des Todesmoments zerlegt einen förmlich, bringt andere Seiten zum Vorschein.

Wie nach meiner ersten Nahtoderfahrung als Kind sind auch nach meiner zweiten Nahtoderfahrung als Erwachsener viele Jahre vergangen, bis ich daraus konkrete Lehren für meine philosophische Weltanschauung ziehen konnte. Dennoch war meine zweite Nahtoderfahrung evt. ausschlaggebend für den Übergang vom Jenseitsmodell des Ich zu dem der Anderen. Eindrücke im Nahtod, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen: höchste Bewusstheit bei tiefster Ohnmacht; Gefühl von höchster Klarheit bzw. Realität bzw. Authentizität bei tiefster Angst bzw. Strangeness bzw. Entfremdung.

Mein Erklärungsversuch: eigentlich sind wir wesentlich machtloser, als wir annehmen; das übliche Ich (besonders das Ich des Kindes, aber auch noch des Erwachsenen und des Alten) neigt zur Selbstüberschätzung; wir gaukeln uns eine Selbstbestimmtheit vor, die es in Wahrheit nicht gibt. Der Nahtod zeigt das auf. Insofern sind Einfühlen ins Andere und Machtverzicht bei Lebzeiten evt. gute Vorbereitungen auf den Nahtod bzw. Tod, indem sie diese Einsicht teilweise vorwegnehmen bzw. den damit verbundenen Schock etwas lindern können!​?

Diese Erwartung, im Tod dramatisch an (bei genauerer Betrachtung schon im Leben anteilsmäßig weit überschätzter) persönlicher Ichidentität zu verlieren, war in meiner jenseitstheoretischen Entwicklung vom Ich-Modell zum Andere-Modell jedenfalls ein pessimistischer Absturz, wie schon der vom Himmel in die Hölle, sowie der vom Nichts (über die All-Einheit) ins Ungewisse.

Diese Befürchtung, dass ich mich im Tod noch mehr als im Leben an die Anderen verliere, ist als pessimistisch gewendetes Konkurrenz- bzw. Leistungsdenken zu verstehen: jeder kann seine individuellen Vorteile eine Weile behalten oder besser gesagt verteidigen, aber dann muss er sich damit abfinden, in den Kochtopf des kollektiven Schicksals zurückgeworfen zu werden – und mit Kollektiv ist nicht etwa ausschließlich das menschliche gemeint, sondern das "universelle" allen Bewusstseins – soweit man im Pluralistisch-Partikula­ren eben noch vom Universellen reden kann.

Mein Ich zu bleiben – wenn das m.​E. auch bereits viel schlechter ist als das endgültige Nichts – wär mir doch immer noch lieber als bald wieder jemand Anderes werden oder sein zu müssen. Denn wenn ich mich so umsehe, scheint es mir, dass ich verglichen mit den/​dem anderen Existierenden durchaus privilegiert bin bzw. dass es den/​dem meisten Existierenden noch schlechter geht als mir. Zwar wäre mir die Gerechtigkeit, die darin liegt, immer wieder ein Anderer bzw. viele Andere sein zu müssen, durchaus eine Beruhigung – jedoch überwiegt die Empörung darüber, überhaupt sein zu müssen, bzw. darüber, dass die Summe der Gefühle über alles bewusste Existieren nach meiner pessimistischen Auffassung weit unter null zu liegen kommt, d.​h. Existieren in allererster Linie leidvolles Existierenmüssen ist. Noch einmal anders gesagt: ich glaube inzwischen an interindividuelle Gerechtigkeit, aber nicht an intraindividuelle Gerechtigkeit – in puncto Schicksal mitteln sich die interindividuellen Differenzen über immer längere Zeiträume mit zufälligen Wiedergeburten immer weiter aus, aber die intraindividuellen Summen werden immer negativer.

(Klingt hier Xenophobie durch? Hat die Befürchtung, mein Ich in vielen fremden Anderen zu verlieren, etwas Fremdenfeindliches an sich? Diese pessimistische Problematik tauchte in ähnlicher Weise bereits beim Nihilismus auf. Viele Optimisten halten es ganz ernsthaft für zynisch, das Nichts dem Sein vorzuziehen; viele Pessimisten halten es wie ich umgekehrt ganz ernsthaft für zynisch, das Sein dem Nichts vorzuziehen. Und auch die Angst vor all dem, was Andere in dieser Welt zu erleiden haben, ist m.​E. nicht xenophob. Im Gegenteil, das Schicksal der meisten Anderen als noch viel schlimmer anzuerkennen, ist m.​E. ebenso einfühlsam wie ehrlich.​ Den Luxus, Pessimist zu sein, muss man sich erst einmal leisten können – und v.a. die großen Pessimisten von Buddha bis Schopenhauer wussten genau um ihren privilegierten Status unter den Mitlebenden. Nicht von ungefähr der Spruch: Pessimisten sparen sich ihren Optimismus für schlechte Zeiten auf.)

Das in diesem Kapitel Andere beschriebene siebte Jenseitsmodell der Anderen ist die Kehrseite zum Modell des Ich aus dem vorigen Kapitel Ich; so wie die Hölle die Kehrseite des Himmels und das völlig Ungewisse m.​E. die verdrängte Kehrseite der realistischen Gewissheit des Nichts ist. (Das All-Eine im Zentrum dieser drei Dichotomien hat keine Kehrseite.​) Vielleicht sind also das sechste Modell des Ich und das siebte der Anderen nur gemeinsam zu verstehen – und so die o.​g. Rimbaud'sche Paradoxie von der Identität der beiden Gegenteile Ich und Andere, welche doch auf Anhieb sehr nach logikfeindlicher Coincidentia Oppositorum aus der mystischen Ecke klingt, etwas verständlicher zu machen.

Dem Werden zu Anderen durch Wiedergeburt bleibt das alte Ich logisch inhärent. Ich weiß nicht, ob es außergewöhnlicher Erfahrungen bedarf, um sich vorstellen zu können, wovon ich rede (vgl. meine erste Nahtoderfahrung im Anhang u.​a. als Ich-Punkt) – ich jedenfalls kann mir leicht vorstellen, ohne Erinnerung an mein heutiges Dasein in einem anderen Körper wieder Ich sein bzw. werden zu müssen. Hätte ich keine Erinnerung mehr an meine heutige Person bzw. an den altbekannten Körper, wäre ich dadurch noch kein dermaßen anderer, dass mich diese zukünftige Existenz heute nichts anzugehen bräuchte – selbst wenn ich dieser meiner zukünftigen Existenz vorab nichts Gutes tun bzw. ihr heute keinerlei Vorteile sichern kann (Karma etc.​). In gewisser Weise verhält sich ja bereits mein früheres Dasein als Baby zu meinem heutigen als Erwachsener eben so: weder erinnere ich mich heute an meine Zeit als Baby noch hatte ich damals denselben Körper. Kurz und konkret gesagt: ich bin bzw. Ich ist m.​E. nicht ausschließlich meine Erinnerungen bzw. mein Körper. Es gibt m.​E. das (z.​B. im Nahtod erfahrbare) völlig im Hier und Jetzt fixierte Ich, welches weder Erinnerungen noch Körper besitzt. Und allein die Tatsache, dass ich nach dem Tod weiterhin existieren könnte – wie auch immer: mit anderen oder keinen Erinnerungen, mit einem anderen oder keinem Körper – ändert m.​E. Wesentliches gegenüber der Aussicht, nach dem Tod nicht mehr zu existieren. Angefangen damit, dass sich Selbstmord weit weniger empfiehlt, wenn man die momentane Existenz (ich muss sagen: leider nur) gegen irgendeine andere tauscht, von denen man bereits jetzt zahllose zu kennen meint, mit denen man keinesfalls tauschen wollte.

Das Leben im Moment bzw. für den Moment, die Unendlichkeit im Moment etc. sind heute solche Schlagwörter der Carpe-Diem-Hedonisten, an welchen man m.​E. deutlich zeigen kann, wie weit optimistische Theorie und pessimistische Praxis voneinander entfernt sind. Denn Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung dominieren m.​E. den Flow der Gegenwart bei weitem. Niemand kann es sich zur Regel machen, Vergangenheit und Zukunft abzuschütteln und einfach die Gegenwart zu genießen. Niemand kann jeden Moment ein Anderer sein bzw. neu werden und sich nicht ums Vorher und Nachher scheren. Vielmehr ist die Gegenwart der Sklave von Zukunft und Vergangenheit. Nachsorge und Vorsorge sind schon allein vom Körperlichen her andauernde Pflicht, welche zu vernachlässigen immer nur ausnahmsweise möglich ist. Auch der Grille gelingt das nur ab und zu mal, auf Kosten der Ameise. Und ich fürchte eben, was vor diesem Leben mit mir war und nach dem Tod mit mir wird, kann mir ebenso wenig egal sein. (Selbiges wie für das Gegenwarts-Ich zwischen Vergangenheit und Zukunft gilt für das Ich zwischen Über-Ich und Es, für das Erwachsenen-Ich zwischen Eltern-Ich und Kindheits-Ich etc.​)

Das Ich bildet die Bühne der Welt, auf der die mehr oder weniger fremden Anderen spielen. In der von mir als unendlich angenommenen Welt gibt es keinen Mittelpunkt, aber jeder Punkt muss sich als der seiner unermesslichen Umgebung ganz und gar ausgesetzte Mittelpunkt empfinden. Und selbst wenn dieses hilflos ausgelieferte bzw. nur zu Reaktionen unzureichender Selbstverteidigung fähige Ich im Tod "objektive" Phasen des Nichts i.​S.​v. völliger Bewusstlosigkeit hätte und diese 99,​99 Prozent seiner Existenz in der Welt ausmachten, so wäre sein Leben subjektiv immer noch ununterbrochen und ewig. Reaktionsfähigkeit, objektive Pausen, was auch immer: das Subjekt ist dennoch i.​a. passiv, hat v.​a. Input (Empfindungen, Qualia); der nichtige Ich-Punkt bzw. die eigene Nichtigkeit ist auf ewig dem ubiquitären Anderen ausgeliefert – ob das nun gerade Zuckerbrot (Ausnahme) oder Peitsche (Regel) bedeutet. Die i.​a. schmachvollen Begegnungen mit dem übermächtigen Schicksal waren schon immer der Inhalt großer Erzählungen. Und eine solche narrative "Erklärung" der Welt, in der die großen Geschichten analog sind zu unzähligen kleinen, ist auch schon alles, was wir haben bzw. vermögen – weiter werden wir philosophisch bzw. epistemisch wahrscheinlich nie kommen.

Der Tod bedeutete mir früher als pessimistischem Religiösem das unwahrscheinlichere Paradies über mir und die wahrscheinlichere Hölle unter mir; dann als pessimistischem Objektivisten das unwahrscheinlichere Nichts über mir und das wahrscheinlichere Ungewisse unter mir; heute als pessimistischem Subjektivisten das unwahrscheinlichere ewige Ichbleiben über mir und das wahrscheinlichere ewige Anderewerden unter mir.

Momentan erwarte ich pessimistischerweise die zufällige Wiedergeburt als immer wieder Andere im ewigen, miserablen Diesseits. Zufall meint dabei in meiner subjektivistischen Ontologie keine Gesetzmäßigkeit nach Art der Objektivisten, sondern die weit überwiegend schicksalhafte Fremdbestimmtheit durch andere Subjekte, evt. auch durch höhere Wesen (siehe Anhang), welche ihrerseits wiederum weit überwiegend schicksalhaft fremdbestimmt sind usf. Von den drei grundsätzlichen Möglichkeiten, dass es nach dem Tod gar nicht, vorhersehbar oder unvorhersehbar weitergeht, liegt dieses Modell zwischen den letzten beiden. Ich erwarte weiterhin ein bewusstes Dasein, aber ohne bewusste Erinnerung an mein jetziges Dasein, und schlimmer statt besser.

Logischerweise muss mein jetziges Ich mit den vergangenen/​zukünftigen Anderen meiner Wiedergeburtsreihe wenigstens einen durchgehenden Bewusstseinsstrang gemeinsam haben – sonst wäre es nicht mehr mein Jenseits, über das ich hier nachdenke. Pessimistischerweise glaube ich: mein ewiger Ich-Kern ist das reine Subjektsein i.​S.​v. das dem Leid der Welt Unterworfensein. Als Subjekt bin ich die Bühne der Welt und leide kontinuierlich unter dieser, alles andere an Ich – also die Ich-Hülle um den Ich-Kern – und an Welt mag veränderlich sein, bis hin zu sprunghaft veränderlich bzw. diskontinuierlich.

Entwicklung des Jenseitsmodells im Verlauf des vorigen und dieses Kapitels: vom ewigen persönlichen Ich des vorigen Kapitels Ich ist gegen Ende dieses Kapitels Andere also nur noch der innerste Ich-Kern ewig – eigenschaftslos, einzig und ewig für jedes einzelne Individuum. Alle persönlichen Ichs außenrum sind endlich und werden im Extremfall als Ich-fremde Andere wahrgenommen. Letzteres entspricht der multiplen Persönlichkeit der Postmoderne, nur dass diese eben ganz und gar zentrumslos und endlich konzipiert ist, während mein Individuum seinen absoluten passiven Ich-Kern leider niemals loswird.

Die beiden Übergänge a) vom Holismus zum Partikularismus und b) vom Individualismus zum Kollektivismus bzw. Systemismus klingen evt. gegenläufig, deshalb hier noch einmal im Zusammenhang: a) das persönliche Ich als integriertes Ganzes und erst recht das Ganze als EIN höchstes Wesen bzw. pantheistischen Gott gibt es nicht, das persönliche Ich zerfällt in Teile, in eine multiple Persönlichkeit; b) das isolierte Ich ist fiktiv, jedes Ich ist in die Gesellschaft der Anderen eingebunden bzw. eingewebt – diese beiden Verben passen besonders gut für mein Modell, wo jedes Ich bzw. seine zeitliche "Entwicklung" – oder vielmehr ständige Verwicklung – dargestellt wird als ein einziger (für jedes Individuum gleich beschaffener, unendlich langer) Faden des Ich-Kerns umhüllt mit lauter (für jedes Individuum anders zusammengesetzten, endlich langen) Fäden der Persönlichkeit.

Ansonsten ist wohl kaum konkreter vorhersagbar, was im Tod aus mir wird, denn wie gesagt sind die unendlich vielen Anderen quasi empathisch vorzufühlende Seinsmöglichkeiten – jedoch dient mir als First Guess, an den ich mich gefühlsmäßig halte, das im Kapitel Ungewisses vorgeschlagene Modell des Alter Ego: ein Dasein ebensoviel nachteiliger gegenüber dem Durchschnitt wie ich gegenwärtig im Vorteil bin. Mein Alter Ego wird verglichen mit dem Durchschnitt ebenso viel Pech haben wie mein Ich jetzt Glück hat – und ich fürchte, das ist eine ganze Menge.

Wie sind die Subjekte bzw. Individuen genau definiert, aus denen für mich als ontologischen Subjektivisten die Welt ausschließlich besteht? Gibt es evt. mehr als eine Ebene von Individuen, und nach welchen Gesetzmäßigkeiten können dann viele Individuen zusammen ein höheres Individuum bilden usf.​? (Welches dann paradoxerweise kein Unteilbares mehr wäre?​) Dieses sog. Kombinationsproblem des Panpsychismus macht auch mir etwas Kopfzerbrechen, aber ich bin ja kein Objektivist, der sich die Subjekte einer objektiv bestimmbaren Gesetzeswelt unterliegend vorstellt, sondern ich denke mir etwa Folgendes: ebensowenig wie den absoluten Ich-Kern in Reinform (also ohne endliche Hülle aus Persönlichkeiten) gibt es das bewusste Wesen des Ganzen als eine Art panpsychistischen Gott – die bewussten Wesenheiten liegen alle dazwischen, wobei wir manche wohl empathisch besser erkennen können und manche weniger gut. (Wenn es welche gäbe, die wir gar nicht erkennen können, dann wären das nicht Andere, sondern ganz Andere, vgl. Kapitel Ungewisses.​)

Die zu Anfang dieses Kapitels Andere genannte zeitgenössische Denkweise der Philosophen hält Wiederkehr bzw. Wiedergeburt für einen überkommenen Mythos und sich selbst für Metaphysik-befreit. Ich sehe das umgekehrt: mit dem (Inter-)Subjektivismus habe ich mich vom Mythos der Realität verabschiedet. Wer an ein bewusstes Dasein über den Tod hinaus glaubt, den verdächtigen jene heutigen Skeptiker, dass bei ihm der Wunsch Vater des Gedanken sei. Ich wiederum verdächtige die Nichtsgläubigen, dass sie den in der Wiedergeburt (und ganz besonders in der zufälligen Wiedergeburt) enthaltenen Gedanken nicht wahrhaben wollen, jedes ihnen bislang nur von außen bekannte leidvolle Dasein evt. selber noch vor sich zu haben.

Wie nahe steht meine in diesem Kapitel Andere beschriebene jetzige Weltanschauung dem Buddhismus? (Im philosophischen Sinne gemeint – eine formelle Religionszugehörigkeit kommt für mich eh nicht in Frage.​) So wünschenswert ich Karma im Sinne einer moralischen Kausalität bzw. moralischen Determiniertheit über die Wiedergeburten hinweg fände, so wenig glaube ich daran. (Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Kann man die Welt verbessern? Führen wir gar ein individuelles moralisches Konto fürs nächste Leben? Letzteres kann ich mir am wenigsten vorstellen.​) Und es empört mich, dass Buddha und auch Schopenhauer sagt, jeder hätte sein Schicksal verdient – ich glaube im Gegenteil, keiner hat sein Schicksal verdient. Wiedergeburt ohne Karma bzw. zufällige Wiedergeburt ist m.​E. ebenso viel plausibler wie schlimmer. Ansonsten klingt schon einiges in meiner Weltanschauung nach Buddhismus: Streben nach dem Verlöschen; von der Vernunft abgelehntes, aber evt. unbewusst gewolltes Leben bzw. Wiedergeborenwerden; Entlarvung des integralen Ich als Illusion u.a.m. In vielem bzgl. des Buddhismus bin ich mir allerdings unsicher, z.​B. missfällt es mir, dass Hierarchie vom Buddhismus ebenso fraglos bejaht zu werden scheint wie vom Christentum. Zudem ist mein Nichtswunsch der nach absoluter Bewusstlosigkeit, Nirvana aber scheint im Gegenteil höchste Bewusstheit zu bedeuten.

Sooft ich versucht habe, die Konzepte der buddhistischen Philosophie logisch nachzuvollziehen, bin ich früh gescheitert. Es gibt kein dauerhaftes Ich, keine dauerhafte Seele? Palingenesie (Wiederentstehung) statt Metempsychose (Seelenwanderung)? Wie kann ich mir Reinkarnation ohne Seelenwanderung vorstellen? Neuentstehung des Individuums aus den freiwilligen Taten im früheren Leben (Buddha)? Erneute Individuation des vorbestimmten Willens, wohingegen der Intellekt und damit auch die Erinnerung stirbt (Schopenhauer)? Man bemüht gern das Bild der Kerzenflamme, von ihr wandere doch auch nichts zur daran entzündeten zweiten Kerze hinüber. Aber das Bild hilft mir nicht weiter, meine Vorstellung von Wiedergeburt kommt bislang jedenfalls nicht ohne einen absoluten und ewigen Ich-Kern aus. Wie schon im Kapitel Nichts bzw. weiter oben in diesem Kapitel Andere ausgeführt, leuchtet mir Parmenides bzw. die Substanzontologie grundsätzlich mehr ein als Heraklit bzw. die Prozessontologie; außerdem fürchte ich, wie schon im Kapitel All-Einheit gesagt, dass die östliche Philosophie mit ihren Paradoxien mein logisches Denken ad absurdum führen will – insofern bin ich also kein Buddhist.

(Wenn es so etwas wie die "Gerechtigkeit über alles" gibt, dann m.​E. nicht nach buddhistischer Art, indem der Einzelne in weiteren Leben nach dem Tod deterministisch-kausal die Quittung für seine bösen Taten erhält, etwa selber genau das erleiden muss, was er den Anderen angetan hat. Sie besteht m.​E. vielmehr darin, dass der Zufall jeden ewigen Ich-Kern früher oder später in die Situationen bringt, von welchen er gegenwärtig verschont ist. D.​h. es gibt nichts, was auf dieser Welt faktisch passiert, wovon einer garantiert auf ewig verschont bleibt.​)

Der Buddhismus ist atheistisch insofern als er keinen höchsten Gott annimmt und die Götter für erlösungbedürftig hält; pessimistisch insofern als er lebensverneinend ist – beides sehe ich auch so. Pessimistischer als der Buddhist zweifle ich jedoch daran, dass das Dasein zu überwinden sei. (Vielleicht bin ich darin ja eher alter Hinduist – die Erlösungsidee vom Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten ist wohl jüngeren Datums.​)

Sehr gut gefällt mir, falls ich sie richtig verstanden habe bzw. falls sie überhaupt rational zugänglich ist, die Ethik der Zurückhaltung in den östlichen Religionen (Nichttun bzw. Wu Wei, vgl. auch Ende des Kapitels All-Einheit). Die östliche Ethik ist nicht aktionistisch wie die westliche, sondern wertet das Nichttun höher als das Tun – wobei nicht ein Nichtstun bzw. Sichgehenlassen gemeint ist, sondern ein asketischer Minimalismus (und in der Religion des alten Ägypten wird der vom Totengericht zu Beurteilende gar befragt, welche Taten er NICHT begangen hat). Dem heute vom anglo-amerikanischen Raum aus die ganze Welt erobernden Aktionismus des positiven Utilitarismus (kollektives Glück maximieren) ist m.​E. zuerst Poppers Antithese des negativen Utilitarismus (kollektives Leid minimieren) entgegenzuhalten. Und mehr noch: auch ohne an die Existenz von über die Wiedergeburten hinweg bestehenden individuellen Karmakonten zu glauben, gehe ich mit der buddhistischen Karmalehre dahingehend konform, dass sogar "Passivismus" angezeigt ist, also dass Tatenthaltung i.​d.​R. noch einmal besser ist als gutes Tun, und viel besser als der übliche hedonistische Maximalismus des "Pursuit of happiness" sowieso. Wenn die buddhistische Ethik mit diesem Urteil recht hat, bestätigt sich meine pessimistische Ansicht, dass in dieser Welt das Wesentliche grundverkehrt läuft: am vorteilhaftesten leben die bösen Täter, dann kommen die guten Täter und zuletzt die Nicht-Täter, obwohl Letztere mit ihrem Nicht-Tun die ethisch richtigste Wahl getroffen haben. Auch die Guttäter üben i.​d.​R. nur Gewalt für das vermeintlich Richtige aus, die Kollateralschäden stehen denen der Übeltäter oft kaum nach. Selbst nach den Prognosen des industrienahen Club of Rome gilt: die aktionistische Menschheit ist die Pest des Planeten und sollte sich ihren Aktionismus dringend abgewöhnen, wenn sie sich selbst und vieles um sie herum nicht zugrunde richten will. (Mit Ausnahme der im Kapitel Nichts genannten jüngeren Schopenhauerianer scheuen die heutigen Realisten den negativen Utilitarismus und die passive Ethik des Ostens, weil diese beiden in Verbindung mit dem festen realistischen Glauben an das Todesnichts ja umgehend den kollektiven Suizid oder zumindest das kollektive Aussterben durch Verzicht auf Nachkommen als beste Lösung aller ethischen Probleme nahelegen würden.​)

Am besten jedoch gefällt mir der existentielle Weitblick und die umfassende Empathie des hinduistischen bzw. buddhistischen Gedankens. Sieh dir alle anderen Wesen in dieser Welt an und bedenke: das könntest du sein! "Tat Tvam Asi!" bzw. "Das bist du!". Der miserable Zustand dieser Welt ist und bleibt deine Angelegenheit, weil du sie im Tod nicht einfach hinter dir lassen kannst! Der westliche Monotheismus in seinem den Animismus verdrängenden stolzen Anthropozentrismus veranschaulicht mittels des bekannten irdischen Leids der Menschen unter Folter, Krankheiten, Mangel etc. seine jenseitige Hölle, welche aber eher für die bösen Anderen bzw. die Nichtgläubigen gedacht ist. Die östliche Lehre hingegen bezieht die ganze Existenz der Tiere, Pflanzen und Dinge in ihre Jenseitsvorstellung mit ein und verweist damit viel direkter und allumfassender zurück aufs Diesseits. So sehr auch dieser buddhistische "Gesellschaftsvertrag" vom Hierarchismus durchdrungen sein mag – die Vorstellung von der Wiedergeburt als Tier, Pflanze oder Ding steht für eine Identifikation mit allen und allem Anderen, wie sie sich der Monotheismus wohl immer vom Hals halten wollte.

Nicht allzu weit hinter der ersten und wesentlichen Frage, ob das Leben oder der Tod vorzuziehen sei, rangiert m.​E. die Frage, ob Egoismus oder Altruismus die anzustebende Lebensweise sei. Von den vier möglichen Antworten egoistisch, altruistisch, beides und weder-noch tendiere ich zur vierten, denn darin steckt am meisten vom Ideal des Nichtseins. Nihilistische Ethik kann ich dazu wohl schlecht sagen, zumindest der Begriff des ethischen Nihilismus scheint bereits von den Amoralisten bzw. Antimoralisten besetzt zu sein – also sage ich mal quietistische Ethik dazu und meine damit, dass man alle und alles möglichst in Ruhe lassen soll.

(Macht es sich die quietistische Ethik zu einfach? Gilt nicht der alte Sponti-Spruch "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt"? Die Aktionisten dieser Welt teilen sich in zwei Parteien, von denen die erste fast alles Unheil anrichtet; die zweite kämpft wütend gegen die erste, richtet dabei als Kollateralschaden den Rest des Unheils an – und unterstellt den Quietisten, diese seien in ihrer Passivität ebenso schuld am Unheil wie die ersten Aktionisten, weil man gegen diese doch unbedingt kämpfen müsse. Ich aber fürchte, keiner kann viel tun gegen seine charakterliche Disposition – die Wüteriche wüten und die Ruhigen bleiben ruhig.​)

Nach den Bemerkungen zum Buddhismus hier noch ein kurzer Vergleich von Schopenhauers (später) Todesmetaphysik mit der meinen: Schopenhauer begreift alle physischen Daseinsformen als Individuationen des einen metaphysischen Willens, welcher als zeitloser Kern für alle Individuen ein- und derselbe ist. Bewusstsein ist für Schopenhauer eine vergängliche Eigenschaft höherer animalischer bzw. menschlicher Individuen und stirbt zusammen mit dem Körper. Im Gegensatz zu dem an seiner jetzigen Individuation hängenden Toren begrüßt der Weise den Tod seiner jetzigen Individuation, ist sie doch nur eine von zahllosen endlichen und fehlerbehafteten Äußerungen der dahinterstehenden ewigen Idee, wobei die jeweils nächste Palingenesie wieder eine bessere Individuation bedeutet, belehrt durch die Fehler der vorigen. Ich dagegen postuliere unendlich viele gleiche Ich-Kerne (je Individuum einer), welche ewiges (Leid-)Bewusstsein sind. Umhüllt sind diese ewigen Kerne von mannigfaltigen endlichen Persönlichkeiten, die dem ewigen Ich-Kern eines Individuums im Tod neu zugelost werden, wobei wir als Menschen in den privilegierten Regionen der Erde i.​a. davon ausgehen müssen, dass wir nächstes Mal wieder eine (noch) elendere Daseinsform erwischen. (Selbst wenn es höhere Wesen als uns Menschen gibt, was ich vermute, gibt es davon wahrscheinlich viel weniger als niedere Wesen, vgl. die pessimistische Pyramide im Kapitel Himmel: in unserer Welt lassen es sich doch offensichtlich wenige Höhere auf dem Rücken vieler Niederer gut gehen. Deshalb ist bei einer zufälligen Wiedergeburt die Wahrscheinlichkeit einer niederen Wiedergeburt m.E. viel größer als die einer höheren Wiedergeburt.)

Am Schluss dieses Kapitels Andere noch einmal zusammenfassend der aktuelle Stand meiner bewusstseinsmonistischen Ontologie: Bewusstsein ist die einzige Substanz, alles ist Bewusstsein; NICHT holistisch i.S.v. alles ist EIN Bewusstsein, sondern partikuar i.S.v. alles Bewusstsein ist verteilt auf – oder auch unterteilt in – unendlich viele ewige Subjekte, etwas Bewusstseinsunabhängiges i.S.v. außerhalb des Bewusstseins gibt es nicht bzw. kann zumindest nicht erkannt werden; die einzigen ontologischen Entitäten sind Subjekte bzw. Individuen, und diese sind in erster Linie passiv, nur in zweiter Linie reaktiv bzw. in dritter Linie proaktiv, sowie in erster Linie fühlend, nur in zweiter Linie denkend bzw. in dritter Linie handelnd; und alle haben a) genau den gleichen ewigen essentiellen, ausschließlich leidenden, ganz und gar subjektiven i.S.v. wissenschaftlich unzugänglichen Ich-Kern, mit dem sie der Welt, d.h. den anderen Subjekten, ausgesetzt sind – als ihrem Bewusstseinsinhalt, der zum winzigen Teil aktuell bewusst ist und zum riesigen restlichen Teil potentiell bewusst (i.S.v. gerade nur Anderen bewusst, ihnen selber gerade unbewusst bzw. unterbewusst) ist; und alle haben b) individuell verschiedene endliche Hüllen bzw. Filter aus akzidentiellen Kombinationen von Eigenschaften bzgl. Seele/Psyche/Ich/Charakter/Persönlichkeit, z.B. die sog. Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren; und alle haben auch noch c) an den sog. leidfreien Rändern die am objektivsten anmutenden akzidentiellen Eigenschaften bzgl. Geist/Logos/Form/Information/Ideales (oberer Rand) und bzgl. Körper/Physis/Stoff/Materie/Reales (unterer Rand), z.B. geometrische Struktur und chemische Zusammensetzung – mit dem Logos oben, der Psyche um den Ich-Kern herum in der Mitte und der Physis unten also ähnlich dem neuplatonistischen Emanationsmodell, aber mit dem Mittigsten statt des Obersten als Hauptteil. (N.B. Im Kapitel Ich war noch die gesamte Ich-Persönlichkeit ewig bzw. essentiell, hier ist es nurmehr der Ich-Kern.)

Und was folgt daraus nun für die im Vorwort aufgeworfenen Fragen: Kinder in die Welt setzen? Suizid? Sterbehilfe? Für mich als Pessimist, der das Nichts dem Leben jederzeit vorziehen würde, jedoch nicht mehr an das Nichts im Tod glaubt, ergibt sich aus dem Glauben an die zufällige Wiedergeburt im ewigen Diesseits bzw. an das Andere-Werden im Tod die im nächsten Absatz folgende Auffassung, welche nach allem Jenseitstheoretisieren dafür nun umso expliziter ausfällt. (Die genannten Fragen werden nach meiner Erfahrung in Diskussionen gerne gemieden, selbst von der engsten Umgebung erfährt man i.​a. nicht, wie sie darüber denkt. Leben initiieren und terminieren, diese vielleicht wichtigsten Entscheidungen, fallen anscheinend leider eher spontan.​)

Wer sich Kinder wünscht und zudem der Ansicht ist, seinen Nachkommen ein im Vergleich zu den meisten anderen Daseinsformen angenehmes Leben bieten zu können, mag welche in die Welt setzen – ich bin weder Antinatalist im Sinne eines Plädoyers für möglichst wenig Nachkommenschaft noch Pronatalist im Sinne eines Plädoyers für möglichst viel Nachkommenschaft. (Gegen den Antinatalismus fallen mir allerdings ausschließlich metaphysische Argumente ein – wenn ich gleich den Antimetaphysikern überzeugt davon wäre, dass vor und nach dem einmaligen Leben auf Erden nichts ist, also dass es für das Individuum vor seiner biologischen Zeugung/​Empfängnis bzw. nach seinem biologischen Tod kein Prelife bzw. Afterlife gibt, dann wäre ich entschiedener Antinatalist!​) Und wer sich umbringen will, soll das m.​E. nicht nur tun dürfen, sondern sogar Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung bei seinem Vorhaben geltend machen können – allerdings erst, wenn eine Beratungsstelle, welche dem Zugang zu medizinisch professioneller Sterbehilfe vorgeschaltet ist, ihn darüber aufgeklärt hat, dass es viele Vorstellungen vom Totsein gibt und keine davon eine seitens maßgeblicher Autoritäten garantierte Wahrheit darstellt. Ich selbst werde mich entsprechend meinem momentanen Jenseitsmodell hüten, mich selber umzubringen oder nach Sterbehilfe zu verlangen, solange ich die überwiegende Mehrzahl anderer Daseinsformen noch nicht beneide.

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Nachwort

Über das Jenseits nachdenken bedeutet heute jenseits aller Community nachdenken – als "Narr auf eigene Hand"!

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Ich lebe also inzwischen mit folgendem Jenseitsmodell: außenrum um mein Leben ist im Wesentlichen auch nur das, was ich unwillkürlich von mir selber und darüber hinaus empathisch von den Anderen bereits innerhalb meines Lebens kenne. Alternativloses Bewusstsein – das ist mein Monismus. (Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass zumindest unbewusst i.​S.​v. potentiell aber nicht aktuell bewusst evt. gar die meisten mit diesem Jenseitsmodell, das eigentlich ein Modell ewigen Diesseits ist, leben. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sich nicht viel mehr Menschen vorzeitig in ihr angeblich leidloses Jenseits verabschieden.​)

Das Ich bzw. das Bewusstsein ist eigentlich bzw. strenggenommen bereits alles, denn alles jenseits davon ist hypothetisch. Aber ich bin kein Solipsist, sondern gehe davon aus (meine Hypothese), dass es unendlich viele Ichs gibt. Jedes hat den gleichen leidenden ewigen Ich-Kern, und jedes hat als Hülle drumherum verschiedene endliche persönliche Eigenschaften. Jedes Ich ist und bleibt für sich selber zwar das zentrale Ich, weil es mit den anderen "nur" empathisch mitleidet, was schwächer ist als das eigene Leid (die eigene endliche persönliche Hülle ist dem eigenen Ich-Kern am nächsten), aber alle Ichs sind im Grunde abhängig voneinander bzw. hängen zusammen, wenn auch in aller Regel nur sehr indirekt bzw. mittelbar anstatt direkt bzw. unmittelbar. Jedes hat gewissermaßen seinen individuellen Mittelpunkt im kollektiven Bewusstsein. Das Bewusstsein ist substantiell, während die Materialität eine akzidentielle Eigenschaft gewisser Bewusstseinsinhalte ist.

Ich bin heute ein "mittlerer Jenseitsagnostiker": die schwächste agnostische Version zeigt sich im Schwanken nur zwischen den beiden gängigsten Modellen (monotheistischer Himmel und realistisches Nichts), die stärkste agnostische Version zeigt sich in der Erwartung des ganz Anderen bzw. absolut Unbekannten – mein mittlerer Agnostizismus liegt insofern dazwischen, als mit der von mir angenommenen zufälligen Wiedergeburt nach dem Tod so viele diesseitige Schicksale möglich sind, dass man schwerlich vorausahnen kann, welches davon einem als nächstes zugelost wird, aber eben all diese möglichen Schicksale "von dieser Welt" sind, also zumindest theoretisch vorfühlbar sind bzw. im Rahmen empathischer Erkennbarkeit bleiben, wenngleich es auch hier weitab liegende Ränder gibt (wie fühlt sich ein Klumpen Erde, wie geht es einem Gespenst?​).

Ideengebend in puncto Jenseitstheorien sind neben den Weltreligionen m.​E. die drei philosophischen Hauptrichtungen: die zwei großen des Realismus und des objektiven Idealismus sowie die kleinere des subjektiven Idealismus. Von letzterer spalte ich mich noch einmal ab und nenne mich einen passiven Subjektivisten (passiv-heteronomes statt aktiv-autonomes Subjekt). Als solcher halte ich das Bewusstsein für unhintergehbar, der Tod beendet das Leid somit m.​E. nicht. Die drei Vorgenannten hingegen erwarten ein Ende des Leids: für die Realisten zerfällt alles in seine bewusstlosen Bestandteile, für die objektiven Idealisten fügt sich alles zu geistig Höherem oder gar zum All-Einen, und die subjektiven Idealisten sind i.​a. aktive Subjektivisten, womit es an ihnen selber liegt, mit dem Wollen der leidigen Welt aufzuhören (Schopenhauer).

Als passiver Subjektivist erwarte ich hinsichtlich meiner zufälligen Wiedergeburten als irgendwelche Anderen keine bruchlose Aneinanderreihung dieser Leben in einem objektiven Raum-Zeit-Kontinuum. Die zugelosten Schicksale, welche ich mir ausmale, bedeuten im Moment des Todes vielmehr Sprünge, hin zu anderen (inter-)subjektiven Orten in der Nähe oder Ferne bzw. hin zu anderen (inter-)subjektiven Zeiten in der Vergangenheit oder Zukunft, und hin zu anderen (inter-)subjektiven Daseinsformen von dinglich bis übermenschlich – aber kaum noch hin zu einem (von mir für nicht existent gehaltenen) absolut Göttlichen mit ewigem Himmel bzw. ewiger Hölle oder auch nur hin zu einem absoluten Nichts bzw. einem ganz Anderen, denn die Fortsetzung des Lebens per zufällige Wiedergeburt ist m.E. keine dermaßen diskontinuierliche, sondern eine hin zum nächsten und wieder nächsten endlichen Schicksal, welches zumindest theoretisch – wenn auch aufgrund der schieren Menge nicht praktisch – per Empathie noch einigermaßen "vorfühlbar" ist. Jegliche Geschichte, die ich nachempfinden kann, sei sie nun wirklich passiert oder wirklichkeitsnah erdacht oder in welchem Bewusstseinszustand auch immer typischerweise so erlebbar, gibt m.E. Hinweise darauf, wie es für mich weitergehen könnte nach dem Tod. Mit dem Jenseitsmodell Andere gewöhne ich mich daran, dass alle mir noch irgendwie "realistisch" vorstellbaren Schicksale, vom gehetzten Beutetier des Sauriers auf der vormenschlichen Erde bis zum despotischen Diktator auf dem transhumanistisch kolonisierten Mars, zu meinem nächsten Schicksal werden könnten – wobei mich diese Aussichten mitnichten abenteuerlustig machen, mich vielmehr einschüchtern und somit als Ausharrenden oder gar Hinauszögernden in meinem aktuellen Leben halten.

(Warum ich dieses Modell der zufälligen Wiedergeburt im ewigen Diesseits am plausibelsten finde? Eigentlich ist m.E. schon unser jetziges Leben eine Achterbahnfahrt zwischen Himmel und Hölle, und im Schnitt wesentlich näher an der Hölle als am Himmel. Schon jetzt kann sich unser Schicksal jeden Tag entscheidend ändern, und i.a. eben nicht absehbar und verdient, sondern unerwartet und unverdient. Als ängstlich Ausharrender würde ich, hätte ich die Wahl zwischen den drei Wiedergeburtsmodellen Ich, All-Einheit und Andere, das erstere bevorzugen, also mein jetziges Leben wieder und wieder leben – nicht weil ich mein Leben so schön fände, sondern weil ich noch mehr Angst vor allem Anderen habe. Und auch das m.E. nächstschlimmere, hierarchische Jenseitsmodell der All-Einheit hätte immer noch den Vorteil, dass es mit den Wiedergeburten nicht willkürlich weiterginge, sondern nach einem gerechten Plan. Aber weil das Leben kein Wunschkonzert ist, scheint es mir am plausibelsten, dass die Reihenfolge der Wiedergeburten nicht planvoll bzw. sinnvoll ist, sondern planlos bzw. sinnlos.)

Falls es in postreligiösen und postphilosophischen Zeiten so etwas wie eine Fachwissenschaft gibt, welche noch am ehesten das Zeug dazu hätte, eine monistische Welterklärung samt daraus folgendem Jenseitsmodell zu entwickeln, dann wäre das m.​E. die Psychoanalyse. Die Fachwissenschaften Physik und Biologie hingegen, welche den genannten Versuch im Zuge des Naturalismus heute am vordringlichsten und selbstbewusstesten unternehmen, sind und bleiben m.​E. aus systematischen bzw. prinzipiellen Gründen weit davon entfernt, zum Wesen unseres Daseins vorzudringen. In reduktionistischer Manier erklärt der Naturalismus den Menschen zur biologischen Maschine und leugnet jegliche Willensfreiheit (zumindest wo sie über Determinismus und Zufall hinausgeht), womit er m.​E. viel zu kurz greift; auf Basis des starken Emergentismus hingegen ist der Naturalismus m.​E. kein echter Monismus mehr.

Seltsamerweise reden sogar noch die heutigen Philosophen des Geistes von nur zwei Substanzmonismen: dem Realismus/​Materialismus und dem Idealismus/​Spiritualismus. Ich meine jedoch, dass etwa die Eigenschaftsebenen des emergentistischen Eigenschaftspluralismus­, z.​B. die biologische, psychologische und soziologische, auch alle Kandidaten für Substanzmonismen wären (aber sie wollen das heute gar nicht mehr sein, denn das gilt als ideologisch und ist somit tabu, also verzichten sie auf ihre je eigenen Ontologien eines Vitalismus, Voluntarismus, Personalismus o.ä., stattdessen überlassen sie das Behaupten einer unhintergehbaren Ontologie – wenn überhaupt – der angeblich erfolgreichsten Disziplin, nämlich der Physik). Ich selbst plädiere dann für den mittleren der vorgenannten Monismen, also den psychologischen Monismus bzw. Psychomonismus, und da wiederum für die passive Version (Gefühl) statt die aktive Version (Wille). Mindestens aber wären die beiden klassischen Monismen (bzw. der klassische Dualismus) des aktiven Geistes und des passiven Körpers – wenn es schon keinen dritten der Seele dazwischen geben soll – m.E. durch die beiden Monismen der aktiven Materie und des passiven Bewusstseins zu ergänzen. Ich bin dann wiederum passiver Bewusstseinsmonist, soll heißen: ich halte das dem Bewusstseins-Input (Gefühle bzw. Qualia) Ausgesetztsein für unser auf ewig unhintergehbares Wesen.

Des Weiteren kann evt. die im Lauf der Geschichte sich ändernde Interpretation des Begriffs "Geist" aufzeigen, welche Entwicklung das menschliche Selbstverständnis und mit diesem auch meine Jenseitstheorien genommen haben. Zu den theozentrischen Zeiten der Offenbarungsreligion stand Pneuma bzw. Spiritus für den Geist Gottes, wobei mit dem Alten Testament noch dem Wort des Vaters buchstabengetreu zu gehorchen war, mit dem Neuen Testament schon zur eigeneren Imitatio des Lebens seines Sohnes Jesu ermutigt wurde und zu Zeiten der Mystiker schließlich eigenstes Transzendieren zum Heiligen Geist angesagt war. Dianoia bzw. Logos und Noesis bzw. Nous (Ratio und Intellectus, Rationality und Reason, Verstand und Vernunft) gehören dann schon eher zu den anthropozentrischen Zeiten von Renaissance und Aufklärung. Und die Postmoderne geht mit Psyche bzw. Anima gar zurück hinter die religiösen in die mythischen, animistischen bis animalischen Zeiten, findet dort den Anschluss des Menschen an das Tier wieder. Dementsprechend war mein Jenseits zuerst eines unter Gott (Himmel und Hölle), dann ein der wilden Natur entrücktes (Nichts, All-Einheit und Ungewisses i.S.v. ganz Anderes) und ist inzwischen ein zufälliges inmitten der wilden Natur (Ich und Andere).

Auch die Jenseitstheorien nehmen anscheinend kein Ende – wer weiß, wann mich nach den obigen sieben die achte ereilt. Evt. bin ich gedanklich ja bereits im Begriff, mich gegen die Partikularisierung bzw. Fragmentierung des Lebendig- wie Totseins, welche im sechsten und siebten Jenseitsmodell stattgefunden hat, zu wehren. Denn dass es mir sinnvoll erscheint, meine Zeitreihe von Jenseitsmodellen hier zu versammeln und damit gewissermaßen aufzuintegrieren, könnte man als Bewegung vom Differentiellen hin zum Integralen verstehen. Das postmoderne "Feeling of being after", die Posthistoire bzw. Nachgeschichtlichkeit etc. – also im hiesigen Zusammenhang das Hinter-mir-lassen alter Jenseitsmodelle oder auch des Jenseits überhaupt – hat mich zeitweise ergriffen; im Moment aber möchte ich alte und neue Modelle wieder im Zusammenhang betrachten bzw. belassen. Nicht etwa das jeweils neueste Jenseitsmodell vor mir hertragen und die früheren abtun oder gar verschämt verstecken, wie es mit dem wissenschaftlichen Falsifikationismus üblich geworden ist. Lieber will ich mir als Pessimist dessen bewusst bleiben, dass auch das älteste Modell niemals wirklich überwunden sein wird bzw. auch das neueste Modell sich schon bald wieder als unplausibel herausstellen wird.

Vielleicht ist aber auch umgekehrt mein Pessimismus daran schuld, dass kein Jenseitmodell sich für mich als ganz falsch oder ganz richtig herausstellt – z.​B. weil es mein pessimistischer Vorbehalt gebietet, mich nie auf die jeweilige praktische Konsequenz eines Jenseitsmodells einzulassen. (Der Pessimist geht nicht ins Wasser, bevor er schwimmen kann.​) So habe ich als Christ nicht altruistisch mein Leben in den Dienst am Nächsten gestellt; als Realist oder Skeptiker kein radikal diesseitiges Leben ohne Gedanken an ein Jenseits geführt; als Mystiker nicht unter Aufgabe meines rationalen Verstandes den Weg der Meditation eingeschlagen; als Subjektivist bzw. Intersubjektivist mich nicht politisch engagiert, mich nicht auf eine Psychoanalyse oder sonstige Psychotherapie eingelassen, mich nicht auf einen programmatischen Egotrip begeben (Foucaults Selbstsorge bis digitales Self-Tracking). Lieber bleibe ich in der Theorie und schaue mir die dazugehörige Praxis von außen an. (Ich weiß nicht, ob mich nur noch keine solche Praxis überzeugen konnte oder ob ich inzwischen mit Fleiß bei der Theorie bleibe, die Metaebene mein festes Zuhause geworden ist, noch dazu außerhalb der Akademie als "Narr auf eigene Hand".​)

Dennoch bin ich in gewisser Weise stolz darauf, an jedes der hier versammelten sieben Jenseitsmodelle tatsächlich geglaubt zu haben bzw. jedes zumindest geistig als konkreten Lebensrahmen angenommen zu haben. Es gibt ja z.​B. monotheistische Philosophen, die sehr viel von all den konkurrierenden Lehren verstehen – aber eben auch geistig außen vor bleiben, weil sie selber im Kern immer gläubige Monotheisten geblieben sind und nicht im Traum daran dächten, damit aufzuhören. Auch in der Theorie bereisen sie bildlich gesprochen die anderen Orte nur im klimatisierten Reisebus, betrachten sie von gepolsterten Sesseln aus durch getönte Scheiben – ohne auszusteigen und dort anzukommen. Dagegen kann ich mit einer Autobiographie echten Umdenkens zwischen den Modellen aufwarten.

Es sieht mir bislang wie gesagt nicht danach aus, als fände ich demnächst das für mich ultimative Jenseitsmodell. Und auch der Versuch einer Systematisierung der bisher gefundenen Jenseitsmodelle geht immer wieder anders aus. Ihre schließlich gewählte autobiographische Anordnung ist einfach diejenige, an der sich durch immer weitere Überlegung am wenigsten ändert. Und diejenige, bei der am wenigsten Gefahr besteht, dass das jeweils aktuell beschriebene Modell durch unbemerkt darin verbliebene Reste der Vorgängermodelle unverständlich wird. (Auch in wissenschaftlichen Arbeiten wäre m.​E. mehr Mut zur Beschreibung der tatsächlichen Entstehung von Erkenntnissen wünschenswert – aber unter der Herrschaft von Optimisten sind wir leider alle seit Schulzeiten daran gewöhnt, die aktuell gültige Wahrheit ohne die früher gültigen, aber mit all deren irrtümlichen Hinterlassenschaften präsentiert zu kriegen.)

Logisch betrachtet wäre evt. eine Gliederung aus fünf Dichotomien vorzuziehen gewesen: Freude&Leid, Fülle&Leere, Gewisses&Ungewisses, Ganzes&Teile, Ich&Andere. Gut gefallen hätte mir auch das Ungewisse in der Mitte, eine subjektive Achse mit Ich vs. Andere als Innenkreis und Himmel vs. Hölle als Außenkreis, sowie eine objektive Achse mit Reales vs. Ideales als Innenkreis und Nichts vs. Einheit als Außenkreis. Aber solche Modelle würde ich wie gesagt wohl binnen kurzem wieder abändern wollen. Schon für eine logisch aufgeräumte bzw. mnemotechnisch günstige Anordnung der sieben autobiographisch vorgegebenen Modelle schwanke ich ja zwischen mehreren Möglichkeiten (siehe Vorwort).

Im weitesten Sinne ließe sich aus jeder beliebigen Erzählung ein Jenseitsmodell machen. Umgekehrt jedoch scheint das Thema Macht der bis heute konkurrenzlose Kandidat für eine Abstraktion diesseitiger Mannigfaltigkeit zum Jenseitsmodell zu sein. In erster Linie fragt sich der Mensch, ob mit dem Tod die eigene Macht zunimmt, ob er eigener und fremder Macht enthoben wird oder ob die fremden Mächte zunehmen. Als Pessimist befürchte ich Letzteres und übe mich im moralisch motivierten Machtverzicht sowie in der Gewöhnung an den Gedanken eines zunehmenden Ausgeliefertseins an die Anderen.

Bei aller unauflöslichen Verwirrung im Nachdenken über das Jenseits haben sich für mich dennoch einige tröstliche Strukturen zum Festhalten herausgebildet. Und meine Autobiographie der Jenseitsmodelle zeigt beruhigenderweise eine Entwicklungstendenz von den extremeren Modellen zu den gemäßigteren; die Dynamik zwischen Hoffnung und Angst der drei Dichotomien Himmel&Hölle, Nichts&Ungewisses, Ich&Andere ist eine abnehmende, und so gerieten meine im Folgenden beschriebenen drei pessimistischen Abstürze von der positiven zur negativen Seite des jeweiligen Dipols immer weniger tief.

Dem Himmel steht die erst mal gerne verdrängte bzw. lieber für die Anderen statt für einen selber gedachte Hölle gegenüber. Von der Hoffnung auf den Himmel zur Furcht vor der Hölle – das war mein erster und tiefster pessimistischer Absturz.

Was dem Monotheisten sein freudvoller Himmel, ist dem Realisten sein leidloses Nichts. Aber auch dem positiven Nichts steht etwas gegenüber, nämlich das negative Ungewisse (zumindest bewertet der Pessimist das Nichts positiv und das Ungewisse negativ). Dass im Tod statt gar nichts wieder gar alles passieren kann – das war mein zweiter und schon weniger tiefer pessimistischer Absturz.

Im postmodernen Subjektivismus ist es dann das Ich bzw. Selbst, welches die Hauptrolle spielt. Seltsamerweise übernehmen die Postmodernen als Todesvorstellung trotzdem meist die wissenschaftlich-modern­e, nämlich das Nichts i.​S.​v. Ende des Ich bzw. Selbst. (Vielleicht analog zu den Aufklärern, die trotz schon erreichter diesseitiger Wissenschaftlichkeit oft noch an religiösen Jenseitsvorstellungen festhielten.​) Konsequenter wäre es m.​E.​, dem partikularistisch fragmentierten Ich angesichts der Unerforschtheit bzw. Unerforschlichkeit des Bewusstseins statt des sicheren Endes zumindest eine ungewisse Zukunft zu prognostizieren. Mein Subjektivismus geht, anfänglich noch holistisch-solipsistisc­h, mittlerweile im Sinne einer pessimistischen Worst-Case-Annahme nurmehr von einem ewigen absoluten Ich-Kern ohne persönliche Eigenschaften aus, umhüllt von endlichen persönlichen Ich-Teilen, welche z.​T. schon im Leben, ganz und gar aber im Tod alterieren. Vom Ich-bleiben-dürfen zum Andere-werden-müssen – das war mein dritter und am wenigsten tiefer pessimistischer Absturz.

Während der erste Absturz wohl mit Turbulenzen der Pubertät, Scheitern der ersten Liebe, erstem Teenager-Weltschmerz à la Buddha und Schopenhauer etc. zu tun hatte, sehe ich sowohl den zweiten als auch den dritten Absturz als Ergebnis von je einer Nahtoderfahrung bzw. NTE, siehe Anhang. Das Erinnern der ersten NTE ließ mich plötzlich zweifeln an der realistischen Doktrin, dass es nichts Übernatürliches und somit auch kein Leben nach dem Tod geben könne; bei der Recherche zum Thema NTE stieß ich dann auf das Jenseitsmodell der All-Einheit, welches jedoch nur die kurze Rolle eines Verlegenheitsmodells spielte, bevor ich in die Erkenntnisskepsis abstürzte. Das Nachdenken über die zweite NTE ließ mich zweifeln an der Stabilität der eigenen Persönlichkeit und abstürzen von der Jenseitsvorstellung des ewigen Ich in die Jenseitsvorstellung der immer wieder Anderen.

Noch genauer gesagt waren die drei pessimistischen Abstürze Bestandteil dreier weltanschaulicher Umbruchphasen, in denen ich kurz nacheinander an je drei verschiedene Jenseitsmodelle geglaubt habe: in der ersten Umbruchphase ging es vom Himmel über die Hölle zum Nichts, in der zweiten Umbruchphase ging es vom Nichts über die All-Einheit zum Ungewissen, in der dritten Umbruchphase ging es vom Ungewissen über das ewige Ich zu den immer wieder Anderen. Diese drei kurzen Umbruchphasen verbanden vier lange stabile Phasen: meine religiöse Phase mit dem Himmel als Jenseitsmodell, meine naturwissenschaftlich-i­ngenieurstechnische Phase mit dem Nichts als Jenseitsmodell, meine formalwissenschaftlich-­informatische Phase mit dem Ungewissen als Jenseitsmodell und meine metaphysische Phase mit dem Jenseitsmodell der zufälligen Wiedergeburt als immer wieder Andere.

(Die drei o.​g. Abstürze waren durchaus existentielle; aber auch die zwei Höhenflüge von der Hölle zum Nichts und vom Ungewissen zum Ich waren nicht ohne. Sie haben mich dazu verleitet, leichtsinniger zu sein – denn mit der plötzlichen Aussicht auf das endgültige Nichts statt der ewigen Hölle wird einem das Leben herrlich egal, in schwächerer Form auch beim Übergang vom völlig Ungewissen zum garantierten Ich. Wie bereits im Kapitel Nichts abgehandelt, würde es mich nicht wundern, wenn etwa das Verlieren der angestammten Religion bzw. der damit einhergehende Jenseitmodellübergang zum Nichts viele ultradrastische Handlungen wie etwa Amokäufe auf der Welt bewirken sollte, für die laut öffentlicher Berichterstattung angeblich jede überzeugende Erklärung fehlt. Der Philosoph aber sollte selbst bei aktiver Herausforderung eigener Jenseitsmodellwechsel vor einer daraus folgenden ultradrastischen Handlungsweise gefeit sein eben durch seine auch sonst geübte kritische Distanz zu überstürzter und maßloser praktischer Umsetzung radikaler Denkmodelle.​)

Meine Motive für die Übergänge zwischen den sieben Jenseitsmodellen im Überblick: Verlust meines Vertrauens in Gott aufgrund der Schlechtigkeit seiner Welt (Himmel -> Hölle); Überwindung meiner monotheistischen Religiosität aufgrund der höheren Plausibilität von Naturwissenschaft (Hölle -> Nichts); Misstrauen gegen das materialistische Weltbild aufgrund der Erinnerung an meine erste NTE (Nichts -> All-Einheit); Misstrauen gegen das spiritualistische Weltbild aufgrund von dessen Schwelgen in Optimismus, Paradoxien und Hierarchismus, aber v.​a. Erkenntnisskepsis aufgrund der Geschichtlichkeit bzw. Vergänglichkeit aller Theorien (All-Einheit -> Ungewisses); Entdeckung des Subjektivismus i.​S.​v. Begreifen der Unhintergehbarkeit des Bewusstseins z.​B. aufgrund von Filmen über die Simulation von Realität wie "The Matrix" (Ungewisses -> Ich); Einsicht in die Fragmentierung und Fremdheit und Vergänglichkeit des persönlichen Ichs aufgrund meiner zweiten NTE unter pessimistischer Beibehaltung eines ewig-absolut leidenden Ich-Kerns (Ich -> Andere).

Mein momentanes Ranking vom mir erwünschtesten zum unerwünschtesten Jenseitsmodell: Himmel, Nichts, Ich, All-Einheit, Andere, Ungewisses, Hölle. Inwieweit sich dieses Ranking aus meiner pessimistischen Haltung automatisch ergibt, darüber ließe sich streiten. Die unangenehmen Gefühle nehmen m.​E. in dieser Reihenfolge zu: im Himmel und im Nichts gibt es kein Leid; im ewig gleichen bzw. wiederkehrenden persönlichen Ich schon, aber da kann ich noch unangepasst bleiben, mich von hohen Tieren fernhalten, meine Hände in Unschuld waschen und mich in lebensverdrossener Sehnsucht nach dem unerreichbaren Nichts suhlen; der Weg gen All-Einheit hingegen erfordert nach meinem Verständnis ein kräftiges Ja zum Aufstieg in der kosmischen Hierarchie; den meisten Anderen, als die ich zufällig wiedergeboren werden könnte, geht es noch viel schlechter als mir jetzt – das intuitiv als mein nächstes Daseinsschicksal zu erwartende Alter Ego, welches ebenso weit unter dem Durchschnittsschicksal liegt wie ich heute darüber liege, lässt mich schaudern; aber das Ungewisse bzw. ganz Andere bzw. Unvorstellbare macht noch mehr Angst; und die Hölle als das schlimmste Vorstellbare schließlich am meisten. (Sollte ein echter Pessimist noch mehr Angst vor dem Unvorstellbaren des ganz Anderen haben als vor dem schlimmsten Vorstellbaren der Hölle? Ist es Optimismus, Ersteres dem Letzteren vorzuziehen? Ich weiß es nicht, würde aber das Risiko des ganz Unvorstellbaren der Hölle vorziehen.​)

Nur Spezialfälle der ersten beiden Jenseitsmodelle – der Himmel für alle/​alles und das Nichts für alle/​alles – erfüllen m.​E. das höchste Ideal: das Enden allen Leides, jedenfalls des unfreiwilligen. Falls man im Leben überhaupt so etwas wie einen höchsten Sinn finden bzw. ein höchstes Ziel verfolgen kann, so wäre es m.​E. dies: Das Leid muss aufhören!

Wenn ich mich im Himmel auf ewig wohlfühlen kann, ohne Verantwortung für mich selbst und andere, dann nehme ich dieses Glück des Fehlens jeglicher persönlichen Entwicklung mit Freuden an (Rang eins); ansonsten möchte ich lieber gar nicht existieren (Rang zwei); dann mein jetziges diesseitiges Leben immer und immer wieder, welches ich als Pessimist aber stets verneine und nur widerwillig unter (recht stillem) Protest lebe (Rang drei); dann der paradoxe Aufstieg des demütigen Spirituellen zu immer mehr liebender Macht und Verantwortung (Rang vier) – gelegentlich liebäugle ich damit, diese Position als die gerechte Mitte anzustreben, siehe auch das P.P.S. ganz am Schluss der Seite; dennoch scheint mir bis auf Weiteres leider die schlimmere Vorstellung am plausibelsten, immer wieder zufällig in ein anderes Dasein verschlagen zu werden (Rang fünf), wobei es wenigstens eine Art statistische Gerechtigkeit bedeuten würde, wenn auf lange Sicht jeder einmal jeder sein müsste; noch schlimmer wäre das völlig Ungewisse ohne jede empathische Vorfühlbarkeit (Rang sechs); und das Schlimmste schließlich die mit aller Bosheit leidensmaximierte Hölle (Rang sieben).

Ansonsten findet der Pessimist an jedem Jenseitsmodell etwas auszusetzen: der Himmel ist per definitionem erst mal nur angenehm, könnte evt. aber doch ein Ort von Ignoranten sein, die vom Unglück der Anderen nichts wissen wollen oder können; das bewusstlose, leidfreie Nichts hätte m.​E. theoretisch jeder verdient, praktisch aber könnte es eine Zuflucht sein, die den meisten verwehrt bleibt und sich den übrigen aus Solidaritätsgründen verbietet; mein kritisches Ich ist zwar privilegiert, würde aber lieber nicht existieren; den mystischen Weg zur All-Einheit gibt es anscheinend nur als affirmativen und vertikalen (zerknirschter Blick nach oben und despotischer Blick nach unten – vom Tierrudel bis zum Mönchsorden); den Anderen geht es m.​E. zum größten Teil noch viel schlechter als mir; das Ungewisse in seiner Ausprägung als ganz Anderes bzw. Unfassbares ist noch fürchteinflößender als das empathisch z.​T. miterlebbare Schicksal der Anderen; und die Hölle ist die gedachte Summe der schlimmsten Leiden, die wir kennen bzw. uns ausmalen können.

Aber trotz allen Pessimismus auf dem Weg durch die bislang sieben Jenseitsmodelle ist ein wesentliches Ergebnis vielleicht schon erreicht mit meinem aktuellen Modell der zufälligen Wiedergeburt als irgendein Anderer, weil dieses zwar (noch) Schlimmeres androht als mein jetziges diesseitiges Leben, aber eben nicht maßlos Schlimmeres. Ob die alten Griechen und Römer mit ihrer dunkel-kalten Unterwelt oder Thoma mit seinem "Münchner im Himmel" auf Bierentzug – die Androhung einer mäßigen Verschlechterung im Tod lässt einen einigermaßen unbeschadet (weiter)leben. Was die Monotheisten hingegen mit der Verlockung eines verglichen zum Diesseits unendlich schönen Himmels bzw. mit der Androhung einer verglichen zum Diesseits unendlich schlimmen Hölle bei den ihnen anvertrauten Kindern angerichtet haben und immer noch anrichten, ob nun der Moral der Menschen zuliebe oder der Macht ihrer kirchlichen Anführer zuliebe, das habe zumindest ich für meine Person mit dem Nachdenken über die Jenseitstheorien autotherapeutisch lange verarbeiten müssen und muss es bis heute. Wie gesagt: als theoretische bzw. abstrakte Extreme sind Himmel und Hölle nicht zu leugnen, als praktische bzw. konkrete Erwartung an den Tod jedoch sind sie wohl eine Art aktiv durch die monotheistischen Kirchen in uns eingepflanzter Wahnsinn.

Für eine pessimistische Trostsuche, wie ich sie eingangs angekündigt habe, ist Rang fünf von sieben schon weit oben. Mein Trost: ich muss immerhin nicht mehr an die ewige maximale Qual der Hölle auf Rang sieben glauben, nicht mehr an das Unvorstellbare bzw. ganz Andere bzw. völlig Ungewisse auf Rang sechs, sondern "nur noch" an mein ewiges Andere-Werden durch zufällige Wiedergeburt auf Rang fünf: unterprivilegierte Schicksale, die mir nach dem Tod drohen, aber schon im jetzigen Leben zumindest ansatzweise empathisch erkundbar sind. Meiner ekklesiogenen Neurose bin ich zwar nicht so weit entkommen, als dass ich heute vergleichsweise entspannt an die Jenseitsmodelle von Rang eins bis vier glauben könnte – den Himmel, das Nichts, das ewige Verbleiben in meiner momentan gewohnten Persönlichkeit oder ein hierarchisch-harmonisch­es Universum, wo alle Ja sagen zum Dasein und demütig nach Erleuchtung streben – aber es ist mir immerhin gelungen, meine Höllenangst denkend anzugehen und sie größtenteils zu überwinden, statt sie zu verleugnen bzw. zu verdrängen bzw. ins entgegengesetzte Eck einer krampfhaft aufgesetzten Himmels- oder Nichtsgläubigkeit zu fliehen, was vielleicht die wenigsten durch christliche Höllenpädagogik Traumatisierten von sich sagen können.

Wie viel Gerechtigkeit verheißen die behandelten Jenseitsmodelle? Himmel&Hölle erscheinen dem logisch denkenden Menschen ungerecht – wie soll ewiger Lohn und ewige Strafe für endliche Handlungen gerecht sein? Und auch das Nichts im Tod kann die Ungerechtigkeiten des Lebens nicht ungeschehen machen – für das jeweilige Individuum sind sie jedoch zumindest endlich, und angesichts der postmortalen Ewigkeit des Nichtseins wird alles prämortale Endliche evt. nichtig i.S.v. vernachlässigbar. Das Modell der All-Einheit lagert die Frage nach Gerechtigkeit ins Metaphysische aus – realiter ist und bleibt die Welt schließlich ungerecht, da reduziert sich alles auf die Frage nach einer gerechteren Welt (Komparativ!); aber wenn jeder sich ewig entwickelt, kann "am Ende" doch noch alles gerecht sein; darüber hinaus beschert die Annahme der Unendlichkeit sogar hier und jetzt die – wenn auch paradoxe – Einsicht, dass über mir ewig viel Besseres und unter mir ewig viel Schlechteres existiert, so dass ich mich stets genau in der gerechten Mitte befinde. Das Modell des Ungewissen lässt dagegen keine Aussage über Gerechtigkeit zu oder hält zumindest eine skeptische Distanz, wobei die moderne statistische Sicht auf die Welt evt. dahin geht, die Summe über alles als null anzunehmen – sozusagen eine Gerechtigkeit zweiter Ordnung. Auf ewig Derselbe bzw. dasselbe Ich bleiben zu können bzw. zu müssen wäre auf ewig ungerecht (wobei sich die Frage im Fall des Solipsisten nur intraindividuell, nicht interindividuell stellt). Im Tod per Zufall immer wieder ein Anderer (eine Andere, ein Anderes) zu werden wäre zumindest insofern gerecht, als damit in Ewigkeit jeder einmal jeder sein müsste – sofern es aber viel mehr negative als positive Schicksale gibt, wovon ich als Pessimist ausgehe, ist das ewige Sein im Gegensatz zum ewigen Nichtsein m.​E. dann doch wieder für alle gleich ungerecht (d.​h. relativ gerecht aber absolut ungerecht).

Mein momentanes Ranking vom mir plausibelsten zum unplausibelsten Jenseitsmodell ist die autobiographische Reihenfolge rückwärts: Andere, Ich, Ungewisses bzw. ganz Anderes, All-Eines, Nichts, Hölle, Himmel. Aber das klingt wieder ein bisschen nach einer Reihe von falsifizierend überwundenen Modellen, nach dem Vorarbeiten vom Falschen auf dem letzten Platz zum Wahren auf dem ersten Platz. Besser gefällt mir die im Vorwort beschriebene räumliche Anordnung der Jenseitsmodelle als drei aufeinander senkrecht stehende Dipole mit einem Monopol in der Mitte, jetzt mit einer wahrscheinlichkeitsprop­ortionalen Tönung, d.​h. die neueren/​wahrscheinlicheren Modelle sind stärker getönt und die älteren/​unwahrscheinlicheren Modelle schwächer: ich rechne eher mit dem Andere-Werden als mit dem Ich-Bleiben, eher mit dem weiterhin Ungewisses-Erleben als mit dem Endgültig-Verlöschen, eher mit höllischen Erlebnissen als mit himmlischen – und im "mittelwahrscheinlichen­" Zentrum dieser Wolke aus Jenseitserwartungen steht die All-Einheit als hierarchische Ordnung von niederen und höheren Wesen, unwahrscheinlicher als das Ungewisse, aber für mich immerhin wahrscheinlicher als das heute von so vielen für am wahrscheinlichsten gehaltene Nichts, von dessen Plausiblilität mich nach der Erinnerung an meine erste Nahtoderfahrung v.a. das verdächtig Wünschenswerte seiner endgültigen Leidlosigkeit abgebracht hat.

Die religösen Modelle (Himmel und Hölle) erscheinen mir heute am extremsten und am weitesten hergeholt, die von den Wissenschaften nahegelegten Modelle (Nichts und Ungewisses) auch noch recht extrem und lebensfern, die neuen metaphysischen Modelle (ewiges Ich und immer wieder Andere) vergleichsweise gemäßigt und lebensnah – und das alte metaphysische Modell (All-Einheit) liegt hinsichtlich der genannten Kriterien in der Mitte. Von den drei Modellpaaren halte ich aus pessimistischen Gründen die zweitgenannten Modelle (Hölle, Ungewisses, Andere) für wahrscheinlicher als die erstgenannten Modelle (Himmel, Nichts, Ich). Eine Extrapolation vom bekannten Diesseits zum unbekannten Jenseits kommt mir heute am plausibelsten vor, wenn sie keinen unvermittelten Sprung macht, sondern das Bekannte möglichst verständig und bruchlos fortsetzt. Denn bei geringem Verständnis ist evt. die einfachste Prognose am vernünftigsten: wahrscheinlich geht es ähnlich weiter. Das morgige Wetter z.​B. ist ohne ein verständigeres Modell in erster Näherung so wie das heutige. Insofern seltsam, dass in puncto Tod anscheinend die meisten das krasse Gegenteil des Lebens erwarten. (Wohl deshalb, weil sie sich etwas möglichst Verschiedenes vom verleideten Bekannten so sehr wünschen, würde ich als lebensverneinender Pessimist vermuten.​)

Noch ein Versuch der Veranschaulichung meines Plausibilitäts-Rankings am Beispiel der theoretischen Fortsetzung eines praktisch gemessenen Signalausschnitts über den (Anfangs- und) Endpunkt hinaus, wie mathematische Methoden der Signalanalyse sie vornehmen: Springt das Signal ein für alle Mal auf den maximalen positiven Wert (Himmel) oder auf den maximalen negativen Wert (Hölle)? Klingt es endgültig ab auf null (Nichts)? Oder schaukelt es sich auf zu immer höheren positiven und negativen Werten bzw. nimmt paradoxe Werte an wie die Zahl "Null geteilt durch Null", gewissermaßen Null und Eins und Unendlich zugleich (All-Einheit)? Nimmt es als reines Zufallssignal, sog. weißes Rauschen, zwar definierte aber völlig unvorhersehbare Werte an oder sogar bislang nicht einmal definierte Werte (Ungewisses bzw. ganz Anderes)? Setzt es sich stur periodisch fort bzw. bleibt in seinen Modellparametern identisch (Ich)? Oder wird es nur anders (Andere), ein Zwischending zwischen identisch und ganz anders? Ich halte inzwischen dieses letzte Modell für das plausibelste. Signale gehen außerhalb ihrer Analysefenster i.​a. weiter, weder ganz genauso noch ganz anders, sondern als etwas dazwischen. Insofern legt m.​E. schon der Begriff Jenseits als Gegenbegriff zum Diesseits etwas nahe, dem ich lange intuitiv aufgesessen bin, das ich aber nach langem Nachdenken nun nicht mehr glaube, nämlich dass im Tod das Gegenteil des Lebens zu erwarten steht. Ich glaube vielmehr, dass sowohl die gegenteilige als auch die identische Fortsetzung etwas allzu Artifizielles an sich haben. Das m.​E. plausibelste Jenseitsmodell ergibt sich, wenn man vom gängigsten Wiedergeburtsmodell das (m.​E. zwar aus verständlichen Gründen, aber eben doch nur drangebastelte) Artefakt eines moralischen Karmakontos über alle Leben hinweg wieder entfernt. Nach meinem unwillkommenen Leben sehe ich den Tod als noch unwillkommenere, eher zufällige Veränderung in Richtung andere Leben.

Von jedem der besprochenen Jenseitsmodelle ist in meiner heutigen Weltanschauung noch etwas vorhanden – aber je länger sein Erscheinen in meiner Biographie zurückliegt, desto weniger. Himmel und Hölle haben als zutiefst prägende Verlockung und Bedrohung v.a. psychische Spuren hinterlassen, finden aber auch Eingang in mein aktuelles Denken insofern als m.E. mein momentanes (Re-)Agieren in dieser Welt langfristig belohnt bzw. bestraft werden könnte, indem ich nach meinem Tod evt. wieder in die Welt hineingeboren werde, welche ich vor meinem Tod (mit-)gestaltet habe, und sei es nur in sehr bescheidenem Maße; bei unendlich vielen Wiedergeburten wäre es m.E. sogar aus egoistischen Gründen geboten, die Welt zu hegen und zu pflegen statt sie als Wegwerfware zu behandeln, die nach dem eigenen Tod ausgedient hat. Das Jenseitsmodell des Nichts ist in meiner heutigen Weltanschauung insofern noch vorhanden, als m.​E. bis auf das absolute Ichsein alles weitere meines Daseins vergänglich ist, d.​h. dass ich nichts von meiner heutigen persönlichen Hülle auf Dauer behalten kann, nur den Ich-Kern, das immer wieder anders umhüllte nackte "Ich bin" – das letzte Hemd hat keine Taschen, weder für persönliche Habe im materiellen noch im geistigen Sinne. Das Jenseitsmodell des All-Einen ist in meiner heutigen Weltanschauung insofern noch vorhanden, als der genannte m.​E. nie in Reinform auftretende Ich-Kern als Einziger wenn auch nicht als Holistischer allen gemein so doch als Partikularer für jedes Individuum gleich ist und damit noch am ehesten den Mittelpunkt allen Seins schlechthin bildet. Das Jenseitsmodell des Ungewissen ist in meiner heutigen Weltanschauung insofern noch vorhanden, als mir mein nächstes Schicksal im Tod "zugelost" wird bzw. zufällig ist – wenn auch nicht im Sinne eines unvorstellbaren ganz Anderen, sondern nur im Sinne eines vorstellbaren Anderen. Das Jenseitsmodell des Ich ist meiner heutigen Weltanschauung insofern noch vorhanden, als mein Ich zwar nicht persönlich erhalten bleibt oder sich gar solipsistisch zur ganzen Welt ausdehnt, jedoch als ausdehnungsloser, leidender Ich-Punkt mit wechselnden persönlichen Eigenschaften drumherum immer meinen Kern der Welt bilden wird – weder bleiben nach meinem Tod nur die Anderen übrig, noch relativiert der unvermeidliche intersubjektive Bezug zum Anderen das absolute Ich-Sein des unterworfenen Subjekts.

Was die mit den einzelnen Jenseitsmodellen verbundene Frage nach dem Suizid angeht, habe ich mich m.​E. – entsprechend der weiter oben in diesem Nachwort beschriebenen Tendenz von den extremeren zu den gemäßigteren Modellen – auf eine Haltung zubewegt, die den Suizid weder zu sehr nahelegt noch zu sehr verbietet. Wenn ich sicher mit dem Himmel oder Nichts rechnen dürfte, könnte ich mich wohl nicht allzu lange gedulden mit meiner möglichst schnellen Rückkehr in Gottes Schoß durch indirekten Suizid via Selbstaufopferung bzw. mit meinem profanen Suizid durch Deaktivieren meiner biologischen Maschine. Auf der anderen Seite würden mir die Erwartung der Hölle oder des ganz Anderen im Tod zumindest den wohlüberlegten Suizid (wenn auch nicht den Affektsuizid) von vornherein unmöglich machen. Auch noch das ewige Ich im Sinne eines ewig unveränderten Fortdauerns meines Lebens oder gar eines solipsistischen Ich-Resets per Suizid könnten mich evt. zu einschlägigen Experimenten verleiten. Aber schon die Aussicht auf eine zumindest nach Mehrheitsmeinung der Hierarchie-beflissenen All-Einheits-Adepten schlechte Auswirkung eines (vergebens alle Abhängigkeit und Verantwortlichkeit des Lebens abschütteln wollenden) Suizids auf mein weiteres spirituelles Dasein, und mehr noch mein aktuelles Modell der zufälligen Wiedergeburt als irgendein Anderer – mit wahrscheinlicher Annäherung an das Durchschnittsschicksal der Anderen oder gar mit dem noch schlechteren Schicksal meines weiter oben definierten Alter Ego, d.​h. mit meinem heutigen, am Durchschnitt nach unten gespiegelten Schicksal – lässt mich mit vergleichsweise kleinem suizidalen Drang bzw. kleinem suizidalen Abscheu weiterleben, jedoch nur bis es mir so schlecht geht, dass mir ein möglicher (aber nur für mittelmäßig plausibel gehaltener) Abstieg in der spirituellen Hierarchie bzw. der (für viel plausibler gehaltene) zufällige Sprung in ein anderes, beliebiges Leben schließlich das Risiko wert scheint; und dann mag der Suizid m.​E. auch angebracht sein. Das frühere gesellschaftliche Suizidverbot durch die religiöse Höllendrohung ist m.​E. ebenso grundfalsch wie die heutige gesellschaftliche Suizidempfehlung (zumindest für austherapierte Lebensverneiner) durch das realistische Nichtsversprechen – hätte ich beide nicht hinter mir lassen können, wäre ich heute wohl schon wahnsinnig bzw. tot. Die meisten Menschen, welche heute einen Bilanzsuizid begehen, haben m.​E. durchaus recht mit ihrer Annahme, dass ihr Leben schlechter als nichts sei – aber eben unrecht mit ihrer Annahme, dass sie mit ihrem Suizid das sichere Nichts erreichen.

Meine Subjektphilosophie mag philosophiegeschichtlic­h eher ins 19. als ins 20. oder gar 21. Jahrhundert passen, solange sie von einem ewigen Ichkern ausgeht. Denn auch die wenigen, die heute noch Subjektivisten sind, sehen das Subjekt mittlerweile nurmehr als historisches an, welches generell wie individuell entsteht, sich entwickelt und vergeht, statt als transzendentes oder zumindest transzendentales ein unveränderliches zu sein. Mit dem absoluten Ich-Punkt, welcher passiv ist bzw. keine essentiellen Eigenschaften jenseits des reinen Leidens aufweist, wehre ich mich sowohl gegen die nur differentielle Interpretation durch die Postmodernen als auch gegen die nur materialistische Interpretation durch die Naturalisten, welche das Subjekt beide von vornherein als Endliches definieren. Ich gehe pessimistischerweise vom Worst Case der Ewigkeit aus, zumindest der Ewigkeit meines innersten Kerns.

Die hier besprochenen Jenseitsmodelle sind zugegebenermaßen eher narrative Historie als teleologische Annäherung an eine absolute Wahrheit. U.​a. deshalb habe ich sie in autobiographischer Reihenfolge erzählt, und so hat dann auch jedes Jenseitsmodell seinen charakteristischen Erzählort. In der Kirche predigten mir anfangs die Stellvertreter Gottes auf Erden ganz explizit vom Geborgensein der irdischen Schäfchen beim himmlischen Hirten und bedauerten die Ungehorsamen, denen sein Zorn drohte. Im Klassenzimmer musste ich die schier endlosen schulmeisternden Monologe über mich ergehen lassen, von einer durchrationalisierten, seitens der Lehrer scheinbar verstandenen Welt, welche ihr Jenseitsmodell des Nichts zwar impliziter, aber nicht weniger wirksam platzierten. In den Spezialbuchhandlungen der Großstadt fand ich bei meinen Recherchen über Nahtoderfahrungen dann mystische bis regelrecht Trip-artige Literatur im Geiste der All-Einheit. Und an der Universität zerstörten diesmal wirklich gelehrte Gespräche nachhaltig die schulische Illusion des naiven Realismus zugunsten der Skepsis. In den authentisch dargestellten fremden "Bewusstseinsströmen" postmoderner Buch- und v.​a. Filmautoren oder in den endlich von meinen eigenen Suchbegriffen getriggerten Surfmarathons durchs Internet vermittelte sich mir dann schließlich das subjektivistische bzw. intersubjektivistische Lebens- und Todesgefühl.

Anschaulich wird das jeweils existentielle Lebens- und Todesgefühl in den einzelnen Phasen meiner Diesseits- und Jenseitsmodellierung vielleicht auch mit folgenden vier Dichotomien: Ist das Dasein angenehm oder unangenehm (Himmel vs. Hölle)? Ist meine Existenz vergänglich oder unvergänglich (Nichts vs. Sein)? Ist die Welt im Wesentlichen verstehbar oder nicht (Gewisses vs. Ungewisses)? Bleibe ich ich selber oder werde ich Andere, womit auch Tiere, Pflanzen, Dinge etc. gemeint sind (Ich vs. Andere)? Ich tendiere jeweils zu Letzterem. Doch auch nach Jahrzehnten des Nachdenkens über Leben und Tod treffen mich noch Erkenntnisse wie Donnerschläge, welche ärgerlich selbstverständlich bis trivial anmuten, wenn man sie in Worte zu fassen versucht, aber dennoch mein Dasein revolutionieren. So besteht momentan meine hauptsächliche philosophische Entdeckung darin, dass die Tatsache, irgendein Mensch im 21. Jahrhundert in der westlichen Gesellschaft zu sein, wohl wesentlich schwerer wiegt als die, ein Kind meiner individuellen Eltern zu sein, ein Produkt meiner individuellen Psychosozialisation zu sein, geschweige denn meine eigene Persönlichkeit zu gestalten. Philosophie heißt, der Riesen gewahr zu werden, auf deren Schultern man schon die ganze Zeit steht, ohne sie zu bemerken, weil man sich vorrangig mit (zu) Speziellem abgibt.

Ich meine auch weiterhin, dass wir nicht wissen können, was uns im Tod erwartet. Aber nach dem ersten und größten Schock völliger Ungewissheit bin ich zu der Ansicht gelangt, dass mir ein Glaube plausibler scheint, der durch Extrapolation aus dem Diesseits gleichsam einen Tipp aufs Jenseits abgibt und sich mit der Zeit auch ändern kann: momentan ist es das ewige Rad der zufälligen Wiederkehr bzw. Wiedergeburt als irgendetwas Anderes, irgendein Anderer bzw. irgendwelche Andere (multiple Persönlichkeit) im ewigen Diesseits. Und ich habe beschlossen, mir meinen unmittelbarsten Wunsch warmzuhalten, meine reinste Illusion: das Jenseits des endgültigen bewusstlosen Nichts.

Auch mein Glaube an das ewige Diesseits hat etwas von asketischer Mäßigung, er wahrt Distanz zu den extremen Jenseitsbildern: Ich ist zwar ein Anderer, ich bleibe mir selbst und der Welt fremd im ewigen Diesseits; aber eben auch fern von Himmel und Hölle, von Nichts und All-Einheit, von unfassbar fremdem Anderssein und idealer Selbstverwirklichung als eigene Persönlichkeit.

Sich einen Glauben zuzulegen bedeutet gewissermaßen, eine Letztbegründung für sich zu akzeptieren (d.​h. entsprechend dem Münchhausen-Trilemma anzunehmen, dass ab dort nur noch Zirkelschluss, unendlicher Regress oder Abbruch der Argumentation möglich sind und folglich Unhintergehbarkeit zu postulieren) – am besten diejenige, welche dem eigenen i.​S.​v. schicksalhaft vorgegebenen individuellen Charakter entspricht. Mir scheint das Zugrundelegen eines absoluten Ich, welches alle im Leiden gleichmacht, am plausibelsten. Sowohl das angebliche Überwiegen des Bejahenswerten in Leben und Tod als auch die Entscheidung des Subjekt-Objekt-Problems zugunsten des Objekts scheinen mir Fluchten im Sinne einer hedonistischen Mehrheit zu sein, nach dem Motto: Pessimisten haben Recht, Optimisten den Spaß. Ich habe die Weisheit des Alters schon seit ich denken kann dem Frohsinn der Jugend vorgezogen.

Mein passiv-subjektivistisch­er bzw. passiv-intersubjektivis­tischer Pessimismus bedeutet einzusehen, dass jeder unheilbar besessen ist: als Kind gehört man den Anderen noch fast ganz, und als Alter gehört man ihnen dann wieder fast ganz. Sterben lernen heißt einzusehen, dass ein Ich nur vorübergehend den Anderen gegenüber einigermaßen zu behaupten oder zumindest vor den Anderen einigermaßen zu verschonen ist. Die geistige Höhe des emanzipierten Erwachsenen ist auf dieser Welt die seltene Ausnahme – evt. erst gar nicht erreicht oder schnell wieder verloren. Mein Jenseitsglaube der zufälligen Wiedergeburt verschafft mir umso mehr Respekt vor den regulären "niederen" Daseinsweisen um diese seltene geistige Höhe herum. So halte ich es z.​B. mittlerweile für einen Fehler, per Patientenverfügung dafür zu sorgen, meinem evt. regredierten zukünftigen Selbst den Tod zu verordnen.

Momentan habe ich ein privilegiertes Ich (und dafür wiederum ein schlechtes Gewissen) – aber selbst dieses Ich ist fragmentiert bzw. besessen von den Anderen, von der Gesellschaft, von der Natur, sogar von einem höchstwahrscheinlich erfundenen Gott. All das drückt auf meine Stimmung. Unglück im Glück – obwohl ich Glück habe (lucky), bin ich doch unglücklich (unhappy). Das erwünschteste Jenseitsmodell bleibt der Himmel, das plausibelste Jenseitsmodell ist momentan die zufällige Wiedergeburt als immer wieder Andere, die insgesamt erfreulichste Aussicht jedoch ist das Jenseitsmodell des Nichts, weil das gefühlte Produkt von Erwünschtheit mal Plausibilität für das Nichts viel höher ausfällt als für jedes der übrigen Jenseitsmodelle. Der Himmel ist zwar noch erwünschter als das Nichts, aber dafür so viel unplausibler, dass er für einen einigermaßen vernünftigen Menschen noch nicht einmal als Wunschtraum gescheit funktioniert. Insofern ist das Nichts mein Religionsersatz, wenn Religion hier einmal speziell das genannt werden darf, was man sich sehnlichst wünscht und dabei doch nicht ganz unplausibel ist. Im Gegensatz zu allem originär Religiösen steht es nicht für eine höhere Macht, von der man sich nach Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit dann doch noch mächtig aufbauen lassen könnte oder wollte. Das Nichts ist ganz im Gegenteil die Illusion von endgültiger Ohnmacht und Bewusstlosigkeit zugleich – angesichts der schlechten Welt noch das Beste oder gar das einzig Gute.

Vielleicht wäre das Nichts sogar das einzige echte Jenseits i.​S.​v. Abseits des alltäglichen diesseitigen Kampfes. Himmel, All-Einheit und Ich-bleiben-dürfen klingen alle drei verdächtig nach der Gewinnerseite in diesem Kampf; Hölle, Ungewisses und Andere-werden-müssen nach der Verliererseite. Das Nichts wäre evt. die neutrale Zone bzw. das einzige und endgültige Aus für diesen alten Konflikt, dessen ich so überdrüssig bin. Die den Zeitgeist beherrschenden Nietzscheaner mögen weiterhin frenetisch den Kampf als Inbegriff des Lebens feiern und sich auch noch die Frauen bzw. auch schon die Kinder als Kämpfer wünschen – ich als Schopenhauerianer wünsche mir weiterhin die Ruhe vor gar allem einschließlich meiner selbst.

Auf der Suche nach einem Namen für meine philosophische Einstellung muss ich mich leider hüten, meinen Nichtswillen als Nihilismus zu bezeichnen, da spätestens Nietzsche diesen Begriff so durch den Wolf gedreht hat, dass er ohne Kontext erst einmal alles mögliche bezeichnen kann. Ich denke, Nihilismus sollte sinnvollerweise die lebensverneinende Sehnsucht nach dem Nichtsein bezeichnen, unterschieden in passiven Nihilismus (Buddhismus, Schopenhauer) und aktiven Nihilismus (Goethes Mephisto, Amokläufer). Der lebensbejahende Nihilismus Nietzsches wäre in diesem Sinne dann kein Nihilismus.

(Im Begriffsumfeld des nietzscheanischen Nihilismus formuliert Pasolini: "Wer das Nichts will, will die Macht", oder der z.​T. als nihilistisch eingeordnete Spengler: "Ich beneide jeden, der lebt". Die erste Aussage empört mich, die zweite lässt mich ungläubig den Kopf schütteln, denn ich sehe es genau umgekehrt: wer das Nichts will, will die Abwesenheit aller Macht; und: ich bedauere jeden, der lebt.​)

Aber schlimmer noch als das Leben ist evt. der Tod: im Leben darf ich – wenn auch im Dauerfeuer des inneren Parlaments meiner multiplen Persönlichkeit – ein wenig ich selber sein; im Tod rechne ich damit, noch Andere, noch Miserablere werden zu müssen. Das ist absolut traurig und relativ gerecht. Mein Leben in diesem gedachten Rahmen ist schwer, aber kaum suizidgefährdet. Da bleibt die Welt für immer, was sie schon immer war – ein Jammer.

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Anhang

Nahtoderfahrungen deuten darauf hin: das Leben könnte nach dem Tod weitergehen – was für eine schlimme Nachricht!

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Philosophieren heißt sterben lernen – philosophieren muss man jedoch nicht, man muss nur den eigenen irdischen Tod sterben, irgendwann (zumindest scheint es uns allen so). Weder die Möglichkeit von absoluter Ewigkeit noch von absoluter Endlichkeit des Lebens muss man sich selber allzu deutlich vor Augen zu führen, vielleicht ist gar beides eine allzu extreme Aufgabe, vielleicht wäre es "die bessere Philosophie", das gründliche Nachdenken darüber bleiben zu lassen. Viele halten es so in ihrem Leben. Gleichwohl: echte Philosophen befassen sich m.E. mit (auch den extremen) Möglichkeiten des Jenseits.

Und bisher ging es gemäß dem Titel dieser Schrift um ebensolche rational erdachten Theorien i.S.v. metaphysischen Spekulationen; derartige Gedankengänge sind sprachlich allgemein vermittelbar und bleiben hypothetisch. Mit der empirisch erfahrenen Praxis i.S.v. Erlebnissen jenseits des Gewöhnlichen, um die es ergänzend zu den Jenseitstheorien im Folgenden gehen soll, verhält es sich anders: einerseits geben sie mehr Gewissheit als plausible Theorien – wer etwas erlebt hat, der weiß tatsächlich, wovon er redet, der spekuliert nicht nur; andererseits gibt es von diesen Erlebnissen ein riesiges Spektrum, und jeder Praktiker ist selber quasi nur wissender Vertreter eines winzigen Teilbereichs. Ich hatte zwei Nahtoderlebnisse, die ich mir selber glaube – so weit so gut. Aber glaube ich anderen Praktikern, die Familientreffen mit längst verstorbenen Verwandten hatten, mit Jesus als Reiseführer das Jenseits besichtigt haben, selber als Schöpfer des Universums zu Besuch auf Erden sind? Wo ist da die Grenze zwischen Glaubwürdigem und Unglaubwürdigem? Ich weiß es nicht! Und ich erwarte auch nicht, dass mir die Anderen meine Nahtoderfahrungen glauben bzw. an die Existenz der darin vorkommenden höheren Wesen glauben. Ich habe mich trotz oder sogar wegen meiner eigenen Nahtoderfahrungen entschieden, dieses Terrain – etwa in Selbstversuchen – nicht weiter praktisch auszutesten und auch den praktischen Erfahrungen Anderer weniger Aufmerksamkeit zu schenken als meinen theoretischen Überlegungen. Pessimist, der ich bin, bleibe ich lieber Theoretiker bzw. bereite meine Seele in theoretischer Weise auf den Tod vor – zum Thema Jenseitsmodelle aus der Praxis schreibe ich deshalb nur diesen Anhang hier.

Mystische Erfahrungen und insbesondere Nahtoderfahrungen, ob nun freiwillig (wovon ich dringend abraten würde) oder unfreiwillig gemacht, konfrontieren einen mit der Möglichkeit oder gar mit der Gewissheit ewigen Lebens – und bewirken je nach optimistischer bzw. pessimistischer Gestimmtheit evt. höchste Euphorie bzw. tiefste Verzweiflung.

Lebensbejahende Menschen, die untröstlich darüber sind, dass der Tod aller Wahrscheinlichkeit nach das Ende sei, trifft man sehr viele. Mir haben zwei Nahtoderfahrungen nahegelegt, dass mein Leben evt. ewig ist, und darüber bin wiederum ich untröstlich, weil ich als lebensverneinender Pessimist kaum Gutes daran finden kann. Das ist allerdings wiederum selten unter den (bekennenden) Nahtoderfahrenen: in der Regel zeigen sich diese mit der Ewigkeit ihres Lebens mehr als einverstanden.

Wer selber eine Nahtoderfahrung bzw. NTE (Near-Death Experience bzw. NDE) hatte, den können physiologische Erklärungsversuche wie Sauerstoffmangel im Gehirn, Flutung mit Endorphinen, Terminal Spreading Depolarization ("Brain Tsunami") etc. kaum zufriedenstellen (nur ansatzweise evt. hinsichtlich "einfacherer" Effekte wie etwa des Lichttunnels). NTE sind nämlich i.​​​​a. das Gegenteil von Chaos und Feuerwerk im Gehirn, sie sind an Klarheit und ordnungsgemäßem "Ablauf" (sofern man davon in der Zeitlosigkeit noch sprechen kann) mit nichts Irdischem vergleichbar. Etwas plausibler wird es, wenn auf der höheren Ebene kognitiver Verarbeitung angesiedelte psychologische Erklärungsversuche hinzukommen, welche jedoch i.​a. ungleich schlechter objektivierbar sind als die physiologischen (Stichwort Replikationskrise der experimentellen Psychologie), z.​​​​​B. unbewusstes Ersetzen unerträglich schlimmer echter Erinnerungen durch überirdisch schöne (weil vom Gehirn selbst idealtypisch konstruierte) falsche Erinnerungen (False Memories) als möglicher kompensatorischer Effekt im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. PTBS (Posttraumatic Stress Disorder bzw. PTSD). (Für solch einen eher langsamen Eigenbau von wohlgeordneten False Memories als unbewusste Reparatur des vom Trauma angerichteten Erinnerungschaos spräche z.B., dass die retrospektive Auswertung von Berichten bekennender NTEler über ihre i.a. länger zurückliegenden NTE ungleich "phantastischer" ausfällt als prospektive Studien, in denen Patienten ohne einschlägige Vorauswahl und mithilfe standardisierter Fragebögen etwa direkt im Anschluss an ihre Herzoperationen mit EKG-Nulllinie befragt werden.)

Plausibler als die Bottom-up-Erklärung von NTE durch die heutige Wissenschaft bleibt mir bislang die Top-down-Erklärung durch Annahme der tatsächlichen Existenz höherer Wesen. (Top aber hier nicht im Sinne von Höchstmögliches, vielmehr gibt es m.​E. höhere und immer noch höhere Wesen, aber kein höchstes Wesen. Es kommt mir verdächtig unwahrscheinlich vor, dass der Mensch das höchstentwickelte Wesen im bisher bekannten Universum sein soll. Erscheint mir ähnlich konstruiert wie der je eigene Gott monotheistischer Kulturen, welcher natürlich immer als der allerhöchstmögliche Gott gilt.​​​​) Erschwerend kommt hinzu, dass die heutige Wissenschaft ganz allgemein über Entstehung bzw. Funktionsweise von Bewusstsein m.​​​​​​​​​E. noch kaum Valides zu sagen weiß – von einem verstandenen Bauplan des Bewusstseins, sofern es einen solchen überhaupt geben kann, sind wir weiter entfernt als der Steinzeitmensch von der Mondlandung.​​​​ Mich überzeugen meine glasklaren Erinnerungen an die Kontakte zu höheren Wesen jedenfalls bislang mehr als ihre wissenschaftliche Erklärung durch Brain Tsunami, False Memories o.​​​​​​​​​ä. Und selbst bei viel größerer Wahrscheinlichkeit der Bottom-up-Erklärung würde ich als Pessimist wohl vorsichtshalber bei der Annahme des schlimmeren Falls bzw. schlimmsten Falls (Worse Case bzw. Worst Case) bleiben, dass das Leben nach dem Tod leider weitergeht.

Seit Mai 2022 weiß ich von folgender Annäherung an die Problematik der NTE bzw. NDE: Kastrup stützt sich nicht auf paranormale Vorkommnisse, denn als analytischer Philosoph hält er seine Argumentation in den üblichen Bahnen von Empirie und Rationalität. Aber die Mainstream-Science habe ihre materialistische Standard-Ontologie bereits selber falsifiziert, z.B. erweise sich das Verhalten von Materie nach der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik als beobachterabhängig; wer nicht an höchst unplausible Myriaden von Paralleluniversen glauben wolle, die in rasender Geschwindigkeit entstehen und vergehen, müsse die gängige Vorstellung von einer materiellen Standalone reality aufgeben. Weiterhin sei auf Basis des metaphysischen Materialismus das sog. harte Problem des Bewusstseins prinzipiell unlösbar, d.h. die sog. Explanatory gap bzw. Erklärungslücke zwischen materiellen Quantitäten und bewussten Qualitäten sei unmöglich zu schließen – heutige Annahmen, z.B. die Emergenz von Bewusstsein aus bestimmten neuronalen Strukturen ausreichender Komplexität bzw. Anzahl, erklärten nichts und seien nicht zu belegen. Kastrup postuliert einen sog. analytischen Idealismus, ebenfalls nicht-dualistisch bzw. monistisch, aber nun mit dem Bewusstsein als einzige Substanz: es gibt das EINE grenzenlose universelle Bewusstsein mit seiner rein endogenen Welt von Gefühlen und Gedanken, aber vergleichbar einer multiplen Persönlichkeit (genauer gesagt: einer träumenden multiplen Persönlichkeit mit ihrer rein endogenen Welt) beinhaltet es sog. Alters, die (abgesehen vom einheitlichen Grundgefühl der sog. puren Subjektivität bzw. der unpersönlichen Ichheit transzendenten Erlebens) dissoziiert sind, also innerhalb ihrer sog. dissoziativen Grenze je ihre private innere Welt von Gefühlen und Gedanken haben. Das belebte Universum bringt durch evolutionären Druck uns sog. metabewusste Subjekte hervor, d.h. wir reflektieren über uns selbst bzw. unsere Erfahrungen. Doch über unsere dissoziative Grenze hinweg können wir die Welt nicht wahrnehmen, wie sie "an sich" ist, sondern es werden bloß (einen kleinen Ausschnitt des möglichen Informationsspektrums darstellende) mentale Bilder auf eine dem subjektiven Individuum inhärente Raumzeit-Bühne projiziert. (Raum und Zeit sind nur kognitive Kategorien "für uns", keine Eigenschaften der Welt "an sich".) So erscheint (!) uns Lebewesen die Außenwelt vermittels einer evolutionsoptimierten Benutzeroberfäche (sog. Dashboard of Dials, d.h. Armaturenbrett von Messwertanzeigen physikalischer Größen) als eine materielle. Das unbelebte Universum hingegen ist quasi ein seine lokalisierten Alters allgegenwärtig einhüllender Gott. Unendlich und ewig, außerhalb von Raum und Zeit, ist er keinem evolutionären Druck ausgesetzt und bleibt trotz höchster Intelligenz i.S.v. Allwissenheit rein instinktiv (Raw experience, Qualia), als sog. phänomenal bewusstes Subjekt ohne Metabewusstsein. Kastrup nennt ihn bevorzugt Mind at Large, nach Huxley – synonym zum kollektiven Unbewussten nach Jung (beachte: unbewusst aus unserer Perspektive, aber phänomenal bewusst aus eigener Perspektive). Schlechthin der Sinn des Lebens könnte somit sein, dass wir als personale Alters Selbstreflexion betreiben, wozu der transpersonale Mind at Large im Ganzen nicht fähig ist bzw. wofür er uns gewissermaßen abgespalten hat – und reintegriert in den M@L werden wir erst im Tod, wenn sich unsere dissoziative Grenze wieder auflöst. Bei einer NTE erhalten wir unter Einbuße jener persönlichen Selbstreflexion einen Vorgeschmack auf das persönliche -> kollektive Unbewusste, d.h. wir können im Loslassen von Lokalisation bzw. Dissoziation wieder von innen erfahren, was unser Körper -> Kosmos wirklich bzw. "an sich" ist, nämlich die uns bis dato nur unterschwellig bewussten mentalen Prozesse jenseits von unserem sog. Egoic loop bzw. unserer Ego-Schleife. Endlich eine Ontologie, welche das Phänomen der NTE zumindest ansatzweise erklären kann!

Und wie fühlt es sich dann gemäß der Kastrupschen Lehre an, eine Leiche zu sein, oder ein Glas Wasser? Gar nicht, und dennoch führt kein Weg dahin, dass ein heutiges Lebewesen irgendwann zukünftig den Zustand der endgültigen Bewusstlosigkeit erreicht, denn eine Leiche oder ein Glas Wasser besitzt zwar eine nominelle Eigenständigkeit, aber keine ontische; d.h. wir haben zwar einen Namen für eine Leiche oder ein Glas Wasser, ansonsten aber gehören diese – wie alles andere, was nicht (mehr) metabolisiert – zum Mind at Large, welcher EIN Bewusstsein ist. Genauer gesagt ein phänomenales Bewusstsein, d.h. es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an (sog. What-it-is-likeness, Zumutesein), Mind at Large zu sein. Vor dem Tod bin ich ein lokalisierter Alter, im Tod delokalisiere ich, gehe wieder auf im Mind at Large. (Vor dem Tod beobachte ich die Welt, nach dem Tod BIN ich die Welt – beides, die sog. Extrinsic appearance und der sog. Intrinsic view, sind mentale Erfahrungen, aber wohl ziemlich unterschiedliche.) Als Hirnscan angeschaut zeigt der Übergangszustand zwischen Leben und Tod eine stark reduzierte Hirnaktivtät. Das ist bei einem ganzen Spektrum von veränderten Bewusstseinszuständen der Fall, von tiefer Meditation über starken psychedelischen Rausch bis zu profunder NTE. Keine wesentliche Reduktion der Hirnaktivität hingegen zeigt sich laut Kastrup während einer Vollnarkose, vielmehr könne man unter Anästhesie seine Aufmerksamkeit nicht mehr fokussieren und sich auch nichts merken, d.h. nach dem Aufwachen aus der Narkose habe man die OP schlicht vergessen. Bewusstlosigkeit als Bewusstseinszustand – zumal dauerhaft – ist somit nicht möglich und ist also auch kein zutreffendes Modell für den Zustand des Todes. Im sog. Ocean of Mentation bzw. Sea of Mentation bzw. River of Universal Consciousness gibt es (uns dissoziierten Alters entsprechende) sog. Whirlpools und dazwischen sog. Ripples, die (wenn wir etwas von der Außenwelt wahrnehmen bzw. uns dessen wiederum bewusst werden) in die Whirlpools eindringen und sich darin ausbreiten bzw. sich darin hin- und herreflektiert verstärken – in dieser Analogie steht das Wasser für die einzige Substanz Bewusstsein und die Bewegungsmuster des Wassers stehen für unterschiedliche Bewusstseinsinhalte bzw. -zustände. (Eigene Vermutung: die o.g. unpersönliche Ichheit des personalen Alters im transzendenten Erleben hat ihren Ort evt. ganz innen im Whirlpool – als zentrales Loch im Ego, wo es paradoxerweise genauso ruhig ist wie ganz außen im Transpersonalen, vgl. Auge des Sturms.) Oder das Bewusstsein ist wie eine schwingende Saite und die Bewusstseinsprozesse entsprechen deren Schwingungsmustern, wobei die Jungschen Archetypen dann analog sind zu deren Eigenmoden. (So würde es zumindest mir einleuchten – Kastrup sagt in seiner Dissertation etwas, das mir bislang nicht einleuchtet, nämlich dass die Jungschen Archetypen dann analog sind zu den physikalischen Eigenschaften der Saite, welche deren Eigenmoden bestimmen.) Und noch zwei Analogien: a) wenn die Sonne unseres Egos untergeht, können wir wieder die Sterne des Unbewussten sehen, welche zwar die ganze Zeit da waren, aber durch die ungleich hellere Sonne quasi verschleiert bzw. unsichtbar waren; b) während wir aufwachen aus dem Traum, der für unser Leben steht, mutet uns zuerst die Welt des Wachbewusstseins neu und außergewöhnlich an, aber schnell kommt die Erinnerung daran zurück und sogleich kehrt sich die Wahrnehmung um: nur der Traum ist jetzt noch das neue und außergewöhnliche Ereignis... Soweit zum analytischen Idealismus Kastrups bezogen auf die NTE-Problematik; im August 2022 ist der instinktive Mind at Large mein achtes Jenseitsmodell geworden, und aus diesem Anlass habe ich beschlossen, demnächst einen neuen Text über meine Jenseitstheorien zu schreiben. Vorab ein aktualisiertes Schaubild:

Jenseitstheorien – aktualisiert

N.B. Objektiver vs. subjektiver Idealismus: a) für Berkeley's Ontologie des subjektiven Idealismus gibt es keine objektive Welt, nur unsere subjektiven Welten, wobei die letzteren von Gott koordiniert werden müssen, um zusammenzupassen; b) für meine Version des subjektiven Idealismus namens passiver Subjektivismus gibt es nur unsere (inter-)subjektiven Welten, wobei im rein theoretischen Fall eines völlig redundanzeliminierenden Zusammensetzens der einander vielfach überlappenden und deshalb hochredundanten Bewussteinsinhalte aller Subjekte (Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge) zu einer "objektiven" Welt zwangsläufig bloß eine einzige, keinem Bewusstseinsinhalt widersprechende herauskommen könnte – ohne dass ein Gott oder ein bewusstseinsunabhängiges "Ding an sich", sei es mental oder materiell, dies gewährleisten müsste; c) Kastrup ist in erster Linie objektiver Idealist insofern als jeder Alter eine Außenwelt hat, die unabhängig von ihm objektiv existiert; substantiell ist diese aber ebenso wie die Innenwelt eine mentale, nur erscheint sie dem Alter bei intakter dissoziativer Grenze als eine materielle; deshalb ist Kastrup in zweiter Linie auch subjektiver Idealist insofern als die materielle Außenwelt subjektive Erscheinung bleibt.

Meine NTE sind einer der Auslöser für mein stetes Nachdenken über das Jenseits; und insbesondere für die Modellübergänge vom Nichts über das All-Eine zum Ungewissen (späte Folge der ersten, größeren NTE) und vom Ich zu den Anderen (Folge der zweiten, kleineren NTE).

Aber NTE sind höchstenfalls empirische Hinweise auf ein Leben nach dem Tod, keinesfalls empirische Beweise für ein Leben nach dem Tod. Meine unfreiwilligen NTE halte ich für diesseitige Bewusstseinszustände, die nichtsdestotrotz Hinweise darauf geben, dass bzw. wie es weitergehen könnte im Tod. Dabei lasse ich es bewenden, lasse die Finger von einer Fortsetzung der empirischen bzw. praktischen Jenseitsforschung im Sinne einer aktiven Erhebung jenseitiger Daten, etwa mittels Kontaktaufnahme zu Verstorbenen in spiritistischen Sitzungen, instrumenteller Transkommunikation, hypnotischer Rückführung in frühere Leben, Einnahme von einschlägig verwendeten Drogen wie Ayahuasca bzw. DMT etc. (Die Überschrift "Jenseitstheorien" sollte es bereits andeuten bzw. der Überblick und das Vorwort sollten es bereits klarstellen: ich beschränke mich i.a. auf rationale bzw. theoretische Überlegungen, inwieweit Leben nach dem Tod möglich sein könnte und wie es wohl aussehen könnte. Deshalb habe ich das Thema NTE auch nicht an den Anfang oder ins Zentrum gestellt, sondern hier ans Ende – die Empirie der Wagemutigen dominiert die Rationalität der Bedächtigen ja sonst überall, aber mir ist es umgekehrt lieber.​)

Man sagt, wer aus dem Zustand von subjektiv empfundener Todesnähe, Atem- bzw. Herzstillstand oder gar EEG-Nulllinie mit mystischen Erlebnisberichten zurückkommt, hatte eine NTE, ansonsten hatte er keine. Das ist genau genommen schon eine Diskriminierung derer, die ohne jede Erinnerung aus solch einem Zustand zurückkehren – wieso sollte ein totaler Blackout weniger ein Zeichen für das Nichts im Tod sein als eine positive bzw. negative NTE ein Zeichen für ein himmlisches bzw. höllisches Jenseits im Tod?

Neben negativen und positiven NTE im Sinne von während der NTE als unangenehm oder angenehm empfundenen Inhalten unterscheide ich persönlich auch noch passive und reaktive NTE in dem Sinne, dass in der passiven NTE (für Anfänger?​) einfach nur etwas mit einem geschieht – s.​​u. meine erste NTE – und in der reaktiven NTE (für Fortgeschrittene?​) die höhere Macht eine Entscheidung von einem verlangt – s.​​u. meine zweite NTE; eine dritte Kategorie der aktiven NTE, in der man selber das höhere bzw. höchste Wesen ist, braucht es wohl nicht, denn solche "eigenmächtigen" NTE kommen anscheinend nie vor! In luziden Träumen hingegen scheint es z.​​T. möglich, dass der Träumer sich seine Traumwelt gestaltet, wie immer es ihm gefällt.

Weiterhin unterscheidet man neben den üblichen positiven und negativen NTE i.​​S.​​v. angenehm und unangenehm empfundenen Erfahrungen während der NTE auch die positiven und negativen Nachwirkungen bzw. Aftereffects einer NTE, also z.​​B. ob die NTE für den weiteren Verlauf des realen Lebens nach der NTE eher ermutigende oder entmutigende/​beängstigende Konsequenzen hat. Negative Nachwirkungen werden in der NTE-Szene noch einmal seltener thematisiert als negative NTE. Menschen mit negativer NTE habe ich schon einige getroffen, wenn auch viel weniger als mit positiver NTE – aber noch nie ist mir einer begegnet, der sich seit der Bewusstmachung seiner NTE generell schlechter fühlt als zuvor. Geschweige denn einer, dem seine NTE für den weiteren Verlauf seines Lebens große Angst gemacht hat, wie es bei mir der Fall ist. Egal ob positiv oder negativ erlebte NTE, nach einer gewissen Verarbeitungszeit von i.​​d.​​R. mehreren Jahren fühlen sich so gut wie alle (bewussten und bekennenden) NTEler i.​​a. besser als vor der NTE, und das ist noch milde ausgedrückt, denn die meisten schwärmen davon, ein neuer Mensch zu sein, ohne Angst vor dem Tod, voller Liebe zum Leben und mit starkem Drang zur Wohltätigkeit. Ich dagegen muss zugeben: sogar in meinen suizidalen Zeiten mit dem Glauben an das Nichts im Tod habe ich mich wohler gefühlt als mit der heute stets präsenten Angst vor dem Tod bzw. vor einem Leben nach dem Tod. Meine NTE, obwohl währenddessen als positiv (erste NTE) oder neutral (zweite NTE) empfunden, hatten auf mich im Nachhinein eine demütigende Wirkung, woraufhin sich in mir wiederum ein gewisser Trotz gegen die als einschüchernd empfundenen höheren Mächte aufgebaut hat, auch gegen die möglicherweise wohlwollenden. Das ist sehr unüblich, aber sicher müssen im weiteren geschichtlichen Verlauf der Untersuchung von Nahtoderfahrungen immer mehr Kategorien auch hinsichtlich der Nachwirkungen unterschieden werden – da gibt es wahrscheinlich kaum etwas, was es nicht gibt.

Wie gesagt, die mystischen Erlebnisse im Nahtod sagen nicht unbedingt etwas über den Nachtod. In meinem Fall warfen sie für den (Über-)Lebenden aber mit unabweisbarem Nachdruck die Frage auf, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Zwar sind diese Erlebnisse höchst eindrucksvoll (siehe auch den weiter unten verwendeten Begriff der Hyperrealität), aber es ist für mich trotzdem befremdlich, wie regelmäßig man in der NTE-Szene auf Menschen trifft, deren gläubige Zuversicht auf ein besseres Jenseits durch keinen Zweifel getrübt zu sein scheint. Und das völlige Ausgeliefertsein an höhere Mächte scheint den Nahtoderfahrenen i.​a. auch nachträglich nicht das mindeste Problem zu bereiten – jedenfalls solange die höheren Mächte nur Angenehmes mit ihnen angestellt haben.

(Sehr viele – um nicht zu sagen die meisten – NTE-Berichte anderer NTEler, ob live oder aus der Konserve erlebt, lassen mich neben aller Ergriffenheit, die ich dabei auch oder gerade als Experiencer-Kollege immer wieder aufs Neue spüre, doch den Kopf schütteln über das naive, z.T. scheinbar völlig grenzenlose Vertrauen gegenüber den höheren Mächten. Man stelle sich vor, ein Mensch würde im Schlaf schmerzlos betäubt, unbemerkt entführt, mit Drogen vollgepumpt auf einen himmlischen Trip geschickt und schließlich wieder unbemerkt zurückgebracht – hätte dieser Mensch bzw. seine Umgebung Anlass, solch ein Erlebnis kritiklos zu preisen und sich dringend eine Wiederholung zu wünschen? Ich glaube doch nicht! N.B. Falls die Materialisten doch recht haben, und "übernatürliche" Erlebnisse sind nur aus aktuellen kulturellen Mythen zusammengeschusterte Einbildungen, dann werden die NTE der weniger emanzipierten Traditionalisten evt. bald abgelöst von den Alien abductions der emanzipierteren Modernisten.)

Einerseits kann ich also die Euphorie, mit der die allermeisten NTEler über ihre NTE erzählen, sowie ihren nun felsenfesten Glauben an ein gutes Jenseits nicht teilen, und fühle mich deshalb als NTEler selbst unter NTElern oft allein. Andererseits muss ich mich auch über die Realisten wundern, welche niemals ein mystisches Erlebnis hatten und sich deshalb völlig sicher sind, dass ihr Leben einen Notausgang hat, der sie ins leidlose Nichts entlässt und den sie jederzeit nehmen können. Ich verharre schon fast mein ganzes Leben lang in Unsicherheit jenseits dieser beiden vermeintlichen Sicherheiten.

Eine Gemeinsamkeit jedoch, die ich mit vielen NTElern teile, ist das Verbleiben "mit einem Bein im Jenseits". Von einer tiefen NTE erholt man sich nicht mehr so ganz – man lebt auf dieser Erde weiter, fühlt sich jedoch nur noch teilweise zuhause, teilweise wie von einem anderen Stern. Vielleicht kommt einem das Leben nach dem Tod wahrscheinlicher vor, weil man ja schon jetzt ein Leben nach dem (Nah-)Tod lebt. Man war hier, dann woanders, nun ist man wieder hier, und zwar evt. stark verändert, mit einer grundlegend anderen Lebenseinstellung. Welche wie in meinem Fall auch negativ sein kann, deshalb aber m.​E. nicht krank sein muss. Transformation – ein etwas hochtrabender Begriff, welchen v.​a. esoterische NTEler für die von ihnen durchgemachte Persönlichkeitsveränder­ung gerne verwenden – erscheint auch mir immer noch passender als die Begriffe, welche die Psychiatrie dafür hernimmt.

(Des Weiteren lassen NTE Diesseits und Jenseits näher zusammenrücken, für mich z.B. wurde mein Diesseits dadurch ein ewiges Diesseits, quasi mit dem Jenseits als ubiquitäre "Rückseite", welche mehr oder weniger leicht zugänglich ist, wobei ich selber den Zugang durch mystische Praktiken wie gesagt vermeide. Es fällt mir dennoch leicht, nachzuvollziehen, warum etwa in den alten keltischen Religionen das Jenseits in Form der sog. Anderswelt überall ums Eck angesiedelt ist.)

Obwohl ich nun schon lange in der NTE-Szene unterwegs bin, habe ich noch nie jemanden persönlich getroffen, der zwar eine ausgeprägte NTE mit mystischen Erlebnissen hatte, aber dennoch nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, sondern seine Erlebnisse für Einbildung hält und damit für vereinbar mit dem naturalistischen Weltbild bzw. dem individuell-endlichen Bewusstsein.

Trotzdem beruht meine Argumentation für die von mir befürchtete Ewigkeit bzw. gegen die von mir ersehnte Endlichkeit nur indirekt auf den mystischen Erlebnissen im Nahtod, vielmehr auf einem Pessimismus, welcher aus alltäglichem wie nahtotem Erleben von Ohnmacht resultiert: die eigene Endlichkeit im Sinne eines auf ewig garantierten eigenen leidlosen Nichts im Tod wäre nach allem, was ich bisher von der Welt weiß, viel zu schön, um wahr zu sein.

Als Nahtoderfahrung im weiteren Sinn kann vieles gewertet werden – gewissermaßen zählt alles dazu, wo man sich dem eigenen Tod oder dem Tod eines Anderen nahe glaubt. Meine Geburt, welche sich über drei Tage hinzog und schließlich dermaßen forciert wurde, dass ich bis heute einen deformierten Kopf mit roten Zangenmalen habe, war evt. sowohl für meine Mutter als auch für mich eine Nahtoderfahrung (vielleicht ist die Zangengeburt ja kein unüblicher Lebensauftakt für Pessimisten). Auch mein vom Nachdenken über den Tod geprägtes Leben überhaupt kommt mir oft vor wie eine einzige große Nahtoderfahrung. Im Folgenden beschreibe ich jedoch zwei Nahtoderfahrungen im engeren Sinne, mit der typischen Eigenschaft höherer Begegnungen.

Meine erste NTE: Als ich 3 Jahre alt war, bin ich in einem unbeaufsichtigten Moment während eines Schwimmkurses "ertrunken". (Die Gruppe hatte sich geteilt: der eine Schwimmlehrer, weiter weg von mir, führte die jüngeren Kinder über die Treppe am flachen Ende des Beckens hinaus und außenherum ans tiefe Ende zum Ein-Meter-Sprungbrett; der andere Schwimmlehrer, näher dran an mir, schwamm mit den älteren Kindern, die an seinen Schultern hingen, auf direktem Weg dorthin. Ich entschied mich spontan für letzteren – mit einem mulmigem Gefühl, weil er bereits jenseits des roten Seils im tiefen Bereich war. Ich eilte ihm nach, war aber nicht schnell genug, und als ich den festen Grund unter den Füßen verlor, war jener schon zu weit weg, um mich zu bemerken.) Solange ich noch mit dem Untergehen rang, machten mir die Luftnot und das Einatmen/Schlucken des Chlorwassers extreme Angst/Schmerzen. In der ersten als hyperreal empfundenen Szene unter Wasser aber war das ganz ruhige und tiefe Ein- und Ausatmen des Wassers ganz im Gegenteil freiwillig und extrem angenehm (realiter evt. seltenes Ausbleiben des Stimmritzenkrampfs oder schon wieder gelöster Stimmritzenkrampf?​). In der zweiten hyperrealen Szene ging ich, umrahmt vom hellblauen Pool, überhalb des Grundes schwebend auf ein unbeschreiblich schönes weißes Licht zu, das mich auf sanfte Weise anzog wie ein Magnet, aufgehoben in tiefster Stille und im höchsten Gefühl reiner Liebe. In der dritten hyperrealen Szene befand ich mich ebenfalls in perfekter Geborgenheit inmitten von einigen mir unbekannten (realiter evt. schon gestorbenen?​ –> NTK, Nachtodkontakt, ADC, After-Death Communication) Nonnen in meinem katholischen Kindergarten gegenüber des Schwimmbads an einem Psalter, spielte und sang mit ihnen. In der vierten hyperrealen Szene sah ich von der Decke des Schwimmbads aus als körperloser Ich-Punkt auf den herbeieilenden Bademeister hinunter (–> AKE, außerkörperliche Erfahrung, OBE, OOBE, Out-Of-Body Experience) und konnte seine Gedanken bzw. seine Gefühle (oder eher seine Persönlichkeit, seinen Charakter?) lesen: er fühlte v.​a. Stolz, im Mittelpunkt zu stehen. {Des Weiteren hat mir meine Mutter auf späteres Nachfragen erzählt, der Bademeister habe mich leblos aus dem Becken gezogen und dann zum Ausatmen/Ausspucken des eingeatmeten/geschluckten Wassers gebracht, woraufhin ich wieder erwachte.} Anschließend nahm mich einer der Schwimmlehrer gleich noch einmal mit ins Wasser, um einer späteren Phobie vorzubeugen. {Des Weiteren hat mir meine Mutter auf späteres Nachfragen erzählt, ich sei auf dem Heimweg vom Schwimmbad recht vergnügt gewesen.} An die beiden – in geschweifte Klammern gesetzten – realen Szenen der Bergung und Wiederbelebung bzw. des vergnügten Heimwegs kann ich mich selber nicht mehr erinnern, aber an die vier realen Szenen der spontanen Entscheidung für den mir näheren Schwimmlehrer, des ihm Nacheilens mit mulmigem Gefühl, des angst- und schmerzvollen Ertrinkens und des gleich noch einmal Zurückmüssens ins Wasser. Insbesondere meine Erinnerung an die vier hyperrealen Szenen ist nicht zeitlich geordnet – ich habe die acht selbst erinnerten Szenen und die zwei von meiner Mutter erfragten Szenen erst 25 Jahre später in einen Zusammenhang gestellt und in die genannte Reihenfolge gebracht, welche mir im Nachhinein am logischsten erscheint.

Meine zweite NTE: Als ich 34 Jahre alt war, bin ich in einem Lokal sitzend plötzlich ohnmächtig geworden. (War es gar ein Herzstillstand? Eine Freundin, die Anästhesistin ist, sagte mir einen Tag später, sie hätte über Minuten keinen Puls tasten können, glaubt aber heute dennoch an eine harmlose Synkope. Ein nachmittägliches Weihnachtstreffen mit Freunden im Café hatte sich gegen Abend in ein lautes und verrauchtes Lokal verlagert, wo ich viele Stunden lang nur noch Mineralwasser trank. Die Sanitäter auf der anschließenden Fahrt ins Krankenhaus stellten Unterzucker fest, alle weiteren ärztlichen Untersuchungen blieben ohne relevanten Befund.) In der einzigen hyperrealen Szene sah ich diesmal kein weißes Licht, sondern war eingehüllt in eine ganz besondere, samtene bzw. funkelnde Schwärze. Ein auf mich zugleich sehr neutral und sehr souverän wirkendes Wesen, mit dem ich nicht sinnlich, sondern gedanklich verbunden war, fragte mich ganz und gar eindeutig: Willst du sterben? Meine Antwort, die ich selber als etwas wahrnahm, dessen stummer Zeuge ich wurde – und zwar aus "meiner" nun zeitlosen Warte wie aus der Pistole geschossen bzw. quasi gleichzeitig mit der Frage bzw. eher als punktuellen Gedanken im Ganzen denn in einzelnen aufeinanderfolgenden Worten: Nein, ich habe noch Dinge mit meiner Freundin zu klären. Dann wachte ich wieder auf – ein Freund hatte mich unsanft vom Stuhl gezogen, um meine Beine hochzulegen. Später habe ich mich immer wieder gefragt, wieso ich dem Wesen keine Gegenfrage gestellt habe, etwa: Wie ist es, tot zu sein? Aber alles Rational-Philosophische in mir war während dieses Blackouts ebenso weggeblasen wie alles körperliche Dasein in Raum und Zeit – ich war nur eine arme ohnmächtige, allem passiv ausgesetzte bzw. nur unwillkürlich darauf reagierende Seele im raum- und zeitlosen Nirgendwo. Aber immerhin eine arme Seele, die gefragt wurde! Dass die langjährige Beziehung mit meiner Freundin, welche an diesem Abend nicht zugegen war, auf der Kippe stand und wir das miteinander klären mussten, war mir bis dahin gar nicht so recht bewusst gewesen.

Hyperreal nenne ich die Szenen meiner NTE, weil das üblichere Wort surreal – beides heißt übersetzt über-real – es m.​E. nicht trifft, im Gegenteil. Träume, Rauscherlebnisse etc. werden als surreal bezeichnet, nach meiner Erfahrung jedoch sind diese unter-real. NTE-Szenen dagegen sind viel realer als real, verglichen damit wirkt das normale Leben unter-real wie ein Traum (ein Gefühl, welches nach einer NTE das ganze Leben lang anhalten kann – man bleibt mit einem Bein "drüben" insofern als die Realitätsempfindung nun sozusagen auf die Hyperrealität geeicht ist, weshalb das irdische Leben einen bleibenden Mangel an gefühlter Echtheit aufweist). Auf meiner Realitätsskala sind zuunterst die Träume (schwer erinnerbar), dann das tägliche Leben (normal erinnerbar) und zuoberst die NTE-Szenen (über die längste Zeit und am klarsten erinnerbar). Trotzdem habe ich mich erst mit Ende zwanzig wieder bewusst an meine NTE als Dreijähriger erinnert. Paradox, aber auf den zweiten Blick doch verständlich: man verdrängt eine starke NTE evt. jahrzehntelang, bis die Erinnerung überdeutlich zurückkommt. Die NTE überfordert die Psyche vorerst völlig, ist ein gefühlsmäßiger Overkill – nach langer Zeit, wenn genug Abstand und Sicherheit in der Normalität gewonnen wurden, können die Erinnerungen dann zugelassen werden.

Bis meine bewussten Erinnerungen an die hyperrealen Erlebnisse als Dreijähriger nach einem viertel Jahrhundert zurückkamen, litt ich an einer Phobie gegen alles Übernatürliche. Schon Kinderbücher konnte ich nur lesen, wenn nirgends etwas realistischerweise Unmögliches darin vorkam; später konzentrierte ich mich immer weiter auf das Bodenständigste und wurde schließlich Ingenieur. Heute leuchtet mir deshalb unmittelbar ein, dass welthistorisch evt. bereits der Monotheismus einer Allergie gegen Geister und anderen sog. Aberglauben geschuldet ist. Wer drastische Erfahrungen gemacht hat, für die er keine natürliche Erklärung finden kann, ist davon in der Regel so traumatisiert, dass er mit allen Mitteln die sog. Realitiät wiederherstellen und fürderhin erhalten will. Frühere Hexenverbrennungen und andere Gräuel der Inquisition etwa werden heute v.​a. als Machtstrategie einer felsenfest in der Realität verankerten katholischen Kirche interpretiert – ich aber denke, man hatte in erster Linie Angst vor allem jenseits der sowieso schon schlimmen Realität und versuchte diese Angst in den Griff zu bekommen, indem man sich einen höchsten Gott als Verbündeten einbildete und sein Zeichen, etwa das Kreuz, als Waffe gegen alle sonstigen übernatürlichen Mächte vor sich hertrug.

Wie viel Bedeutung ist den Nahtoderfahrungen mit als hyperreal empfundenen Elementen beizumessen? Vorgeschmack aufs Jenseits oder nur Halluzinationen? Ich weiß darauf keine Antwort, aber ich meine, dass unsere Gesellschaft i.​a. noch recht ignorant mit solchen Phänomenen umgeht. Egal ob man, nach hilfreichen Interpretationen suchend, auf Gläubige oder auf Ungläubige trifft – es bringt einen mit solchen Erlebnissen kaum weiter, wenn einen alle nur für Religiosität bzw. Spiritualität missionieren oder das Ganze einfach als bedeutungslose Hirngespinste abtun wollen. Von der drastischeren Behandlung als dämonische Besessenheit oder schizophrener Schub gar nicht zu reden.

Dementsprechend lehne ich die extremsten Reaktionen auf die NTE ab, nämlich das Überhöhen, das In-den-Lebensmittelpunkt-stellen, das Heiligsprechen der NTE einerseits nach dem Motto "Nimm diese Erlebnisse als geistige Wegweiser zur Erleuchtung – sie sind dein größtes Geschenk und stellen sich, wenn du ihnen nachfühlst, als genau das heraus, was du in diesem Moment deines Lebens gebraucht hast!​" sowie das Bagatellisieren, das Verdrängen, das Ignorieren der NTE andererseits nach dem Motto "Schenk solchen durch existentielle körperliche Krisen ausgelösten Einbildungen bloß keine Beachtung – sie sind nur sinnloser Hirnmüll und eine Beschäftigung damit schadet deiner geistigen Gesundheit!​". Ich halte es zwar i.​a. für Zufall, ob oder wann einer mit NTE konfrontiert wird, jedoch für sehr wichtig, dass er sie in sein Leben integriert nach dem Motto "Das Schicksal wirft uns Brocken hin, die wir zu unserem eigenen Besten in einen möglichst plausiblen Zusammenhang bringen müssen!​".

(Insofern hilft es m.E. auch nicht weiter, wenn sich Spirituelle und Materialisten gegenseitig vorwerfen, dass sie glauben was sie glauben. Wenn ich keine NTE gehabt bzw. mich nicht wieder daran erinnert hätte, wäre ich wohl Materialist geblieben. Keiner kann m.E. viel dafür, mit welchen Jenseitsmodellen er aufwächst bzw. welche Jenseitsmodelle sich im Lauf seines Lebens durch zufällig Erlebtes für ihn plausibler bzw. weniger plausibel anfühlen. Genau genommen ist es sogar der m.E. irrige Glaube an eine objektiv gegebene Wahrheit, welchen Spirituelle und Materialisten gemeinsam (!) haben und welcher sie zu der sicheren Annahme verleitet, dass der jeweils Andere falsch liegt.)

NTE zeigen m.​E.​, dass Sein im Kern nicht Denken oder Handeln sondern Fühlen ist bzw. dass der Psychomonismus die treffendste Weltanschauung ist. Bei positiven NTE überwiegen die positiven Gefühle, bei negativen NTE überwiegen die negativen Gefühle. Ganzheitler mit ihrer dualistischen Vorstellung von einer dunklen, materiellen Hälfte und einer hellen, spirituellen Hälfte des Seins behaupten gerne, dass im Tod alle Angst und Pein weiche, weil diese zur körperlichen Seite gehörten bzw. dass nurmehr Glück und Seligkeit bliebe, weil diese zur geistigen Seite gehörten. Solchen Optimismus kann ich nicht teilen. Allerdings scheint es mir, dass im Nahtod durchaus Unübliches empfunden wird, indem diese ultimative Situation in so mancher Hinsicht das Unterste zuoberst kehrt. Das bedeutet für die NTE-Überlebenden evt. zuerst ein tiefes Trauma, aber evt. zuletzt eine Chance zu tieferer Erkenntnis von Selbst und Welt.

Meine persönlichen Schlussfolgerungen aus den irrationalen Gefühlen der NTE und den anschließenden rationalen Reflexionen darüber: Mein eigenes "Ich bin" bzw. mein absolutes Ich, wie jeder und jedes individuelle Wesen es hat, ist unhintergehbar. Der Nahtod zeigt das Dasein verglichen zum Alltag aufs Wesentliche reduziert bzw. überzeichnet – ein dem/​den Anderen ausgesetzt sein, ob nun angenehm oder unangenehm. Wenn die Träume kleine Stimmungsbilder des individuellen Schicksals der vergangenen Tage zeigen, dann zeigen die NTE evt. große Stimmungbilder des individuellen Schicksals des vergangenen Lebens. Die Religiösen mögen an das ewige himmlische Jenseits glauben und die Realisten vom endgültigen traumlosen Schlaf "wissen" – ich jedoch halte den irdischen Tod ebenso wie den nächtlichen Schlaf nur für eine Phase im Zyklus des Daseins. Für mich stellt es sich heute alles in allem so dar, als ginge es nach dem Tod mit einem zufälligen Schicksal weiter, welches anders, aber nicht ganz anders i.​S.​v. völlig unfassbar bzw. unvorhersehbar ist. Als würde der absolute Ich-Kern im Tod aufs Neue von einer bzw. mehreren anderen schicksalhaften Persönlichkeit/​en mit anderen Persönlichkeitseigensch­aften umhüllt, wie man sie z.​T. auch schon heute durch Empathie mit dem/​den Anderen kennenlernen kann und mit denen man dann "im nächsten Leben" zurechtkommen muss, ob man will oder nicht.

In NTE-Kreisen gibt es viele esoterische Erklärungsmodelle, meist eine hoch spekulative Melange aus religiösen Mythen und philosophischer Mystik, und rasant zunehmend auch aus Quantenphysik und Neurobiologie. Mit Esoterik wie Quantenphysik kann ich selber wenig anfangen, aber wild spekulieren tue ich auch: der in den Kapiteln Ich bzw. Andere eingeführte, für jedes Individuum gleiche metaphysische bzw. ewige Ich-Kern könnte schichtweise umhüllt sein von "realeren" (an echte i.​S.​v. subjektunabhängige Realität glaube ich nicht), d.​h. zeitlich endlichen "personalen Filtern", welche individuell verschieden zusammengesetzt sind und nach jedem Tod dem Ich-Kern immer wieder zufällig neu bzw. anders zuwachsen, wobei die ontogenetisch älteren Schichten näher am Kern liegen. Beim Träumen befinden wir uns dann im Vergleich zum Wachbewusstsein schon in älteren Schichten von unserem ontogenetisch entwickelten Bewusstseinsapparat, bei Nahtoderfahrungen dann in noch älteren. Höhere Wesen, die uns da begegnen, wären somit evt. Introjekte aus unserer frühen Kindheit. (Theoretisch könnten die Schichten auch phylogenetisch statt ontogenetisch zu datieren sein, dann gäbe es aber keinen Grund, warum NTE-Visionen nicht auch vor die menschliche Spezies zurückreichen sollten; praktisch jedoch scheinen sowohl meine eigenen als auch die von anderen berichteten NTE-Elemente viel mehr mythischer als tierischer Natur zu sein. Oder ist sowohl die ontogentische als auch die phylogenetische Entwicklung solcher personalen Filter eine schlechte Erklärung, gibt es vielmehr doch eine "geistige Welt", die mit unserer ontogenetisch- wie phylogenetisch-archaisc­hen realen Welt wenig gemein hat?​)

(Übrigens kommt von allen traditionellen Religionen der Buddhismus mit den im sog. Tibetischen Totenbuch beschriebenen Bardo-Bewusstseinszustä­nden den NTE am nächsten: die buddhistischen Gelehrten empfehlen, diejenigen Geister, welche man im Zwischenzustand zwischen diesem Leben und nächstem Leben antrifft, möglichst nicht zu beachten, denn sie seien nur Trugbilder, wie Träume vom eigenen Bewusstsein selber produziert; stattdessen solle man die Gelegenheit beim Schopf packen und aktiv aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ausbrechen. Dann müsste ich mich aber fragen: warum nicht auch im alltäglichen Wachzustand Solipsist sein und alle anderen Lebewesen für Trugbilder des eigenen Bewusstseins halten? Ich fand die Wesen, welche ich im Nahtod getroffen habe, nämlich sogar authentischer als die Menschen, welche im normalen Leben um mich herum sind. Deshalb habe ich gegen den Rat der buddhistischen Gelehrten vor, die Wesen der Zwischenwelt ernst zu nehmen und ansonsten möglichst passiv zu bleiben.​)

Jedenfalls haben sowohl meine philosophischen Überlegungen als auch meine Nahtoderfahrungen mich abgebracht von objektivistischen Weltanschauungen, wie sie den heutigen Zeitgeist völlig dominieren; im Gegenteil bin ich aktuell ziemlich überzeugt vom "Ich bin" als leider unhintergehbarer Substanz allen Seins, alleine schon aus Vorsicht gegenüber den i.a. optimistischeren Sichtweisen und dann evt. allzu schnell daraus folgenden Handlungsweisen, welche Leben und Leiden entweder körperlich begreifen als real und vergänglich oder geistig begreifen als Teil einer idealen und ewigen Ordnung. Denn während meiner NTE war ich nur noch Seele, Körper und Geist hingegen waren nicht mehr vorhanden, was mir nahelegt, dass die Seele den Tod evt. überdauert, Körper und Geist aber evt. nicht. Auch meine Besuche bei zunehmend pflegebedürftigen Verwandten ließen mich erleben: so sehr der alternde Mensch einerseits körperlich und geistig abbaut – umso herausragender wird andererseits seine seelische Präsenz.

(Könnte es sein, dass während einer NTE nur noch der für das seelische Gefühlsleben verantwortliche mittlere Teil des Gehirns arbeitet, während der für die Körpersensorik und -motorik verantwortliche Teil darunter sowie der für das logische Denken verantwortliche Teil darüber seine Funktion bereits komplett eingestellt hat? Dann wäre die NTE evt. doch nur ein letzter Gruß des zentralen Gehirns, bevor es seine Arbeit ganz und gar einstellt – allerdings ein höchst eindrucksvoller Gruß, welcher mich nun bereits jahrzehntelang erfolgreich davon abgehalten hat, mein Gehirn schon weit vor seinem natürlichen Verfallsdatum in den Ruhestand zu schicken.)

Wer eine NTE hatte, sollte sich m.​E. genug Zeit für sich selbst nehmen, um die NTE gut in die eigene Weltanschauung einzupassen. Viel über die verschiedenen philosophischen Sichtweisen auf Leben und Tod zu lesen hilft, ebenso das Aufschreiben oder anderweitige Ausdrücken der eigenen Erfahrungen und Gedanken. Einseitigen Kontakt zu patriarchalischen Welterklärern, die ihre persönliche Hilfe nur allzu gerne anbieten, sollte man m.​E. jedoch möglichst meiden bzw. deren Bücher nur in Auszügen lesen. Wennschon die eigene NTE gemeinschaftlich aufarbeiten, dann vorzugsweise auf Augenhöhe mit einer Gruppe von Anderen, die ähnliche Erlebnisse hatten – idealerweise einer Selbsthilfegruppe mit möglichst flacher Hierarchie und möglichst diversen Weltanschauungen. Erfahrungsgemäß dauert es viele Jahre, bis eine NTE einigermaßen in die Biographie integriert und ein guter Mittelweg gefunden ist zwischen panischer Verdrängung und manischem Erzähldrang. Aber irgendwann schaut man zurück auf sein Leben und erkennt darin evt. NTE-bedingte Wendungen, auf die man nicht mehr verzichten wollte.

Überhaupt braucht die NTE-Analyse, ob nun die eigene oder die von anderen Betroffenen, außer der eingehenden Konfrontation mit dem Erlebnis selbst immer auch das Eruieren der persönlichen psychischen Ausgangslage und der persönlichen psychischen Nachwirkungen: Wer war ich vor der NTE? Wie genau verlief die NTE selbst? Wer wurde ich nach der NTE? Die Betrachtung als Transformationsprozess mit den drei Phasen Vorher->NTE->Nachher macht m.​E. viel mehr Sinn als die Flucht in esoterische Spekulationen nur ausgehend von der NTE-Erzählung als solcher.

Die Aufarbeitung einer NTE ist auch gesellschaftlich heikel, einer breiten Öffentlichkeit sollte die eigene NTE m.​E. spontan gar nicht bzw. allenfalls nach reiflicher Überlegung preisgeben werden – es sei denn, man ist eh schon längst esoterisch, spirituell etc. sozialisiert. Seitens der Massenmedien sind NTEler inzwischen heiß begehrt, aber oft nur Mittel zum Zweck für Redakteure, die sich zwar zuerst freundlich-mitfühlend sowie akribisch-professionell informieren, hinterher jedoch das gesammelte Material i.​d.​R. radikal zusammenschneiden und mit kritisch-distanzierten oder gar ironisch-überheblichen Kommentaren unterlegen, um es in ein Format zu bringen, welches die weltanschauliche Haltung der jeweiligen Redaktion bzw. ihrer jeweiligen Zielgruppe repräsentiert und dafür so viel Authentizität wie nötig opfert. Die interviewten NTEler werden zwar zuerst hofiert, bekommen dann aber i.​d.​R. kein Preview bzw. Review des medialen Endprodukts mit einer Möglichkeit zum Veto zugestanden – sie können sich in der schlussendlichen Darstellung evt. kaum wiedererkennen, fühlen sich und ihr Privatestes verheizt bzw. an den Pranger gestellt, spätestens bei noch ausschnitthafterer Weiterverwendung des Materials seitens der Mediensatire u.​a.

Eine weitere über meine Jahre in der NTE-Szene immer wieder bestätigte Beobachtung: der aus einer NTE i.​a. folgende immense Zuwachs an Sensibilität und an damit zwangsläufig einhergehenden Skrupeln im alltäglichen Handeln lässt die Lebenspraxis umso weniger misslingen, je später im Leben die NTE stattgefunden hat. Ein grobschlächtiger Karrierist, der sich in seinen besten Jahren per NTE zum vergleichsweise feinsinnigen Altruisten läutert, mag sich selber und seinen Mitmenschen ja zur angenehmen Überraschung gereichen, aber eine NTE in Kindertagen kann später so ziemlich alles verhindern, was ein dickes Fell erfordert und für den gesellschaftlichen Erfolg leider fast unabdingbar ist; erst recht, seit die inzwischen v.​a. nietzscheanisch geeichten Pädagogen ganz auf Seiten derjenigen Kinder stehen, welche sich durchsetzen wollen und können. Entsprechend hoch ist die Rate von Suiziden, Drogensucht, beruflichem Scheitern etc. der sog. Child experiencers, deren frühkindliche NTE sie evt. zu ellenbogenlosen Softies bzw. waffenlosen Pazifisten macht; also werden sie gemobbt bzw. (wie ja schon während der NTE selbst) zurück in den Krieg des Lebens geschickt und lassen dies wehrlos über sich ergehen, während der streitlustige Zeitgeist solchen Harmoniesüchtigen zuruft: "Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren!".

Vielleicht liegt es an einer Steigerung meiner empathischen Fähigkeiten durch besagte NTE im Alter von drei Jahren, vielleicht verwechsle ich aber auch nur Einfühlungsvermögen mit blindem Schließen von mir selber auf andere – jedenfalls nehme ich das Leiden, und mag es noch so sehr verdrängt werden, als den Kern einer jeden Persönlichkeit wahr, was mich zu meiner Ontologie des passiven Subjektivismus veranlasst. Philosophische Tradition ist es hingegen, einen ersten Beweger, also etwas aktives, als unhintergehbaren Ausgangspunkt anzunehmen. Bei Schopenhauer ist der blinde Wille dieser erste Beweger – trotzdem sei der Mensch selber schuld an seinem traurigen Schicksal, solange er diesen Willen nicht verneine, entweder aus leidiger Erfahrung oder aus kluger Erkenntnis heraus. Nietzsche aber bejaht diesen Willen (zur Macht) und schreibt "Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!", wobei es mir vorkommt, als müsse er sich selbst und den Leser mit dieser wiederholenden bzw. verstärkenden letzten Zeile energisch überreden, Lust für "tiefer noch als Herzeleid" zu halten – ich meine vielmehr, dass dem Weh die Tiefe gehört, während die Lust notorisch oberflächlich bleibt. Auch Freud liegt m.E. gewaltig daneben, wenn er den Sexualtrieb als grundlegend annimmt. Umgekehrt verdankt m.E. das christliche Symbol des Gekreuzigten (Passion Jesu, Leiden Christi) seine durchschlagende Wirkung in der Weltgeschichte nicht etwa dem abstrusen Narrativ vom Sohn Gottes, der von seinem Vater geopfert wird bzw. der für unsere Sünden stirbt, sondern eben der jedermann schwanenden Wahrheit, dass unser aller Dasein unabdingbar im Leiden gegründet ist.

(Apropos Empathie: bewundernswert finde ich die Entschlossenheit und die Zuversicht, mit der viele NTEler eine gesellschaftliche Aufgabe in Angriff nehmen, welche viele Nicht-NTEler meiden wie der Teufel das Weihwasser: sterbenden Menschen beizustehen. NTEler engagieren sich nicht selten als ehrenamtliche Sterbebegleiter in Krankenhäusern, Hospizen oder bei den Sterbenden zuhause, sie können den Sterbenden evt. eher eine Hilfe sein als deren Ärzte und Angehörige, weil sie seit ihrer NTE i.a. selber keine Angst mehr vor dem Tod haben bzw. keine Berührungsängste mehr mit dem Tod haben; im Gegenteil gibt die erneute Todesnähe in Form der Nähe zu Sterbenden ihrem Leben sogar eine neue, tiefere Bedeutung. Oder sie machen eine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie, um dort helfen zu können, wo die euphemistische Gesellschaft, indem sie das Thema Tod verdrängt, die Menschen oft im Stich lässt: viele NTEler sind beeindruckend resiliente Role Models dort, wo die Abkömmlinge einer materialistischen Gesellschaft immer vulnerabler werden und Störungen entwickeln wie komplizierte Trauer, Thanatophobie u.a. Problematisch ist da aus meiner Sicht evt. die unverhohlene spirituelle Weltsicht der meisten bekennenden NTEler, welche beileibe nicht jedermanns Sache ist – wie auch bei der Bewältigung einer NTE empfehle ich an dieser Stelle einschlägige Selbsthilfegruppen, wo man auf Augenhöhe miteinander redet und wo die Weltanschauungen der Betroffenen möglichst bunt gemischt sind.)

Die NTE als frohe Botschaft? Nicht selten bzw. immer öfter ist das Thema NTE in den Medien auch von einem Glorienschein umgeben. Der Tunnel zum Licht aus reiner Liebe, das augenblickliche Wissen um die grenzenlose Einheit etc. schlug vorerst nur bei den exaltierten Spirituellen ein, während sowohl die konservativen Kirchen als auch die materialistische Wissenschaft noch ablehnend reagierten. Spätestens seit Spirtualität und Esoterik boomen, die Kirchenaustritte sich dramatisch häufen und die Naturwissenschaft Gehirn und Geist zusammenbringen will, hat das Wohlwollen bzw. die Dialogbereitschaft gegenüber der NTE-Szene auch bei Kirche und Wissenschaft stark zugenommen.

Umso wichtiger, an dieser Stelle noch einmal zu betonen: sofern man von den NTE auf den Tod schließen kann, bedeutet für Menschen wie mich, die in ihrer Lebensverneinung gerne darauf vertrauen würden, mit dem Tod ein sicheres Ende des Lebens bzw. Bewusstseins zu erreichen, sogar die positiv empfundene NTE (vgl. meine erste NTE) bzw. die neutral empfundene NTE (vgl. meine zweite NTE) eine niederschmetternde Botschaft. Insbesondere für Verfechter des Freitods, des selbstbestimmten Endes allen Leids, lautet diese Botschaft: du gehörst nicht dir selbst, im Tod noch weniger als im Leben.

Die Statistik scheint zu zeigen, dass die höheren Mächte im Nahtod sehr viel öfter mit Zuckerbrot (positive NTE) als mit Peitsche (negative NTE) arbeiten. Naheliegend jedoch, dass positive Erfahrungen halt seltener verdrängt bzw. häufiger mitgeteilt werden als negative. Aber selbst wenn es stimmt, dass im Nahtod viel eher himmlische als höllische Gefühle zu erwarten sind – für Freigeister, die mit despotischen höheren Mächten generell nichts zu tun haben wollen, ist das nur ein schwacher Trost.

P.S. Wie passt das nun zusammen – die zufällige Wiedergeburt aus dem Kapitel Andere und die höheren Wesen aus dem Anhang, wie man sie während einer NTE trifft? Indem der Zufall ein subjektiver und kein objektiver ist: andere, höhere Wesen bestimmen, wie es mit mir, dem niederen Wesen, nach meinem Tod weitergeht – und als Pessimist fürchte ich, dass es für mich als niederes Wesen einem Zufall gleichkommt, welches Schicksal mich dann ereilt i.S.v. mir zu-fällt, weil ich es ja eh nicht verstehe. Ich bin sozusagen das schwarze Schaf, welches den Züchter im Gegensatz zu den weißen Schafen sehr argwöhnisch beäugt, auch wenn oder gerade weil er Meister des Futters und des Treibstocks ist, womit er es mir nach Belieben gut- und schlechtgehen lässt. Sollte ich mir wider Erwarten selber aussuchen können, was im Tod aus mir wird, dann will ich einen Himmel ohne Wenn und Aber, und wenn es den nicht gibt, dann einfach nur Nichtsein, nicht mehr existieren – doch auch das wäre wohl noch viel zu schön, um wahr zu sein. Ansonsten habe ich aufgehört, an die beiden Extreme eines allmächtigen und allgütigen Schöpfergottes einerseits bzw. einer natürlichen Bottom-up-Entstehung der Welt andererseits zu glauben – Intelligent Design dieser schlechten Welt halte ich zwar für möglich, aber eher durch höhere Wesen, welche vom Ideal des (nichtexistenten) höchsten Wesens nahezu ebenso weit entfernt sein dürften wie wir Menschen. ("And on the seventh day, god was arrested.​") Meine konkreteste Vorstellung von dem, was im Tod auf mich wartet, ist die einer hierarchisch-ungleichen Verhandlung meines Schicksals mit höheren Wesen, in der ich den Kürzeren ziehe. Es scheint ja das Prinzip jeglichen Daseins auf dieser Welt zu sein, immer einer höheren Willkür ausgeliefert zu bleiben. Kein Wunder, dass es auch in den Mythen zum Thema Tod um nichts anderes geht.

P.P.S. An sich halte ich Lebensbejahung (Optimismus, Aktionismus, Hierarchismus etc.) für unmoralisch, aber wenn mein ängstlich-vermeidender und sich andauernd nach Erlösung sehnender, resignativer Pessimismus mir dann doch mal selber auf die Nerven geht, denke ich darüber nach, ob ich – statt mich abwechselnd von ungerechten Verlockungen (Himmel, Nichts, Ich-Bleiben) und Bedrohungen (Hölle, Ungewisses, Andere-Werden) in den Bann schlagen zu lassen – mit aller Kraft versuchen sollte, mich aktiv in der vertikalen Mitte zwischen diesen Verlockungen und Bedrohungen aufzustellen und ihnen zu widerstehen, nach Möglichkeit das Werden der (dieser Welt nur allzu fernen) heiligen Ordnung namens Gerechtigkeit zu befördern und mich einzulassen auf das (m.E. auch in der horizontalen Mitte zwischen Plausibilität und Unplausibilität liegende) Modell einer Spiritualität, deren Subjekte auf ihrem (evt. ewigen) hierarchischen Weg gen All-Bewusstheit und All-Einheit als immer höhere, mächtigere, verantwortlichere Wesen es mit immer helleren und dunkleren Seiten des Daseins gleichermaßen zu tun bekommen und dabei in immer besondereren Situationen immer mehr Glück und (!) immer mehr Leid erfahren. Für eine solche v.a. auch unter dem Eindruck meiner NTE-Erinnerungen gelegentlich erneut von mir in Betracht gezogene Position spiritueller Art sähe das Schaubild dann recht symmetrisch aus:


Jenseitstheorien – symmetrisch